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VI.
Der Hund

Ich wankte vom Fenster fort, wandte mein Gesicht gegen die Wand und blieb mehrere Minuten auf den Knien liegen, indem ich mich mit den Armen auf die Bettkante stützte. Mit einer Stimme, die merkwürdig entfernt klang, rief ich mehrere Male, vor Schrecken fast atemlos:

»Nein, nein, nein!«

Nicht um alles in der Welt konnte ich die Augen zum Fenster wenden. Aber ich fühlte im Nacken, daß das schreckliche Gesicht draußen im Dunkeln näher kam. Nun drang es herein durch die grüne Scheibe, glitt durch das Glas wie eine Leiche, die durch das Wasser treibt – langsam und schrecklich, still und stetig näher kommend. Ich konnte nicht dorthin blicken, nicht um alles in der Welt. Plötzlich drehte ich dennoch den Kopf. –

Da stand das Gesicht wieder, weiß und gräßlich, mit hoher Stirn und hellroten Lippen, wie die eines Kindes. Ich warf mich über das Bett und verbarg meine Augen, aber ich fühlte den Hauch eines eisigen Schreckens im Nacken, eine Kälte wie ein geisterhafter Schein des Mondes.

 … Endlich erwachte ich aus einer Betäubung, die etwa eine Stunde gedauert haben mochte. Das fahle Morgenlicht schien ins Zimmer. Noch immer vermochte ich nicht, zum Fenster zu blicken, aber ich wußte, daß es draußen von Minute zu Minute heller wurde. Ich hatte ein Gefühl, als läge ich in der Kajüte eines kleinen Fahrzeugs, in dem ich durch die Finsternis dahingefahren wäre, und nun kämen der Tag und das Licht herauf. –

In dem Maße, wie ich anfing, die Gegenstände um mich deutlicher zu erkennen, wich das Entsetzen von mir; als ich die alte gemütliche Wanduhr sah, die seit einem Menschenalter nicht in Gang gewesen war, die kleinen Oeldruckbilder, das Bild der Nationalhelden von 1905, die Blumenvasen, die weißen Papiere auf dem Tisch, alles zusammen so heimisch und friedlich, war ich mit mir sofort im reinen darüber, daß ich mich eigentlich ziemlich würdelos benommen hatte. Ich war nun schon zum zweiten Male ohnmächtig geworden, war also schwächer als ein hysterisches Weib. Nun sah ich nach dem Fenster …

Draußen reckten sich die Bäume gegen einen feuchten, grauen Himmel empor. Ich öffnete das Fenster. Sofort wehten die Gardinen wie bauchige Segel ins Zimmer, obgleich es windstill war. Aber die Luft selbst war schwer und drang ins Zimmer hinein; sie war erfüllt von Seegeruch, leuchtete blau von den Reflexen der hellen Sommerwolken und trug zugleich mit sich den herrlichen Duft des Sommers, der von den weiten, frischgemähten Wiesen, den trockenen, sonnenbeglänzten Heidehügeln, den Tannenwäldern kam. Hier hatte sich die Luft mit dem würzigen Geruch von Harz und modernden Kieferzapfen gesättigt, nachdem sie zuerst sicherlich auf vielen geheimnisvollen Halden, den Kehrichthaufen des Sommers, geweilt hatte, wo Himbeeren und Erdbeeren üppig zwischen trockenem Reisig wachsen und feuchte Nattern unter den Steinen hervorkriechen.

Unter dem grauen Wolkenschleier schien die Luft drückend zu sein; dann aber kam mit Sonnenaufgang der Wind und schob die Decke über dem Horizont fort, dort im Osten brachen schon lichtblaue Lanzen durch den Wolkenflor, es blinkte und glänzte goldig in der Luft, gerade als ob tausend blitzende Schwerter in Bewegung waren. Ledig von der Last der Finsternis und des Schreckens, konnte ich nun in Ruhe überlegen, was eigentlich geschehen war. Ich begann, mich selbst wegen meines Mangels an Mut und Beherrschung zu hassen. Das Ganze war eine Sinnestäuschung gewesen, eine Erscheinung, die in meinen erregten Sinnen ihren Ursprung hatte. Aber wessen Nerven konnten auch wohl unerschüttert bleiben in Zeiten wie diesen, in denen ich das Gefühl hatte, als wäre ich in Blut umhergewatet.

Von Schlaf konnte nun keine Rede mehr sein. Ich wollte hinunter ans Meer gehen, um den Lärm der Boote zu hören, die von der Brücke abstießen, um zu den Fischfangplätzen zu rudern. Ich mochte nicht länger diese grenzenlose Stille ertragen.

Die Tür war nicht verschlossen. Gott sei Dank, dachte ich, daß ich das nicht heute nacht wußte, denn es wäre eine neue Quelle des Schreckens für mich gewesen.

Ich ging rings um das Haus zum Fenster hin, maß mit den Augen den Abstand von der Erde zum Fensterblech und war mir sofort klar darüber, daß ein mittelgroßer Mann, der unterhalb des Fensters stand, gerade so hoch reichen mußte, wie das Gesicht, das ich heute nacht hinter der Scheibe gesehen hatte. Das war ein sonderbarer Zufall. Unterhalb des Fensters befand sich ein kleiner Fleck von weicher Erde, auf dem ein paar kümmerliche Apfelbäume aus dem schwarzen Boden hervorwuchsen, dicht an der Wand lag ein Blumenbeet, wo die Blumen wegen des Schattens nur verkümmert und spärlich fortkamen.

Ich schaue auf dieses Blumenbeet, und plötzlich ist es mir, als ob ein leichter Nachklang des Schreckens dieser Nacht in mich fährt. Mitten im Blumenbeet – deutlich im schwarzen Boden abgezeichnet – stehen zwei Fußabdrücke. Ich biege die Zweige der Bäume beiseite, um näher hinzusehen. Jawohl, ganz richtig, hier hat erst vor kurzem ein Mensch gestanden. Ich drücke meinen linken Fuß daneben ein, und wie ich ihn zurückziehe, sehe ich, daß mein Fuß ein wenig, etwa ein halbes Zentimeter oder so, länger ist als die beiden Abdrücke. Sonst ist keinerlei Unterschied zwischen den drei Fußspuren, die sich gleich deutlich auf der Erde vor mir abzeichnen. Gerade das beweist mir, daß hier ein Mensch erst ganz kürzlich gestanden und durch mein Fenster hereingeblickt haben mußte, vor wenigen Stunden erst. Heute nacht? Ich knie nieder und untersuche das Gelände näher. Da finde ich viel Spuren, ich kann sehen, wie er vom Wege, der über die Granitplatten hinführt, abgebogen ist. Hier ist er gegangen … und auch hier. So kam er bis zu dem kleinen Gartenflecke, hat die Zweige beiseitegebogen und seinen Platz mitten im Blumenbeet eingenommen. Da hat er längere Zeit, mehrere Minuten, vielleicht eine halbe Stunde gestanden. Ich erkenne dies an den beiden Fußspuren, die tiefer als die anderen sind, er hat unbeweglich stillgestanden … und in mein Zimmer hineingeblickt.

Ohne mir darüber klar zu werden, warum ich das tue, zertrampele ich die Fußspuren, fahre wild mit meinen Füßen im Beet umher, wühle die Erde auf und zerknicke die Stengel. Als ich fertig bin, lache ich über meine eigene Aufregung – dann stelle ich mich an die Wand und sehe durch das Fenster.

Ein Zittern überfällt mich. Ich erwarte, daß ich irgend etwas in meinem Zimmer zu sehen bekomme, und stelle mir vor, daß es nun da drin ganz anders ist als vorher, als ich es verließ. Ich habe ein Vorgefühl von dem Schrecken, der etwa einen Menschen befallen muß, wenn er an den Spiegel tritt und ihm ein anderes Gesicht als sein eigenes aus dem Glas entgegenschaut.

Aber das Zimmer war nicht im mindesten verändert. Dort stand der Tisch, da der Stuhl, dort das Bett; an der Wand hingen dieselben Bilder, die Oeldrucke und die norwegischen Nationalhelden von 1905.

Nun stand ich da und blickte durch die unterste Scheibe im Fenster. Ich erinnere mich, daß ich gerade in dieser Scheibe das Antlitz des Toten vor der kohlschwarzen Finsternis erblickt hatte. Der getötete Forstmeister Blinde war genau so groß wie ich. Es stimmte. Der Tote hatte vor meinem Fenster heute nacht gestanden.

Eilends ging ich vom Hause weg.

Die Fußspuren, diese unantastbare Wirklichkeit, verwirrten mich und zerstörten alle meine Schlüsse. So war es also doch keine Sinnestäuschung gewesen! Aber der Forstmeister war ja tot, der Erschlagene war tot und begraben, wie konnte er da draußen vor meinem Fenster in der Nacht stehen und zu mir hineinschauen?

