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Rubine! Rubine! Kaufen Sie meine roten Rubine! Die schönsten der Welt! Chrysoberylle, Topas, der Glücksstein, funkelnd und hell, wie Sonne, Sennora! Ein Alexandrit, Missis, Madame – groß, wie der Kopf einer Schlange. Saphire, Steine der Schönheit, blau, wie die Augen der schönen Madonna. Kaufen Sie! Spottbillig! Geschliffen in Ratnapura, Glückssteine, Prachtsteine –! Hier, schöne Sennora!«

Frau Mabel ging lächelnd am Tische des Mohammedaners vorüber. Prachtvoll geschliffene Edelsteine glitzerten und funkelten aus kostbaren Schalen.

»Ein Beryll für den Sennor!« schrie der tanzende Händler. Mit tausend Bücklingen umsprang er Don Ebro.

In unüberbietbarem Hochmut sah der Spanier über den Reichtum. Das ganze Jahrmarktsgetriebe des Basars, das Schreien der Händler, das Feilschen der Käufer nahm er nur als Huldigung, die ihm gebührte. Jeder kannte ihn hier, mußte ihn kennen, ihn, Don Ebro, den kühnen Besieger des Erdunterganges. Stolz, wie der Herr seiner indischen Sklaven, hielt er im Arme die kleinen Pakete, den Kopf hoch erhoben, das Ledergesicht ohne Regung, die Füße im Tanzschritt. Farbenstrotzende Teppiche lagen quer über dem Weg, hingen vom Tisch und von Wänden herunter. Koprahändler hockten auf ihren Früchten, Bananen, Feigen, Datteln standen in Körben verstaut durcheinander. Bude an Bude drängte sich zwischen den Häusern, und immer wieder dazwischen die Tische der Götzenverkäufer, in tausenden Formen, in tausenden Kulten –

Mit offenem Entzücken nahm Mabel das farbenprächtige Bild in sich auf. Das laute Treiben des Marktes ergötzte sie in den zahlreichen Stunden, die sie jetzt allein war. Ihr Gatte war tagsüber stets in der Werndt-Stadt. Überall folgten ihrer schönen Erscheinung die Blicke der Fremden, die Rufe der Händler. Sennora – Sennora – scholl es von allen Seiten. Man kannte den Spanier in ihrer Begleitung. Don Ebro würdigte das Volk keines Blickes. Es war ihm, als breite er vor seiner Herrin den Teppich des klangvollen Namens, den er von den spanischen Ahnen erhalten, und dessen unendliche Länge er selbst nicht beherrschte. Er war stolz, seiner Herrin so dienen zu können.

Mabel schickte Don Ebro voraus und ging langsam heimwärts. Nachdenklich und träumerisch durch die Stimmung des Tages. Sie bog in die Straße zum Walter-Werndt-Viertel. Ein kleiner Menschenauflauf versperrte den Durchgang. Mitten im Wege saß einer der zahllosen, farbigen Gaukler und suchte das Publikum an sich Zu ziehen. Mit erstaunlicher Zungengeschwindigkeit rasselte er seine Formeln herunter, die Sprüche des Zaubers für Menschen und Schlangen, schreiend, wie die europäischen Ausrufer beim Jahrmarkt, alle aufgeschnappten Worte und Zahlen in Dutzenden Sprachen unsinnig vermengend. Trotzdem umstand ihn das Volk mit offenen Mäulern.

»One – two – three – fore – five –!« schrie er gellend. Im gleichen Augenblick warf er einen Stock vor sich hin und hob ihn als zischende Schlange vom Boden. Mit einem furchtbaren Rollen der Augen stieß er sich Dolche in Arme und Beine und zog seine Augen weit aus ihren Höhlen. Als er die schöne Frau auftauchen sah, setzte er sich mitten zwischen den Durchgang und hielt einen Mangokern über den Turban.

»Mango – Mangokern! – Baum wachsen! – un – deux – trois – heis, duo, treis –!« schrie er fuchtelnd und hüpfend. Mit gekrallten Nägeln grub er ein Loch in die Erde und legte den Mangokern in die Vertiefung.

»Zauber, Zauber, Mirakel, Sensation! – Baum wird wachsen – eine Sekunde – one, two, three –«

Aus seinen hageren, schmutzigen Fingern warf er schnell ein Tuch hoch. Er legte es vierkantig über die Grube. »Brahma, Wischnu, Krischna,« murmelte er, wie in Beschwörung. Dann hob er das Tuch auf ... Ein reizender Mangobaum stand in der Erde!

»Platz da! – Platz da!« schrie er voll Eifer und machte Mabel den inneren Weg frei. Sie ging schnell vorüber. Die Neugier der Leute war ihr unsympathisch. Schnell bog sie zum inneren Garten der Villa. Am Eingang des Hauses stand eine Gestalt. Bei ihrem Anblick kam sie ihr eilig entgegen. Es war ein Inder der dienenden Klasse. Er hob die Hand an die Stirne und wartete stumm, nach der Sitte des Landes, bis Mabel ihn ansprach.

»Suchen Sie mich?«

»Mistreß Nagel?«

»Die bin ich.«

»Der Sahib – die Stadt des Zauberers – ein Unglück da drüben –«

Sie zuckte heftig zusammen.

»Mein Mann? – Schnell – was ist?!«

»Der Sahib – Explosion – verwundet – schnell – kommen!«

Mabel schoß das Blut heiß zum Herzen. Alle ihre Gedanken drehten sich in einem Wirbel.

»Wo? – Wo?« stöhnte sie auf.

»Ich führe – Auto wartet – Missis mir folgen –!« machte der Inder. Mit einer kriechenden Geste der Unterwürfigkeit wies er zum hinteren Ausgang des Gartens. Der Umriß eines zierlichen Autos hob sich aus den Büschen.

