Paul Enderling
Der Fremdling
Paul Enderling

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Ein peruanischer Postbeamter nahm an einem glühenden Frühlingstage in Lima die Depesche des englischen Konsuls auf. Die Depesche war lang und verursachte dem Beamten, der aus seinem Nachmittagsschlaf gestört wurde, viel Kopfschmerzen und ungewohnte Arbeit.

Sie verkündete die gesetzliche Todeserklärung des englischen Untertans und ehemaligen Bergwerksdirektors Theodor Trautmann und die Freigabe seines Vermögens an den gesetzlichen Erben und Sohn Pedro Trautmann in Deutschland. Das Vermögen bestehe in Anteilen an den Wismutbezirken bei Mororoca, an den Silbergruben bei Huantay, in Einlagen bei der Limabank, in persönlichem Hausrat und Landbesitz am Rio Purus.

Die Depesche eilte bis zur chilenischen Hafenstadt Iquique, um von dort auf dem unterseeischen Kabel längs der südamerikanischen Küste bis Valparaiso zu fliegen. Hier überquerte sie Südamerika und stieg bei Buenos Aires wieder in das Kabel, um über den Atlantischen Ozean, durch den Kanal in die Nordsee bis Emden zu gelangen. Dort nahm sie ein deutscher Beamter in Empfang, um sie nach der norddeutschen Kreisstadt zu senden. Hier steckte der Postbote Friedrich Wilhelm Omeyer das Papier in seine abgeschabte Aktentasche und marschierte über die winddurchwehte, vom Aprilschnee in Schmutz und Matsch versetzte Chaussee pflichtgetreu nach dem Gut Wolfsheim.

Unterwegs trat er in die Gastwirtschaft »Zum lustigen Sommer« ein. Es donnerte und wetterleuchtete verdächtig. Bald brach das Gewitter los.

Er schielte nach der Tombank, an der der dicke Krugwirt stand, blieb aber bescheiden an der Tür stehen, in das Unwetter hinausblickend.

Endlich erbarmte sich der Wirt des Besuchers und schob ihm ein Gläschen Tropfenbier zu.

Aus Dankbarkeit erzählte Herr Omeyer, daß er wegen einer Lausedepesche bei diesem Wetter, wo man keinen Hund herausjage, nach dem Gute Wolfsheim müsse.

»Zum Gutsbesitzer?«

»Nein, zu seinem Neffen.«

»Wer hat denn dem groß zu depeschieren?«

»Es ist etwas Ausländisches, hat der Herr Postrat gesagt. Aus Amerika.«

»Ja, ja. Er stammt ja von da irgendwo her, wo die Rhinozerosse und Indianer frei herumlaufen, nicht so im Zirkus wie bei uns. In Stettin habe ich mal welche gesehen.«

»Am Ende erbt er Dollars,« fachte Herr Omeyer das erlöschende Gespräch wieder an, und er schielte nach der Flasche mit dem guten alten Korn.

Der Wirt ächzte. »So gut hat es unsereins nicht. Ach ja, man hat schon seine liebe Not.«

Stillschweigen trat ein. Jeder seufzte ein Weilchen über seinen schweren Beruf.

Als der Postbote einsah, daß es hier nichts mehr gab, sagte er: »Also schönen Dank. Wenn nur das Gewitter nachläßt.«

»Hüten Sie sich vor den Bäumen,« riet der Krugwirt wohlwollend.

»Vor welchen?«

»Kennen Sie den Spruch nicht? Vor den Eichen sollst du weichen – nämlich bei Gewitter – auch die Weiden sollst du meiden, vor Tannen und Fichten mußt du flüchten. Aber die Buchen, die mußt du suchen.«

»Ja, die muß ich suchen,« brummte Herr Omeyer, der schon draußen stand. »Da könnte ich hier lange suchen, du Schafskopf.«

Und er stapfte weiter die lange Pappelallee entlang, die nach Wolfsheim führte.

