Paul Enderling
Der Fremdling
Paul Enderling

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Endlich kam eine Karte von Katzian, die nur eine Adresse in Mitteldeutschland nannte.

Peter packte sofort eine Reisetasche mit dem Allernotwendigsten. Immer wieder merzte er Sachen als überflüssigen Luxus aus. Immer noch schien ihm das wenige, was übrig blieb, zuviel.

»Aber Sie wollen doch jetzt nicht verreisen?« schrie Frau Kriebe.

»Ja, ich will.«

»Aber wissen Sie denn nicht, daß ein Generalstreik droht? Vielleicht fahren keine Eisenbahnen mehr.«

»Um so mehr muß ich mich beeilen.«

Am Abend schon – nach stundenlanger Fahrt in überfüllten, überhitzten Wagen – traf er Katzian in einem Gasthaus bei einer Versammlung.

Es war ein kleines verräuchertes Lokal, vollgestopft von erregten Menschen.

Katzian sprach. Er sagte eigentlich immer dasselbe. Das Geld müsse entthront werden, waren sie nicht alle seine Sklaven? Und kamen nicht alle Kämpfe um Grenzen und Länder, alle Tyrannei und alles Elend, alles Menschenunwürdige und Erbärmliche aus dieser einen vergifteten Quelle? War nicht die Welt ein Tollhaus geworden durch diesen tückischen Bazillus?

Er hatte diese Menschen alle in der Gewalt, solange er sprach. Dann waren sie biegsames Wachs in der Flamme, die seinen Worten entströmte. Nie hatte Peter so die Gewalt des gesprochenen Wortes geahnt.

Aber als er fertig war und ein anderer Redner sprach, kalt, berechnend, ironisch, lauschte die Versammlung auch diesem aufmerksam.

Seine scharfen Sätze schlugen wie Peitschenhiebe durch die Luft. »Wir wollen das Geld nicht entthronen, wie es die Extremisten fordern, wir wollen erst einmal das Geld von den andern holen, wir wollen es erst mal ein Weilchen selber haben, wir wollen auch mal sehen, wie das ist.«

Brausender Jubel folgte. Man schlug auf die Tische vor Vergnügen, daß die Biergläser überspritzten. Als Katzian auf die Tribüne hinaufstürmte und antworten wollte, wurde er niedergebrüllt.

»Was setzt ihr denn an die Stelle des Geldes?« schrie der Gegenredner.

»Das wird sich finden.«

»Also ihr wißt es auch nicht.«

Wie betäubt ging Peter hinaus. Nach einer Weile kam Katzian und begrüßte ihn.

»Was machen Sie nun?« fragte Peter, erschreckt über die Niederlage des Gedankens.

»Sie sind noch sehr unerfahren in politischen Dingen. Sie sind herrlich unerfahren, sonst würden Sie nicht so ein bedrücktes Gesicht machen. Hier ist Neuland. Ich sprach hier zum erstenmal. Haben Sie gesehen, wie ich sie packte?«

»Ja,« entgegnete Peter, »aber der andere auch.«

»Das nächstemal werden sie ihn wegjagen. Oder beim übernächsten Male. Oder später einmal. Sie müssen sich ja alle erst an diesen Gedanken gewöhnen, der ihr Denken von Grund aus umwälzt wie ein Erdbeben.«

»Sie glauben also?«

»Ich glaube,« sagte Katzian einfach. Und es klang stark und warf alle Zweifel um.

Bald merkte Peter, daß es Katzian an Geld fehlte. Katzian brauchte für seine Person nichts. Er lebte tagsüber von Brot und Backobst, das er morgens in seine Tasche steckte. Aber anderes kostete viel: Die Fahrten, die Miete der Lokale und alles übrige.

Peter erschöpfte sein Konto und schrieb an sein Bankhaus, es sollten alle Liegenschaften flüssig gemacht werden.

Selbst Katzian mahnte von so viel Eifer ab.

Aber Peter antwortete lächelnd: »Bald ist Weltuntergang, was soll ich da noch mit meinem Geld anfangen?«

Katzian drückte seine Hand und nahm ihn mit auf seine Fahrten.