Ich schlug den Weg längs des Strandes ein und ging dabei schwerfällig, denn obwohl die Sonne noch nicht zwischen den Wolken hervorgekommen war, lag die Hitze drückend auf der Erde. Ich wußte, es würde ein glühendheißer Tag werden.

Menschen waren noch nicht zu sehen, aber unten vom Strande hörte ich allerlei Lärm, Fußbretter wurden zurechtgelegt, Boote leergeschöpft. Die rotgestrichenen Speicherhäuschen am Meer schienen mir röter als gewöhnlich zu sein, denn der Abendnebel vom Meere hatte sich auf die Erde gelegt. Die See war ganz ruhig, als klebte sie an den Klippen und Schären fest. Nun glitt ein Ruderboot aus dem Schatten dicht unter Land hervor; es wurde von einem alten Manne gerudert, bewegte sich langsam, während die Dollen ächzten, und verursachte leichte Wellen in der ganzen Bucht.

Ich schritt fürbaß und schätzte in Gedanken, wie spät es wohl sein mochte. Vier oder fünf Uhr? Denn um diese Zeit begann das Leben. Mehrere Boote wurden herangerudert, nun hörte ich auch Stimmen, leises Geschwätz irgendwo bei der Brücke.

Während ich hier am Ufer stehe und die Eindrücke des anbrechenden Tages mit seinem morgendlichen Leben auf mich eindringen, während ich mir halb unbewußt die ganze Zeit über das unheimliche nächtliche Ereignis den Kopf zerbreche, nimmt ein bestimmter Argwohn in mir zu. Ich weiß, daß dieser Argwohn hie und da schon in meinen Gedanken aufgetaucht ist, aber er hatte sich gerade bis zu diesem Augenblicke nicht besonders verdichtet. Jetzt jedoch steht er plötzlich klar, deutlich und unantastbar vor mir, so daß ich nicht davon loskomme. Auf und ab gehe ich auf der Brücke und zittere förmlich vor Spannung: So muß es sein, so hängt es zusammen und so erklärt sich auch alles. Es ist, als ob plötzlich der Schleier von all diesen Geheimnissen fortgerissen würde, aber zugleich überkommt mich wieder ein dumpfes Angstgefühl, die Ahnung von einer nahe bevorstehenden großen Gefahr.

Ich gehe hinauf ins Hotel; zwar erwarte ich nicht, jetzt schon Gästen zu begegnen, aber ich denke, daß ich vielleicht ein Glas Bier oder eine Tasse Bouillon bekommen kann. Nach der Ohnmacht fühle ich mich matt wie nach langem Hungern. Als ich auf den Rasenplatz komme, der das Hotel vom Wege trennt, sehe ich, daß die rotgestreifte Markise in der Nacht gar nicht hochgezogen war. Ich steige die Treppe hinauf, komme auf die Veranda und gucke durch die Glastür in den Speisesaal.

Der große Raum ist selbstverständlich menschenleer, die Tür ist nicht verschlossen, ich trete ein. Der Tisch ist gedeckt, ich finde Reste des Abendessens, Brotkrumen liegen umher, bei den Gedecken stehen halbgeleerte Milchgläser, man erwartet keine Gäste so früh am Morgen. In einer Ecke steht hinter einigen künstlichen Palmen ein schwarzes Klavier, dessen schneeweiße Tasten herüberschimmern. Ich weiß, daß es dort steht, und lasse meine Augen über das Klavier hinweggleiten. Oben auf der Holzverkleidung längs der Wände ist eine alberne Ausstellung von Gläsern und Tassen. An der Tür zur Küche steht ein Tisch, auf ihm ein Phonograph und eine gelbe Maschine, um Flaschen zu entkorken. In dem Augenblick, als ich diese Maschine sehe, glaube ich sie in meiner nervösen Aufregung auch rasseln zu hören. Ich bin sehr müde und lasse mich auf einen Stuhl am Fenster fallen.

Da höre ich, daß es am Klavier knarrt, und nun fliegt mein Blick wieder hastig dort hinüber. Ein heftiger Stoß geht mir durch und durch … Gott im Himmel, da sitzt ja ein Mann auf dem Klaviersessel. So verstört war ich also, daß ich diesen Menschen nicht bemerkte, obgleich ich mir bewußt bin, das Klavier deutlich gesehen zu haben!

Als ich entdecke, wer der Mann ist, wird mir unwillkürlich recht unbehaglich zumute. Es ist Asbjörn Krag, der Detektiv. Er kommt auf mich zu, nickt mir mit seinem Glatzkopf zu und lächelt. Plötzlich fühle ich ein merkwürdiges Grauen vor ihm und wünsche, daß er mir nicht näher kommen möchte. Sein Gesicht ist knöchern und bleich, und sein Lächeln, das einen liebenswürdig wohlwollenden Eindruck machen sollte, bekommt einen garstigen Ausdruck. Er geht geradeswegs auf mich zu.

»Haben Sie gut geschlafen?« fragt er.

In diesem Augenblick, als ich seine Augen sehe und seinen Blick wahrnehme, fühle ich es mit überwältigender Macht, daß mein Argwohn zur Gewißheit wird. Ich habe keinen Argwohn länger, ich weiß es fürchterlich klar und unwiderleglich sicher.

So ruhig ich vermag, antworte ich:

»Danke; ja, ich habe gut geschlafen.«

Da greift er in die Tasche nach seiner Uhr und holt sie langsam heraus. Es ist eine goldene Uhr mit Doppelkapsel. Tk! macht es, und der Deckel springt auf.

»Es ist fünf Uhr.«

»So. Ja, ich dachte es mir beinahe.«

»Die Uhr ist fünf,« wiederholt der Detektiv, »also, selbst wenn Sie gut geschlafen haben, so haben Sie doch keinesfalls lange geschlafen. Außerdem kann ich es Ihren Augen ansehen, daß Sie böse Träume gehabt haben.«

»Ich hatte einen bösen Traum,« erwiderte ich, »und der weckte mich auf. Aber kann Sie das wundern, daß ich nervös und verbraucht bin? Hier erlebt man ja täglich Aufregungen.«

Der Detektiv steht vor mir und sieht mich einen Augenblick forschend und interessiert an.

»Ich meine, Sie sollten nach dem Hotel zurückziehen,« sagte er.

»Warum?«

»Hier gibt es viele Menschen, hier haben Sie Freunde und Bekannte, Sie müssen ja schlechterdings nicht so einsam wohnen.«

»Glauben Sie wirklich, daß ich mich fürchte?«

»Ich nehme an, daß das Gefühl der großen Einsamkeit Sie niederdrücken muß.«

»Keineswegs, ich bin gern allein und ich kann Sie versichern, daß ich weder von lebenden Menschen, noch von Gespenstern gestört worden bin, seitdem ich da draußen auf der Landzunge wohne.«

»So – so – wirklich nicht?«

Ich konnte die widerlichen, forschenden Augen des Detektivs nicht länger ertragen und ging hinaus auf die Veranda. Kurz darauf stand er neben mir.

Aber nun sprach er ganz anders, freundschaftlich und einschmeichelnd. Er könne ganz gut verstehen, daß ich zeitig aufstehen wollte, um den herrlichen Tag von Anfang an zu genießen.

»Heute wird es hier bei uns warm werden,« sagte er und zeigte auf die Getreidefelder. Die gelben Flächen flimmerten hell in der Morgensonne und wogten sacht gegen den Wald.

Asbjörn Krag sah wieder auf seine Uhr.

»Worauf warten Sie?« fragte ich.

»Auf die Leute, die den eisernen Wagen aus dem Meere herausholen sollen,« sagte er. »Haben Sie das wirklich schon vergessen?«

»Nein, ich freue mich, daß das Geheimnis des eisernen Wagens endlich seine Lösung finden soll.«

Bald darauf hörte man Schritte drinnen im Hotel, Türen wurden geöffnet und geschlossen. Asbjörn Krag erklärte, daß er einen gewaltigen Morgenappetit habe, er klopfte die Wirtin heraus, und dampfender Kaffee wurde gebracht. Ich versuchte etwas zu genießen, aber es war mir beinahe unmöglich. Die ganze Zeit über ruhten Asbjörn Krags Augen forschend auf mir.

»Sie sind offenbar nicht gewohnt, so früh auf zu sein?« bemerkte der Detektiv. »Sie haben ja gar keinen Appetit.«

»Da haben Sie recht; nun fühle ich, daß ich vielleicht doch etwas zu wenig geschlafen habe, meine Augenlider sind heiß und schwer.«

»Sie dürfen sich jetzt aber nicht hinlegen,« sagte Krag eifrig, »vielmehr müssen Sie mich hinab ans Meer begleiten, der eiserne Wagen soll herausgezogen werden. Ich verspreche Ihnen ein interessantes Ereignis – und zwar diesmal ohne Blutvergießen,« setzte er leise hinzu. »Nicht wahr, wir haben genug Blut gehabt?«

Ich antwortete nicht. Asbjörn Krag lachte trocken und polternd.