»Schnell – schnell! Sahib wartet!«

Mit fliegendem Atem lief sie zu dem Auto. Der Inder schloß eilig die Türe des Wagens und sprang an das Lenkrad. In rasendem Tempo fuhr er durch die Straßen. Mabel war zu sehr beschäftigt mit ihren Gedanken, mit Zweifeln und Fragen, um auf die durchfahrene Gegend zu achten. Die Minuten dehnten sich endlos vor ihren Ängsten. Vollkommen unbekannte Häuser und Gärten tanzten am Fenster des Wagens vorüber. War das der Weg nach der Werndt-Stadt? Wußte der Fahrer den Weg? Er mußte sich irren ...

Sie wollte fragen und drückte die Klingel. Da machte das Auto einen mächtigen Kreis und hielt vor dem offenen Tor eines Hauses.

»Sahib beim Arzt – innen – Landhaus – im Zimmer!« drängte der Inder, bevor sie noch ausstieg. Geschüttelt und bebend verließ sie den Wagen und folgte dem Diener zur inneren Halle. Der Inder riß eine Tür vor ihr auf. Ein prunkvolles Wohngemach sprang wie ein Buch auf.

»Sahib – Sahib – gleich –« zischte der Diener. Dann schloß sich die Türe schnell in seinem Rücken.

Mabel sah sich erstaunt um. Das Zimmer war klein, aber reich ausgestattet. Kostbare Teppiche deckten den Boden und seidene Tücher verzierten die Wände. Breite Polster und bauschige Kissen lagen im hinteren Zimmer verstreut. Immer wieder glaubte sie Stimmen zu hören und nahende Schritte. Es war eine Täuschung. Sie sah nach der Uhr – die Ziffern verschwammen ihr vor ihren Augen. Gehetzt ging sie von Fenster zu Türe, von Türe zu Fenster. Sie waren vergittert und halb zugezogen.

Warum ließ man sie warten? Wo war ihr Mann? Was führte ihn hierher, ins Haus eines Fremden? War er noch am Leben –? Die Minuten reihten sich endlos zur würgenden Kette.

»Herrgott!« stöhnte sie auf. Der jähe Schlag hatte sie zu plötzlich getroffen. Die Ungewißheit fraß an ihrem Hirne. Wo blieb nur der Diener? Warum führte man sie nicht zu ihrem sterbenden Manne ...!

Die wilden Figuren der indischen Götzen umdrängten sie höhnisch, mit grausamen Fratzen. Warum erst die Eile und nun dieses Warten? Wer war dieser Diener? Wer schickte ihn zu ihr? Wo war sie? – Nur Fragen und Antwort und Ende des Zweifels!

Unwillkürlich drückte sie auf die Klinke der Türe. Da fuhr sie zurück, wie vom Schlage getroffen. Die Tür – war verschlossen ...

Sekundenlang stand sie, vor Schrecken erstarrt, unbeweglich, in wirbelndem Ansturm der wilden Gedanken. Die Türe verschlossen?!

Ihr Blick fiel auf die Fenster. Auf die eisernen Gitter. Gefangen? Wo? Von wem? Weshalb? Was wollte man ihr?

Warnungen vor Mädchenhändlern – Verschleppung, um Lösegeld zu erpressen – tausend Möglichkeiten jagten sich in ihrem Kopfe. Man hatte sie überlistet – zweifellos – betrogen – einen Unfall erfunden – Also war es nicht wahr, daß Nagel verletzt war! Wilde Freude schoß in ihr hoch, doch wurde sie gleich von den Sorgen erdrosselt. Was hatte man vor? Was würde geschehen?

Sie mußte sich setzen, so zitterten ihr vor Erregung die Knie. Sie zwang sich gewaltsam zu ruhigem Denken. Die Stunde verging in entmutigtem Warten. Einmal mußte sich doch diese Türe da öffnen. – Man mußte doch kommen, – auch wenn man ihr Feind war ...

Ein leises Summen ließ sie aufhorchen. Der Lichtschein des Fensters fiel auf den funkelnden Leuchter. Er hing von der Decke bis mitten ins Zimmer. Erst jetzt erkannte sie seine seltsame Fassung. Er war aus zahllosen Spiegeln zusammengesetzt und hatte die Form eines glitzernden Prismas. Überrascht sah sie zu ihm auf. Kein Zweifel, das Summen kam dort von dem Leuchter. Das Licht tanzte auf seinen Spiegeln – er drehte sich langsam – dann schneller im Kreise ... Es machte leicht schwindlig, wenn man es ansah – Die Augen zwinkerten in seinem Glanze – er raste jetzt rund – wie ein Glasventilator – die Fläche der Spiegel verlor sich im Drehen – verschmolz mit dem Licht – wie ein einziges Sternband ...

Sie wollte wegschauen – aber es hielt ihre Blicke gebannt. Wie an einer Schnur. Immer von neuem mußten sie diesen Kreis mitmachen – mitdrehen – hinauf – hinunter – hinauf – hinunter – immer von neuem – unablässig – unwiderstehlich. – – Bleierne Müdigkeit sank in die Augen – das Kreisen da oben stand keine Sekunde – die Augendeckel wurden ihr schwer – unerträglich – vergebens kämpfte sie dagegen an. – – Sie mußte doch wach bleiben, mußte doch warten – und war doch so müde ... müde ... mü ... de ... ah ... –

Mit einem gequälten Seufzer sank sie hintenüber, in seidene Polster ... Mü ... de, schlafen – nur ... schla ... fen ... nur schla – – fen ...

Der Schlüssel drehte sich lautlos im Schloß. Die Türe öffnete sich vorsichtig in das Zimmer.