Peter kam in kleine Fabrikorte, deren Namen er nicht einmal gekannt, und er merkte bald, daß Katzian hier starken Anhang hatte. Man nannte ihn hier Gareis. Ob es sein richtiger Name war?

Hier hatte Katzian große Erfolge als Redner. Kein Gegner wagte sich hervor. Man umarmte und feierte ihn.

Allmählich übertrug sich ein Teil dieser ursprünglichen Begeisterung auch auf Peter, der anfangs nur als eine Art Sekretär des Volksmannes galt.

Vielleicht hatte Katzian ihn gerühmt, vielleicht hatten andere ihn richtig eingeschätzt – jedenfalls verkehrte man mit ihm höflich, in einigem Abstand.

Eines Abends fühlte sich Peter selber auf die Tribüne geschoben. Eine Glocke klingelte. Eine heisere Stimme rief: »Herr Trautmann hat das Wort.«

Er sprach, nach Worten suchend, anfangs stockend und ohne Ahnung, ob seine Stimme genug Tragkraft hatte. Aber als er den ersten zustimmenden Ruf vernahm, redete er fließender. Er hörte klatschen. Beifall rauschte auf. Mitten im Sprechen empfand er, daß er nur die Sätze Katzians wiederholte. Da brach er ab.

»Bravo! Sehr gut!« riefen einige. Aber es klang nicht sehr überzeugt.

Ein hagerer Mensch, der an seinem Tisch saß, lachte ihm ins Gesicht und zuckte verächtlich die Achseln. Aber andere verwiesen es ihm und deuteten auf die Opfer hin, die Peter für die Sache gebracht.

Das schmerzte ihn noch mehr als vorhin die Ablehnung. Auch hier also galt sein Reichtum ...

Es ernüchterte ihn wie eine kalte Dusche. »Katzian, ich glaube, Sie sind der einzige Idealist hier.«

Katzian sah ihn verstört an, gleichsam entwurzelt. »Das behüte Gott!«

*

Es war ein trüber Dezembertag. Der Himmel schüttete Regen und Schnee über die Landschaft aus. Sie wurde noch häßlicher als am Tage. Die schwarzen Schieferdächer und Wände der kleinen Häuser troffen vor Nässe. Der Qualm aus den Fabrikschloten kroch abwärts und erfüllte mit seinem schwarzen Dunst die Luft.

Peter rechnete mit Katzian und dem Kassierer der Ortsgruppe ab.

Die enge Wirtsstube war schlecht geheizt. Sie saßen in ihren nassen Mänteln da.

Peter war nicht bei der Sache. Er war übermüdet und erschöpft. Die ganze Zeit über war er an Katzians Seite gewesen, der sich im Dienst seines Gedankens zerrieb.

Aber je öfter jener sprach und je weiter sich anscheinend seine Gemeinde ausbreitete, desto leerer erschien Peter alles, desto sinnloser und zweckloser.

Vielleicht war es auch nur das Mechanische, die Kleinarbeit der Organisation, was ihn ernüchterte. Und dann dies ewig gleiche Bild dieser kleinen bewegten Versammlungen mit den gleichen Reden und den gleichen Resolutionen. Es war ja möglich, daß sich aus diesen kleinen Mosaiksteinen ein großes Bild zusammenfügte, das er nur nicht überblickte. Aber er fand an dieser Aussicht nicht Genüge und auch nicht die nötige Kraft zum Durchhalten.

Instinktiv fühlte er auch, daß den meisten der große Gedanke, der ihn und Katzian entflammte, fern lag, Sie sahen nur das Radikale der Bewegung und entzückten sich daran, weil es zu einer gärenden Zeit voller aufeinanderplatzender Gegensätze gut paßte. Vielleicht sahen sie in Katzian nur einen Führer, der, uneigennütziger als die anderen, die Reichen entthronen würde – aber nicht das Geld.

Die politisch Geschulten unter den Hörern freuten sich an der treibenden Kraft, die in Katzians Wesen lag, und betrachteten ihn vielleicht schon als Werkzeug ihrer selbstischen Pläne, das man beiseite werfen müsse, wenn ein Parteizielchen erreicht war.

