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V. Kaisa, die Hexe

Johannes blieb im Stiegenhaus stehen, um zu sehen, daß der Fremde gut hinaufkam. Die Herbergsmutter hatte sich in der Küche versteckt, Johannes sah, da die Küchentür offen war, undeutlich die Umrisse ihrer Gestalt. Von dem Licht, das der Fremde in der Hand trug, fiel auch ein matter Schein in die schwarze Küche, die blanken Küchengeräte dort blinkten wie leuchtende Augen auf.

Auf dem obersten Treppenabsatz blieb der Fremde stehen.

»Die Tür gerade vor mir, nicht wahr?« fragte er.

»Ja.«

»Ich leide sehr an Schlaflosigkeit,« fuhr er fort, »es kommt vor, daß ich mitten in der Nacht oder gegen Morgen ein bißchen spazieren gehen muß. Wie gelange ich dann hinaus?«

»Hier unter der Treppe ist eine kleine Tür. Die steht offen.«

»Schön, dann finde ich schon. Gute Nacht.«

»Gute Nacht«, gab Johannes zurück.

Man hörte den Fremden in sein Zimmer gehen und die Tür hinter sich zuschließen. Johannes kehrte in die Gaststube zurück, wo noch einiges wegzuräumen war. Durch das offene Fenster lauschte er den Schritten, die sich über einen steinigen Abhang entfernten. Das war der Lotsenälteste auf dem Heimweg.

Und bald darauf trat auch die Frau ins Zimmer. Die beiden alten Menschen gingen aneinander vorbei und hantierten jeder für sich herum. Es lag eigentlich nichts Feindliches in diesem Schweigen, aber es war doch, als hätten sie sich etwas zu sagen, vielleicht böse Worte, aber keiner von ihnen entschloß sich, den Anfang zu machen; es lag etwas Heimtückisches, Tierisches in diesem leisen Herumschlurfen.

Endlich setzte sich die Alte am Kamin nieder. Der Mann blieb unter dem Lampenschirm stehen und putzte irgendwelche Fischgeräte.

»Was hast du für die Überfuhr bekommen?« fragte sie.

»Er hat noch gar nicht bezahlt.«

Und nach einer Pause fügte er hinzu:

»Aber er wollte Sigvard ein Trinkgeld geben.«

»Hat er es genommen?«

»Nein, er hat es nicht genommen. Es war ein halber Taler.«

Die Frau schnitt eine Grimasse.

»Er ist stolz, der Junge. Ist Ann-Mari zu Bett gegangen?«

»Ich weiß nicht,« erwiderte der Mann, »heute ist ja Samstagabend. Der erste Frühlingsabend. Ich hörte vorhin die Ziehharmonika vom Kirchenhügel.«

Wieder war es still. Aus dem Zimmer über ihnen hörte man Schritte. Das war der Fremde, der seine Nachtvorbereitungen traf. Es hörte sich an, als ob er seine Koffer öffnete und irgendwelche Gegenstände, Stiefel und derlei herausnähme.

»Er ist sicher reich, der Mann«, sagte die Fährwirtin mit gesenkter Stimme. »Seine Koffer sind mit Silber beschlagen. Sagte er etwas darüber, wie lange er bleiben will?«

»Er redete etwas von ein paar Tagen. Vielleicht zwei oder drei. Er will weiter.«

»Ich habe versucht, seinen großen Koffer zu öffnen, aber er war abgesperrt.«

Dem Mann gab es einen Ruck.

»Das ist doch selbstverständlich,« sagte er, »daß man seine Sachen versperren muß, wenn man auf Reisen geht.«

»Übrigens hat er seine Reichtümer nicht in dem großen Koffer, sondern in dem anderen, dem kleineren.«

»Wie kannst du das wissen?«

»Das ist doch klar. Von dem kleinen Koffer will er sich gar nicht trennen. Er muß ihn immer in der Nähe haben. Als er hier am Kamin saß, stand der Koffer neben ihm, und von Zeit zu Zeit sah er immer hin. Ich bin ganz sicher, daß er große Reichtümer in diesem Koffer hat. Geld, Gold.«

»Es können ja auch wichtige Papiere sein.«

»Kein Mensch zieht mit wichtigen Dokumenten im Koffer im Lande herum. Solche Papiere trägt man auf der Brust, in der Brieftasche. Nein, in diesem Koffer sind schon andere Dinge. Gold.«

Wieder hörte man oben Schritte.