»Sie schläft schon, Herrin!« kam es gedämpft.

Mit schnellen Schritten ging ein Mann durch das Zimmer. Seine hagere Gestalt war in einen grünen Burnus gehüllt. Der Hals war unnatürlich lang und scheußlich behaart, das Gesicht von erschreckender Wildheit. Scharfgebogen stand die Nase zwischen stechenden Augen und gab dem Kopfe das Profil eines Geiers. Mit langen, knochigen Fingern strich er der Schlafenden über die Stirne. Vom Genick aufwärts, über den Kopf, die Schläfen herunter ...

»Willst du fragen, Herrin?« gab er zurück.

Die Herrin der Inder kam langsam nach vorne. Ihr schönes Gesicht war seltsam verändert. Dämonischer Glanz loderte in ihren Blicken.

Mit untereinandergeschlagenen Beinen ließ sie sich der Schlafenden gegenüber aufs Polster.

»Mabel?« sagte sie leise. – Und noch einmal »Mabel!«

»Ja?« kam es fragend.

»Du heißest Mabel. Du hörst meine Stimme –«

»Ich höre –«

»Ich bin deine Herrin. – Du mußt mir gehorchen! –«

»Du bist meine Herrin –«

»Du mußt mir antworten, auf das, was ich frage!«

»Antworten ...« tönte es träumerisch.

Ein triumphierender Blick traf das Geiergesicht des Inders und wurde zum Drohen.

»Du wirst sterben, wenn du belügst – –«

»Sterben – lügst – –«

»Du wirst nur die Wahrheit sagen –«

»Ja – –«

Die Inderin atmete auf.

»Du weißt das Geheimnis des Meteors?«

Mabel gab keine Antwort.

»Antworte!« fuhr die Inderin hoch. Der Geierkopf sah sie beruhigend an.

»Sie wird antworten. Laß mich fragen, Herrin. – Kennst du das Geheimnis des Meteors?«

»Nein!« kam es zögernd zurück.

Der Inder stutzte erstaunt.

»Du weißt, was Walter Werndt bisher entdeckte?«

»Ja!« – Es klang sehr bestimmt.

Das Geiergesicht hellte sich unheimlich auf.

»Du hast dir alles genau eingeprägt?«

»Ganz genau.«

»Du könntest alles genau diktieren?«

»Wort für Wort.«

»Diktiere! Ich bin Walter Werndt. Ich werde dich prüfen.«

Ein stolzes Lächeln lag über Mabels Gesicht. Leicht und sicher flossen die Worte von ihren Lippen. Satz auf Satz, in flüssiger Rede, in klarem Bericht. Der erste Versuch stand klar vor ihr auf – die Starrheit des Meteorbruchstücks, das Schmelzen, Vergasen, die Dunkelheit, das Steigen der Temperatur, die Explosion ... Alles, was Werndt ihr gezeigt, was er forschend entdeckte, rollte sich in ihrem Bericht langsam ab, wie ein farbiges Märchen – – lächelnd, plaudernd, überlegen ...

Wie eine Viper ihr Opfer starrte der Geierkopf auf ihre Stirne. Mabels Plaudern war längst verstummt. Die Herrin der Inder ging sichtlich erregt durch das dämmernde Zimmer.

»Die Frucht ist gereift!« sagte sie tief, in fast jubelndem Tone.

Der Geierkopf reckte den haarigen Hals.

»Das Weib hat gesagt, was sie weiß. Sie kann jetzt verschwinden ...?«

Mit einem Ruck drehte sie sich um.

»Noch nicht. Ihr Tod wäre eine Warnung für Werndt. Er ist das Ziel, nicht die Frau dort!«

Er knickte zusammen.

»Du hast recht, Herrin. Er darf es nicht wissen. Ich werde sie in ihren Garten zurückbringen und sie dort aufwachen lassen ...«

Sie wiegte einen Augenblick zweifelnd das Haupt.

»Gut so!« entschied sie. »Aber sorge dafür, daß sie nicht weiß, was geschah!«

»Jede Erinnerung nehme ich fort. Wie aus süßem Schlaf, vom Mittag berauscht, erwacht sie im Park.«

»Eile dich!«

Gierige Blicke warfen sich über die Schönheit des wehrlosen Opfers. Mit kriechender Ehrfurcht ging er bis zur Türe.

»Und dann – – wenn meine Aufgabe gelöst ist ...? Du als Siegerin – wenn auch dieser Werndt ...?«

Er machte eine Bewegung des Würgens. Sein Geierkopf schnappte, wie nach einer Beute.

»Kann dann dieses Weib dort ...?«

Sie stampfte ungeduldig auf mit dem Fuße.

»Zuerst Walter Werndt! Dann – mach, was du willst ... ich schenke sie dir. Fort! Tu deine Pflicht!«

* * *

Der Tag des großen Experiments war gekommen. Walter Werndt stand in seinem weißen Laboratoriumsmantel vor dem Experimentiertisch und betrachtete aufmerksam, geschützt durch eine besonders präparierte Brille, das kleine Reagensglas zu seiner Rechten.

Nagel hörte ihm andächtig zu.

»Es ist kaum glaublich, daß dies kaum erbsengroße, grüne Ding da in dem Röhrchen diese unerhörten Wirkungen hervorbringen kann.«

Werndt war tief in Gedanken.

»Es ist die erste, winzige Probe des furchtbaren Stoffes, die uns zu gewinnen gelang. Und doch fast die Lösung. In einer halben Stunde können wir beide den letzten Schritt wagen: die Spaltung des Hauptblocks. Er muß nach menschlicher Berechnung ein Quantum des Stoffes in Reinzustand geben, das uns zu gewaltigsten Dingen befähigt. Zu Taten, die heute kein Menschenhirn ausdenkt. Doch darüber später.«

Er steckte das Glasröhrchen in eine Platinhülse und versenkte sie in die innere Tasche des ledernen Rockes.