»Worüber lachen Sie?«

»Entschuldigen Sie,« sagte er, »ich bin vielleicht ein wenig herzlos, aber es ist nun einmal meine Natur, und ich kann mir nicht anders helfen. Ich sehe, daß Ihre Finger zittern und daß die Gabel gegen die Teller klirrt. Ich sah ein Zucken in Ihrem Gesicht, als ich von Blut sprach. Es interessiert mich, zu beobachten, wie unheimliche Ereignisse einzelne Menschen angreifen und sie nach und nach vollkommen knicken.«

»Ich bin nicht geknickt.«

»Das habe ich auch nicht gesagt, aber Sie sind sehr stark angegriffen, das kann ich Ihnen ansehen.«

»Finden Sie das verwunderlich?«

»Durchaus nicht, lieber Freund, ich würde es viel sonderbarer gefunden haben, wenn Sie von allen diesen Begebenheiten unberührt geblieben wären. Aber nun höre ich die Leute.«

Ein Wagen rollte über den Weg. Asbjörn Krag faltete seine Serviette zusammen, legte sie ruhig neben den Teller und ging ans Fenster.

Als er dort stand, brummte er:

»Ja, das sind sie.«

Auch ich trat ans Fenster.

Draußen auf dem Wege stand ein vierrädriger Wagen, gerade sprang ein Mann herunter, ein anderer hielt die Zügel. Beide mußten hier wohl fremd sein, ich hatte sie nie zuvor gesehen.

Ich stand dicht hinter Asbjörn Krag; da ich etwas größer war als er, konnte ich seine blanke, kahle Glatze sehen. Ihre Haut war weiß und fein wie bei einem neugeborenen Kinde. Ich konnte die Adern erkennen, die bläulich schimmerten und rhythmisch pulsierten. Eben dort am Haarrand, dachte ich, hatte den Forstmeister der tödliche Schlag getroffen, dort war sein Schädeldach wie Porzellan zerbrochen … Ein wunderliches Zittern befiel mich, ich konnte die Augen nicht von der blanken Platte und den blauschimmernden Adersträngen abwenden … Plötzlich drehte sich der Detektiv rasch um und sah mich an.

»Oh, was für Augen!« rief er aus.

Ich starrte gerade an ihm vorüber hinaus auf den Weg und betrachtete das Pferd mit Interesse, das vergebens sein Maul bis auf das Gras am Grabenrande herabzubringen versuchte. Ich stand ganz unbeweglich und vermochte mich nicht zu rühren, denn eine unerklärliche Angst hatte mich befallen.

Aber wovor war ich bange? Vor einem Gedanken, den ich nicht einmal auszudenken gewagt hatte.

Ich empfand es wie eine Befreiung, als ich wiederum Asbjörn Krags natürliche ruhige Stimme vernahm.

»Wollen wir nun gehen?« fragte er. »Die Leute warten.«

Ich folgte ihm schweigend hinaus zum Wagen und nahm neben ihm auf dem Rücksitz Platz, dann fuhren wir durch den Wald und über die Heide bis zu der unwegsamen Höhe, die sich von der Heide hinab bis ans Meer erstreckte.

Dort unten, wo der eiserne Wagen ertrunken war, wie sich Asbjörn Krag ausdrückte, lagen nun ein Dampfer und einige kleinere Boote, in denen Leute mit Lotleinen und Stangen beschäftigt waren. Eine Winde war in Tätigkeit, man hörte ihr Rattern. Die See lag bleiern und still, die äußersten Schären konnte man nicht erkennen, denn der Morgennebel zog über das Meer und verbarg sie. Das Ganze war farblos grau wie eine blasse Kohlezeichnung. Wir gingen an den Strand hinab, wateten durch den Sand und den Strandhafer. Der Sand war zusammengebacken und feucht vom Tau, auch die Steine waren feucht, und die Fahrzeuge draußen sahen betaut aus, ein Zeichen dafür, wie kräftig die Feuchtigkeit nachts vom Meer aufgestiegen war.

Aber die dicke Morgenluft leitete jedes Geräusch wie ein Telephondraht weiter. Asbjörn Krag stand am Strande und rief den Leuten an Bord des Dampfers zu. Obgleich dieser ziemlich weit draußen lag, hörten wir laut und deutlich die Antwort.

»Haben Sie etwas gefunden?« fragte der Detektiv. »Der Taucher ist zweimal unten gewesen,« kam die Antwort vom Dampfer, »er hat ein sonderbares Ding unten um Grunde gesehen, aber es ist schwer, es herauszubekommen.«

»Wird es bald an Land gebracht sein können?«

»Na, das wird wohl noch einige Stunden dauern, es ist sehr schwer.«

Die Leute in den kleinen Booten hatten zu arbeiten aufgehört und horchten auf das Gespräch. Von irgendwoher wurde eingeworfen:

»Es liegt in einer Tiefe von zwanzig Faden, wir können gar nicht verstehen, wie es so weit hinausgekommen ist.«

Asbjörn Krag winkte und antwortete:

»Es ist natürlich auf dem Untergrund weitergerollt. Haben Sie einen Passagier gefunden?«

Nach auffallend langer Pause kam eine verwunderte Frage zurück:

»Nein, war ein Passagier dabei?«

»Wer weiß,« antwortete Krag, »sehen Sie genau nach.«

Asbjörn Krag ging einige Schritte längs des Ufers. Die Arbeit in den Booten wurde wieder aufgenommen, die Winde ratterte aufs neue.

Ich wunderte mich sehr über den großen Apparat, der in Bewegung gesetzt worden war. Es mußten mindestens zwanzig bis fünfundzwanzig Mann in Tätigkeit sein.

»Wo kommen alle diese Menschen her?« fragte ich Krag. »Und diese Boote? Wie haben Sie die bekommen?«

»Das ist ein Taucherboot,« erwiderte der Detektiv, »wie Sie wohl sehen können. Ich telegraphierte gestern nach ihm, die Leute gehören zum Boot.«

Plötzlich erinnerte ich mich daran, was er von dem Passagier gesagt hatte.

»Sie glauben doch selber nicht,« fragte ich voller Schreck, »daß wir noch einen toten Mann finden werden?«

»Man muß stets auf das Schlimmste gefaßt sein,« erwiderte Asbjörn Krag. »Kommen Sie, wir wollen gehen. Wir werden noch zeitig genug die Wahrheit erfahren.«

Der Wagen wartete oben auf der Höhe; ich dachte nun, wir würden nach dem Hotel zurückfahren. Asbjörn Krag schlug aber vor, zu Fuß zu gehen, wogegen ich nichts einzuwenden hatte. Ich wollte mich gern durch einen raschen Gang etwas aufmuntern, denn ich fühlte die Mattigkeit in allen Gliedern, war aber andererseits zu nervös, um zu schlafen, wie ich genau wußte. Das Blut jagte mit raschen Schlägen durch meine Adern, und ein heimliches, verzehrendes Feuer brannte in meinen Nerven.

Krag ging weiter südlich längs des Meeres, und ich begleitete ihn. Ob er wohl eine Absicht dabei verfolgte, gerade diesen Weg zu gehen? Ich sagte nichts. Einige Zeit später gingen mir die Augen darüber auf, daß der Detektiv wirklich eine Absicht mit diesem Spaziergange verfolgte, eine Absicht, die in seine Pläne paßte. Ueberhaupt unternahm er sicherlich nichts, ohne dabei einen bestimmten Gedanken zu haben, und doch war sein ganzes Auftreten so gewöhnlich, so alltäglich, daß es keine Aufmerksamkeit verdiente. Offenkundig tat er nichts Ungewöhnliches.

»Wohin führen Sie mich?« fragte ich endlich.

»Zurück zum Hotel,« sagte er. »Ich will Ihnen einen Weg zeigen, den Sie wohl niemals zuvor gegangen sind, den Weg über die Höhe.«

»Ich wußte wirklich nicht, daß es da einen Weg gibt.«

»Ja, einen verhältnismäßig breiten Steg, der sich zum Spazierengehen ausgezeichnet eignet, einen Weg, wie wir ihn uns heute an diesem herrlichen frischen Morgen nicht besser wünschen können.«

Naturbeobachtung war offenbar seine starke Seite nicht, denn er äußerte, daß der Morgen herrlich und frisch wäre, dabei war es ganz still und drückend, der Himmel schien dicht über der Erde zu lagern, der Horizont war unsichtig. Die See war bleifarben und lag so unbewegt, daß die sonst unter Wasser liegenden Klippen zutage traten. An einem solchen Morgen beißen die Fische wie toll und kommen mit blutigen Augen herauf. Für uns Menschen ist es das reine Selbstmörderwetter. Ich stand oben auf dem Felsen und sehnte mich nach einem frischen Luftzug, einer fächelnden Brise, die die Brust kühlen konnte. Ich befeuchtete den Finger, um zu erfahren, wie die Windrichtung war. Aber nicht der geringste Hauch war zu spüren; der Tag würde unerträglich warm werden, ich fühlte bereits die Hitze in meinen Augen brennen.

