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XI. Sigvard und Ann-Mari

Am frühen Abend war es sternklar und still. Die Dächer der Häuser glitzerten im Sternenschein wie regenfeucht. Aber unter den Bäumen und unten auf den Wegen lastete die Dunkelheit unergründlich schwer.

An diesem Abend brannte lange Licht in den kleinen Fenstern, die Leute saßen beisammen und sprachen von den Vorgängen im Bethaus. Auch in der Wirtsstube war es anders als sonst am Sonntagabend, niemand redete viel über das, was der Geistliche gesagt hatte, aber seine Beschwörungen schienen drückend auf allen zu lasten.

Nur einige wenige Gäste waren gekommen. Die saßen verdrossen vor ihren Krügen, ungeneigt, sich in ein Gespräch einzulassen. Man redete ein wenig über die Aussichten der Fischerei, aber nur ganz gleichgültig, denn keiner von ihnen hatte etwas zu erzählen, was der andere nicht schon ohnehin gewußt hätte. Dem Beisammensein fehlte gänzlich die belebende Würze der Bosheit und der Schadenfreude, die der Ansporn dieser Menschen war. Wenn sie auch in ihrem Herzen zufrieden mit der Behandlung waren, die den verhaßten Wirtsleuten im Bethaus zuteil geworden war, empfanden sie sie doch an diesem Abend als einen Eingriff in verbriefte Rechte, in das Recht, abends unter den hergebrachten Formen beisammen zu sein. Wenn die Tür ging, blickten sie sehnsüchtig auf, ob nicht einer der anderen kam. Vielleicht der Segelmacher oder der Lotsenälteste. Aber es war niemand. Nur Kaisa oder Johannes, und die Stunden gingen. Es wurde spät, und die Männer wurden immer in sich gekehrter und gereizter.

Die Wirtsleute selbst trugen auch nicht gerade dazu bei, den Abend gemütlicher zu machen.

Die alte Hexe tat, als hörte sie ihre Bestellungen nicht, so daß sie Ann-Mari rufen mußten, damit sie ihnen die Krüge auf den Tisch stellte. Und Johannes antwortete höchst widerwillig auf die an ihn gestellten Fragen, wenn er ein seltenes Mal durch die Schankstube ging. Es sah aus, als hätte er an diesem Abend viel außer Haus zu tun. Er rumorte unten auf der Brücke mit Kisten und Schiffsgeräten herum, er schien sich vorgenommen zu haben, gerade am Feiertagsabend gründlich aufzuräumen. Wie er nur die leeren Paraffintonnen hin und her rollte, wunderte die Leute am Tisch – Johannes war sonst nicht der Mann, der zu eifrig zugriff, selbst der Zorn konnte ihn nicht zu überflüssiger Arbeit bewegen.

Auch wollte er kein Glas mittrinken. Er sagte gerade heraus nein, und dabei drang ein Gurgeln aus seiner Kehle, das wie ein verschluckter Fluch klang. Dabei sah er sie mit geducktem Kopf an, die Pupillen seiner Augen glitten ganz unter die buschigen Brauen, so daß es war, als starrte er sie nur mit den weißen Augäpfeln an.

Die Männer flüsterten darüber. Johannes kam ihnen an diesem Abend so seltsam vor. Sie konnten doch nichts dafür, wenn ihre Weiber in das Bethaus rannten und dort Lärm schlugen. Schließlich trat Kaisa in die Küchentür und ließ ein paar Worte fallen, daß es Sonntagabend und höchste Zeit sei, zuzusperren.

Da lachten sie am Tische laut. »Man könnte rein glauben, du wärest selber im Bethaus gewesen«, sagten sie. Im nächsten Augenblick war Kaisa wieder in die dunkle Küche verschwunden. Ihre einzige Antwort bestand in einem heftigen Lärm mit Töpfen und Pfannen, eine Sprache ohne Worte, die allen alten Weibern geläufig ist und aufreizender wirkt als beleidigende Schimpfworte.

