Joseph von Eichendorff
Dichter und ihre Gesellen
Joseph von Eichendorff

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Kapitel

Schöne, stille Zeit, du liebste Heimatsgegend mit deinen frischen Morgen und mittagschwülen Tälern, und ihr rüstigen, nun nach allen Weltgegenden hin zerstreuten Jugendgesellen, die damals von den Bergen so ernst und fröhlich mit mir in das Leben hinausgesehen – ich grüß euch alle aus Herzensgrund! Denn alles wird mir wieder lebendig hier auf den kühlen Waldbergen, wie ich den Amtmann zwischen den Kornfeldern wandern sehe und Florentinen, bald oben am Fenster beim ersten Morgenlichte singend und ihre Haare flechtend und sich streckend und putzend um die Wette mit den erwachenden Vögeln in den Bäumen vor dem Hause, bald wieder im Garten über einer französischen Grammaire eingeschlafen, die Walter ihr gegeben, um sich für das Stadtleben auszubilden. Vor allen aber hat Fortunat, der seine Abreise von einem Tage zum andern verschiebt, sich behaglich im Garten eingerichtet. Im Grün zwischen hohen Blumen, die weite Landschaft unter sich und über ihm die rauschenden Wipfel, setzt er sich jeden Morgen mit dem Schreibzeug an dem steinernen Fußgestell eines etwas verwitterten Apollos zurecht, um einige Novellen, die er in glücklichen Reisestunden auf seinem Pferde ersonnen, endlich einmal recht in Ruhe zu Papier zu bringen. Aber da geht es ihm wunderlich. Der lustige Morgenwind wirft ihm die Blätter ins Gras, wo sich die Hühner drum raufen, hinter ihm aber stimmen die Wipfel ihr uraltes Lied wieder an, das in keine Novelle paßt, die Waldvögel singen ganz fremde Noten dazwischen und Wolken fliegen über das Land und rufen ihm zu: »Menschenkind, sei doch kein Narr!« Und zog dann gar der Förster unten zur Jagd und schwenkte seinen Hut und rief hurra hinauf, da warf er gewiß Feder und Papier fort und schwang sich auf seinem Pferde mit in den frischen, glänzenden Morgen hinaus.

Auf einem solchen Morgenritt tröstete er sich einmal mit folgendem Liedchen:

Ich wollt im Walde dichten
Ein Heldenlied voll Pracht,
Verwickelte Geschichten,
Recht sinnreich ausgedacht.
Da rauschten Bäume, sprangen
Vom Fels die Bäche drein,
Und tausend Stimmen klangen
Verwirrend aus und ein.
Und manches Jauchzen schallen
Ließ ich aus frischer Brust,
Doch aus den Helden allen
Ward nichts vor tiefer Lust.
Kehr ich zur Stadt erst wieder
Aus Feld und Wäldern kühl,
Da kommen all die Lieder
Von fern durchs Weltgewühl,
Es hallen Lust und Schmerzen
Noch einmal leise nach,
Und bildend wird im Herzen
Die alte Wehmut wach,
Der Winter auch derweile
Im Feld die Blumen bricht
Dann gibt's vor Langerweile
Ein überlang Gedicht!

Bei seiner Rückkehr fand er im Hause alles ausgeflogen, und streckte sich ermüdet im Garten an dem hohen Bogengange ins Gras. Er hatte aber noch nicht lange geruht, als er Stimmen neben sich vernahm, an denen er die Amtmannin und Waltern erkannte, die, ohne ihn zu bemerken, in dem Gange auf und nieder wandelnd, in lebhaftem Gespräch begriffen schienen. – »Das kommt bei dem Überstudieren heraus«, sagte soeben die Amtmannin, »nichts als Verse im Kopf, Reisen und dergleichen unkluges und kostspieliges Zeug.« – »Ich glaube gar«, rief Fortunat, »die spricht von mir!« – »Beruhigen Sie sich«, hörte er nun Waltern entgegnen, »ich werde versuchen, die eigentlichen Absichten dieses verschlossenen, rätselhaften Gemüts zu erforschen.« – »Bei Nacht möchte er spazierengehen«, fing die Amtmannin wieder an, »den Tag verträumt er! Und warum verbirgt er sich vor uns?« – Hier verlor sich der Diskurs in der Ferne. Fortunat sprang hastig auf. »Sie reden von meinem unbekannten Führer im Garten an jenem ersten Morgen«, dachte er, und es fiel ihm aufs Herz, daß er ihn in der Zerstreuung so ganz vergessen hatte.