Der Detektiv blieb stehen.

»Nun sind wir aus dem höchsten Punkte,« sagte er und zeigte auf einen jähen Absturz, der geradewegs bis zum Meere hinunterführte.

Ich trat an den Rand, fuhr aber rasch wieder zurück.

»Sind Sie schwindlig?«

»Vielleicht, jedenfalls sehe ich nicht gern in Abgründe.«

Asbjörn Krag stand kurze Zeit schweigend da. Nun kommt etwas, dachte ich und wartete mit Spannung darauf, was er sagen würde.

»Ich habe mich oft darüber gewundert,« begann der Detektiv, »wie dumm sich in der Regel Mörder benehmen.«

»Mörder?«

»Ja, und unter den Mördern sind die allertörichtsten diejenigen, die instinktiv, ohne Ueberlegung, handeln. Aber selbst diejenigen, die nach einem genauen Plane vorgehen, benehmen sich oft unglaublich plump. So zum Beispiel der Mann, der den Forstmeister erschlagen hat –«

»Sind Sie dessen ganz sicher, daß er erschlagen wurde?«

»Vollständig.«

»Ich kann nicht verstehen, daß Sie das so bestimmt behaupten. Der alte Gjaernaes und Blinde wurden beide an derselben Stelle tot aufgefunden. Beide hatten eine Wunde am Hinterkopfe. Sie sagen selbst, daß der alte Gjaernaes durch einen Unglücksfall ums Leben kam und daß der eiserne Wagen die Schuld an seinem Tode trägt. Warum läßt sich nicht dasselbe vom Forstmeister sagen?«

»Nun, weil ich weiß, daß er erschlagen wurde.«

»Das ist jedenfalls schwer zu beweisen.«

»Sehr schwer,« erwiderte Asbjörn Krag nachdenklich, »aber darum arbeite ich in dieser Sache auch ganz ungewöhnlich. Jedenfalls müssen Sie mir darin recht geben, daß der Mörder wie ein Dummkopf gehandelt hat.«

»Ich weiß nicht, ob Dummkopf die richtige Bezeichnung für einen Mann ist, der hingeht und einen anderen totschlägt.«

»Selbstverständlich nicht, aber ich meinte das auch nur, um die Methode zu kennzeichnen, nach welcher die Tat begangen wurde. Wieviel leichter wäre es doch gewesen, ihn hier an dieser Stelle beiseite zu bringen.«

»Hier?«

»Jawohl. Nehmen wir einmal an, der Mörder hätte so viel Selbstbeherrschung gehabt, daß er friedlich im Gespräche mit seinem Opfer diesen Weg gehen konnte, geradeso wie wir jetzt; dann brauchte er ihn ja nur beiseite zu drängen, ein kleiner Stoß an die Schulter, er wäre hinuntergestürzt und ums Leben gekommen. Wer, glauben Sie, wäre dann wohl auf den Gedanken an einen Mord verfallen? ›Ein Unglücksfall,‹ würde man gesagt haben, ›ein beklagenswertes Unglück oder vielleicht ein Selbstmord.‹«

»Aber derjenige, der mit ihm zusammen ging?« flüsterte ich.

»Er ging allein. Niemand brauchte zu wissen, daß der Mörder mit seinem Opfer da zusammen gegangen ist. Hier kommen selten Menschen vorbei; vom Meere kann man heraufgelangen, ohne daß es jemand bemerkt.«

Der Detektiv lachte laut.

»Da können Sie hören, wie leicht es ist, zum Mörder zu werden, wenn man das Gelände kennt. Lieber Freund,« fuhr er fort, während er mir auf die Schulter klopfte, »nun bin ich wieder auf diese unheimlichen Dinge zurückgekommen. Aber das ist nun einmal mein Gewerbe, es gehört ja zu meiner Lebensaufgabe, ständig an solche Sachen zu denken. Allerdings sollte ich versuchen, es zu vermeiden, darüber zu sprechen, wenn ich mit Ihnen zusammen bin, denn ich kann Ihnen schon wieder ansehen, daß Ihnen das höchst übel bekommt.«

Mit einer Stimme, die mir selbst ganz tief unten aus der Brust herauszukommen schien, antwortete ich:

»Sprechen Sie mit mir, wovon Sie wollen … Also Sie meinen, daß der Mörder auf diese Weise seine Tat vollständig sicher ausgeführt haben könnte?«

»Nein, lieber Freund,« unterbrach mich Krag auffallend liebenswürdig, »nun müssen Sie mich nicht auf die Sache zurückbringen. Das ist wirklich allzu höflich von Ihnen. Ich weiß, daß Sie das nicht gern haben.«

Dabei ging er weiter, einige Schritte vor mir her; er zog den Kopf etwas ein, so daß seine Jacke auf dem Nacken Falten schlug. Es kam mir so vor, als ob er in sich hineinlachte.

Als wir nach dem Hotel zurückkamen, ging Asbjörn Krag sofort auf sein Zimmer, um zu arbeiten. Ich trieb mich etwas umher und unterhielt mich mit den anderen Gästen. Sie wollten alle hinausgehen, um sich die Arbeiten zur Hebung des eisernen Wagens anzusehen. Das Gerücht von der Ankunft der Bergungsgesellschaft hatte sich verbreitet; es wurde erzählt, daß die Taucher bereits mehrere Male unten gewesen und den Wagen gesehen hätten, daß sie aber immer noch nicht darüber im reinen waren, was das eigentlich für ein Ding wäre. Man wollte mich mitnehmen, aber ich hatte keine Lust, denn ich dachte an den Passagier, den toten Passagier; ich sah ihn vor mir, wie er da unten im grünen Wasser lag. In diesem Augenblick wurde er vielleicht langsam durch das Wasser gezogen. Oh, wie deutlich konnte ich sein Angesicht im Meere sehen. Es war geradeso, als ob es hinter einer grünen Glasscheibe vorbeiglitt … ich bekam einen verzweifelten Gedanken …

Asbjörn Krags Zimmer lag im ersten Stockwerke des Hotels, sein Fenster ging hinaus auf einen kleinen Gartenfleck gerade wie das meine. Ich wußte, daß er darin saß und an seinem Schreibtische mit dem Gesichte gegen das Fenster zu arbeitete.

So schlich ich mich in den Garten, zwischen die Bäume, so leise wie ich konnte, und stand plötzlich gerade vor seinem Fenster. Sofort sah ich seine weiße Glatze, die sich gegen den dunklen Hintergrund des Zimmers abhob; er schrieb nicht, sondern arbeitete an etwas, was vor ihm auf dem Tische lag. Er hatte mich nicht gehört. Langsam, vorsichtig ging ich näher. So nahe, dachte ich, kam das Antlitz des Toten heute nacht meinem Fenster. Als ich etwa eine Elle vom Fenster entfernt war, hörte er den Laut der unter meinem Fuße zertretenen Zweige. Plötzlich hob er den Kopf; ich konnte sehen, wie er sich auf einmal wunderte. Ich sagte kein Wort, aber mein Gesicht näherte sich weiter der Fensterscheibe. Da ergriff er rasch eine Zeitung und breitete sie über den Schreibtisch. Es fiel mir sofort auf, daß er mir etwas verbarg, etwas, das ich um keinen Preis sehen sollte, wie ich sofort aus seinen raschen nervösen Bewegungen erkennen konnte. Das hatte ich nicht erwartet. Mit einem Male stand mir auch mein unerhörtes Auftreten klar vor Augen. Was wollte ich eigentlich von ihm?

Er öffnete das Fenster.

»Kann ich Ihnen mit irgend etwas dienen?« fragte er.

Ich antwortete das erste beste, was mir auf die Zunge kam.

»Wollen Sie nicht bald nach dem eisernen Wagen hingehen?«

»Noch nicht – aber wenn Sie ein besonderes Interesse haben, dorthin zu gehen, so will ich Sie gern begleiten.«

»Nein, danke,« sagte ich, »ich habe kein besonderes Interesse.«

Damit wollte ich mich zurückziehen. Ich fühlte mich ihm gegenüber beschämt und lächerlich gemacht und wurde noch ärgerlicher über mich selbst, als er sagte:

»Armer Mann, Sie sind ja ganz bleich. Haben Sie noch nicht geschlafen?«

»Ich schlafe nicht mitten am Vormittag,« antwortete ich.