Und bald schien es den Männern selbst unerträglich trübselig im Haus. Die Stimmung sank wie das gelbe Öl in der Lampe, und sie begannen gegenseitig aufeinander zornig zu werden. Endlich standen sie auf. Aber obgleich sie einsahen, daß sie nicht länger bleiben konnten, fiel es ihnen doch sehr schwer sich loszureißen. Ein unwiderstehlicher Trotz hieß sie bleiben. Sie kratzten ihre Pfeifen auf dem Boden aus, riefen Kaisa scherzend: »Alte Hexe!« und lachten gehässig.

Dann gingen sie mit schweren Schritten. Der eine warf noch über die Schulter Ann-Mari ein Abschiedswort zu: »Ich laß deine Mutter schön grüßen!« Das war in der offenen Tür. Draußen stand das Sternenmeer über den Hausdächern und beleuchtete ihre Gestalten in den derben Kleidern, dann verschwanden sie, nachdem sie die Tore schmetternd ins Schloß geworfen hatten. Ihre Stimmen und ihr zorniges Lachen verhallte allmählich, dieses Lachen, das so kurzatmig und unfroh war, daß es schon bei der nächsten Wegkreuzung in eine Rauferei umschlagen konnte.

Sigvard, der still in der Ofenecke gesessen hatte, war, als er das Abschiedswort des Mannes hörte, jäh aufgesprungen und wollte ihm nacheilen. Doch Ann-Mari umklammerte ihn.

»Aber Sigvard,« rief sie ängstlich, »willst du noch dazu beitragen, alles für uns schlimmer zu machen?«

»Ich hab ganz gut verstanden, wie er es gemeint hat,« rief Sigvard, »warum dürfen sie alle so häßlich gegen dich sein?«

Sie drückte ihn sanft auf die Bank nieder und setzte sich zu ihm:

»Ich hab es auch verstanden,« sagte sie, »aber es macht mir nichts mehr. Als ich noch klein war, hörte ich dieselben oder ähnliche Worte in diesem Ton gesagt. Ich verstand den Sinn nicht, ich empfand es nur als etwas Böses. Später begriff ich es ja, aber da schmerzte es mich lange nicht so sehr wie damals, als ich noch ganz unwissend war.«

Sigvard saß da, die Ellbogen auf die Knie gestützt und starrte in den Kamin.

»Es ist hier nicht mehr auszuhalten«, sagte er. »Ich hab heute wieder mit meinem Vater gesprochen.«

Eine Weile blieb es stumm. Sie fragte nicht. Dann sagte er:

»Wenn wir von hier weggehen, brauchen wir vorläufig die Unterstützung des Alten nicht. Wir können zuwarten, dann werden wir schon sehen. Er ist nicht so hartherzig wie gewisse andere.«

»Ich träume immer davon, mit dir zusammen in die Welt hinauszuziehen«, erwiderte Ann-Mari.

»Aber du fühlst dich hier gebunden?«

»Was soll aus Signe werden?« fragte sie flüsternd.

»Ach, deine Mutter hat ohnehin ihre eigene Welt.«

»Wenn auch ich sie verließe, dann würde sie nicht länger leben wollen, glaube ich. Ich habe von Menschen gehört, denen eine schwere Aufgabe auferlegt ist. Menschen, die nur auf die Welt gekommen sind, um sich für andere zu opfern. Das muß nicht nur eine Aufgabe für große, bedeutende Menschen sein. Gott kann seinen Finger auch auf ein bloßes Kind legen und sagen: Dieses Leben voll Aufopferung sollst du tragen. Glaube nicht, Sigvard, daß ich das nur im Bethaus gehört habe, ich habe es mir selbst ausgedacht. Nachts, wenn ich wach liege, denke ich oft daran – und dann kommt eine Art Ruhe und Zufriedenheit über mich. Ja, denn oft bin ich sehr unruhig, Sigvard, weißt du warum?«