Als am Abend alle unter den Linden vor der Haustüre sich wieder versammelten, beschloß er, der Sache näher auf den Grund zu kommen. Der Amtmann war der erste auf dem Platz, er erzählte ihm sogleich das ganze Begegnis, wie er damals den Unbekannten schlafend am Springbrunnen getroffen und was sie miteinander gesprochen hatten. Dieser hörte sehr aufmerksam zu, er mußte ihm Größe, Kleidung, Haare und Stimme des Fremden ausführlich beschreiben, aber der Amtmann wußte alles besser als er, alle seine Fragen trafen wunderbar ein. »So kennen Sie ihn also?« fragte Fortunat. – Der Amtmann schüttelte nachdenklich den Kopf. »Ich weiß nicht, wer es war«, sagte er, »und darf nicht sagen, was ich vermute.« – Unterdes war seine Frau herausgekommen, er bat Fortunaten schnell, vor den Weibern nichts von der Geschichte zu erwähnen. Jetzt trat auch der Student Otto, der von einem weiten Spaziergange zurückzukommen schien, zu der Gesellschaft. Als er sich bei ihnen niederließ und in der warmen Luft seinen Rock schnell öffnete, fiel ein sauber eingebundenes Buch daraus zu Boden; es war des Grafen Victors neuestes poetisches Werk, das er bisher noch nicht gekannt und heute früh unter den zerworfenen Büchern des Amtmanns gefunden hatte. – »Ach, ich dachte, es wäre dein juristisches Handbuch«, sagte die Amtmannin, indem sie das Buch aufnahm und Otton zurückgab. Dann, sich gemächlich auf ihren Lehnstuhl zurücklehnend, fuhr sie nach einer kurzen Pause fort: »Hab' ich doch heute vor Tagesanbruch in Haus und Hof zu schaffen gehabt, daß mir ordentlich alle Glieder wehtun. Nun dafür schmeckt auch am Abend die Ruhe, wenn man sich wacker gerührt und seine Pflichten erfüllt hat.« – Otto errötete flüchtig, ohne etwas darauf zu erwidern. – Fortunaten aber fiel es bei diesen Worten erst auf, wie sonderbar allerdings Otto seit einiger Zeit erschien. Alle Morgen zog er ganz allein in den Wald hinaus und kam selten vor Mittag wieder zum Vorschein. Dann war er einsilbig, schüchtern, zerstreut, und oft mitten in den heitersten Augenblicken flog es über sein freundliches Gesicht wie ein Wolkenschatten über eine schöne, sonnenhelle Gegend.

Man hatte unterdes das Abendessen aufgetragen, und die rüstige Amtmannin, die es nun heut einmal auf Otton abgesehen zu haben schien, begann, indem sie den Braten zerschnitt und jeden reichlich davon beteilte, sich mit allerlei weisen Redensarten und spitzigen Ausfällen über die teuren Zeiten zu verbreiten, und wie notwendig es sei, daß ein junger Mensch jetzt frühzeitig darauf denke, dereinst sein sicheres Brot zu haben. Da seien noch immer Toren genug in der Welt, um reichen Leuten die Zeit zu vertreiben mit schönen Bildern, Komödienspielen oder Versemachen – das sei ein bloß herrschaftliches Vergnügen, setzte sie schnell verbessernd hinzu, indem ihr dabei Graf Victor einfallen mochte. – Der Amtmann hatte die Salatschüssel vor sich geschoben und aß hastig, man konnte nicht erraten, ob er sich über Otto oder über seine Frau ärgerte. – »Da fällt mir immer mein seliger Bruder ein«, hub die letztere wieder an; »er hat auch studiert, aber das war ein gescheuter Kopf, der ließ die Phantasten ablaufen, setzte sich auf seine Brotwissenschaften, heiratete eine gebildete, vernünftige Frau, und Gott hat seinen Ehestand gesegnet. Nun, du kannst es ja selber bezeugen« – fuhr sie zu dem Amtmann gewendet fort, empfindlich, daß er ihr gar nicht beistimmte – »der ließ sich zu seiner Hochzeit von den besten Poeten Schäfergedichte machen, Gott weiß, wo die nun selber die Schafe hüten.« – Hier brach Otto, der bis jetzt sichtbar mit sich selbst kämpfte, plötzlich mit verbissener Bitterkeit und einem höhnischen Stolze los, den niemand dem sanften Jünglinge zugetraut hatte. »Lieber Schweine hüten«, sagte er, »als so zeitlebens auf der Treckschuite gemeiner Glückseligkeit vom Buttermarkt zum Käsemarkt fahren. Der liebe Gott schafft noch täglich Edelleute und Pöbel, gleichviel, ob sie Adelsdiplome haben oder nicht. Und ich will ein Herr sein und bleiben, weil ich's bin und jene Knechte sollen mich speisen und bedienen, wie es ihnen zukommt!« – Das war der bestürzten Amtmannin zu toll. »Unsinniger, aufgeblasener Mensch!« rief sie hochrot vor Zorn; »so iß meinetwegen trockenes Brot, wenn du Butter und Käse verachtest! Aber wir wissen's wohl, wo du die Komödiantensprüche gelernt hast. Denke nur nicht, in unser ehrliches Haus einmal eine Theaterprinzessin heimzuführen, die nicht so viel hat, um die Löcher zu flicken, die sie in ihre Lappen gerissen, so eine von aller Welt ausgeklatschte Kreatur!«