»Sie haben alle Elemente, wie beim letzten Versuch, aufgestellt?«

»Unseren ganzen Besitz. Sechsundfünfzig Gramm an Radium, Thorium und den anderen radioaktiven Elementen.«

»Und der Meteorblock?«

»Liegt ungeteilt auf dem elektrischen Aufzug.«

»Schön.«

Nagel, der seinen Meister aus zahllosen Stunden der Zusammenarbeit genau kannte, sah an dem seltsamen Leuchten der stahlblauen Augen die stolze Erregung. Sonst verriet kein Zucken der bronzenen Züge, was jetzt in Werndt vorging. Stand dieser Mann doch jetzt vor seinem Schicksal. Eine zehntausendstel Sekunde mußte entscheiden auf ewige Fragen.

Das Radiophon summte. Werndt hob den kleinen Apparat an das Ohr.

»Die Bauleitung meldet, daß alles bereit ist. Wir können also das Kuppelventil auch bei höchstem Druck schließen.«

Nagel sah überrascht auf.

»Das Ventil bei höchstem Druck schließen? Dann würde doch die gleiche Gefahr wie beim erstenmal –«

Der Ingenieur schüttelte den Kopf.

»Nein, diesmal liegt die Sache etwas anders als damals. Ich werde Ihnen das besser an einem kleinen Modell erklären, das ich mir anfertigte. Wir müssen, um auf Erfolg rechnen zu können, diesmal gerade umgekehrt vorgehen wie damals. Bitte kommen Sie einmal mit in den kleinen Modellraum. Es ist besser, Sie sind über alles genau unterrichtet, bevor wir beginnen.«

Er ging quer durch den Saal und öffnete eine kleinere Türe. Im gleichen Augenblick fuhr eine dunkle Gestalt vor ihm auf und entfloh nach dem Fenster. Es war schon zu spät. Nagel machte einen Satz wie ein Tiger und preßte dem Fremden die Arme so fest an den Leib, daß er leise aufschrie.

»Halt, mein Bürschchen!« wetterte Nagel. »Laß dich erst bei Mondlicht besehen, bevor du hinausfliegst!«

Ein bleiches, hilfloses Gesicht starrte ihn an. Der graue Vollbart des Mannes zuckte.

»Professor Cachin!« rief Werndt ganz verblüfft. Mit Überraschung entdeckte er in dem Einbrecher den Brüsseler Kollegen, der ihm von Kongressen seit Jahren bekannt war. »Bitte, Nagel, lassen Sie los! Darf ich Sie um eine Erklärung bitten, Herr Professor, wie Sie in diesen Raum hineinkamen, der für jeden verboten und immer verschlossen ist? Die sonderbare Lage, in der wir uns befinden, zwingt mich –«

Er unterbrach sich verwundert. Der Belgier hatte verbissen zu Boden geblickt. Jetzt standen die Augen ihm schreckensstarr auf. Mit heftigem Zittern hob er die Hände nach Werndt, nach dem Platze, wo sein Assistent stand.

»Nicht! Nicht!« schrie er auf.

Ein dumpfer Laut ließ Werndt zusammenfahren. Es war ihm, als habe Nagel gestöhnt. Fragend sah er sich um. Da schlug ihm ein stechender Schmerz in die Augen. Wie ein kantiger Hammer. Er griff in die Luft – in ein wogendes Dunkel – und fiel in ein endloses Nichts hintenüber ...

* * *

Ring – ring – ring ging es schmerzend. Ein ganzer Kreisel von leuchtenden Punkten drehte sich, wie eine Scheibe, ein Feuerrad – langsam, jetzt schneller und schneller ... dann wieder ersterbend und mit wehem Stechen von neuem beginnend ... In ununterbrochener, endloser Folge. Die Punkte wuchsen und wurden zu Kugeln, von innen erglühend in purpurner Wärme ... Wie eine Kette, die sich stets erneute. Sie wuchsen und glänzten in Zahlen und Ziffern. Es schmerzte, die tanzenden Worte zu lesen ... M-o-le-k-ü-l ... Molekül stand darauf. Es blähte sich, wie eine glitzernde Blase, stets größer und breiter. Dann platzte es lautlos und fiel auseinander, zu zahllosen Punkten. Sie wuchsen von neuem zu blutigen Tropfen. Wieder erschienen die schmerzenden Lettern ... A–t–o–m ... Atom schwoll es auf und platzte von neuem, sich stets neu gebärend in anderen Punkten ... Ionen, Korpuskeln glitzerten blendend und wurden in kurzen Sekunden zu Kugeln. – – Und wieder Atome und rote Molekel – – ring – ring – – ... Ein glühender Punkt schwoll plötzlich zum Ball an, zur beißenden Sonne ... zum feurigen Meere ...

»Ahl« – stöhnte es leise.

Walter Werndt schlug die Augen auf. Mühsam, schmerzend, sich langsam besinnend. Seine Blicke fielen auf schmutzige Flächen, auf bröckelnden Graustein, anscheinend die Decke eines niedrigen Kellers.

Er mußte die Augen minutenlang schließen. So schmerzte das Licht ihn. Doch er zwang sich, die bleiernen Lider zu öffnen. Es war ihm, als schnitten sie ihm in die Netzhaut wie glühende Scherben ... Langsam sammelten sich seine Gedanken. Er besann sich zuerst, wer er war. Doch es machte ihn müde. Er schlummerte weiter ...