Sigvard machte eine Bewegung nach dem großen, unwirtlichen Raum und sagte niedergeschlagen:

»Du brauchst dich nur umzusehen.«

»Nein, nicht weil es hier so unheimlich ist, sondern weil die Zeit geht. So merkwürdig, ich kann es nicht anders erklären. Wenn ich dasitze und ausrechne, daß jetzt wieder ein Monat vergangen ist – mit Jahren kann ich ja nicht rechnen, ich bin ja so jung, dann wird mir so ängstlich zumute. Ich habe das Gefühl, wieder ein Monat, der mich eingefangen hat. Und wenn dann schließlich die Monate zu Jahren werden, dann ist die vergangene Zeit vielleicht so schwer geworden, daß ich mich gar nicht mehr losreißen kann. Es ist, als wenn ich auf einem Morast stände und immer tiefer einsinken würde.«

Ann-Mari sprach in einer eigenen, etwas umständlichen Weise, wie es ganz junge Menschen tun, wenn sie Dinge behandeln, die sie gern verstehen möchten.

»Wenn auch ich Signe verließe, wie würde es ihr dann ergehen?« fragte sie. »Ich habe versucht, es mir auszudenken. Ob ich dann nicht in meinem Herzen das Gefühl hätte, daß jemand herumgeht und nach mir ruft? Wenn meine Mutter ein Mensch wie alle anderen wäre, dann schon. Wenn ich von ihr wegginge, würde ich sie immer in meinen Gewissensbissen spüren, sie immer hören, wie sie nach mir ruft, sie immer vor mir sehen – wie sie herumgeht und sucht. Sie würde ja nicht anders denken, als daß sie mich finden muß, wenn sie nur immer sucht und sucht.«

»Den Gedanken an ihren furchtbaren Eifer und an ihre Ungeduld«, fuhr Ann-Mari fort, »könnte ich nie abschütteln. Und wenn die Nacht käme, würde mich das Gefühl zur Verzweiflung bringen, daß sie nun wach liegt und im Dunkel auf meine Schritte horcht. All das ist so furchtbar schwer, Sigvard.«

Sigvard sagte:

»Heute war sie mehrmals draußen auf den Schären. Stundenlang ist sie dagestanden und hat vor sich hingestarrt, ihr weißes Kopftuch flatterte im Winde. Ich hörte die Leute über sie reden. ›Seht die Närrische an‹, sagten sie, und dabei lachten sie. Aber sie hatten wohl keinen Grund, gar so übermütig zu sein. Vielleicht stand sie etwas so Mächtigem gegenüber, wie sie es nicht ahnen konnten. Ich vermochte kein Auge von ihr abzuwenden. Es ist schon etwas an dem Glauben, von dem wir hören, daß er Berge versetzen kann. Es war, als ginge etwas von diesem Glauben auch auf mich über. Ich konnte es nicht lassen, ich mußte auch dort hinaussehen – und auf etwas warten ... auf etwas hoffen.«

Sigvard beschrieb mit den Händen einen Bogen durch die Luft, wie er es zu tun pflegte, wenn er seine Träumereien erklären wollte.

»Das ganze Meer war so leer,« sagte er, »nicht der Schatten eines Segels am ganzen Horizont zu entdecken. Aber dennoch hatte ich plötzlich das Gefühl, daß dort draußen eins auftauchen müßte. Ich wartete so angespannt, daß ich mein Herz klopfen hörte. Und all das nur, weil sie dort draußen stand und vor sich hinstarrte. Ihr Glaube ging auf mich über.«

Sigvard war ein bißchen verlegen über seine eigene Feierlichkeit geworden. Er stand auf und legte im Kamin nach. Während er so vorgebeugt dastand und die Glut schürte, fragte er mit einer plötzlichen Veränderung in der Stimme:

