Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XII. Ein Licht hinterm Fenster

Es war noch nicht spät. Es leuchtete hier und dort in den Fenstern, an denen Ann-Mari und Sigvard vorbeikamen. Unten von der Brücke her hörten sie Lärm und Stimmengewirr. Das waren Leute, die einen Sonntagsbesuch gemacht hatten und nun das Boot zur Heimfahrt rüsteten.

In der letzten Stunde hatte die Luft sich ein wenig getrübt, und die Sterne leuchteten nicht mehr so klar. Aber noch immer war es still und milde. Aus dem Wald erklang die Ziehharmonika, das Frühlingsfest der Jugend.

Die beiden jungen Menschen gingen ziemlich wortkarg nebeneinander her. Keines von ihnen konnte sich von dem Gedanken an Kaisa befreien. Als sie nun von ihr zu sprechen begannen, geschah es in einer ausweichenden, vorsichtigen Art, die Angst und Mitleid verriet.

»Sie kann nichts dafür, daß sie so ist,« meinte Sigvard, »das ist nun einmal ihr Los auf Erden. Manche sind zu guten Werken geboren, andere zu bösen. Das läßt sich nicht ändern.«

Bei einer Biegung des Weges, der sich sanft ansteigend zum Walde hinaufschlängelte, konnten sie unten das Fährhaus und den Fluß sehen. Das Haus lag unter dem Schatten des Bergfirstes. Es war darum unmöglich, seine Konturen zu sehen. Es lag nur wie ein großer Hügel da. Ein dunkler Grabhügel. Aber in dieser Dunkelheit glomm hie und da ein Licht auf, ein dunkel schwelendes Licht.

Die beiden jungen Leute betrachteten das Licht schweigend. Sie wußten beide, was es zu bedeuten hatte. Das war die alte Kaisa, die ihre Runde durch das Haus machte.

Das Licht verschwand, kam wieder zum Vorschein und wechselte abermals den Platz. Ann-Mari, die selbst in der tiefsten Dunkelheit jeden Teil des Hauses erkannte, konnte genau sagen, von wo das Licht kam.

»Jetzt ist sie im Saal,« sagte sie, »jetzt ist sie in dem kleinen Zimmer nebenan. Jetzt ist sie auf der Treppe. Jetzt ist sie in dem großen Gastzimmer, im Zimmer des Fremden.«

Weil das Haus nur wie eine dunkle Masse aussah, bekamen die Lichtblitze etwas Lebendiges, wie Augen, die sich in der Dunkelheit bewegen.

Noch etwas anderes erregte die Aufmerksamkeit der beiden.

Dort unten auf dem Fluß hatten die zugereisten Besucher das Boot jetzt klargemacht. Sie ruderten fort. Vom Land und aus dem Boot rief man sich Grüße zu. Ihre Angehörigen hatten die Gäste zur Brücke begleitet und kehrten jetzt wieder nach Hause zurück, den engen Weg zwischen den Seeschuppen mit ihrem Geplauder erfüllend. Das Boot war noch lange auf dem Fluß sichtbar – ein lebender, unruhiger Schatten, aus dem die feuchten, wippenden Ruder vorragten, triefend von Sternenlicht.

Da sie höher standen, konnten die beiden deutlich alle Einzelheiten dort unten sehen. Sie bemerkten eine Gestalt, die sich bewegte. Ein Mann, der hinter den Packhäusern versteckt gestanden hatte. Nun ging er auf die Brücke vor und wanderte langsam über sie hin.

Sie erkannten ihn am Mantel und am Hut, es war der Fremde. Sie waren erstaunt über sein Erscheinen, und so lange sie ihn sehen konnten, schwiegen sie beide. Erst als die Erscheinung wieder in dem Dunkel hinter den Häusern verschwunden war, sprachen sie miteinander.

»Er ist auf dem Wege zum Fährhaus«, sagte Ann-Mari.