Der Detektiv schloß das Fenster, nahm aber nicht die Zeitung vom Tische, solange ich noch in sein Zimmer blicken konnte.

Ich ging vom Hotel fort und schritt rasch, doch ohne bestimmtes Ziel den Weg entlang. Nun stand die Sonne hoch am Himmel, der Staub wirbelte wie lockeres Mehl unter meinen Schritten empor.

Beim Mittagsmahl sprach man eifrig vom eisernen Wagen. Die Taucherboote hatten ihn noch nicht herausbekommen, man meinte, daß der ganze Tag noch damit hingehen würde.

Eine der Damen, die die Familie des erschlagenen Forstmeisters kannte, machte eine Mitteilung, die mich stark erschütterte.

Sie hatte einen Brief von der Schwester des Verstorbenen bekommen. Der Forstmeister hatte einen Hund mit Namen »Lord«. Seit dem Begräbnis hatte Lord auf dem Grabe seines toten Herrn gelegen, geheult und gebellt, gerade als ob er ihn wieder ins Leben zurückrufen wollte. Schließlich mußte der Hund erschossen werden.

Am Nachmittag versuchte ich draußen auf dem Rasen zu schlafen, aber das blendende Himmelslicht störte mich. Wenn ich die Augen schloß, wurden meine Augenlider rot und heiß. Ich sah zum Himmel hinauf; die Luft war ein Meer von Diamanten. Darauf ging ich heim nach meiner Hütte.

Aber hier harrte meiner eine neue Ueberraschung. Ich konnte es nicht unterlassen, nach dem Platz unter dem Fenster zu sehen, eine nervöse Neugier trieb mich dorthin. Ehe ich den Ort am Morgen verließ, hatte ich die Erde umgewühlt und die beiden Fußspuren verwischt, aber nun waren die beiden Spuren wieder da. Zwei deutliche Fußabdrücke im lockeren Erdboden. Ich untersuchte die Spuren genau, sie glichen den ersten aufs Haar, es waren die Fußspuren des Toten. Er war hier gewesen und hatte in mein Zimmer gesehen, während ich aus war.

Ich beeilte mich, in die Stube zu kommen, denn ich wollte nicht länger an diese Sache denken, fürchtete ich doch, verrückt zu werden. War denn der Erschlagene nicht tot? Ich hatte ja seine Leiche in der Sandgräberhütte gesehen, er war begraben, sein Hund erschossen … Nun kam es mir auch so vor, als wenn ich irgendwo weit entfernt das Hundegebell hörte, ein sonderbares trauriges Hundegebell. Ich schloß das Fenster und ließ die Gardine herunter, so daß es halbdunkel im Zimmer wurde, denn ich wollte trotz allem versuchen, zu schlafen.

In der Tat schlief ich ziemlich lange, aber ich erwachte von einem unheimlichen Traum. Es schien mir, als ob ich vor einem Spiegel stände und forschend mein eigenes Gesicht betrachtete, das bleich und krank aussah. Während meine Augen auf meinem Schlips hafteten, schien es mir, als ob er die Farbe wechselte; er war ursprünglich blau und wurde schnell grün, dieselbe Farbe, die der Schlips des Toten hatte. Ich bemerkte es mit Verwunderung und Interesse, ohne mich eigentlich zu fürchten. Aber plötzlich bewegte sich der Schlips; der Knoten löste sich und der Schlips glitt langsam auseinander. Schließlich war er gegen mein rechtes Ohr verschoben, gerade wie beim Toten. Unausgesetzt starrten meine Augen – so träumte ich – ausschließlich auf den Schlips; ich konnte nichts anderes sehen. Und nun befiel mich plötzlich ein grausiger Schrecken. Wenn ich den Blick erhob, würde ich das Antlitz sehen. Aber war es noch mein bleiches, krankes Gesicht da im Spiegel oder das eines anderen? Plötzlich schwebte die ganze Erscheinung im Spiegel langsam herunter, und nun sah ich einen rotbraunen Bart und einen hellroten Mund. Da war das Gesicht, der Tote mit der hohen schneeweißen Stirn von einem schwarzen Hintergrund … Im selben Augenblick, als ich aufblickte, hörte ich einen Schrei, – ich war es selbst!

Es war mittlerweile neun Uhr abends geworden, also Essenszeit, aber ich hatte keine Lust zu speisen und wollte auch die Hütte nicht verlassen. Da ich aber auch die Gardine nicht aufziehen wollte, so mußte ich die Lampe anzünden. Ich las geistesabwesend einige Seiten in einem Buch, ohne zu wissen, was ich eigentlich las. Die Worte glitten an meinem Bewußtsein vorbei wie ein Regenguß vor einem Fenster. So vergingen einige Stunden. Da hörte ich plötzlich Schritte im Sande draußen vor der Haustüre. Die Schritte wandten sich nicht der Tür zu, sondern zum Fenster.

Ich erhob mich rasch und griff nach meinem Revolver. Die Schritte machten halt. Aber dann hörte ich noch einen Schritt und noch einen, näher. Es war ein gräßliches Gefühl, in der Hütte zu stehen und nicht zu wissen, wer draußen umherging. Dabei war es doch eigentlich eine alltägliche Erscheinung, Schritte draußen zu hören; befand ich mich doch in einem sehr belebten Badeort. Ich erinnere mich, daß ich hieran dachte und mich wegen meiner Furchtsamkeit selbst verachtete. Aber ich war bereits so verstört und nervös, daß der geringste unvermutete Lärm mich vollständig aus der Fassung bringen konnte.

Einige Zeit hörte ich darauf gar nichts, dann aber merkte ich, daß irgend etwas draußen an der Wand entlangtappte. In diesem Tappen lag etwas Merkwürdiges. Es war, als ob ein zottiges Tier seinen Körper an der Wand rieb, dann wurde wieder alles mehrere Sekunden lang still, und dann hörte ich hart und knöchern an die Tür klopfen.

Die Tür war nicht verschlossen.

»Herein!« rief ich mit einer Stimme, die ich schlechterdings kaum wiedererkannte.

Die Tür wurde geöffnet und Asbjörn Krag trat eilends in das Zimmer.

Als er mich mit dem Revolver in der Hand zu Gesicht bekam, stutzte er.

»Nein, nun geht es zu weit, nun werden Sie allzu nervös! Glauben Sie wirklich, daß Ihnen jemand nach dem Leben trachtet?«

Ich warf den Revolver vor mich auf den Tisch.

»Sie haben eine merkwürdige Art, zu einem zu kommen,« sagte ich. »Warum gingen Sie am Fenster vorbei?«

»Ich erinnerte mich nicht, wo die Tür war.«

Es kam mir vor, als ob er lächelte, jedenfalls konnte ich seine weißen Zähne sehen, die das scharfgeschnittene Gesicht so unangenehm machten.

»Waren Sie es, der an der Wand herumtastete?«

»Ja,« sagte er, »ich suchte nach der Tür.«

Krag setzte sich an den Tisch und griff nach meinem Revolver. Er hielt ihn prüfend in der Hand und sah nach dem Magazin.

»Alle Läufe geladen, wie ich sehe,« bemerkte er. »Eine schöne Waffe. Sind Sie ein geschickter Schütze?«

»Ja, sehr geschickt.«

Kurz darauf legte er den Revolver hin.

»Haben Sie etwas auf dem Herzen, Herr Krag?«

»Ja,« erwiderte der Detektiv. »Ich wollte Sie nur fragen, ob Sie Lust haben, den eisernen Wagen zu sehen?«

»Hat man ihn inzwischen aus dem Wasser herausgezogen?«

»Ja.«

»Auch den Passagier?« flüsterte ich.

»Den Passagier haben wir auch gefunden, er ist tot.«

»Ich hatte eigentlich daran gedacht, mich jetzt schlafen zu legen,« antwortete ich.

»Also haben Sie Furcht?«

»Durchaus nicht.«

Der Detektiv blinzelte mir zu. Es lag Hohn und Schadenfreude in seinem Blicke; das brachte mich zur Raserei und ich fuhr auf:

»Sie tun jedenfalls alles mögliche, um mir Furcht einzuflößen. Es muß doch ärgerlich für Sie sein, zu merken, wie Ihre Versuche ein Mal um das andere mißglücken.«

»Nun verstehe ich Sie wirklich nicht,« erwiderte Asbjörn Krag.

»Natürlich gingen Sie mit Absicht am Fenster vorüber. Auch verfolgten Sie wohl eine bestimmte Absicht, als Sie wie ein Tier an der Wand entlangschlichen.«

»Ich habe Ihnen ja den Grund für diese Erscheinung erklärt; Sie sind allzu schreckhaft, lieber Freund, Sie sehen oder hören überall Gespenster. Ist es denn nicht sehr natürlich, daß man im Dunkeln etwas umhertastet, ehe man das Türschloß findet.«

»Es ist heute abend durchaus nicht sehr dunkel.«

»Ja doch. Die Wolken hängen am Himmel tief auf die Erde herunter.«

Aber ich wollte dem Detektiv durchaus meine Mißbilligung zeigen.