»Sollen wir heute abend hinübergehen? Ich habe mein Spielwerk mit.«

Ann-Mari ließ die Frage offen. Sie war durch seine Erzählung erregt, und in einem Ton, als wollte sie ihm ein gefährliches Geheimnis anvertrauen, sagte sie:

»Signe ist hellsichtig. Und manchmal kommt das auch über mich. Heute den ganzen Tag bilde ich mir fest ein, daß etwas Unerwartetes und Seltsames geschehen wird.«

»Was sollte das sein?«

»Ich weiß nicht. Ich kann nichts sehen, aber ich fühle es. Und es kommt immer näher und näher. Vielleicht ist es etwas mit den Alten.«

»Die Alten,« sagte Sigvard gleichgültig, »die sind nur ganz außer Rand und Band über die Sache mit dem Bethaus.«

»Nein, es muß etwas anderes sein. Erinnerst du dich noch an den furchtbaren Abend, als Johannes das Messer gegen die Großmutter zog? Auch da war es mir ganz so zumute. Den ganzen Tag ging ich herum und wartete auf ein Unglück. Jetzt auch. Die Brust schnürt sich mir vor Angst zusammen, und ich möchte mich so gerne verstecken und nur warten, warten. Und dabei ist es mir so furchtbar, daß ich niemandem helfen kann. Ich weiß ja nicht, was es ist. Wenn ich nur einen der Alten ansehe, ist es mir, als ob eine kalte Hand mir nach dem Herzen greifen würde.«

»Sie sehen heute auch wirklich ganz unheimlich aus«, sagte Sigvard. »Johannes fürchtet sich vor Kaisa. Ich habe es heute abend bemerkt, als er die Lampe anzündete und sie danebenstand und zusah. Das Glas klirrte ihm in der Hand. ›Geh weg! Geh weg!‹ rief er. Und wie seltsam sie heute abend im Hause herumwandert. Sie ist überall. Aus allen Schatten kommt sie hervor, ohne daß man ihre Schritte hört. Wo ist sie denn jetzt? Hörst du sie?«

Sie lauschten, aber kein Laut war zu vernehmen. Sie sahen zur Zimmerdecke auf.

»Vorhin war sie dort oben,« sagte Sigvard, »ich möchte wissen, ob der Fremde heimgekommen ist?«

»Nein, noch nicht.«

»Bleibt er lange hier, der Mann?«

»Ich fragte ihn heute. Aber er schüttelte nur den Kopf. ›Ja, du kannst viel fragen, mein Kind‹, sagte er.«

In diesem Augenblick wurde die Haustür vorsichtig geöffnet, und Signe kam herein. Als sie die beiden bemerkte, huschte ein Lächeln über ihr Gesicht.

Sie mußte heftig gelaufen sein, denn sie atmete schwer und rasch. Ihr Kopftuch war ihr auf den Nacken geglitten, so daß sie mit bloßem Kopf dastand. Das beinahe weiße Haar war vom Wind aufgewühlt, ihr Gesicht war noch jung, aber die Jugend darin war gleichsam von den Falten der Trauer und des Kummers ausgelöscht.

In diesem verheerten Gesicht erschien nun ein Lächeln, ein seltsames, wahnwitziges Lächeln. Es wirkte so feindselig und unmenschlich, daß Ann-Mari unwillkürlich nach Sigvards Hand griff und ängstlich seinen Namen flüsterte.

*

Signe schien von jener schrecklichen Hast gejagt, die Geisteskranken eigen ist, wenn ihre Vorstellungen sie ganz beschäftigen. Sie ging rasch auf die beiden jungen Menschen zu, unruhig vor innerer Bewegung und doch mit einem Widerschein von Freude im Gesicht.

Sie konnte es nicht erwarten, sich mitzuteilen, und ihre Stimme hatte einen vertraulichen Klang.