*

Es war dunkel im Zimmer. Nur das Aufleuchten des Gewitters warf grelle Blitze hinein. Am ovalen Tisch vor dem Sofa saß der junge Pedro Trautmann, vor ihm stand der kleine Kasten mit den aufgespannten Schmetterlingen. Er wartete mit fröhlicher Neugier jeden neuen Blitz ab. Dann flimmerten die buntfarbigen Flügel der Tiere jäh auf.

Er dachte: »Wenn ich über ihre Flügel streichen dürfte, würde ich ihre Farbe auch im Dunkeln erkennen, wie die Blinden die Farbe erkennen ...«

Ihm gegenüber auf dem Sofa saß die Tante Amalie. Man hörte von ihr nur ab und zu ein ärgerliches Räuspern und das beständige, kleine, metallene Rasseln der Stricknadeln. Tante Amalie strickte an den Strümpfen für den Onkel, der im Nebenzimmer hockte und Grog trank. Stricken konnte sie auch im Dunkeln. Und sie war in ihrem arbeitsreichen Leben nicht gewöhnt, müßig zu sitzen.

»Kann man jetzt die Lampe anzünden?« fragte Pedro Trautmann. »Das Gewitter läßt nun doch nach.«

»Der Onkel will es nicht.«

Der junge Mann lachte leise vor sich hin. Der Onkel war sparsam. Ihm war das Gewitter vielleicht ganz willkommen. Man konnte, unter dem Vorwand, daß das Licht die Elektrizität anzöge, das teure Petroleum eine halbe Stunde sparen.

Die Güter ringsherum hatten längst Anschluß an die Überlandzentrale. Aber Gustav Trautmann hatte davon nichts wissen wollen. Die Anlage allein kostete ein Sündengeld, das bequeme Knipsen an den Lichtschaltern verführte die Frauen nur zu leichtsinnigem Verbrauch. Gustav Trautmann war der reichste Gutsbesitzer des Kreises.

Draußen krachte und knatterte es, wie es in dem verflossenen Krieg jahrelang durch ganz Europa gekracht und geknattert hatte. Nach einer kurzen Ruhepause schien das Gewitter neue Kraft zur letzten Kanonade gesammelt zu haben.

Pedro Trautmann hatte solch ein Gewitter – und dazu noch im April, kurz nach einem ebenso überraschenden Schneefall – hier in Wolfsheim noch nicht erlebt. In all den drei Jahren nicht, seit ihn der Wille des Vaters, lange nach dem Tode seiner Mutter, aus dem Tropenklima Perus hierher in die väterliche Heimat gesandt hatte. Er sollte studieren, natürlich auf der Berliner Bergakademie, wie einst sein Vater, und in den Ferien hier bei den Verwandten bleiben.

Nun hatte der wilde Theodor Trautmann sein buntes Leben ausgelebt.

Bei einem Bergwerksunfall – man arbeitete dort drüben noch reichlich primitiv – war er ein Opfer plötzlich auftretender giftiger Gase geworden. Die Geldsendungen waren ausgeblieben. Man hatte gewartet, an die Konsulate geschrieben und wieder gewartet. Onkel Gustav aber war des Wartens überdrüssig geworden, und er hatte sich geweigert, das teure Studiengeld aus seiner Tasche zu zahlen. Wer konnte wissen, ob sein Bruder überhaupt etwas hinterlassen hatte, und ob die schwarzhaarige Räuberregierung dort drüben etwas herausgeben wollte? Von da an hatte Pedro in Wolfsheim hocken müssen, bis sich etwas für ihn fand.

Mitten in die Stille einer Gewitterpause sagte Pedro plötzlich: »Vater hat mir mal ein Gewitter geschildert, das er in seiner Jugend am Rongo erlebte. Der Dampfer lag mitten in dem breiten Strom und wagte sich nicht weiter. Ununterbrochen stürzten Feuerbäche vom Himmel. Stundenlang knallte das Gewitter. In wenigen Augenblicken, da die Elemente ruhten, hörte man das ängstliche Brüllen der Raubtiere und die verzweifelten Schreie der Affenherden im Urwald.«

Die Tante nickte, und ihre Stricknadeln rasselten stärker. »Ja, dein Vater ist ja viel herumgekommen in der Welt.«

Es war nicht klar, ob Bewunderung oder Vorwurf in ihrer Stimme lag.