»Ja, vielleicht,« bemerkte Sigvard, »aber vielleicht geht er auch nur spazieren. Er wandert schon den ganzen Abend so herum. Er spricht mit niemand, er sieht weg, wenn er jemand begegnet. Er ist sicherlich sehr menschenscheu. Weißt du, Ann-Mari, es war so merkwürdig, als wir ihn am anderen Ufer abholten. Er stand sicher schon lange da und wartete.«

»Warum?«

»Weil er mit seinen Sachen ganz allein dastand, als wir hinkamen. Er kann doch unmöglich den Weg zu Fuß gegangen sein. Ich horchte, ob ich einen Wagen hören konnte, und es schien mir wohl, daß ich ganz weit weg fortrollende Wagenräder hörte, aber ganz bestimmt könnte ich es nicht sagen.«

»Jetzt hat er der Familie zugesehen, die sich verabschiedete und fortfuhr«, sagte Ann-Mari. »Vielleicht hat es ihn bewegt, das Beisammensein der Verwandten zu betrachten. Er ist so einsam und rastlos. Wo mag er herkommen?«

»Ja woher?« wiederholte Sigvard, »aus der großen Welt dort draußen –«

Sigvard wandte sich dem Meere zu, der großen Welt. Draußen war alles Dunkelheit, nur vereinzelte Sternpünktchen und der bleiche Widerschein auf dem Meere, jener ganz farblose Lichtflor, der dem Horizont zutrieb, wie von Windstößen bewegt, der Zauber der Nacht und der Ewigkeit, der im Menschen stets so unerklärliche Angst und Todesahnungen auslöst.

»Und wo fährt er jetzt hin?« fragte Ann-Mari, indem sie in die Dunkelheit hinabstarrte, in der der Fremde verschwunden war.

Sie bekam keine Antwort.

Sigvard führte sie in den Wald. Von dort hörte man das fröhliche Spiel der Jugend. Je tiefer sie in den Wald kamen, desto stärker spürten sie den Duft der Bäume, den Frühlingsduft, der in den Nächten nach der Schneeschmelze so besonders stark ist.

Etwas später nachts verließ der Lotsenälteste sein Haus. Er war sonst nicht der Mann, der abends spät aufblieb, aber an diesem Abend hatten Vorübergehende bemerkt, daß das Licht Stunde um Stunde hinter seiner blauen Gardine brannte. Und an dem Schatten auf der Gardine konnten sie sehen, wie der Lotsenälteste dort drinnen im Zimmer auf und ab spazierte. Die Leute, die ihn kannten, wunderten sich: ob er wohl jemanden erwartet? Wer sollte das sein?

Aber nun ging er also aus seinem Hause, nachdem er die Lampe gelöscht hatte. Auf der Schwelle blieb er ein wenig stehen, nicht um sich zu orientieren, denn er konnte blind über die bekannten Wege gehen, sondern um zu lauschen, ob jemand in der Nähe war. Er hörte nichts, und so stapfte er vorsichtig zwischen den Häusern weiter.

Es war unverkennbar, daß er einem bestimmten Ziele zustrebte und daß er nicht gesehen zu werden wünschte. Bei jeder Wegbiegung blieb er stehen und horchte, bevor er weiterging, er war auf heimlichen Wegen. Er ging durch das ganze kleine Dorf durch, vorbei an Gärten und Feldern, vorbei an der alten Werft, bis hinunter zur See.

Hier lag ein ziemlich großes Haus, doch nicht so groß wie das Fährhaus. Es schien gleichzeitig als Wohnung und Werkstatt zu dienen. Die Längswand hatte nur eine Tür und ein Fenster ganz oben an der Hausecke. Zu diesem Fenster trat der Lotsenälteste hin und versuchte hineinzublicken, aber da drinnen war es dunkel, die Leute waren schon schlafen gegangen. So pochte er denn mit dem Knöchel vorsichtig an die Scheibe, aber er mußte mehrmals klopfen, bis jemand auf ihn aufmerksam wurde.