»Er geht im Zimmer hin und her«, sagte die Frau.

»Er leidet ja an Schlaflosigkeit, hat er gesagt.«

»An Unruhe, ja. Vielleicht an schlechtem Gewissen.«

»Warum denn?«

»Wie heißt er?«

»Er hat seinen Namen noch nicht eingeschrieben.«

»Und warum kommt er her und läßt sich an einem solchen Ort nieder?«

»Vielleicht um Ruhe zu finden.«

»Oder um sich zu verbergen. Vor wem? Ja, wer kann das wissen? Vielleicht ist schon jemand unterwegs und sucht ihn. Er hat etwas Verdächtiges an sich. Er kommt von weit her. Woher hat er seine Reichtümer?«

»Das ist etwas, was uns gar nichts angeht.«

»Er kommt in tiefster Heimlichkeit her. Wenn er abreist, sagt er nicht, wohin er fährt, er hinterläßt keine Spuren. Selbst wenn er hier verschwindet, wird niemand nach ihm fragen.«

Der Mann dort unter der Lampe wurde unruhig. Er ließ die Geräte zu Boden fallen.

»Du siehst schlecht«, sagte die Alte. »Deine Hände zittern, und du kannst die Sachen nicht halten. Du wirst alt und gebrechlich.«

»Die Jahre setzen mir zu«, sagte der Mann mit heiserer, bewegter Stimme, »und dann dieser ewige Unfriede.«

»Vielleicht beginnt der wirkliche Kampf erst jetzt«, murmelte die Frau. »Hast du nicht gehört, wie der neue Pfarrer herumgeht und predigt?«

»Ich hab so etwas gehört.«

»Er will uns die Gastwirtschaft nehmen. Er nennt sie eine Pesthöhle der Sünde. Die Mannsleute kommen her und vertrinken ihr ganzes Geld, sagt er, so daß für daheim nichts übrig bleibt. Ist das unsere Sache? Wir bitten keinen, zu kommen. Aber jetzt hat er alle Frauen auf seiner Seite. Die schreien und heulen jeden Tag dort drüben im Bethaus. Vielleicht wird das Fährgasthaus eines schönen Tages gesperrt. Und dann stehen wir da, Johannes. Dann müssen wir anfangen die Sparpfennige anzugreifen. Denn einen anderen Ausweg gibt es wohl nicht.«

Die Alte streckte ihre beiden gekrümmten Hände vor, es war gleichsam, als zeigte sie dem Manne unsichtbares Gold darin. Wie sie da an der rauchenden Esse saß, glich sie aufs Haar einer Hexe. Sie senkte die Stimme zu einem Flüstern – und als der Mann dieses Flüstern hörte, erschrak er plötzlich und warf die Sachen, die er in den Händen hatte, auf den Tisch, so als wollte er flüchten; aber es war bei alledem eine solche hypnotische Macht in dem Eifer der Frau, daß er wie festgebannt stehenblieb und sie anstarrte.

»Die Sparpfennige«, wiederholte sie. »Alle die, die wir einen nach dem andern zurückgelegt haben ... die wir sooft gezählt ... mit denen wir gerechnet haben ... die für den Tag bereitliegen sollten, an dem er wieder in die Stube hier tritt, er, der seit zwanzig Jahren fort ist ... das ist Blutgeld, heulen sie dort drüben im Bethaus. Vielleicht, ja ... und vielleicht glänzt es von den Tränen der Witwen ... aber wie dem auch sei, es ist doch unser Geld, und um es aufzustapeln, haben wir uns zum Abschaum gemacht, weil wir glauben, daß es uns einmal Segen bringen wird ... und nun sollen wir gezwungen werden, dieses Geld wieder herzugeben, es uns aus den Händen gleiten zu lassen, Stück für Stück, nur um uns elende alte Kreaturen am Leben zu erhalten. Und wenn es dann weg ist, dann sitzen wir ausgeplündert da. Und wenn er endlich eines schönen Tages zu uns hereinkommt, dann findet er uns ratzekahl, alles weg bis auf die Schande, denn die bleibt uns.«

Sie erhob sich mit einem Stöhnen und bewegte sich langsam auf ihren gichtischen Beinen durch das Zimmer. Als sie an dem Manne vorbeikam, wandte sie sich ihm jäh zu und fragte:

»Du sagst nichts, was?«

»Es ist jetzt Nacht,« erwiderte er leise, »laß uns lieber weitersprechen, bis es hell wird.«

»Du fürchtest dich vor der Dunkelheit«, sagte sie.