Theodor Trautmann war einst als Dreizehnjähriger zum erstenmal aus dem väterlichen Gutshof geflüchtet und drauflosmarschiert. Er wollte nach Hamburg und von dort nach Alaska, wo das Goldfieber raste. Er versteckte sich am Tage und marschierte in der Nacht – wie es alle Abenteurer seiner Jugendbücher taten. – Er war auch bis Hamburg gekommen. Aber der erste Kapitän, an den er sich wandte, lachte ihn aus, erlistete seine Heimatadresse und benachrichtigte den Vater. Sein älterer Vetter Felix holte ihn ab und brachte ihn wieder zurück. Der Vater prügelte ihn durch und glaubte, damit sei alles erledigt.

Aber nach zwei lammfrommen Schuljahren war Theodor Trautmann wieder fort, und diesmal glückte es ihm, über das große Wasser zu kommen.

Er taumelte durch die ganze Welt. In Alaska stahlen ihm diebische Indianer seine schwer erarbeiteten Goldnuggets; in Kuba, wo er Kalk löschte und auch sonst Arbeit verrichtete, wie sie kein Nigger macht, durchkreuzte ihm ein hitziges Fieber seine Rechnung. Polizisten brachten den Zusammengebrochenen in ein dunkles Kellergewahrsam, nachdem sie ihm alle Ersparnisse abgenommen. Er hätte jahrelang in der von Ungeziefer wimmelnden Klabuse liegen können, wenn er sich nicht als englischer Untertan ausgegeben hätte und auf kurzen Befehl des englischen Konsuls entlassen und entschädigt worden wäre.

Aus Dankbarkeit war er wirklich englischer Untertan geworden und hatte als solcher alle Weltteile durchstreift, bis er eines Tages, von Heimweh geplagt, als Kohlentrimmer auf dem nächsten Dampfer von Kapstadt nach Bremen fuhr und zu Hause erschien.

Da hatte ihn sein Vater auf die Bergakademie geschickt, und Theodor Trautmann hatte, knapp nach seiner Studienbeendigung, eine glänzende Stellung in Peru bekommen. In den Kupfererzen bei Guaraz war Silber festgestellt worden. Man traute den heimischen Experten nicht. Man brauchte dort jemand, der die gründliche Schulung der deutschen Akademie mit praktischer Vorbildung vereinte.

Schon im ersten Jahre hatte Theodor Trautmann eine Eingeborene geheiratet, eine schlanke Halbindianerin, deren lange Wimpern über feucht dunklen Augen ihn verwirrt hatten. Sie war arm und eine späte Nachkommin eines Inka. Allerhand heiligen Krimskrams, von Urvätern ererbt, hatte sie in die Ehe mitgebracht und in ihrem Zimmer angehäuft. Sonst war sie ärmer gewesen als die Dienstmädchen auf Wolfsheim.

Den jungen Pedro verband mit seiner Mutter nur die Erinnerung an eine matt in einer Hängematte schaukelnde Frau, die sich gerne schmückte, melancholische Lieder sang und wunderbar den Eingeborenen zu befehlen verstand. Sie war früh gestorben.

Sein Vater, der sich mit seinen Verwandten längst überworfen hatte, dehnte seine – durch die Klimaansprüche gebotenen – Europareisen nie weiter aus als bis Spanien, und er schickte den Sohn erst heim, als dieser zu kränkeln begann.