»Bewegung ist alles, Ziel ist nichts,« hatte neulich ein Redner gesagt, und Katzian hatte nicht gewagt, ihm zu widersprechen, um in jener Versammlung nicht vollends den Boden zu verlieren.

»Unser Freund Trautmann ist zerstreut,« sagte der Kassierer, ein pausbäckiger, gemütlicher Mann.

Peter wehrte ab. »Ich bin nur etwas müde.«

»Sie sind das lange Aufbleiben in den schlechtventilierten Lokalen nicht gewöhnt,« meinte Katzian. »Schonen Sie sich nur etwas.«

»Ihr könnt ihn ja in Watte legen,« schrie eine grobe Stimme herüber, die einem baumlangen Menschen angehörte, der mit einem Kleinen am Nebentisch saß und Brotstücke in einen Topf Kaffee tauchte.

»Ruhe da drüben!« befahl der Kassierer.

Der Kleinere sagte mit keifender Stimme: »Er sollte mal eine Weile in unseren schlechtventilierten Fabriksälen arbeiten, hehe. Andere haben sein Geld in solchen Räumen verdient. Sag' ihm das mal gelegentlich, Gareis! Einen schönen Gruß von mir.«

Katzian wollte auffahren, aber Peter hielt ihn fest. »Machen wir unsere Rechnung fertig, wieviel fehlt?«

»Wir brauchen neuen Zuschuß,« sagte der Kassierer, »sonst versandet die Bewegung.«

Alle Blicke suchten Peter.

»Ich habe seit acht Tagen keine Nachricht von Berlin und kann jetzt nichts geben.«

»Wer's glaubt,« höhnte der Kleine herüber.

Katzian lief zu dem Tisch und befahl Stillschweigen. Die beiden duckten sich, leerten ihren Kaffeetopf und verließen schweigend das Lokal. Böse Blicke flogen zu dem Tisch herüber.

Der Kassierer riet: »Am besten ist es, Sie fahren nach Berlin und reden mit Ihrem Bankhaus Fraktur.«

»Eigentlich ist es sonderbar, wieviel Geld dazu gehört, um das Geld zu entthronen.« Peter sagte es fast wider seinen Willen.

Katzian blickte ihn unruhig an. »Wir haben ja oft darüber gesprochen. Aber man kann den Feind nicht bekämpfen, außer mit seinen Waffen.«

»Man müßte stärkere Waffen haben.«

»Welche?« fragte der Kassierer mit gemütlichem Lachen.

»Den Geist. Den Gedanken. Die Idee.«

»Ganz recht, aber um ihn den Menschen zu bringen –«

Peter unterbrach ihn. »Ich weiß schon. Ihr habt mir diese Sätze ja oft genug gesagt.« Er erhob sich mit einer Miene des Widerwillens. »Nun geh' ich eine halbe Stunde spazieren und lüfte mich aus. Beschließt indessen, was nottut. Ich füge mich.«

Als er draußen war, sagte der Kassierer: »Tut es ihm um sein Geld leid?«

Katzian verneinte leidenschaftlich.

»Das wäre auch schlimm. Denn unsere Kasse ist sehr erholungsbedürftig, und die Tellersammlungen bringen nicht mal die Saalheizungen ein. Es kommt mir aber vor, als ob Herr Trautmann nicht mehr lange bei uns bleiben wird.«

Katzian schwieg.

»Na, beschließen wir jedenfalls, daß er nach Berlin fährt, um neue Patronen für den Kampf zu holen. Oder sollen wir noch warten?«

Katzian blickte vor sich hin. »Es dauert zu lange,« sagte er leise. »Und er ist jung. Und gerade die Jugend kann nicht warten ...«

Verwundert blickte ihn der Kassierer an.

Unterdessen durchschritt Peter die nassen Straßen des Städtchens. Ein leichter, kalter Regen fiel noch nieder und durchfröstelte ihn. Er drang durch den aufgeklappten Mantelkragen und durchweichte den Hut.