Aber Otto hörte nicht mehr, er war rasch aufgestanden und schritt zürnend in den nächtlichen Garten hinein. Walter, in sichtbarer Verlegenheit, wollte ihm folgen, wurde aber von Fortunat aufgehalten, der ihn schnell in einen Seitengang führte. »Sage doch nur«, fragte er Waltern, »was gibt's eigentlich hier, und wo willst du hin?« – »Den Gekränkten trösten«, erwiderte Walter, »und – vermag ich's sonst – ihm auch den Kopf ein wenig zurechtsetzen. Komm mit!« – »Das laß ich wohl bleiben«, rief Fortunat aus, »ich bin froh, wenn mir mein eigner Kopf zuweilen noch so leidlich sitzt.« – »Mein Vorhaben«, sagte Walter, »ist wahrhaftig edler, als es dir nach deinem ironischen Gesicht auf den ersten Blick vielleicht erscheinen mag. Denke dir nur recht diesen stillbeschränkten, heiteren Familienkreis, dessen ganzes Trachten und Hoffen auf den einzigen Jüngling gerichtet ist, der auf der Schule immer für den aufgewecktesten und geschicktesten galt. Und nun kehrt er von der Universität zurück, verwandelt, träumerisch in sich gekehrt, unlustig zu jeder tüchtigen Arbeit und einer verworrenen Welt von ausschweifenden Gedanken und wünschen nachhängend, um – wie ich fürchte – dereinst zu spät von der grausamsten Täuschung zu erwachen und ein verlornes Leben zu bereuen. Nein, ich will es endlich versuchen, ihn auf das Gefährliche eines Pfades aufmerksam zu machen, der einsam über die Köpfe der anderen Menschen weggeht und immer nur für sehr wenige bestimmt scheint.« – Fortunat war über diese Worte ernst und nachsinnend geworden. »Du ehrliche Seele!« sagte er endlich, dem Freunde herzlich die Hand schüttelnd, »so versuche dich denn an ihm. Ist der junge Mensch ein halber Philister, so hilf ihm völlig aus dem tollen Poetenmantel heraus, und ist es rechter Ernst mit seinem Talent, so muß er doch weiter und rennt dich über, wärst du auch der weise Salomo selber.«