Das war nun eine Ewigkeit her, und man dachte hier Theodor Trautmanns nur selten. Sentimental war man hier nicht. Gustavs Horizont ging über den Bezirk seines Gutes nicht hinaus. Seine Phantasie schweifte nicht bis zu den Heliotrop- und Pisangbäumen Perus, sie sah nicht das Lama, das Gürteltier, den Ameisenbär und das in den Urwäldern hängende Faultier. Sie ging genau bis zu den Viehställen und Scheunen, bis zu der Grenzmark des Gutsbezirks, und allenfalls bis zu dem Wald des Nachbarguts, wo er bisweilen zur Treibjagd eingeladen war.

Eben hörte man den Gutsbesitzer sein Grogglas fest auf den Tisch stellen und dann heranstampfen. Er ging immer, als klebten die lehmigen Schollen von Wolfsheim an seinen hohen Wasserstiefeln.

»Tyras knurrt unten. Es ist jemand im Hausflur. Sitzt ihr denn auf euren Ohren?«

Pedro Trautmann rückte den Schmetterlingskasten auf den Tisch zurück und sprang auf, um hinunterzugehen.

Aber der Onkel hatte schon den wuchtigen Krückstock mit der Eisenspitze aus der Zimmerecke ergriffen und ging hinaus.

»Wenn es nur kein Bettler ist,« sagte die Tante. »Er ist immer gleich so grob.«

Gustav Trautmann sah in jedem Bettler einen Dieb, der nach seiner Räucherkammer oder an den Schreibtisch gelangen wollte. Nie hatte einer auf Wolfsheim etwas bekommen.

Unten stand der Postbote, naß wie ein Frosch, und sagte eifrig: »Ein Telegramm, Herr Gutsbesitzer.«

Mißtrauisch und unangenehm berührt nahm Theodor Trautmann den Papierstreifen in Empfang. Telegramme kamen in Wolfsheim nur, wenn ein entfernter Verwandter gestorben war oder wenn sich die Familie vergrößert hatte. Beides bereitete nur Unruhe und verursachte Kosten.

»Es ist aus Amerika,« sagte der Postbote und setzte hinzu: »Ein wahres Höllenwetter ist es.« Es klang, als hätte er in diesem Höllenwetter das Telegramm aus Amerika hierher getragen ...

»Schon gut,« sagte der Gutsbesitzer, entzündete schnaufend die kleine Lampe im Hausflur und riß das Telegramm auf.

Es war lang, viel länger als ein simples Todestelegramm, und er buchstabierte mühsam die vielen Zeilen.

»Hoffentlich ist es eine gute Nachricht,« sagte Herr Omeyer in der stillen Hoffnung auf ein Trinkgeld oder doch eine Zigarre.

Endlich hörte der Gutsbesitzer mit dem Lesen auf. »Schon gut,« sagte er wieder, pustete die Lampe aus und stieg die Treppe empor. Jede Stufe knarrte.

Der Postbote wartete noch einen Augenblick, schlug dann die Haustür hinter sich ins Schloß, daß es wie ein Schuß durch das Haus dröhnte, und ging. Der Hund knurrte ihm böse nach.

Das Gewitter war verrollt. Starker Regen schlug an die Scheiben.

Die beiden im Zimmer hatten ängstlich gewartet. Als der Onkel ins Zimmer trat und nichts sagte als: »Lampe anstecken!« wußten sie, daß etwas Besonderes geschehen war.

*

Ehe Pedro Trautmann ins Freie ging, blieb er einen Augenblick an der halboffenen Türe zum Wohnzimmer stehen.

Drinnen ging Onkel Gustav mit langen, schweren Schritten auf und ab, als marschiere er durch die Felder. Wenn er am Fenster anlangte, blieb er jedesmal stehen und brummte etwas Undeutliches vor sich hin. Plötzlich klang seine laute Stimme polternd heraus: »Hast du auch nicht wieder von der Schlackwurst abgeschnitten?«

Seine Frau antwortete erschreckt: »Nein, nein, ich denke ja gar nicht daran.«

»Ich habe sie nämlich gezählt. Und die Eier auch.«

»Das weiß ich doch, Gustav.«

»Wir haben nämlich die Erbschaft nicht gemacht,« murrte er.