Die trostlose Häßlichkeit des Fabrikortes wirkte feindlich auf Peter. ›Ob hier jemals Blumen wachsen?‹ dachte er verzweifelt. ›Was soll ich hier? Ich laufe hier herum, als ob ich durch ein Versehen des Schicksals als einziger Mensch in diesem verlorenen Erdenwinkel übriggeblieben bin.‹

Er sehnte sich nach Menschen und ging schnellen Schritts wieder den Weg zum Lokal zurück.

An der letzten Straßenecke hielten ihn zwei Männer an. Er erkannte die beiden, die an dem Nebentisch gesessen hatten.

»Es geht uns schlecht,« sagte der Große, »wir hätten gern mal wieder einen warmen Löffelstiel im Leibe gehabt.«

Der Kleine setzte hinzu: »Aber wenn der Herr sein Geld nicht für unsereins übrig hat, lassen wir ihn.«

Peter griff nach der Brieftasche, aber er zögerte noch. »Kommen Sie ins Lokal, da regnet es wenigstens nicht.«

Die beiden sahen einander fragend an, und der Kleine sagte schnell: »Nee, da geniert man sich doch.«

Das begriff Peter, und er wollte einige Scheine herausziehen, als der Kleine nach der Tasche griff.

Peter behielt sie aber in der Hand. »So haben wir nicht gewettet, Freund. Das Geld gehört nicht mir, sondern der Bewegung.«

Er sah hinter den beiden einen jungen Mann aus dem Lokal heraustreten, den er schon öfters bemerkt hatte. Er trug ein rötlich-blondes Schnurrbärtchen und war städtisch gekleidet.

Im gleichen Augenblick sah er, wie der Arm des Großen sich emporhob und etwas in der Luft schwang. Unwillkürlich hob er den Arm zur Abwehr hoch. Dennoch fühlte er einen schweren Schlag, der auf seinen Kopf sauste und ihn zu Boden warf.

Er fühlte die Brieftasche aus seiner Hand gerissen und hörte gleich darauf Schreie und einen Schuß, der scharf die Stille durchschnitt. Dann liefen schwere Schritte davon.

Peter empfand alles, ohne sich rühren zu können.

Gleich darauf vernahm er die Stimme Katzians, des Kassierers und eine fremde.

»Was ist geschehen?«

»Ein Überfall wie in Wild-West. Schöne Zeiten.«

Peter riß die Augen auf. Der brennende Schmerz über Kopf und Stirn machte ihn munter.

Katzian beugte sich über ihn. »Können Sie aufstehen?«

Von seinem Arm gestützt, erhob sich Peter schwerfällig. »Haben Sie mich gerettet?« stammelte er.

»Nein, der Fremde, wo ist er?« Sie blickten sich um. Es war niemand mehr auf der Straße.

»Ein sonderbarer Fall. Nun kommen Sie aber hinein, wenn Sie noch können.«

»Ich bin ganz wohl,« sagte Peter, und er bemühte sich, gerade zu stehen. Aber er konnte das Zittern der Gelenke nicht unterdrücken. »Es ist nur der Schreck,« setzte er hinzu.

»Nein, es ist der Schlag.« Der Kassierer deutete auf die glühend roten Streifen über Peters Stirn.

Blut sickerte herunter. Mechanisch wischte Peter es mit dem Handrücken fort.

»Diese Schufte,« sagte Katzian ein paarmal, öffnete sich Jacke und Weste und riß einen Fetzen aus seinem Hemd. Dann legte er einen fast kunstgerechten Verband um Peters Kopf. »Ich war im Kriege Krankenwärter, ich weiß ein wenig Bescheid.«

Dann nahmen er und der Kassierer Peter unter den Arm, und beide geleiteten ihn in das Lokal. Sie legten ihn auf das Ledersofa und flößten ihm Kaffee und Branntwein ein.

Langsam dämmerte Peter ein. Als er erwachte, saß nur Katzian bei ihm. Lange Zeit schwieg Peter, den seltsamen Menschen beobachtend. Katzians Gesicht war tief gefurcht, wie von einem starken Schmerz. Er hielt die Augen auf den Tisch gestützt und den Kopf in die Hände gedrückt. Seine Augen blickten finster vor sich hin. Seine Lippen waren in andauernder Bewegung, als spräche er lautlos zu einer unsichtbaren Versammlung.