Alle vor dem Hause waren durch den Vorfall gestört, die kleine Gesellschaft sah stumm und kopfhängend auf die Teller. Draußen über den Tälern war es indes schon stiller und dunkler geworden, nur in weiter Ferne sah man zuweilen leichte Blitze über den Bergen schweifen. Die Amtmannin blickte mit heimlicher Besorgnis, wie es schien, bald in das Wetterleuchten, bald nach der Richtung hin, wo Otto verschwunden war, und ging dann, ohne ein Wort zu sagen, in das Haus hinein. Endlich brach der Amtmann ärgerlich die unheimliche Stille. »Es geht auch alles konfus jetzt«, sagte er zu Fortunat, »im Frühling Gewitter, im Sommer kalt, in der Jugend alt und im Alter närrisch! Glauben Sie mir, unsere ganze Zeit jetzt ist gerade wie dieses verrückte Frühlingswetter, die Schwüle brütet und treibt alles vorzeitig hervor, und ich fürchte, es schießt mehr ins Kraut als in die Blüte. Unsere Jungens wissen schon jetzt mehr, als wir jemals erfahren haben, und recken und sehnen sich aus allen Gelenken heraus, während wir in unserer lustigen und gesunden Jugendzeit ohne besondere Sehnsucht hinreichend dumme Streiche machten und erst die fatalen Lümmeljahre überstehen mußten. Ja, es ist recht verdrießlich! Man möchte sich gern bequem, fröhlich, und auf die Dauer einrichten, wie in der guten, alten Zeit, aber der ferne Donner verkündigt überall den unheimlichen Ernst, und so sitzen wir verwirrt, ungewiß und in banger Erwartung vor dem dunklen Vorhang, hinter dem fortwährend Gott weiß, was! unruhig und feurig zuckt.« – Unterdes hatte Walter den verscheuchten Otto im Garten aufgefunden. Empört und in innerster Seele verletzt, saß er wie eine Nachteule mitten im Gestrüpp. Als er Waltern erblickte sprang er rasch auf und kam ihm mit erzwungener, gleichgültiger Höflichkeit entgegen. »Die Tante«, sagte er, »ist gewiß schon besorgt, daß ich draußen nicht den Schnupfen bekomme. Freilich die Nase ist ein empfindlicher Teil, da sitzt die Seele schon tiefer und wärmer, die ficht so leicht nichts an.« – Walter stand einen Augenblick verblüfft, denn es war ihm, als säh er auf einmal sich selber als Studenten vor sich stehn, er war ganz aus seinem Konzept gebracht und ergriff gerührt die Hand des aufgeregten Jünglings. »Ich komme keineswegs«, sagte er endlich, »um das harte, heftige Wesen der Amtmannin zu verteidigen, obgleich es auch nur eine andere, ungeschickte Form der Liebe ist. Das Angedenken meiner eigenen Jugend ist es, was mich herführt, der aufrichtige Schmerz um ein junges, heitres Gemüt, das auf diesem Wege sich immer tiefer und tiefer in der blühenden Öde junger Seelen gar wohl das Heimweh ohne Heimat, diese labyrinthische Selbstquälerei. Sie stehn verlassen auf der Welt, ohne Vater und Mutter – verlangt Sie in dieser Einsamkeit nach einem Freunde, und wollen Sie's mit mir versuchen, so biete ich Ihnen meine Hand bis in den Tod und will raten, schützen, helfen, wo ich kann!« – Otto sah ihn erstaunt an, denn in Walters Worten war jener wunderbare Klang ernster Güte, der überall unmittelbar zum Herzen geht. – »Sie sind im Amte, angesehen, ruhig« – sagte er dann nach einer kurzen Pause. »Und wenn ich Ihnen nun auch erzählen wollte von dem zauberischen Spielmann, der jeden Frühling, wenn der Sonnenschein sich munter über die Felder ausbreitet, aus dem Venusberge kommt mit neuen, wunderbaren Liedern und die Seelen verlockt, von dem in schwüler Mittagsstunde der einsame Vogelsang schallt, von dem die Ströme und Quellen verworren rauschen im Mondschein und die badenden Nixen wie im Traume singen durch die stille, goldne Nacht – Sie würden mich ja doch nur für verrückt halten!« – Walter erschrak fast, so irr und fremd leuchteten die Augen des Jünglings im Streiflicht des Mondes. – »Und ich bin es ja auch in der Tat!« fuhr dieser fort, »bildete mir da ein, dem Zauberstrom von Klängen unversehrt folgen zu dürfen und ein Dichter zu sein, der die Zauber regiert! Aber nun weiß ich's besser. Alle Engel, die durch die erste Dämmerung meiner Kindheit zogen, was ich oft betend heimlich ersehnte und immer und immer vergeblich auszusprechen versuchte: ich fand es heut auf einmal mit freudigem Erschrecken in des Grafen Victors Buch, er hat es kühn, frisch und jung wie eine Zauberinsel entdeckt – und ich weiß nicht mehr, was ich will. – Aber es ist noch immer Zeit, ich bin noch jung. Und wie ich das Buch hier vom Berge in den Fluß hinunterschleudere, so entsag' ich von heut ab der fröhlichen Dichtkunst, der Metze! Und gleich den anderen, die ich verachtet und die so unsäglich besser sind als ich, will ich von heut an allein und ganz der Rechtswissenschaft leben und von den Büchern nicht wieder aufstehen!« – Hier brach er plötzlich in Weinen aus und stürzte wie vernichtet an Walters Brust.

Beide neuen Freunde schritten nun durch den stillen Garten, nur eine Nachtigall tönte schluchzend in der Ferne. Otto schwieg und schien gefaßter. Walter sagte: er brauche ja darum die Poesie nicht ganz aufzugeben, es bedürfe eines des andern, die Poesie des strengen, ernsten Lebens und das Leben der heiteren Dichtkunst. Aber er fühlte bald, wie albern solcher Trost in solcher Stunde war, und schwieg endlich auch still.

So kamen sie an das Haus, wo sie die Amtmannin in Angst und Tränen fanden. Sie hatte zuletzt gefürchtet, daß Otto in seiner Heftigkeit sich selbst ein Leids angetan, und fiel nun dem Geretteten mit großer Freude um den Hals, die dieser herzlich erwiderte. »Es ist vorbei«, rief Otto in seiner seltsamen Hast, »ihr habt mich nun ganz wieder, und nächstens, will's Gott, ist Examen!« – Die Gläser gaben einen hellen Klang, und so endigte der Abend noch in Freuden; die fernen Gewitter hatten sich auch verzogen, und der Himmel glänzte mit tausend Sternen über den Versöhnten.


 << zurück weiter >>