Achselzuckend ging Pedro in den Morgen hinaus. Der Frühling blickte aus klaren, frisch gewaschenen Augen. Nichts verriet heut seine Laune, die gestern an ein und demselben Tage Schneegestöber und Gewitter auf das Land geworfen hatte.

An dem kleinen Ententeich unter der Birkengruppe stand ein junges Mädchen mit kastanienbraunem Haar.

»Guten Morgen, kleine Hanne. Bist du schon auf?«

Er sah sie lächelnd an. Sie schien ihm irgendeine Ähnlichkeit mit der Birke zu haben, an die sie sich lehnte. So zart und schlank war sie, und es war, als läge noch der Tau des Morgens auf ihren schimmernden Augen.

»Sieh nur, Peter!« Ihre Augen standen voll Tränen.

Er trat näher. Sie hielt in der Hand einen kleinen toten Vogel. Ihre Hand war gewölbt, als wollte sie dem Tier noch Wärme und Leben spenden. »Es ist eine kleine Drossel,« klagte sie.

»Erfroren?«

Sie nickte. »Und drüben an unserem Haus liegen Hausrotschwänzchen, die bei uns wohl Wärme suchten. Und die Kinder haben meinem Bruder viele erfrorene und verhungerte Vögel in die Schule gebracht: Grünfinken, Rotkehlchen, Weidenlaubsänger und auch einen kleinen dickschnäbeligen Kirschkernbeißer. Komm. Ich zeige sie dir.«

Sie ging eilig voran, und nun sah man, daß Hanne hinkte. Es gab ihrem Gang eine besondere Note, etwas Rührendes und Gebundenes.

Auf einer Bank im Flur des Lehrerhauses lagen die toten Vögel, zu denen Hanne die kleine Drossel legte.

»Das ist ein ganzer kleiner Kirchhof,« sagte Peter.

»Ja, und wir wollen sie schön begraben. In der Ecke, wo der Flieder steht, nicht wahr? Und du mußt einen schönen Grabspruch schreiben.«

»Ich? Aber Hanne, ich bin doch kein Dichter, sag' es lieber deinem Bruder. Der wird das viel schöner machen.«

Sie dachte einen Augenblick nach. »Nein,« sagte sie dann bestimmt. »Richard würde lachen oder doch lächeln. Du würdest das nicht tun.«

»Ich werde auch nicht lachen, Hanne. Aber nun will ich dir etwas erzählen. Gestern abend während des Gewitters kam eine Depesche –«

Hanne hielt sich die Ohren zu. »Ich will nichts davon hören, und auch du sollst nicht daran denken. Nur an den Spruch für die Vögel sollst du denken.«

Peter wollte über ihren Eifer lachen. Aber bei einem Blick in ihre ernsten Augen ließ er es.

Hanne war die junge Schwester des Lehrers Hasse, der hier in Wolfsheim die Jugend unterrichtete. Die Eltern waren längst tot. Hasse, der anfangs das Gymnasium und die Universität besucht hatte, war aus hochfliegenden Plänen abgestürzt, als er plötzlich fast mittellos dastand. Er ging aufs Lehrerseminar und wurde Volksschullehrer. Alles Geld, das er ersparte, gab er für Bücher her. Und die kleine Hanne sparte mit ihm.

»Hast du nun etwas gefunden?« fragte sie ungeduldig.

»Ja. Hör' zu: Ihre ungesungenen Lieder duftet der Flieder.«

Sie gab ihm die Hand. »Gut gemeint, Peter. Aber findest du nicht auch, daß es ein bißchen geziert ist?«

Er wollte zuerst gekränkt tun, lachte dann aber und sagte nur: »Es riecht ein bißchen nach dem Schreibtisch und der Lektüre einer Anthologie. Stimmt.«

»Zerbrich dir also gefälligst nur weiter den Kopf.«

»Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht – der hat sie alle umgebracht.«

Da mußte Hanne selber lachen, trotz aller Traurigkeit. »Peter, du wirst im Leben kein Dichter.«

»Im Leben werde ich es,« widersprach er, »nur in Worten nicht.«

»Meinst du so?« Sie lehnte sich an die Wand und blickte ihn groß an.