»Alles, was Sie taten, geschah mit Absicht,« sagte ich, »Sie schlichen umher wie ein Tier, wie ein Wolf.«

Asbjörn Krag erwiderte nicht sofort, er setzte sich an den Tisch, ergriff meinen Revolver und ließ die hübsche Waffe spielend durch die Finger gleiten.

Kurz darauf brummte er nachdenklich:

»Ja so, hat es sich so angehört …? Wie ein Tier, so, als ob ein Wolf hin und her läuft und umherschleicht?«

»Ja, oder ein Hund.«

»Hörten Sie den Hund heute abend?«

Der Detektiv sah zum Fenster, wo sich das Rouleau durch den Zug, der durch die Spalten des Fensters drang, langsam bewegte.

»Hörten Die den Hund?« wiederholte er.

»Welchen Hund?«

»Den Hund.«

Er sprach ganz ruhig, aber es war doch ein leiser Klang von Ungeduld in seiner Stimme, so als wollte er sagen: »Mein Lieber, ich kann doch überhaupt nur einen Hund meinen, und Sie wissen ganz gut, welcher Hund dies ist!«

Ich saß und wiegte mich langsam im Schaukelstuhl, mein Kopf lag so tief auf der Brust, daß der Detektiv mein Gesicht nicht beobachten konnte.

Dabei dachte ich an den Hund des Toten. Das ferne Gebell klang noch in meinen Ohren. Es lag etwas Absonderliches und Drohendes in diesem klagenden Hundegeheul.

Nach einer Pause von mehreren Minuten sagte ich endlich:

»Ich hörte einen Hund vor kurzer Zeit bellen; ist das der, den Sie meinen?«

»Ja,« erwiderte der Detektiv.

Dann saß er da und lauschte. Der Schein der Lampe fiel gerade auf sein Gesicht, das weiß und durchsichtig schien. Ich hielt den Schaukelstuhl an und blickte zu ihm hinüber. Innerlich war ich bei dem Gedanken zufrieden, daß ich selbst im Schatten saß, während sein Gesicht scharf beleuchtet war. Der Detektiv stützte den rechten Ellbogen auf den Tisch. Ich betrachtete seine Hand genauer. Sie war mager und auf dem Handrücken stark behaart, die Finger waren lang, knochig und von bläulicher Haut bedeckt … Aber warum saß er so da und lauschte? Ich fühlte, daß ich wieder nervös wurde. Mir kam es vor, als ob dieses angestrengte Lauschen darauf hinwies, daß ein Dritter im Zimmer war, ein fremdes und unsichtbares Wesen. Dazu diese Stille … Es war die gleiche Stille, die ich am selben Morgen so drückend draußen auf der Heide empfunden hatte; die Stille, auf die man nicht lauschen soll, weil man dann nur ein Durcheinander fremder Laute hört, Myriaden von Schreien und schließlich ein fernes und schweres Dröhnen, das nicht mehr zu dieser Welt gehört … Ich mußte menschliche Stimmen hören, ich wollte meine eigene Stimme vernehmen.

»Wonach lauschen Sie eigentlich?« fragte ich.

Er hielt die Hand abwehrend gegen mich.

»Pst! Es scheint mir, als ob ich höre …«

»Was hören Sie –?«

Er antwortete nicht, sondern lauschte weiterhin, und nun kam es endlich, ein klagender wunder Laut, das war der Hund.

Ich erhob mich so rasch aus dem Schaukelstuhl, daß es in dem altersschwachen Möbel knackte.

»Ich kann dieses Hundegeheul nicht hören, oh … dieses verdammte Geheul. Hören Sie das, Krag? Der Hund kann nicht weit fort sein!«

Asbjörn Krag erhob sich nun ebenfalls und näherte sein Antlitz dem meinigen. Ich hatte die Empfindung, als ob er mir bald in die Augen fahren würde.

»Kennen Sie den Hund?« fragte er.

»Nein, aber hier wohnen ja mehrere Hundebesitzer.« »Ich habe nie zuvor hier solches Hundegeheul gehört,« sagte Asbjörn Krag. »Ich hörte den Hund schon, als ich hierher unterwegs war, und ich stutzte unwillkürlich. Als ich herausbekommen wollte, woher der Laut kam, war mir dies unmöglich, denn er wechselte beständig den Platz.«

»So,« flüsterte ich, »so heulen die Hunde, wenn jemand sterben soll.«

Asbjörn Krag lauschte weiterhin.

Nun ging das klagende, wunde Geheul in ein drohendes Gebell über.

Asbjörn Krag packte mich am Arme.

»Es ist ein Jagdhund,« sagte er.

»Können Sie das hören?«

»Ja, an der Stimme. Aber hier findet sich kein Jagdhund im Umkreise von Meilen, soweit ich weiß.«

Ich fühlte nicht das Sinnlose in seinen Worten, denn mich hatte ein eigentümliches Grauen gepackt, das mich erzittern ließ, als er sagte:

»Der Hund des Getöteten war auch ein Jagdhund.«

»Ja, aber der ist erschossen,« entgegnete ich.

»Jawohl, weil man ihn nicht vom Grabe seines Herrn fortbekam. Er lag und heulte auf dem Grabe, um ihn wieder zum Leben zu erwecken. Ich kann mir denken, daß er geradeso geheult und gewinselt haben mag, wie der Hund, den wir jetzt hören.«

Darauf erwiderte ich nichts. Kurze Zeit darauf sagte der Detektiv:

»Denken Sie sich, lieber Freund, denken Sie sich einmal, wenn nur wir zwei diesen Hund hörten! Denken Sie sich, daß kein anderer lebender Mensch diesen Hund hört!?«

Ich fühlte mich erschüttert, aber ich kämpfte meine Bewegung nieder und bemerkte:

»Es kommt mir vor, als wenn Sie es sind, der den Spuk heraufbeschwört.«

Asbjörn Krag knöpfte seinen Rock zu.

»Denken Sie darüber nach, was ich gesagt habe.« Es war auffallend, daß gerade in diesem Augenblicke der Hund zu bellen aufhörte.

»Wollen Sie mich verlassen?«

»Ja, ich will heruntergehen, um nach dem eisernen Wagen und dem toten Passagier zu sehen.«

Der eiserne Wagen und der tote Passagier waren mir ganz aus dem Sinne gekommen, so sehr hatte mich der Hund beschäftigt, aber nun packte mich dieses neue Geschehnis plötzlich. Der eiserne Wagen war gefunden und der Passagier war tot.

»Wurde er auch erschlagen?« fragte ich.

»Nein.«

»So kam er durch einen Unfall ums Leben?«

»Jawohl, gerade wie der alte Gjaernaes. Hier gibt es nur einen, der erschlagen wurde, und das ist der Forstmeister.«

»Sind Sie dessen noch immer so sicher?«

»Ja. Er wurde in einer Nacht wie dieser getötet, als graue Wolken am Himmel dahinflogen.«

»Sie sind heute abend tragisch, Asbjörn Krag.«

Der Detektiv lächelte.

»Im Grunde genommen habe ich viel von einem Lyriker, von einem Lyriker des Schreckens. Gehen Sie mit?«

Ich dachte einen Augenblick nach.

Sollte ich mitgehen oder sollte ich zurückbleiben? Es kam mir vor allen Dingen darauf an, daß der Detektiv nicht den Eindruck bekam, als ob ich Angst hätte.

»Es scheint mir eigentlich sinnlos,« äußerte ich, »daß ich nun noch eine Leiche zu sehen bekommen soll, aber ich kann Sie gern begleiten, denn der eiserne Wagen interessiert mich. Haben Sie ihn schon gesehen?«

»Jawohl.«

»Waren Sie überrascht?«

»Nein, es war alles geradeso, wie ich es mir in den letzten Tagen gedacht hatte.«

»Glauben Sie, daß ich überrascht sein werde?«

»Jawohl; gehen Sie mit?«

»Ja, ich gehe mit.«

Der Detektiv trat an den Tisch und hob meinen Revolver empor.

»Sie werden natürlich diesen kleinen Gegenstand mitnehmen,« sagte er.

»Warum?«

»Der Sicherheit wegen. Ich glaube, daß Sie etwas Angst haben. Sie könnten zum Beispiel einen Hund unterwegs treffen!«

Ein höhnisches Lächeln leuchtete wieder in seinem Gesicht auf. Der Detektiv zeigte die Zähne.

»Ich habe keine Angst,« sagte ich, »lassen Sie den Revolver ruhig liegen.«

Er betrachtete den Revolver genauer.

»Wirklich eine hübsche Waffe,« brummte er und öffnete das Magazin.