Sie zog Ann-Mari zum Tisch hin, so daß der Lampenschein auf das Gesicht des jungen Mädchens fiel. Sie befühlte ihr Haar und ihre Schultern liebkosend und winselte förmlich vor Freude. Sigvard ging auch hin und schnellte sich mit einem Sprung auf den Tisch. Ann-Mari schien tief betrübt. Signe merkte es und wollte sie trösten, wie eine Mutter ein verschrecktes Kind tröstet, und ihr etwas von dem Überfluß ihres Glücks geben.

»Sei ganz ruhig, Ann-Mari«, sagte sie. »Du brauchst dich vor nichts zu fürchten. Sieh mich an! Fürchte ich mich? Nein, ich bin glücklich, denn jetzt weiß ich bestimmt, daß die Zeit gekommen ist, und da mußt du auch glücklich sein. Ich habe das Licht draußen auf den Schären gesehen. Es begann heute in aller Früh. Ich sah es weit, weit draußen. Dann kam es immer näher. Und am Abend war es klarer denn je. Es steht gerade über dem Hause, oben zwischen den Sternen.«

»Ach Mutter«, sagte Ann-Mari.

»Darauf habe ich soviele Jahre gewartet«, fuhr Signe eifrig und überredend fort. »Jetzt ist es endlich gekommen. Es ist gekommen zu uns beiden, und vielleicht zu allen. Wenn ich dort draußen stehe, fühle ich es über mir wie Strahlenglanz, es wärmt nicht, aber es macht mich glückselig. Ich sehe alles jetzt anders. Wenn ich in der Dunkelheit an den Häusern vorbeigehe, fürchte ich mich nicht mehr vor den Menschen. Die wissen nicht, was uns widerfahren ist, aber ich weiß es. Ann-Mari, wie viele Jahre habe ich darauf gewartet. Noch eine kleine Weile, dann ist alles vorbei.«

Ihre Augen strahlten vor Seligkeit.

»Ach Mutter, was ist es?« fragte Ann-Mari verzweifelt.

Signe antwortete nachsichtig:

»Weißt du es nicht, Ann-Mari? Es ist die Erlösung.«

»Signe, du solltest versuchen ein bißchen zu schlafen«, sagte Sigvard freundlich. »Du mußt sicherlich sehr müde sein.«

»Schlafen«, schrie die Wahnsinnige erschauernd auf. »Nein, ich kann nicht mehr schlafen.«

»Soll jemand kommen?« fragte Ann-Mari.

»Ja, jemand wird kommen.«

Signe begann zu lauschen, dort oben ging eine Tür, sehr vorsichtig, und man hörte schleppende Schritte, die sich irgendwo in dem großen Hause verloren. Das war Kaisa.

Während Signe so starrend und lauschend stand, hatte sich Signes Aufmerksamkeit der großen Doppeltür zugewandt, die zum Fluß hinausführte. Sie war so mächtig wie ein Scheunentor. Wenn beide Flügel zurückgeschlagen waren, konnte man im Fall einer Sturmflut die Boote bis in die Wirtsstube hineinziehen. Nun war die Tür jedoch geschlossen und füllte den größten Teil der Wand aus – in ihrer spitzbogigen Form und mit den schräggestellten Balken konnte sie im Dunkel einer Tanne gleichen.

Signe sah die Tür wie verzaubert an.

Heftig umklammerte sie Ann-Maris Arm. Plötzlich wies sie hinauf und sagte:

»Da ist ein Kreuz! Seht! Da ist ein Kreuz!«

»Das ist ja nur die große Brückentür«, sagte Ann-Mari ängstlich.

Das Dunkel, die Stille und Signes furchtbare Unruhe hatten das Mädchen und den Knaben ganz ängstlich gemacht. Sie starrten auch die Tür an, die sie doch so gut kannten, aber es war, als hätte sie jetzt ein anderes Aussehen, eine kirchliche Höhe und Weihe. Die Wahnsinnige wiederholte nur: »Das ist das Kreuz«, und strich beruhigend über Ann-Maris Haar.