Als sie auf die Schwelle zum Treppenhaus kam, blieb sie wieder stehen, lauschte zu dem dunklen Gebälk hinauf und sagte:

»Nichts mehr zu hören. Er schläft.«

Der Mann nickte.

»Er muß tief schlafen,« fuhr die Alte fort, »er hat eine lange, anstrengende Reise hinter sich. Der wird nicht so leicht wach.«

Wie um es auszuprobieren, stieß sie ein paarmal mit ihrem Stock auf den Boden und trat dann in die dunkle Türöffnung, indem sie in sich hineinlachte – dieses kurzatmige, höhnische Gelächter, bei dem die Leute immer zusammenfuhren.

Als die Frau in das Innere des großen Hauses verschwunden war, kam eine wunderliche Hast über den Mann, so als hätte er Angst, länger hier in der Stube allein zu sein. Er entzündete die Hornlaterne, löschte die Öllampe unter der Decke, schob die große Doppeltür zurück und ging hinaus. Die Stufen waren feucht vom Nachttau, und über der Holzbrücke und dem langsam rinnenden Fluß glitzerte ein feines Lichtgespinst vom Mond und den Sternen. Die Häuser zeichneten große Schattengruben ab, aus denen hie und dort ein schimmernder First oder Giebel vorsprang. Hoch oben am Himmel war das ungeheure Sterngarn des Orion ausgeworfen, die Wolken zogen in raschem Flug unter dem Mond hin, so daß es aussah, als würde die Mondscheibe in unnatürlich raschem Lauf über den Himmel geschleudert. Der Mann blieb eine Weile stehen und sah das Wetter an, es war Südwind gekommen, ein warmer feuchter Südwind, der frische Meeresluft brachte, es sah aus, als sollte es in diesem Jahr bald Frühling werden.

Johannes machte eine Runde über die Brücke und rings um die Bootshäuser, sah nach den Vertauungen und schloß hier und dort zu. Bevor er wieder ins Haus ging, warf er noch einen Bück zu den Fenstern des Reisenden hinauf; alle Scheiben waren schwarz, der Fremde hatte das Licht gelöscht und war zur Ruhe gegangen.

Als Johannes wieder ins Haus gekommen war, löschte er die Laterne. Es wurde stockfinster um ihn, aber er konnte sich in dem großen Hause bei Nacht ebenso sicher wie bei Tag bewegen, er kannte jede Stufe der Treppen und jeden Balken der Wände. An diesem Hause war durch Jahrhunderte gebaut worden, jedesmal, wenn die Besitzer mehr Platz brauchten, hatte man ohne Rücksicht auf den Zusammenhang neue Zimmer, Treppen und Gänge hinzugefügt. Das ganze Innere des Hauses war ein wunderliches Gewirr von sich kreuzenden Stiegen und Korridoren, aber Johannes kannte es alles so gut, daß, wo immer er in dem Hause stand und ein Geräusch aus einem der vielen Zimmer und Stiegenabsätze zu ihm drang, und wenn es von noch so weit her kam, er sogleich bestimmen konnte, woher es war.

Wie er nun so in seinem eigenen Schlafzimmer stand und gerade den Rock an den Wandhaken gehängt hatte, hörte er einen Laut aus dem Inneren des Hauses. Er wußte sofort, daß das Geräusch aus dem Zimmer des Fremden kam. Eine Tür war geöffnet worden. Johannes blieb mit gesenktem Kopf stehen und grübelte: War es der Reisende, der ausging? Oder war es jemand, der seine Tür von außen geöffnet hatte?


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