Peter reichte ihm die Hand und weckte ihn aus seinen Träumen.

»Sind Sie wieder wach? Der Arzt war hier und hat Sie untersucht.«

»Ich habe nichts gemerkt.«

»Er befahl auch, Sie nicht zu wecken. Es ist keine tiefe Wunde. Der Knochen ist unverletzt. Sie müssen nur etwas Ruhe haben.«

»Ich fühle mich schon wohler.«

»Wer war der Schuft, der Sie überfiel? Oder waren es zwei?«

Peter wandte sein Gesicht der Wand zu. »Ich habe niemand bemerkt,« antwortete er. Er mochte Katzian nicht den Schmerz zufügen, daß es seine eigenen Jünger waren, – die beiden hatten gestern abend ihm am lautesten zugeklatscht –, die die Schurkerei begangen hatten.

Lange schwiegen beide. Nur der hastige, lebhafte Schlag einer kleinen Kuckucksuhr über dem Sofa zerschnitt die Stille in kleine, gleiche Teile.

»Habe ich lange geschlafen?«

»Sechs Stunden. Es war aber vielleicht Ihre Rettung. Und die meine auch.«

Peter wandte ihm wieder sein Gesicht zu. »Warum die Ihrige?«

Katzian wehrte ab. »Fragen Sie nicht. Es handelt sich jetzt nur um Sie. Sie müssen nun fort. Sie müssen mit dem nächsten Zug nach Berlin.«

»Wurde es beschlossen?«

»Beschlossen oder nicht – Sie müssen. Ich erlaube Ihnen keine Stunde länger hierzubleiben unter diesen Bestien.«

»Sind die nicht überall, wo Menschen sind?«

»Ja, aber hier dürfen Sie nicht sein, hier nicht.«

Er stand auf und sagte in sachlichem Ton: »In einer Stunde fährt der nächste Zug nach Berlin. Mit dem müssen Sie fort. Es ist vielleicht auf lange der letzte Zug.«

»Warum?«

»Es ist möglich, daß die Regierung alle Züge hierher unterbindet. Seit Mittag herrscht Belagerungszustand.«

Peter setzte sich aufrecht. »Kommen Sie mit?«

Katzian erschrak. »Ich soll hier fort? Sie phantasieren wohl noch? Ich bin hier nötiger als jemals, sehen Sie das denn nicht ein?« Er lief in eiligen Schritten auf und ab.

Peter nickte. Jener hatte recht.

Plötzlich blieb Katzian vor ihm stehen. Seine Augen flammten, seine Fäuste ballten sich. »Ich weiß, daß diese Schufte, die Ihnen – Ihnen! – dies angetan haben, unter meinen Anhängern zu suchen sind.«

Peter fragte: »Glauben Sie noch, daß Sie die Menschen ändern werden?«

Katzian sah ihn starr an. Er antwortete nicht und fragte unvermittelt: »Sie hatten doch eine Waffe bei sich. Warum haben Sie die beiden nicht niedergeschossen?«

Unwillkürlich zog Peter den kleinen Luxusrevolver hervor. »Da ist er. Es kam alles viel zu unvermittelt.«

Katzian nahm die Waffe in die Hand. Er blickte sie fast zärtlich an. »So ein winziges Ding kann einen Menschen von allem Bösen und von allen Qualen befreien.« Ein halbirres Lächeln, das Peter tief erschütterte, begleitete seine Worte.

»Geben Sie den Revolver her!« bat er. »Ist er denn überhaupt geladen? Oder ist es einer wie in dem Gedicht von Chamisso?« Er prüfte ihn.

»Gehen Sie vorsichtig damit um!« rief Peter. »Es sind sechs Schuß drin.«

Katzian setzte sich ihm gegenüber an den Tisch, noch immer mit der Waffe spielend.