»Alle Läufe geladen, wie ich sehe.«

»Selbstverständlich ist er geladen. Welchen Nutzen könnte mir sonst die Waffe bringen?«

»Sie könnten damit schlagen,« antwortete der Detektiv. »Sie glauben gar nicht, wie weit man damit kommen kann, wenn man jemanden schlägt!«

Ich öffnete die Tür.

»Gehen wir also,« sagte ich.

Der Detektiv legte den Revolver auf den Tisch zurück und folgte mir.

Als wir uns einige Schritte von der Hütte entfernt hatten, hörte ich, daß der Detektiv lachte – ein trockenes unangenehmes Lachen.

»Worüber lachen Sie?«

»Ueber die Lampe,« sagte er, »nun steht die Lampe wieder und brennt in Ihrem Zimmer.«

»Ja, das war reine Unachtsamkeit.«

»Zum zweitenmal. Na, es ist ja ganz gut, daß sie brennt; dann haben Sie keine Scherereien, sie anzuzünden, wenn Sie heimkommen.«

Ich wollte den Weg einschlagen, der am Hotel vorbeiführte, aber Asbjörn Krag hielt mich zurück.

»Nicht hier,« sagte er, »es ist kürzer, über die Höhe zu gehen.«

Er wollte denselben Weg gehen, den wir am Morgen eingeschlagen hatten. Ich erinnerte mich seines unheimlichen Geschwätzes während dieser Spaziertour – und schauderte.

Es war jetzt ganz dunkel, kein Mensch war zu sehen; wir gingen rasch an den kleinen, wie tot daliegenden Häusern vorbei und kamen auf den Bergweg.

»Da sehen Sie nun selbst,« sagte Asbjörn Krag; »hier ist niemand, der uns beide zusammen gesehen hat. Wenn nun einer von uns verschwände …«

Unwillkürlich muß ich wohl eine Bewegung gemacht haben, denn der Detektiv brach ab.

»Sie hören das nicht gern.«

»Nein, es scheint mir unsinnig, so zu reden.«

Der Detektiv schob seinen Arm unter den meinigen und wurde beinahe kameradschaftlich einschmeichelnd, als er sagte:

»Lieber Freund, wir sprechen jetzt schon solange über diese Dinge; nun müssen Sie mir auch einmal gestatten, etwas taktlos zu werden. Ich habe ein persönliches Interesse daran, Sie zu überzeugen. Wir kommen nun bald an den Platz, wo ein solcher Mord ausgeführt werden kann. Man braucht seinem Begleiter nur einen Stoß zu geben – und er stürzt in den Abgrund. Das ist sehr leicht, nicht wahr? Und niemand erfährt etwas davon! Selbst wenn die Leiche gefunden wird, kommt nicht einmal das Gerede von einem Mord auf, denn es liegt ja klar zutage, daß es einzig und allein ein Unglücksfall gewesen sein kann.«

Ich versuchte wieder, ihn zu unterbrechen, aber es glückte mir nicht. Er fuhr unbeirrt fort:

»Haha, nun werden Sie natürlich lachen, aber der Vergleich erscheint mir zu gut, als daß ich ihn unterdrücken sollte: Nehmen Sie einmal an, daß ich Sie aus irgendeinem Grunde haßte – – können Sie sich das nicht denken?«

»Ich kann mir dies kaum vorstellen,« murmelte ich. Meine Gedanken waren weit fort, und ich wünschte, wieder in meiner friedlichen Hütte zu sein. Es kam mir vor, als ob dies Abenteuer bereits unheimlich zu werden begönne.

»Ja, gewiß kann man sich das denken,« fuhr Asbjörn Krag fort. »Man hat Beispiele der verschiedensten Art. So kann man sich zum Beispiel ganz gut vorstellen, daß ich Sie aus dem einen oder anderen Grunde hasse. Ich setze den Fall, daß Sie etwas von mir wüßten, was mir sehr schaden könnte, wenn Sie es jemand anderem erzählten. Wie dann? Glauben Sie dann nicht, daß ich Sie hassen würde? Ich würde Sie ganz sicher so hassen, daß ich Ihren Tod wünschte. Dann müssen Sie mir einräumen, daß ich leicht darauf verfallen könnte, Sie während eines Spaziergangs wie dieser in einen Abgrund zu stoßen.«

»Sie sprechen so wunderlich,« sagte ich, »nun kann ich Sie schlechterdings wieder nicht verstehen.«

»Mir scheint, als ob ich die Sache sehr klar darstelle.«

»Oder auch allzu deutlich,« erwiderte ich. »Lieber Asbjörn Krag, leugnen hilft hier nichts; ich bin jetzt davon überzeugt, daß Sie mit Ihrem ganzen Auftreten eine bestimmte Absicht verfolgen.«

Da lachte er wieder – dasselbe trockene, unsympathische Lachen.

»Welche Absicht sollte ich dabei wohl haben?« fragte er.

»Das weiß ich wirklich nicht.«

Aber ich wußte es, ich wußte es nur allzu gut, denn ich ahnte den ganzen Zusammenhang.

Wir näherten uns dem Abgrunde – wo man nur einen Menschen anzustoßen brauchte, den man gern los sein wollte. Der Abgrund lag an der linken Seite des Weges, aber ich hielt mich die ganze Zeit über rechts von Asbjörn Krag.

»Hier ist es,« sagte er und blieb stehen.

Ein kalter Hauch schlug aus dem Abgrund und vom Meere zu uns herauf.

»Wollen wir nicht weitergehen?« fragte ich.

Statt zu antworten, zeigte Asbjörn Krag herab auf das Meer, wo zwei grüne Laternen wie zwei Katzenaugen durch die Dunkelheit schienen.

»Da unten liegt nun der eiserne Wagen an den Strand heraufgezogen, und auf dem Deck des Bergungsfahrzeugs liegt eingewickelt in Segeltuch der tote Passagier. Sieht das mit den grünen Lampen nicht unheimlich aus? … Dabei ist es hier ganz still, nicht ein Laut klingt von dort unten zu uns herauf … Ja, ja … da unten liegt er, der Tote.«

»Kennen Sie ihn?« flüsterte ich.

»Nein, Sie auch nicht. Es ist ein Ausländer.«

»Das ist doch seltsam.«

»Wenn Sie den Wagen sehen, werden Sie finden, daß alles recht verständlich ist.«

»Der Fremde ist es, der nachts im eisernen Wagen umhergefahren ist?«

»Ja, aber nur in den letzten Tagen; er ist kaum mehr als vier- oder fünfmal über die Heide gefahren.«

»Das ist ein Rätsel. Aber fuhr er auch in jener Nacht über die Heide, als … der Forstmeister starb?«

»Ja, das tat er. Als der Forstmeister erschlagen wurde, war er nicht weit entfernt. Aber all das werden Sie verstehen, wenn Sie den eisernen Wagen sehen.«

Kurz darauf fragte ich:

»Waren Sie dabei, als man den Passagier fand?«

»Ja; ich sah, wie er aus dem Wasser gezogen wurde. Es war gerade kein angenehmer Anblick. Sein Gesicht war so sonderbar bleich im Wasser, es glich … ja, wem glich es eigentlich? Haben Sie einmal eine Leiche hinter einer grünen Glasscheibe gesehen?«

Die letzten Worte des Detektivs erschütterten mich gewaltig.

Auf einmal war es mir, als ob ich wieder vor mir das Angesicht des Toten hinter dem Fenster sah … die weiße Stirn … die hellroten Lippen … ein starkes Entsetzen schüttelte mich, und ich erlebte wieder in dem Bruchteil einer Sekunde den Schrecken der letzten Nacht. Gleichsam weit fort hörte ich Asbjörn Krags Stimme:

»Wollen wir nicht weitergehen? Dann können Sie ihn in einem Augenblicke selbst zu Gesicht bekommen.«

Aber nun wollte ich um keinen Preis der Welt da hinunter. Die grünen Lichter erinnerten mich an den Phosphorschein in den Augenhöhlen eines Totenkopfs.

Ich wandte mich um.

»Ich gehe nicht da hinunter; ich will wieder nach Hause, in meine Hütte.«

Nachdem ich einige Schritte gegangen war, blieb ich plötzlich stehen.

Weit draußen im Dunkeln hörte ich den Hund wieder, ein lautes, kläffendes Hundegebell, dann ein langes Heulen und darauf ein drohendes, langgezogenes Gebell.

»Der Jagdhund!« rief Asbjörn Krag. »Hören Sie den Jagdhund?«

Das Gebell hielt an.

Es tönte so unendlich weit fort; als käme es aus der Dunkelheit selbst hinten am Horizont. Ich horchte darauf; es nahm zu, klang rauh und klagend, aber ständig drohender. Schließlich schien das Gebell den ganzen Himmel im Osten zu erfüllen … Es schien mir, als ob der Schrecken selbst aus der Finsternis auf mich losführe. Zugleich aber schien es zu rufen, zu befehlen, dieses dumpfe Hundegebell … Ich ging ihm nach.