»Laß hören, wie du dein Leben dichten willst.«

Er nahm auf der Bank neben den toten Vögeln Platz. »Wir dichten alle unser Leben, kleine Hanne. Du hast ein Idyll daraus gemacht. Aber nicht eins in den langweiligen Hexametern wie von dem alten Voß, sondern –« er dachte einen Augenblick nach.

»In welchem Versmaß?« drängte sie. »Ich bin nun neugierig.«

»Ehrlich gesagt, ich finde keins, das zu dir paßt, vielleicht ist es auch kein Idyll, was du lebst, sondern ein Volkslied.«

»Ja. So scheint es mir auch.«

»Oder ein Märchen. Aber jedenfalls hängt es irgendwie mit dem Volk zusammen. Du sprichst mit Vögeln und Blumen und Schmetterlingen, und sie antworten dir. So ist dein Leben.«

»Aber ich habe es nicht gedichtet, Peter. Ich lebe so, weil ich so leben muß.«

»Man dichtet auch nur, was man muß. Das andere hat keinen Bestand und gilt nicht. Und kein Wort der Dichtung ist anders und keine Minute des Lebens, als es muß.«

Aus der Schulstube klang der Chor der Schulbuben herüber, die eben einen Spruch gemeinsam sprachen. »Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten, so sollst du mich preisen.« Sie schrien, daß die Wände zitterten.

»Sprich weiter, Peter!«

Peter war wieder die Depesche eingefallen. Aber er sprach nicht von dem Reichtum, sondern begann von seinem Vater zu reden. »Sieh meinen Vater an. Ist sein Leben nicht ein starkes abenteuerliches Epos gewesen? Eins mit harten Strophen, mußt du wissen, wie das Nibelungenlied. O Hanne, wie schön war es in den letzten Weihnachtsferien, als dein Bruder uns von Kriemhild und Hagen vorlas. Ob solche schönen Stunden wohl wieder kommen werden?«

»Warum sollten sie sich nicht wiederholen?« fragte Hanne herüber. Wie der arme Richard sich abquälte! Er, dessen Junge sich in reiner Höhenluft hätte kräftigen und reinigen müssen, und der sich vor sechzig ungewaschenen, übelriechenden, frechen Rangen abstrapazierte! Er erklärte den Spruch. Ein paarmal klang das Wort »Not« deutlich herüber, und dann sein Husten, ein bellender, quälender Husten ...

Beide lauschten angstvoll hinüber.

Peter sprach hastig weiter, um Hanne abzulenken. »Ja, mein Vater lebte solches Epos voller Abenteuer in einem gleichmäßigen Rhythmus, der etwas Unerbittliches hatte in seiner Wiederkehr, wie gehämmert war sein Leben. Nichts brachte ihn aus dem einmal vorgezeichneten Weg. Nicht Liebe, nicht Haß. Und daß er in seinem Bergwerk unterging, das er selber erschlossen, paßt auch so gut dazu. In alten Tagen wäre er ein Conquistadore gewesen, Cortez oder Pizarro.«

»Ich mag nichts von Cortez und Pizarro hören,« sagte Hanne abwehrend. »Es ist zu viel Blut auf ihrem Weg und sie dachten nur an sich.«

»Wer weiß?« Er versank in Grübeln. »Aber daß Vater nicht viel an andere dachte, ist wohl richtig. Er wird wohl auch nicht viel an meine Mutter gedacht haben.«

Hanne rührte seine Schulter an. »Das solltest du nicht sagen, Peter.«

Nachdenklich blickte er in ihr ernstes, liebes Gesicht. »Meine Mutter, sieh, lebte eine stille Tragödie. Ohne Blut und Dolch, versteht sich, und ohne große Aktionen wie bei Shakespeare. Es war eine mit einem milden Ausklang. Aber dies Unentrinnbare der Tragödie war in ihrem Leben. Und auch Furcht und Mitleid war wohl da bei allen, die es ansahen. Sie verlöschte wie ein Licht.«

»Du wolltest von deinem Leben reden, Peter.«

Aus der Schulstube klang ein Lied. Die Schüler schrien aus voller Kehle: »Wer nur den lieben Gott läßt walten ...« Dazwischen klang der schrille Ton einer Geige.