Ein Mensch huschte auf bloßen Füßen drinnen durch das Zimmer. Bald darauf wurde die Rollgardine zurückgezogen, und ein graufahles Gesicht zeigte sich dicht an der Scheibe. Das war der Segelmacher, der nachsah, wer da klopfte. Der Lotsenälteste machte ihm ein Zeichen, die Tür zu öffnen, und der Segelmacher nickte.

Das brauchte immerhin einige Zeit, denn der Segelmacher mußte erst ein paar Kleidungsstücke umwerfen. Aber endlich wurde die Tür geöffnet, und der Lotsenälteste trat in einen großen dunklen Vorraum.

»Sprich leise,« flüsterte der Segelmacher, »die Bälger schlafen. Was ist denn mitten in der Nacht los?«

»Ich muß mit dir reden«, sagte der Lotsenälteste. »Ich kann nicht schlafen. Ich bin in großer Unruhe, Segelmacher.«

Aus dem anstoßenden Zimmer hörte man Kinderweinen, und eine Frauenstimme fragte erschrocken, was dieser Lärm zu bedeuten habe.

Der Segelmacher schlurfte auf seinen bloßen Füßen hinein und beruhigte sie damit, daß es nur der Lotsenälteste wäre. Er beugte sich über das Kopfkissen der Frau und flüsterte:

»Mir scheint, er hat getrunken ... er ist ein bißchen angesäuselt ... wir gehen einstweilen in die Werkstatt hinüber ... ich werde ihn schon bald los.«

Endlich fand er Zündhölzchen und konnte Licht anzünden. Der Lotsenälteste stand draußen im Flur und wartete auf ihn. Das war ein großer Raum, der durch die ganze Breite des Raumes ging und die Wohnung des Segelmachers von der Werkstatt trennte.

Der Segelmacher hielt die brennende Kerze dicht vor das Gesicht des Lotsenältesten, denn er wollte sehen, ob er wirklich betrunken war.

»Wie blaß du bist«, flüsterte er. »Oder vielleicht macht es die Beleuchtung.«

Der Segelmacher flüsterte immer, ein heiseres, pfeifendes Flüstern. Nach einem Fall vom Mast war sein Rücken ganz schief. Alles hing an ihm herunter. Die Arme hingen schwer und unnatürlich lang von den Schultern herab, der Bart hing grau und verfilzt über seine welken Lippen. Die Kleider hingen an ihm – und nun hingen auch die Hosenträger von seinem Hosenbund herab und schleiften klirrend über den Boden. Wenn er ohne Strümpfe ging, schubste er sich in ein paar ausgetretenen Pantoffeln vorwärts. All dies Hängende, Abgetragene und Schleppende gab seinem ganzen Wesen im Verein mit der heiseren Stimme etwas Verstecktes.

Der Segelmacher öffnete die Tür des Schlafzimmers, und die beiden Männer begaben sich in die Werkstatt. Hier zündete der Segelmacher eine Öllampe aus Blech an, die von einem eisernen Nagel an der Decke herabhing.

Die Werkstatt war ein sehr großer Raum. Das Licht der Öllampe drang nicht bis zu den Wänden, und es war daher unmöglich, all das Gerümpel zu überblicken, das hier herumlag. Der Boden war mit ganzen Haufen von Segeln, Takelwerk, Stricken und anderen Schiffsbestandteilen bedeckt. In der Tiefe des Zimmers hing ein zerrissenes Segel von der Decke herab, und seine Falten, die sich in der schwachen Beleuchtung undeutlich abzeichneten, verliehen diesem Teil des Raumes ein geheimnisvolles Aussehen.

Hier war seit hundert Jahren die Segelmacherwerkstatt, und diese hundert Jahre hatten den Raum mit einer Unzahl von Geräten und Nutzgegenständen erfüllt; alles, was zum Schiffsgebrauch gehörte, war hier zu finden. In diesem Raum hatte sich auch ein unausrottbarer See- und Schiffsgeruch eingenistet, ein teeriger, scharfer, wilder Geruch, der die jungen sehnsüchtigen Knaben, die hereinkamen, unwillkürlich berückte. Wenn der Segelmacher an Regentagen seine Werkstatt den Kindern der Nachbarn öffnete, wurde dieser Raum ein Märchengarten, hier hatten die Spiele eine geheimnisvoll erregende Phantastik wie nirgends sonst. Selbst am Tage war der Raum halbdunkel, die zwei kleinen Fenster, deren Scheiben mit Staubhäutchen überzogen waren, ließen keine Helligkeit durch.