»Auf allem Geld liegt ein Nibelungenfluch, Peter Trautmann. Denken Sie nur einmal nach, wo Ihr Geld herstammt. Aus der unterirdischen Hölle Perus. Teufel haben es gehütet und nur zähneknirschend hergegeben. Ihr Fluch liegt immer noch drauf. Aber so ist es mit allem Geld. Es verpestet die Seele unserer Zeit. Es verwirrt sie und macht sie krank und toll.«

Peter versuchte die Waffe in die Hand zu bekommen, aber Katzian ließ sie nicht los, während er hastig erregt, wie im Fieber, weitersprach.

»Haben Sie einmal die Geschichte der Eroberung Mexikos und Perus gelesen? Welche Berge von Verbrechen um des Geldes willen! Und das sollte sich nicht auswirken? Vielleicht schreibt einer mal über die Gewinnung unseres Geldes das gleiche.«

»Wann wird ein solches Buch geschrieben werden?«

»Wann? In tausend Jahren, vielleicht schon in hundert Jahren.«

»Dann erleben wir beide es also nicht mehr.«

»Nein, wir sind Wegbereiter, wir streuen Samen aus. Vielleicht verwachsen die Wege auch wieder, und die Saat verfliegt im nächsten Sturm ... Aber darum dürfen wir über diese beiden Kerle am Ende auch nicht so hart urteilen, wie?«

Er blickte zögernd, wie schuldbewußt, auf Peter Trautmann.

»Sie brauchen sich doch nicht zu entschuldigen. Es klingt ja beinahe so?«

»Es ist auch so. Warum habe ich sie nicht besser in der Hand? Warum rede ich mit Menschenzungen und nicht mit Engelzungen? Nein, wie die Dinge heute liegen, läßt sich ein solcher Rückfall nicht vermeiden. Sie wissen nicht, was sie tun. Sie sind nur Stufen für die Nächsten. Einmal wird ja das Ziel erreicht sein.«

»Glauben Sie wirklich noch?« fragte Peter wieder.

Katzian stöhnte. »Man müßte neu anfangen.«

Peter reichte ihm die Hand über den Tisch. »Mir kommt eben ein Gedanke. Kommen Sie mit mir. Aber nicht bloß bis nach Berlin. Kommen Sie mit mir nach Peru, in dem neuen Lande neue Menschen suchen. Dort sind Gebiete, groß wie deutsche Provinzen, wo niemand wohnt als die freien Tiere. Für den Anfang wird mein Geld reichen. Dann bauen wir auf.«

Katzian erhob sich. »Noch gestern hätte mich dieser Gedanke überwältigt. Heute ist es zu spät.«

»Ich meine, grade heute ist der rechte Augenblick.«

Katzian beugte sich über den Tisch, »Wissen Sie denn, ob ich noch daran glaube,« sagte er leise, mit halbgeschlossenen Augen, als bereite ihm dies Bekenntnis einen tiefen, körperlichen Schmerz. »Wissen Sie es denn?«

Auch Peter erhob sich. »Sie werden den Glauben wieder lernen. Kommen Sie nach drüben!«

»Nach drüben?« wiederholte Katzian, und ein seltsames Lächeln umspielte seine Züge. »Ja, das dürfte noch der einzige Ausweg sein.«

»Was ist Ihnen?« Peter ging um den Tisch herum und trat zu ihm.

»Nach drüben?« wiederholte Katzian, ihn wie einen Fremden ansehend. »Ja, das wäre die Erlösung.«

»Also kommen Sie!« rief Peter und rüttelte ihn an den Schultern.

»Ich gehe ja auch nach drüben,« sagte Katzian mit freundlichem Nicken, trat einen Schritt zurück und hob plötzlich die Waffe, mit der er so lange gespielt, an die Schläfe.

Peter stand einen Augenblick erstarrt. Er hörte das Knipsen des Schlosses durch die Stille hallen. Dann warf er sich auf Katzian.

Diesmal versagte die Waffe nicht. Der Schuß ging los. Glas klirrte. Das Ticken der kleinen Kuckucksuhr hörte augenblicklich auf.