»Nun ist die Schulstunde gleich aus,« sagte Peter. »Ich bin für deinen Bruder froh, daß sie nun aus ist.«

»Ja, aber wie ist es nun mit deinem Leben? Wie willst du es dichten?«

»Wie hartnäckig du bist, kleine Hanne.« Er sprang auf und legte ihr beide Hände auf die Schultern. »Stark und froh soll es klingen, für mich und andere, auch für dich. Mit vollen Backen will ich in die Posaune stoßen und blasen, was das Zeug hält.« Er hielt lachend inne und setzte dann etwas ernster hinzu: »Aber was dabei herauskommen wird, ahne ich noch nicht. Man kann das wohl auch erst hinterher sagen.«

Drüben gab es ein lautes Rumoren, Schreien, Lärmen und Rasseln von vielen Holzschuhen. Die Kinder stürmten hinaus ins Freie.

Nach einer Weile kam auch Richard Hasse. Seine leicht vornübergebeugte, hohe, hagere Gestalt machte ihn älter, als er war. Er strich mit der Rechten über das etwas zu lange strohblonde Haar. »Sei mir gegrüßt, Don Pedro,« sagte er, und seine großen Augen schimmerten fast zärtlich.

»Guten Morgen, Hasse. Sind Sie Ihre Quälgeister nun los?«

»Bis zum Nachmittag, ja. Aber was ist mit Ihnen? Sie sehen so verändert aus!«

»Tue ich das? wie Sie mich kennen! Hanne hatte es noch gar nicht bemerkt.«

Hanne bestritt es. »Wir hatten nur viel Wichtigeres zu besprechen. Aber nun kannst du ja immerhin von deiner Depesche erzählen.«

Der Lehrer nickte. »Das ganze Dorf weiß natürlich, daß gestern abend eine fremdländische Depesche im Gutshaus abgegeben ist. Es handelt sich wohl um Ihren Vater?«

»Um sein Erbe, ja. Es ist nun freigegeben. Ich bin jetzt ungeheuer reich. Wohl der reichste Mann des Kreises, vielleicht gar der Provinz. Na? Gratuliert ihr mir nicht?«

Beide Geschwister blickten einander an, dann auf Peter und zögerten.

»Schade!« sagte Hasse endlich.

Peter trat zurück. Er war richtig ärgerlich. »Wie können Sie so etwas sagen? Gönnen Sie mir es nicht?«

Da drückten sie beide seine Hand. »Von Herzen, lieber Freund!«

»Aber?«

»Nein, kein aber,« rief Hasse und blickte seine Schwester an, als ob er von ihr Bestätigung suchte, Er war gut einen Kopf größer als sie. »Warum sagten Sie dann: Schade?«

»Reichtum ist schwer zu tragen. Ich weiß nicht, ob Sie schon die Schultern dazu haben. Aber kümmern Sie sich nicht um solchen Kleinmut. Erzählen Sie lieber.«

Peter erzählte von der großen väterlichen Erbschaft. »... Und alles liegt auf englischen Banken in englischem Gelde. Haha, Onkel Gustav hat die ganze Nacht aufgesessen und gerechnet, ohne klug zu werden. Ich mußte dabei sitzen und mir die Augenlider mit den Fingern offen halten.«

»Dann hast du wohl Millionen?« fragte Hanne mit großen, aufgerissenen, erschrockenen Augen.

»Ich glaube, Milliarden oder auch Billionen oder was weiß ich,« antwortete er gleichmütig.