Er mußte schon lange auf die Decke über seinem Kopf gestarrt haben ... Das Drehen und Brennen hatte aufgehört. Nur ein dumpfer Druck lastete auf seinem Denken. Wo war er? Wie kam er hierhin? Er wollte sich aufrichten, doch seine Arme lagen ihm fest auf dem Rücken. Er bekam sie nicht los, soviel er auch zerrte. Plötzlich wußte er: er war gefesselt. Er fühlte jetzt deutlich die Schnitte der Stricke. Gefesselt? Wie war das? Die Erinnerung wollte noch immer nicht kommen. Sofort fing der Kopf wieder weh an zu brennen. Wen konnte er fragen? War er allein? Langsam, langsam gelang es ihm, sich zu bewegen, sich seitwärts zu drehen. Ein Schwindel faßte ihn, doch er bezwang ihn –

»Heda!« stammelte er, mit bleierner Zunge. Und noch einmal: »Heda!«

Der Schall seiner Worte stach ihm in die Schläfen. –

Von der anderen Seite des Raumes kam freudiger Aufschrei.

»Meister!«

Es schwieg eine Weile. War das nicht ...? Er glaubte die Stimme zu kennen ...

»Meister!« kam es jetzt lauter – in drängender Frage, in zweifelnder Sorge.

»Ja!« gab er zurück. »Wer ruft mich?«

»Sie leben! Sie leben!« Es war wie ein Jauchzen. »Ich bin's, Werner Nagel – wie fühlen Sie sich, lieber, teuerster Meister?«

Helle Freude flutete in Werndts Gehirn. Einen Augenblick standen seine Gedanken still. Dann war es, als rissen ihm wogende Schleier.

»Es wird langsam besser,« gab er zurück. Seine ganze Willenskraft arbeitete, ohne sein Zutun, in schmerzhaftem Drängen am vollen Erwachen. »Wo sind wir? Wie kamen wir in dieses Zimmer?« –

Nagel kollerte sich, wie ein rundes Paket, dicht an seine Seite.

»Wir waren in unserem Laboratorium und ertappten dort einen Mann, den Sie anscheinend kannten ...«

»Halt!« machte Werndt. »Jetzt fällt es mir ein. Ich glaubte, ich hätte es eben geträumt. Professor Cachin, nicht wahr?«

»So nannten Sie ihn.«

»Weiter weiß ich nichts mehr ...«

»Wir wurden niedergeschlagen. – Offenbar zuerst ich, und dann Sie ... Oder beide zu gleicher Zeit. Ich müßte es sonst gesehen haben. Ich weiß aber nichts.«

»Ich erinnere mich jetzt. Cachin stand, wie erstarrt, seine Züge verzerrt ... Dann erhielt ich den Schlag. Also muß noch ein anderer Mann, den wir nicht bemerkten –«

»Ja, ein riesiger Kerl. Schwarzhaarig, Athlet. Ich sah ihn nur einen Augenblick lang. Dann tanzte das Zimmer schon mit mir herum.«

»Also Feinde, Verbrecher. – Sind wir hier in der Werndt-Stadt?«

»Nein. Man hat uns verschleppt. Der Schlag, der mich traf, muß wohl leichter gewesen sein als der Ihre. Ich erwachte von einem Stoß und hörte Stimmen. Ich konnte die Augen nur einen Schlitz weit öffnen. Das war wohl mein Glück. Man trug mich gerade aus einem Flugzeug. Ich stellte mich tot und suchte nur unter gekniffenen Lidern mir alles zu merken. Das Aero, das uns gebracht hatte, stand auf einem Hügel oberhalb einer Stadt, die ich aber in meiner Lage nur zu einem kleinen Teil sehen konnte. Ich bemerkte sofort nur Villen zwischen Kokospalmen und Mangobäumen. Weiter eine Moschee und dabei armselige indische Holzhütten. Und als man mich hochhob, sah ich das Meer. Man trug uns durch einen herrlichen Park. Ich merkte mir deutlich einen Bobaum, dessen riesige Äste fast bis zur Erde hingen. Unter ihm stand eine steinerne Bank, auf der Bilder eingehauen waren. Sonne Mond und eine Kuh – –«

»Die Zeichen der Parsen. Sonne, Mond, Wasser, Feuer und die heilige Kuh. Dies und das Meer deuten auf Bombay. Wohin ging es dann?«

»Man trug uns über ein flaches Plateau. Ich mußte eine Zeitlang die Augen schließen. Es kam mir vor, als betrachte man mich. Als ich sie wieder vorsichtig aufschlug, waren wir auf einer steinernen Brücke. Vor uns standen schneeweiße Mauern, nicht sehr hoch, aber kreisrund, wie ein riesiger Zirkus. Ich sah kein einziges Fenster. Man trug uns durch eine kleine Türe. Dann warf man mir leider ein Tuch über den Kopf. Es stank schauderbar. Ich konnte nichts sehen. Als man es fortnahm, lagen wir zwei hier im Keller.«

Werndt dachte einen Augenblick nach.