Von oben hörte man Stimmen. Zwei Menschen, die miteinander sprachen.

»Das ist Kaisa und Johannes«, sagte Sigvard förmlich befreit, den Laut anderer Menschenstimmen zu hören. Man konnte nicht verstehen, was dort oben gesprochen wurde, dazu war das Haus aus zu schweren Planken erbaut. Aber schon die Laute, die zu ihnen herabdrangen, ließen den Ton der Stimmen erraten: die Kaisas zorniger Hohn, die des Mannes brummiger Widerspruch.

Bevor noch Kaisas Schritte auf der Treppe ertönten, wußte Signe, daß die Alte kommen würde. Sie knüpfte das Tuch um den Kopf und ging auf die Tür zu. Sigvard versuchte sie zurückzuhalten, aber es war vergeblich.

Signes Blick drückte eine wahnwitzige Schlauheit aus, sie war von ihren Vorstellungen völlig besessen und ließ sich durch menschlichen Eingriff nicht stören. Wieder wanderte sie hinaus in den Sternenschein.

»Hast du sie verstanden?« fragte Ann-Mari nachdenklich. »Das Kreuz? Was meinte sie damit?«

»Am Jahrestag ist sie ja immer so«, gab Sigvard zur Antwort. »Sonst können Monate vergehen, ohne daß sie ein Wort redet.«

»Diesmal verstehe ich sie gar nicht.«

Sigvard legte den Riemen der Ziehharmonika über die Schulter. Während er seinen Rock zuknöpfte, ruhte sein Blick die ganze Zeit auf der Brückentür. Er zeichnete mit dem Zeigefinger eine lotrechte Linie durch die Luft, die der Türspalte folgte – und darüber zeichnete er eine Querlinie, ein Kreuz. Er blinzelte mit den Augen, um das Bild auf der Tür festzuhalten.

»Es kann schon so aussehen, wenn die Felder im Schatten liegen,« sagte er, »man kann viele seltsame Figuren aus der Stellung der Planken herausbekommen. Es ist so, wie wenn man fremde Menschenköpfe auf den Felsschroffen in der Ferne sieht.«

Er hörte Kaisa die Treppe herunterkommen und fragte:

»Sollen wir gehen? Oder willst du zuerst hören, was sie zu sagen hat?«

Ann-Mari wollte nicht gehen.

Kaisa humpelte durch die Küche, sich auf ihren Stock stützend. Sie murmelte etwas in sich hinein, es war der letzte Nachhall des Zankes mit dem Mann. Und zwischen den Worten stieß sie Kehllaute aus, die einen unheimlichen Anstrich von Fröhlichkeit hatten.

Die Fährleute gingen immer so herum und murmelten Flüche in sich hinein. Als sie über die Schwelle trat, hörte sie mit ihrem Gebrumm nicht auf, aber tat, als spräche sie zu einem großen schwarzen Kater mit buschigem Schwanz, der um ihre Röcke strich.

»Die Lampe geht aus«, sagte sie. Dabei warf sie einen Blick von einem zum andern und lächelte. Kaisa hatte noch alle Zähne im Munde, das Lächeln flackerte weiß in ihrem Gesicht und hob dessen zigeunerhaftes Gepräge hervor.

»Für Liebesstunden ist die Dunkelheit gerade recht,« sagte sie, »geh und hol eine Kerze.«

Sigvard ging in die Küche, aus der er gleich darauf mit einer angezündeten Kerze in der Hand zurückkehrte. Er stellte sie auf den Tisch und löschte die rauchende Lampe aus. Es wurde nun noch dunkler in der Stube. Gewaltige Schattenfiguren huschten lautlos über die Wände, wenn die Menschen sich bewegten.