»Es war nichts,« sagte Katzian und ließ die Waffe auf den Boden fallen. »So einfach ist das Leben nicht.« Er blickte auf die getroffene Uhr. »Immerhin haben wir die Zeit zum Stillstand gebracht ...« und er lachte ein lautloses Lachen, das seinen Körper durchschüttelte.

Peter hob die Waffe auf und steckte sie zu sich. »Versprechen Sie mir, daß Sie es nicht wiederholen. Sonst kann ich ja nicht fortreisen.«

Katzian nickte und drückte Peters Hände.

Von da an saßen sie stumm beieinander, bis es Zeit war, zum Bahnhof zu gehen.

*

Lange Zeit saß Peter in dem Abteil allein. Er war froh darüber. Denn nun, wo die Anspannung der letzten Stunden vorüber war, begann er wieder das Brennen der Wunde zu spüren. Die Augen geschlossen, lag er lange in einem Halbschlaf, aus dem ihn nur das Anrücken des Zuges und das Schlagen der Kupeetüren aufweckte.

Er träumte einen wirren, zusammenhanglosen Traum. Er war mit Katzian in einem Bergwerk, in dem merkwürdigerweise auch Marie Marek und Betty Saßmann arbeiteten. Auch Hanne war da. Er sah deutlich ihr leichtes Hinken, als sie einen Wagen schob. Als er ihr helfen wollte, befand er sich wieder auf einem Schiff. Graue Wellen waren leicht gekräuselt, und die Maschinen stampften, daß der Schiffsboden zitterte. Plötzlich kam Gustav Trautmann mit einer Schaufel glühender Kohlen aus dem Maschinenraum und schrie etwas von einer Explosion. Dann barst der Kessel mit furchtbarem Knall ...

Als Peter die Augen öffnete, verwundert um sich blickend, sah er, daß er nicht mehr allein im Abteil war.

Ein junger Mann, mit rötlich-blondem Schnurrbärtchen saß ihm gegenüber, in ein Kursbuch vertieft.

Er kam ihm irgendwie bekannt vor. Wie ein Schatten mußte das Gesicht und diese Gestalt schon einmal an seinem Leben vorübergehuscht sein. Aber er konnte trotz angestrengten Nachdenkens diesen Schatten nicht greifen.

Plötzlich ließ der Fremde das Buch sinken und fragte höflich: »Geht es Ihnen jetzt besser, Herr Trautmann?«

Peter sah ihn verdutzt an. »Sie kennen mich?«

»Ja, seit einiger Zeit. Ich hatte sogar einmal das Vergnügen, Sie in einer Versammlung reden zu hören. Aber jetzt handelt es sich um Wichtigeres. Sie werden beobachtet, Herr Trautmann.«

»Das interessiert mich nicht.«

Der Fremde beugte sich vor. »Es sollte Sie aber doch interessieren.«

»Sie machen mich neugierig,« höhnte Peter.

»Wissen Sie, daß Antrag eingereicht ist, Ihnen das Recht Ihrer Vermögensverwaltung zu entziehen, das heißt, Sie unter Kuratel zu stellen?«

»Mich?«

»Ja. Ihre Verschwendung ist auch zu weit gegangen,« sagte der Fremde vorwurfsvoll. »Was für Ausgaben für die Wohltätigkeitsinstitute und die Extremisten!«

»So?« sagte Peter erbittert. »Und wenn ich mein Geld für Villen, Autos und Dirnen weggeworfen hätte, würde wahrscheinlich niemand etwas dabei finden. Wer kann übrigens daran ein Interesse haben?«

»Natürlich ein Verwandter. Nur Verwandte nehmen so liebevolles Interesse.«

»Ich habe ja keine.« Plötzlich fiel ihm die dunkle Stunde des Abschieds auf Gut Wolfsheim ein. »Onkel Gustavs Werk,« sagte er.

Der Fremde blätterte in seinen Papieren, »Gutsbesitzer Gustav Trautmann, ja.«

»Woher wissen Sie das?«

Der Fremde blickte ihn lächelnd an. »Das ist Geschäftsgeheimnis.«

»Da möchte ich wenigstens wissen, was für ein Geschäft Sie betreiben. Es scheint das Licht des Tages zu scheuen.«

»Das tun die meisten Geschäfte heutzutage,« bemerkte der andere achselzuckend.