»Kannten Sie das Gebäude, in das man uns trug?«

»Es kam mir so vor, als müsse ich es schon einmal irgendwo gesehen haben. In Wirklichkeit oder auf einem Bilde. Aber mein Schädel brummte zu toll. Ich habe mir den Kopf schon zerbrochen. Ich bekomme es nicht mehr heraus.«

»Wie lange sind wir schon hier?«

»Das ist schwer zu sagen. Jedenfalls mehrere Stunden. Mir wurden sie zu Ewigkeiten, denn ich wartete immer, daß Sie sich bewegten. Sie lagen wie ein Stein. Ich hielt sie für tot, doch ich hoffte noch immer. Meister, diese Stunden des Zweifels wünsche ich meinen Todfeinden nicht. So schauderbar war mir noch niemals zumute.«

»Ich weiß es, mein Lieber.«

»Und als Sie sich dann plötzlich doch noch bewegten – – ach, Meister, schreien hätte ich mögen vor Freude!«

»Wir haben vorläufig keinen Grund, allzu heftig zu jubeln. Zunächst sind wir wehrlos, gefesselt, und offenbar in der Hand sehr gefährlicher Feinde. Auch der grauenhafte Ort, an den man uns brachte –«

»Wie? Sie kennen unser Gefängnis?«

»Ja. Ich glaube es wenigstens zu kennen. Ihre Schilderung vorhin weist auf ein ganz bestimmtes Bauwerk der Parsen, das zum Begräbnis der Toten bestimmt ist.«

Er unterbrach sich. An der Türe entstand ein Geräusch. Ein schwerer Schlüssel drehte sich kreischend. Dann fiel eine Kette gegen die Bohlen. Das Tor wich zurück. Auf der Schwelle stand eine schlanke Gestalt. Eine Frau von seltener Schönheit. Ihr folgte ein Mann von erschreckendem Aussehen. Auf einem langen, behaarten Halse saß ein hagerer Kopf von entsetzlicher Wildheit. Die gebogene Nase sprang vor wie ein Schnabel. Die buschigen Brauen bedeckten entzündete, stechende Augen. Es war das Gesicht eines lauernden Geiers.

Die Frau blieb einen Augenblick stehen. Dann ging sie schnell auf die Liegenden zu. Sie traf die geöffneten Augen des Ingenieurs.

»Ah!« entfuhr es ihr überrascht. Sonst nichts weiter. Ein grausames Lächeln überflog ihr Gesicht. Sie blickte auf Werndt hinab, als wolle sie sich seine Züge einprägen, sich an ihnen weiden, neugierig, herrschsüchtig, unauslöschlich. – – Der Graukopf prüfte die Fesseln der Opfer. Sie sah ihm teilnahmlos zu. Wieder zuckte es hell in ihr auf.

»Ich hatte den großen Erfinder und mächtigen Weißen einst gebeten, seine Macht mir zu geben und die meine zu teilen. Er war zu stolz, dieser Sahib, und zog es vor, als Gefangener zu meinen Füßen zu liegen.«

Sie wartete auf eine Antwort. Doch Werndt schwieg voller Gleichmut. Eine leichte Röte des Unwillens stieg in ihre Schläfen.

»Er hätte das Leben eines Gottes führen können. Nun muß er das ewige Schweigen erlernen, bevor er am Ziel ist. Und andere werden das Letzte vollenden und alles besitzen.«

Wieder wartete sie eine Weile. Um Werndts Lippen spielte ein spöttisches Lächeln.

»Sprich!« stampfte sie auf.

Werndts Blicke wurden plötzlich stahlhart.

»Wenn du willst, daß ich spreche, so löse zuerst unsere Fesseln. Oder hast du Angst, mit freien Männern zu sprechen?«

Sie überlegte nur kurz. Ihre feinen Nasenflügel bebten. Ein unsagbarer Stolz lag in ihren Zügen. »Ossun!« befahl sie barsch ihrem gelben Begleiter. In jeder ihrer Hände blitzte ein kleiner Revolver.

»Der Diener der Geier wird eure Fesseln lösen. Wagt aber an kein Entrinnen zu denken. Bei der geringsten verdächtigen Bewegung trifft euch die Kugel.«

»Pah! Ich sehe, du bist ein Weib. Du verschwendest die Worte.«

»Schweig!« zischte sie wild.

Der Geierkopf löste die Stricke an Beinen und Armen. Walter Werndt erhob sich und rieb die Gelenke. Der stockende Blutkreislauf belebte sich langsam. Die Inderin betrachtete ihn mit stillem Interesse. Ihre seltsamen leuchtenden Blicke tasteten über die bronzenen Züge und über die Fechterfigur ihres Feindes. Der Ingenieur beschäftigte sich so angelegentlich mit seiner Massage, als sei die Herrin der Inder für ihn nicht vorhanden.

»Sahib, warum wehrst du dich gegen dein Glück?« kam es fast warm, in werbendem Tone.

Er sah sie ruhig an. In Überraschung und Frage.

»Warum willst du dein Wissen nicht mit mir teilen und Macht erwerben über die Menschen?« frug sie noch einmal.

Er reckte sich auf, daß seine Gestalt sie um einen Kopf überragte.

»Unsere Anschauungen trennt ein Abgrund,« sagte er langsam. »Dir ist die Wissenschaft nur ein Mittel zur Macht, um deine Mitmenschen zu knechten. Ich bin ein Lehrer der Wissenschaft, um ihre Erkenntnisse aller Menschheit zu schenken. Ich suche das Ziel als Vertreter der Menschheit, doch du – als ihr Feind. Ich diene mit meinem Leben und Forschen der Wissenschaft. Du willst, daß dir die Wissenschaft diene. Ist da eine Verständigung möglich?«

Sie lacht hart auf.

»Der Menschheit dienen? Ich sollte der Menschheit dienen! Wer ist diese Menschheit? Eine Herde von Hämmeln, von Narren und Schurken. Deren Leben keinen Zweck, keine Berechtigung hätte, wenn dies Geschmeiß nicht bestimmt wäre, uns als Sklaven zu dienen, zu gehorchen und für uns zu sterben. Menschheit!«

»Bist du kein Mensch?«

Sie reckte sich hoheitsvoll in ihren Hüften.