»Das gehört dir allein?«

»Mir allein, ja. Ich bin Universalerbe. So nennt man es ja. Und in einer halben Stunde fahre ich mit dem Onkel in die Kreisstadt, zu einem langweiligen Notar.«

Hanne jubelte in die eingetretene Stille: »Nun kann er also weiter studieren!«

»Ja, das kann ich nun, und das will ich auch. Aber nebenbei will ich noch allerlei anderes tun. Ich kann ja jetzt haben und tun, was ich will.«

Er ergriff ungestüm Hasses Hände. »Mir graut vor der Götter Neide, mein lieber, mein lieber.«

»So werfen Sie den Ring ins Meer!«

Peter lächelte. »Das will ich auch. Ich will die neidischen Götter versöhnen. Aber wie fange ich das am besten an?«

»Du wirst viel Gelegenheit dazu finden,« sagte Hanne. »Aber nun kommt ins Zimmer. Es ist hier kühl.«

Sie traten in das kleine Zimmer. An den Wänden liefen Bücherborde voller ernster, gewichtiger Bücher entlang. Richard Hasse hatte sie alle gelesen. Er stand auf Du und Du mit den großen Denkern dort.

Jedesmal ergriff Peter ein leichter Schauer, wenn er die Bücherreihen erblickte. Er wußte gut, daß Hasse sie teuer bezahlt hatte, teurer als mit Geld. Jede Mark, die für eine Erholung angesetzt war, hatte den Weg in die Buchläden gefunden. Sogar ein Teil seines Korn- und Holzdeputats war verkauft, um immer neue Bände zu erstehen. Sie waren erhungert und erfroren, diese Bücher.

Halblaut las Peter die Namen der Philosophen und Dichter, während er an den Regalen entlang ging, die Richard Hasses Reich bildeten. Sie demütigten und machten bescheiden.

Plötzlich klang der Husten ihres Besitzers laut durch den Raum. Peter drehte sich um. Hanne gab ihrem Bruder aus einer Tasse zu trinken. Er hüstelte noch etwas, blickte verlegen drein und sagte, wie um Entschuldigung bittend: »Das Wetter ist nicht sehr günstig für unsereinen.«

»Du mußt dich hinlegen,« verordnete Hanne.

Gehorsam streckte sich der Lehrer auf dem alten Sofa aus. »Hanne ist ein strenger Arzt,« scherzte er. »Da gibt es keine Widerrede.«

»Kann ich nicht etwas für Sie tun?« fragte Peter besorgt.

»Er will den Ring ins Meer werfen!« Hasse lachte leise vor sich hin. »Noch ist es nicht Zeit dazu, lieber Freund. Noch sind Sie ja nicht Besitzer des großen Reichtums.«

»Ich möchte Gutes tun. Ich möchte der ganzen Welt zeigen, was man mit Geld anfangen kann. Geld ist Macht, Geld ist Allmacht,« sagte er wichtig.

»Vielleicht.«

»Nein, sicherlich. Ich will der Menschheit helfen.«

»Mit Geld?«

Peter zuckte unter den ironischen dürren Worten zusammen wie unter einem unvermuteten Schlag. »Ja, mit diesem Geld.« Und er blickte den andern fast trotzig an.

»Nur zu,« sagte Hasse nach einer Weile. »Aber achten Sie darauf: In jedem Menschen ist etwas, das weniger ist als die Bestie, und etwas, das mehr ist als die Gottheit. Sehen Sie zu, was von beiden Sie mit Ihrem Gelde erlösen –«

Von draußen klang das Rasseln eines Wagens, Peitschengeknall, und ein scharfer Pfiff, der die Stille durchschnitt.

»Ich muß gehen,« sagte Peter. »Onkel Gustav ruft mich, warte noch mit dem Vogelbegräbnis, Hanne, bis ich zurückkomme. Ich werde schon noch einen schönen Spruch finden.«

Mit schnellem Händedruck verabschiedete er sich von den Geschwistern. Die Peitsche draußen knallte ungeduldig.

*


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