Peter war gereizt. »Aber ich begreife nur nicht, warum Sie es dann enthüllen?«

»Vielleicht nehme ich Interesse an Ihnen.«

»Das wäre sonderbar.«

Der Fremde sah nach der Uhr. »Wir haben nur noch wenige Minuten bis zur nächsten Station. Hören Sie also ruhig zu, ohne mich zu unterbrechen.«

»Bitte.«

»Ich bin Angestellter eines Auskunftsbüros, das Sie seit einiger Zeit beobachten läßt. Zufällig weiß ich, daß auch die politische Polizei auf Sie aufmerksam wurde. Es ist ihr bekannt, daß die Extremisten nur durch Ihre Unterstützung in der Lage sind, Propaganda zu treiben und zu Gewalttätigkeiten aufzufordern.«

Peter sah auf. »Das ist nie geschehen.«

»Lesen Sie!« Der andere reichte ihm eine Zeitung und deutete auf einen blau angestrichenen Artikel.

Peter las von Aufruhr und Plünderungen in einigen Fabrikorten Mitteldeutschlands. Es waren die gleichen Orte, die er mit Katzian durchzogen und in denen jener gesprochen hatte. Alles war fast unmittelbar auf diese Reden gefolgt wie der Donner auf den Blitz.

»Das habe ich nicht gewollt,« sagte Peter erblassend.

»Ich weiß. Aber es ist die Frage, ob andere es glauben werden,«

»Diese Folgen trage ich.«

»Es ist gar nicht nötig. Sie sollen sie gar nicht tragen, Herr Trautmann. Dafür bin ich da.«

»Wie könnten Sie das verhindern?« sagte Peter fast geringschätzig.

Der Fremde überhörte den Ton geflissentlich. »Ich werde Gegenminen legen, von mir aus soll kein Bericht über Ihre Ausgaben herauskommen, der Ihren Gegnern Waffen gibt. Auch werde ich die Tatsache Ihres Überfalls durch Anhänger der Extremisten gründlich unterstreichen.«

Plötzlich wußte Peter, wo er diesen jungen Mann schon gesehen hatte: Er war herbeigegesprungen, als die beiden Strolche ihn beraubten, und er hatte zweifellos den Schuß abgegeben, der sie verjagte. »Sie haben mich gerettet,« sagte er ergriffen.

»Ja, leider kam ich etwas zu spät. Immerhin werden Sie mich jetzt wohl freundlicher ansehen, nicht wahr?«

»Warum halfen Sie mir? Sie kannten mich doch gar nicht.«

Der Fremde holte seine Handtasche aus dem Gepäcknetz und setzte die Reisemütze auf. »Unsereins muß in seinem Beruf, den Sie sehr richtig lichtscheu nannten, soviel Charakterloses tun, daß man manchmal das Bedürfnis hat, sich vor sich selber reinzuwaschen. Ich kannte Sie gut aus Ihrem Verhalten, und daraus ergab sich alles übrige von selbst. Ich mußte Sie retten, Sie, den einzigen anständigen Menschen in einer Umgebung von Schuften.«

Der Zug fuhr langsam in die Station ein.

»Bleiben Sie doch bei mir!« bat Peter.

»Es ist besser, daß man mich nicht neben Ihnen sieht.«

»Aber Ihren Namen möchte ich wissen.«

Der Zug hielt. Der Fremde riß die Kupeetüre auf. »Ich möchte Ihnen lieber fremd bleiben. Schließlich hätte ich Ihnen dies alles ja gar nicht sagen dürfen

»Aber Ihre Hand werden Sie mir doch geben?«

»Lassen wir das! Meine Hand ist nicht immer so rein wie heute, vielleicht täte es Ihnen doch einmal leid. Leben Sie wohl, Herr Trautmann!«

Ehe Peter antworten konnte, flog die Türe wieder zu, und der Zug setzte sich in Bewegung.

›Ich hätte ihn doch nicht fortlassen sollen,‹ dachte Peter, ›nun bin ich wieder allein‹.

*


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