»Es gibt Auserwählte, Wiedergeborene, die Brahma bestimmt hat, den Körper des Menschen als Kleidung zu tragen. Ich bin eine Auserwählte, du bist es! Ich habe dein Karma geprüft, viele Nächte erforscht. Dein Schicksal ist bestimmt, das meine zu kreuzen. Dein Stern ist mächtig. Ich muß dir dienen, wenn du mir nicht dienst. Ich muß dich vernichten, oder du wirst mich vernichten. Du mußt mich lieben, oder ich muß dich anbeten. Es ist unser Schicksal. Nur vereint, als Beherrscher der Welt winkt uns Erlösung. Getrennt zerfleischen sich unsere Sterne!«

Ihr schönes Gesicht war weich und fast zärtlich. »Du bist ein großer Yogi, Walter Werndt, ein von Brahma Erwählter. Die Herrin der Inder hat noch niemals gebeten. Heute bittet sie dich. Diene mir, auf daß ich dir diene! Teile meine Macht, auf daß ich die deine teile. Sieh, ich lege die Waffen fort und reiche dir die Hände eines bittenden Weibes ...«

»Herrin!« warnte der Geier entsetzt. Sie hörte ihn nicht. Sie hatte Werndts Hände fast flehend gefaßt, und ihr schönes Gesicht war seltsam durchleuchtet. Der Ingenieur sah sie teilnahmsvoll an.

»Du irrst auf falschem Wege, Weib! Ich diene dir, wenn ich der Menschheit diene. In wenigen Wochen, vielleicht schon in Tagen wirst du die Lösung des Rätsels erfahren, und mit dir die Menschheit.«

Mit einem heftigen Ruck stieß sie seine Hände zurück. Als fasse sie seine Worte noch nicht, starrte sie ihn an.

»Du wirst die Lösung an niemand verraten! Die Herrin der Inder hat dich gebeten ... hat dir ihre Liebe geboten ... und du wagst das Verbrechen gegen Brahmas Gebot, uns feindlich zu trennen?!«

»Verbrechen wäre es nur, wenn ich deinem Willen folgte. Das Meteor gehört der Erde, nicht dir oder mir.«

»So wird es mir allein gehören!«

»In wenigen Wochen werde ich die Lösung der Menschheit verkünden.«

»In wenigen Stunden bleichen deine Knochen im Sande.«

Sie hatte die Revolver wieder gefaßt.

»Ossun!« sagte sie kurz. Ihr Gesicht war entstellt vor Blutdurst und Haß. »Die Wache!«

Er ging an die Türe und winkte hinaus. Sechs riesige Inder stürzten herein und warfen sich vor ihrer Herrin zur Erde.

»Arme fesseln!« befahl sie erneut. Je drei der Männer packten Nagel und Werndt und banden ihnen die Hände zusammen. Sie wehrten sich nicht.

»Nach oben!« winkte das Weib.

Man führte sie durch einen endlosen Gang, der langsam emporstieg. An einer Kreuzung war eine Treppe. Eine Türe öffnete sich in eine vergitterte Veranda. Man sah von ihr hinaus auf eine weite Arena. Drei große Terrassen aus schneeweißen Mauern gleißten im Sonnenlicht, kreisrund, wie ein Zirkus. Der innere Kreis stets von kleinerem Umfang. Hier und da sah man längliche Mulden. Sonst nur nackte Mauern. Und auf ihnen hockten phantastische Vögel ... riesige Tiere, mit scheußlichen, langen und struppigen Hälsen ...

Auf einen Wink zog sich die Wache zurück.

Nagel sah interessiert auf das Bild. Es hatte etwas unsagbar Ödes, Trostloses, Grauenerregendes an sich. Wie eine Stätte des Todes, von jedem menschlichen Leben verlassen.

»Weißt du, wo ihr seid?« fragte die Inderin Werndt.

Er sah sie an, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Ja. Auf Malabar Hill. In den Türmen des Schweigens.«

»Ah!« machte sie überrascht.

Nagel schnalzte mit der Zunge, als habe er endlich ein Rätsel gelöst.

»Rattes! Also das war es! Ich wußte doch nicht, wo ich den alten Steinbaukasten hier hintun sollte. – Aber kennen mußte ich ihn doch, aus dem Bombayer Album.«

Die Herrin der Inder zischte ihn an.

»Dann weißt du also, was euch bevorsteht?«

Nagel lächelte ihr freundschaftlich zu.

»Natürlich, schöne Frau. Du wirst uns zunächst einmal diese schmutzigen Stricke abnehmen lassen. Dann wirst du uns etwas Vernünftiges zu essen geben, denn ich habe scheußlichen Hunger. Und dann wirst du uns im Aero nach Benares zurückbringen –«

Ihr Gesicht wechselte die Farbe, als werde ihr Blut gepeitscht von dem Hohn seiner Worte. Ihre Hand zuckte nach dem Revolver. Aber sie bezwang sich sofort.

»Du möchtest mich reizen, um einen schnelleren Tod zu sterben. Du weißt, wo du bist, aber du sahst hier das Innere nie. Türme des Schweigens heißt dieser Bau. Die Parsen bringen hierher ihre Toten und geben sie drüben den hungernden Geiern, damit sie nicht Erde, Wasser, Feuer und Luft, die heiligen Elemente verunreinigen mit ihren Leichen –«

»Nette Tiere,« nickte Nagel in Ruhe.

Der Geierkopf sah ihn, vor Wut schäumend, an. Die Inderin zischte nur kurz, wie eine kämpfende Schlange.

»Sie warten auf euch!«

Vor der Mauer unter ihnen knirschte der Sand. Die eiserne Türe fiel klirrend ins Schloß. Zwei gelbbraune Männer trugen eine längliche Bahre. Neben ihnen gingen zwei weitere Inder. Sie hatten Handschuhe an und hielten lange Zangen in Händen. Auf einen Wink legten die Träger ihre Last in den Sand. Nur wenige Meter trennten sie von der oberen Veranda. Mit einem Ruck schlugen sie das verhüllende Leintuch zurück. Die nackte Gestalt eines Mannes leuchtete, weiß und leblos. Unwillkürlich zuckte Werndt zusammen. Er hatte den Toten erkannt.