»Ist sie dagewesen?« fragte Kaisa.

Man verstand sofort, wen sie meinte. Sigvard nickte.

»Sie ist wieder fort«, sagte er.

»So närrisch wie heute habe ich sie noch nie gesehen ... das Luder«, fügte sie hinzu.

»Ihr seid zu hart gegen sie«, bemerkte der junge Bursche ernst. »Ihr vergeßt, daß sie krank und vom Unglück gezeichnet ist. Wenn Ihr nachsichtiger gegen sie wäret, würde es vielleicht besser werden.«

»Nachsichtig, schöntun, was denn noch ...«

Die alte Kaisa stieß die Worte hervor und schlug den Takt dazu mit dem Stock auf dem Boden. Aber sie fauchte nicht vor Wut wie sonst. Sie war eher sanft. Aber diese leicht spöttische Freundlichkeit, die sie zur Schau trug, indem sie sich lächelnd über den Stock vorbeugte, ließ die andern erschauern.

»Demütig und nachsichtig gegen die Menschen ... so soll man sein, ja.«

Plötzlich rief sie laut:

»Ist ein einziger Mensch hier, der mir nicht Unglück gebracht hat? Viele, viele Jahre konnte ich niemanden ansehen, ohne Haß und Abscheu in aller Augen zu lesen. Ich verstehe vielleicht nicht viel von den Wünschen der Menschen, aber das ist nur, weil ich rings um mich keine anderen Wünsche merke, als daß es mir so recht hundeelend ergehen möge. Vor einer Stunde saß ich am offenen Fenster und blickte über das Dorf hin. Ich konnte alle beleuchteten Fenster zählen und mir die Namen all der alten Vetteln dort drinnen vorsagen, alte Vetteln in Hemden und Hosen. Das war eine Geschichte für mich. Sie war ohne Worte, aber ich konnte doch hören, was hinter jeder hellen Gardine gesagt wurde. Jetzt wird der alten Hexe der Garaus gemacht, jetzt wird sie in der Luft zerrissen! Nein, wie es aus allen Fenstern von befriedigter Selbstgerechtigkeit strahlte! Das war der Widerschein aus dem Bethaus! Da bin ich heute ohne Schonung verurteilt worden. Ich habe mir ja nichts anderes erwartet. Ich kenne das Leben! Wenn ich von einem Unglück getroffen werde, kann ich von diesen Menschen nicht einen nennen, der mir eine hilfreiche Hand reichen würde. Denn ich weiß –«

Sie streckte ihre gichtbrüchigen krummen Finger vor:

»Ich weiß, daß alle noch herbeieilen würden, um meine blutigen Hände von den Stützen wegzureißen, die mich retten könnten ... und gegen diese Menschen soll ich demütig, sanft und milde sein – wieder entblößte sie ihre schneeweißen Zähne in einem Lächeln –, ja freilich!«

Plötzlich stieß sie mit dem Stock hart auf den Boden auf und rief:

»Meine eigene Rechnung stelle ich selbst auf, und die geht niemanden etwas an. Ich werde sie schon abschließen.«

»Ihr nehmt das Leben zu schwer,« wendete Sigvard ein, »es ist ja wahr, daß hier viel Feindseligkeit herrscht, aber das kommt daher, daß die Menschen an nichts Freudiges zu denken haben. Alle sind sie gleich gehässig gegeneinander. Niemand will es anders.«

Kaisa schüttelte nur unwillig den Kopf.