Unter der Lampe stand ein Tisch, der ebenfalls mit Geräten überfüllt war. Er war wie ein Nähtisch, aber in vergrößerter Form, alles war riesenhaft, die Scheren eine halbe Elle lang, die Nadeln wie Spieße, auch der Fingerhut hatte eine andere Form, ein grober Leinenhandschuh mit einer Platte aus Eisen im Innern. Der Segelmacher schob ein paar Holzstühle an den Tisch und bot dem Lotsenältesten Platz an. Doch zuerst versicherte er sich, daß die Fenster mit Holzläden verschlossen waren, so daß niemand hereinschauen konnte.

Der Lotsenälteste setzte sich mit einer Art feierlichen Würde, man konnte ihm ansehen, daß er der Träger einer wichtigen Botschaft war.

Anfangs verhielt er sich schweigend, er saß hochaufgerichtet da, von der Last seiner Sendung beklommen. Er war blaß – wenn man in diesem wettergebräunten kupferfarbenen Gesicht von Blässe sprechen konnte. Es war eher eine Art grün, das sich am deutlichsten um die Augen lagerte. Der Blick war aufwärts auf einen Punkt der Zimmerdecke gerichtet, den er vielleicht festhalten wollte, um den Kurs nicht zu verlieren. Der Segelmacher beugte sich über den Tisch zu ihm vor und spürte nun deutlich den Branntweingeruch.

»Du hast getrunken, Lotsenältester«, flüsterte er freundlich – denn er war froh, Nachsicht üben zu können.

»Das habe ich,« erwiderte der Lotsenälteste, noch immer zur Höhe blickend, »das habe ich ...«, er sagte es wie ein Geständnis.

»Aber du weißt, Segelmacher, daß das nicht meine Gewohnheit ist. Aber die Dinge, die ich heute abend erlebt habe, haben mich so nachdenklich gestimmt, daß ich mir eine kleine Herzstärkung leisten mußte. Daraus darfst du mir keinen Vorwurf machen, Segelmacher.«

Der Segelmacher schien darüber ganz erschrocken. Er hob beschwörend die Hand.

»Nein, nein, nein«, rief er. »So war es nicht gemeint.«

Plötzlich bekam er Angst, daß er mit seiner heiseren Stimme zu laut geschrien hatte. Er schielte über die Schulter zurück, und mit einschmeichelnder Freundlichkeit fuhr er im Flüsterton fort:

»Ich nehme ja selbst ein kleines Schnäpschen ...«

Er erhob sich und schleppte sich vorsichtig zur Tür hin, wo er mit dem Ohr am Schlüsselloch lauschte.

» ... wenn ich spüre, daß ich –«

So geräuschlos es in den ausgetretenen Pantoffeln möglich war, schlich er sich in die dunkelste Ecke der Werkstatt, wo das Segel von der Decke herabhing. Während er an dem Lotsenältesten vorbeipassierte, brachte er seinen Satz zu Ende:

» ... daß ich die Trostlosigkeit dieses Lebens nicht mehr aushalten kann.«

Der Lotsenälteste merkte, daß der andere nach Branntwein suchte. Das Schlurfen der Pantoffel und das geheimnisvoll versteckte Wesen des Segelmachers und sein Verschwinden zwischen den Falten des dunklen Segels – all dies rief in dem umnebelten Hirn des Lotsenältesten die Vorstellung eines seltsamen mystischen Vorgangs hervor: es war eine große Reise, die sein Freund da unternahm, eine Reise zu fremden Himmelsstrichen. Im nächsten Augenblick kam der Freund aus den Falten des Segels mit der Flasche in der Hand zum Vorschein.


 << zurück weiter >>