Da hörte ich Asbjörn Krags Stimme dicht neben mir.

»Folgen Sie dem Laut nicht!« rief er.

Dennoch ging ich ihm nach.

Das rauhe Bellen legte sich um mich wie ein dichter Nebel und verwirrte mich vollständig. Ich fühlte, daß der Schrecken selbst in der Luft lag und auf mich mit warmem Brodem losfuhr …

… Ohne es zu wissen, schritt ich auf den Laut los. Als ich bis zu den Häusern gekommen war, schien es mir, als ob sich das Gebell wieder entfernte und hinten unter den Horizont untertauchte. Bald hörte ich es wieder ganz deutlich. Dabei war ich ganz allein; Asbjörn Krag hatte mich verlassen und war nach dem eisernen Wagen hinabgegangen, hinunter zu dem grünen Toten. Ich schritt rascher aus, um in meine Hütte zu kommen.

Als ich in ihre Nähe bis zu der Stelle gelangt war, wo sich die Meerenge vor meinen Blicken auftat, sah ich ein weißes, fremdes Licht auf dem Meere schwimmen. Es war etwas Gespenstisches in diesem Lichte, das in der Stille und dem schwarzgrauen Dunkel ringsumher einen seltsamen Eindruck machte. Es fiel mir gar nicht ein, daß es der erste weiße Streifen der Tagesdämmerung war, der sich auf dem Meere widerspiegelte.

Die Lampe stand noch da und brannte – –

Ich war fürchterlich aufgeregt, meine Nerven brannten mit tausend kleinen glühenden Nadelstichen überall an meinem ganzen Körper.

Ich freute mich darüber, daß das Rouleau heruntergelassen war; damit war mein Zimmer gewissermaßen von der Welt abgeschnitten. Nachdem ich kurze Zeit in meinen Papieren planlos gewühlt hatte, setzte ich mich in den Schaukelstuhl. Das beruhigte mich etwas. Der Schaukelstuhl war leer und dennoch hatte ich das Gefühl, daß da jemand darin saß, wenn ich mein Gesicht fortwandte. Darum wollte ich den Platz einnehmen.

So saß ich kurze Zeit, schaukelte und dachte nach, während mein Auge unausgesetzt auf dem Revolver haftete, der vom Tische zu mir herüberblinkte. Ich dachte verwundert darüber nach, wieviel Stunden ich wohl noch auf diese Weise leben könnte, ehe ich wahnsinnig werden würde …

Da hörte ich wieder die Totenuhr.

Diesmal erschrak ich nicht, obgleich der Laut ständig den Platz wechselte und um mich her summte wie ein zudringliches Insekt. Es war gerade so, als ob ein unsichtbarer Mensch um mich hertappte, ein Mensch, den ich nicht sah, dessen Taschenuhr ich aber hörte. Nun steht er hier … nun geht er langsam nach rechts, nun steht er wieder bei der Lampe still. Mir kommt es so vor, als ob einen Augenblick lang der Glanz meines Revolvers nachläßt, als ob ein Schatten auf ihn fällt, dann aber blinkt der Revolver wieder stählern wie vorher und ich höre die Totenuhr weiter entfernt. Nein, das erschreckt mich nicht im geringsten; im Gegenteil, ich werde ruhiger, denn ich kenne die Ursache für diese Erscheinung.

Warum legte Asbjörn Krag so besonderes Gewicht darauf, mich gerade in dieser Nacht zum eisernen Wagen und dem toten Fremden hinzuführen? Ich entsinne mich seines sonderbaren Geschwätzes unterwegs, wie er mich zwingen will, seinen Mitteilungen über das richtige Auftreten eines Mörders Gehör zu schenken. Wieder und wieder hat er mich an diesen Platz hinbringen wollen, wo man bloß jemandem einen Stoß zu geben braucht – eine ganz kleine unerwartete Bewegung, um einen unbequemen Mitmenschen in die andere Welt hinüberzubefördern … Warum verließ er mich, als ich das Gesicht nach Osten wandte und auf den Laut zuging?

Auf den Laut zuging … nun erinnerte ich mich des Gebells wieder, und alle meine Sinne zitterten schreckhaft, wenn ich an das Echo dieser rauhen, schrecklichen Tierstimme dachte … Natürlich war es ein Hund auf einem der Höfe; ja, ich war dessen ganz sicher, aber trotzdem mußte ich immer wieder an den getöteten Jagdhund des Forstmeisters denken. Ich sah ihn vor mir mit seinem langen, seidenweichen Haar und seinen großen verwunderten Augen. In diesem Augenblick konnte ich wohl verstehen, daß das Gebell von mir wie ein Ruf und eine Warnung aufgefaßt wurde!

Ich hielt plötzlich die sanften Schwingungen des Schaukelstuhls an, blieb sitzen und lauschte mit offenen Ohren, denn ich hatte einen Laut von draußen aufgefangen. Ein Zweig hatte geknackt, in den Büschen raschelte es leise. Das war nicht der Wind; es war, als ob lange Finger über die Blätter hinglitten.

Kurz darauf pochte es hart und kurz an das Fenster. Diesen Ton hatte ich schon früher gehört; es war sicher ein Vogel, dachte ich, der gegen das Licht geflogen kam und mit dem Schnabel an die Scheibe stieß.

Aber kurz darauf hörte ich wieder, daß es an die Scheibe klopfte – diesmal mit zwei harten Schlägen, die an Knochen erinnerten.

Ich erhob mich plötzlich und griff nach dem Revolver. Seinen eiskalten Schaft fühlte ich in meiner Hand; es war mir nicht länger zweifelhaft, was ich zu tun hatte.

Mit raschem Griffe wollte ich das Rouleau fortreißen. Ich fühlte bereits im voraus, was sich nun ereignen würde. Sobald ich die kohlschwarze Scheibe erblicken würde, wollte ich zurückspringen. Ein flüchtiges Bild fuhr nervös durch mein Bewußtsein: Ein Tierbändiger in einer Menagerie, der das Gitter öffnet und beiseite springt vor dem großen schrecklichen Tier dort drinnen, das auf dem Sprunge liegt! – – – Nun klopfte es wieder gegen die Scheibe, diesmal hart und drohend.

Ich griff nach der Schnur, die das Rouleau hielt, zog rasch an ihr und ließ sie wieder los. Mit einem Knalle fuhr das Rouleau in die Höhe.

Ich taumelte ins Zimmer zurück.

In dem untersten kohlschwarzen Felde stand das Antlitz wieder: grausam und deutlich, der hellrote Mund und die schneeweiße Stirn schienen mir entgegen.

Aber nun verhüllte ich mein Angesicht, ich ging dem Schrecken zu Leibe und schritt auf das Fenster zu; ein großer haßerfüllter Wille hatte mich ergriffen. Ich sah nichts anderes als dieses Angesicht und fühlte den Revolver in meiner Hand, fühlte, wie eine wilde, erbitterte Wut mir zu Kopfe stieg; ich wollte etwas rufen, einen Schwur, einen Fluch, aber ich bekam nichts heraus. Ein undeutliches Gurgeln erfüllte meinen Mund, es war geradeso, als ob ich Blut spie.

So zielte ich mit dem Revolver auf das Gesicht, so nahe an der Scheibe wie möglich, und drückte ab. Der Schuß versagte.

Der schwache helle Klang des Metalls fuhr mir wie ein Stich durch das Hirn.

Wieder drückte ich ab.

Aber wieder versagte der Schuß.

Das schreckliche Gesicht stand dort ebenso ruhig wie zuvor in der Scheibe, nicht eine Miene verzog es, die Augenlider sanken nicht herab, sondern die Augen stierten mich an, weiß und tot.

Da drückte ich zum dritten Male ab.

Derselbe Versager, dasselbe unangenehme Gefühl, als ob ein Metallstift mir durch die Nerven führe.

Aber nun wurde das Gesicht undeutlicher, die hellroten Lippen wurden grau und die schneeweiße Stirn verwischte sich mehr und mehr. Ich ließ den Revolver sinken. Das Gesicht verschwand mehr und mehr, wurde von der Dunkelheit verschluckt, die sich schließlich darüber legte wie ein dicker schwarzer Vorhang. Schließlich sah ich nichts anderes als die Dunkelheit und einen schwachen Widerschein in den obersten Scheiben von dem weißen, fremden Lichte, das von der See heraufdrang.

So stand ich lange Zeit und starrte gegen die Scheibe, vollkommen verwirrt von dem, was ich erlebt hatte.

Dann sah ich nach dem Revolver und öffnete das Magazin.

Das Magazin war leer, alle Kugeln waren herausgenommen.


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