»Darum sollten alle, die es können, trachten, von hier fortzukommen«, fuhr der Knabe mutig fort. »Das Leben kann nicht überall so erbärmlich sein wie hier. Namentlich wer jung ist, sollte trachten, von hier loszukommen.«

Ann-Mari packte ihn am Rockärmel. Aber Sigvard sprach unerschrocken weiter:

»Namentlich die Jugend, ja. Die hat die Zukunft vor sich. Ann-Mari und ich haben oft darüber gesprochen.«

»Dann solltest du auch mit deinem Vater darüber sprechen«, gab Kaisa scharf zurück. »Er als Großbauer könnte das mit der Zukunft ganz leicht ordnen.«

»Ach, der Vater gibt schon nach, wenn nur ich nicht nachgebe.«

»Ja, er könnte sich vielleicht so weit herablassen, hier in der Schenke der Hexe die Hochzeit zu feiern, in dem Haus der Verfluchten. Hier ist es übrigens heute abend leer.«

»Dafür habt Ihr selbst gesorgt, Mutter Kaisa«, sagte Sigvard. »Ihr waret wahrhaftig nicht entgegenkommend gegen die wenigen Menschen, die da waren.«

Kaisa verfiel wieder in ihren scherzhaften Ton:

»Es ist heute Sonntagabend«, sagte sie. »Ich muß doch anfangen, mich nach den Wünschen des Herrn Pfarrers zu richten und den Ruhetag heiligen.« Plötzlich fragte sie:

»Aber warum hockt ihr hier herum? Soll man vielleicht auch noch von mir sagen, daß ich die Jugend hindere, in Gottes freie Natur hinauszugehen? Im Walde wird getanzt. Ich hörte es durch das offene Fenster.«

»So habt Ihr also nichts dagegen, daß wir heute abend fortgehen?«

»Nein, nein –«

»Aber wenn Ihr etwas dagegen habt –«

»Ich erwarte niemanden mehr. Nur den fremden Gast. Die Kerze kann stehenbleiben und brennen, bis er kommt. Er bleibt übrigens nicht lange hier.«

Kaisa nahm die Kerze und putzte sie mit ihrer langen, mageren Kralle. Die anderen konnten nun ihr Gesicht nicht mehr sehen.

»Fährt er weiter?« fragte der Junge.

»Er fährt weiter«, sagte Kaisa.

Als sie allein geblieben war, nahm sie die Kerze, um eine Runde durch das Haus zu machen. Die Schatten folgten ihr wie ein großer schleppender Mantel durch die Räume, und mit der Dunkelheit begann ein anderes Leben in der großen Schankstube.

Durch die obersten Fensterluken fiel ein feines Lichtgespinst vom Sternenhimmel, plötzlich waren die Fensterbretter und die Tischkanten grün wie die alten grünen Steine auf dem Kirchhof. Die Zimmerdecke verschwand in der Dunkelheit und wurde unermeßlich hoch, und unten auf dem Boden bewegten sich die funkelnden Katzenaugen lautlos.

Als die Schritte der Alten nicht mehr zu hören waren, wurde es dennoch nicht ganz still in dem großen Hause. Solche Häuser, die durch Jahrhunderte gelebt haben, kommen nie so recht zur Ruhe. Sie spüren jedes Wetter und jeden Wind und können nie aufhören, klagend und knirschend ihre Planken zurechtzulegen. Und weil das Haus durch das Bewohntsein der langen Jahre ein menschliches Gepräge hat, kommt auch etwas Menschliches in diese Laute, die durch die Stockwerke des Hauses gehen.

Diese Laute können menschliches Wohlbehagen ausdrücken, aber sie können auch eine andere Färbung haben, die den Menschen angstvoll aufhorchen läßt, wenn er allein ist. Denn das Leben der Menschen stirbt nie, sondern setzt sich noch lange nach dem Tode fort – in den ausgetretenen Treppenstufen und Bodenbrettern, in den Klinken der Türen, in der Rundung der Stühle, auf denen die Dahingegangenen geruht haben. Die Seele der alten Häuser kann nie ganz begriffen werden – die Lebenden ahnen nur, daß das Leben der Vergangenheit noch Wache hält, um das Gute mit Wärme und Freude zu grüßen und die bösen Gedanken mit unsäglicher Qual zu verfolgen.


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