»Dumascu!« rief Nagel erstaunt. »Dumascu ist tot?«

Die Inderin nickte ihm heimtückisch zu.

»Ja, Dumascu! Irgendeine Macht, die ich nicht kenne, muß den Bann meines Willens von ihm genommen haben. Er kam nach Benares um mich zu töten. Der Wahnsinnige erlebt jetzt die Strafe!«

»Ist er nicht tot?«

»Nein. Nur betäubt.«

Nagel war ernst geworden.

»Und du willst – –?«

Sie wandte sich ab, ohne ihm Antwort zu geben. Ihr Gesicht war wie versteint. Die Träger hatten wieder die Bahre gefaßt und trugen sie quer durch den Sand auf die Ringmauer zu. Vor einer Mulde machten sie halt. Die Begleiter hoben die langen Zangen, daß sie unheimlich blitzten. Mit einem schnellen Griff fuhren sie auf Dumascu zu. Sein weißer Körper schwebte einen Augenblick in der Luft. Dann lag er regungslos in der länglichen Grube. Ohne sich umzublicken eilten die Männer zurück.

»Satan!« knirschte Werndt. »Du wirst es nicht tun!«

Sie erwiderte nicht ... Aus den Tamarinden hob es sich rauschend und faul. Mit schwerem, schaukelndem Flügelschlag, große, breite Schatten werfend, die langen Hälse nach vorne gereckt, den scheußlichen Kopf weit zur Erde gestoßen ...

»Nette Tiere!« wiederholte die Inderin höhnisch mit einem Blick auf die Geier. In Nagel brauste es ohnmächtig auf. Wie ein Rasender zerrte er an den Fesseln. Sie schnitten ihm schmerzend und blutend ins Fleisch. – Der Geierkopf hielt Werndts Arme wie in einem Schraubstock umpreßt.

Die furchtbaren Vögel kreisten um den ganzen Zirkus herum und zogen immer engere Spiralen um ihre Beute. Langsam, langsam senkten sie sich zu dem leuchtenden Körper. Fünfzehn Meter – zehn – fünf – drei – zwei – – Dann stießen sie plötzlich mit schrillem Geschrei steil herunter.

Minutenlang flatterte, hüpfte und kämpfte es im schwarzen Knäuel der scheußlichen Vögel, Staubwolken hochwirbelnd ...

Aller Blicke starrten zur Grube da drüben – – da schloß Werndt die Augen ... Ein markerschütternder Schrei schrillte weit durch die Lüfte ... Der Todesschrei eines Menschen ... unheimlich, entsetzlich ... die Nerven zerreißend ... Dann kam jähe Antwort: ... ein wütendes Fauchen und schneidendes Krächzen, ein Reißen und Brechen, ein Schmatzen und Schlürfen ...

Nagel hatte die Augen voll Schauder geschlossen. Werndt stand bleich und reglos, das schmale Gesicht wie aus Bronze gegossen. Der Geierkopf hielt ihn von rückwärts umklammert. Immer noch kämpften die Geier im Sande ... immer noch ... endlos ... Das Grauen wurde fast unerträglich. Wie eine Ewigkeit kam es den Gefangenen vor, und doch währte es nur wenige Minuten ...

Endlich hoben sich mächtige Schatten über der Grube –, erst einer, dann andere, flatternd und wiegend, in riesiger Spannweite der rauschenden Flügel schwerfällig steigend ...

»Sechs – sieben – acht – zehn –« zählte Nagel. Er hatte die Augen ungläubig geöffnet. Als hoffe er, aus einem Traum zu erwachen. Irgendein furchtbarer Bann zwang ihn, nach drüben zu starren, in wütender Ohnmacht. Immer weitere Geier umzogen den Zirkus und hockten sich satt auf die hintere Mauer. – Der brennende Sand um die einsame Grube lag gleißend, zerwühlt, von den Kämpfen verwüstet ... Der Körper Dumascus war nirgends zu sehen. Wenige weiße, zersplitterte Knochen, fleischlos, zernagt, glänzten im Sonnenlicht rings um die Mulde, von Krähen umflattert ...

Die Inderin hatte sich gegen das Gitter gelehnt. Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete sie die Wirkung der Vorgänge auf ihre Opfer. Auf ihren Wink ließ Ossun, der Geierkopf, Walter Werndt wieder los. Er würdigte sie keines Blicks. Nur seine Backenmuskeln bewegten sich heftig. Nagel kämpfte mit einer Wut, die ihn zu zersprengen drohte. Die Adern standen ihm dick auf der Schläfe.

Die Inderin stellte sich mit einem Ruck vor sie hin.

»Ihr habt gesehen, was euch bevorsteht. Ich lasse dir noch einmal die Wahl, Walter Werndt. Diene mir und gib mir die Lösung allein, oder ihr teilt das Los dieses Wahnsinnigen, der es wagte, meinen Befehlen zu trotzen. Euer Leben liegt jetzt in meiner Hand.«

Zum erstenmal hob Werndt wieder das Haupt. Sein Adlerblick traf die dämonische Frau, daß sie erbleichte und an ihm vorbeisah.

»Unser Leben steht in eines Höheren Hand, als in der Macht feiger Mörder. Wäre das Los, das du uns zudenkst, das Ziel meines Lebens, so wäre meine Aufgabe vor Gott nicht einen Atemzug wert. Zittere, Weib, vor der ewigen Strafe!«

Wie ein fauchendes Tier sprang sie ihn an.

»Wahnsinniger! – Jetzt – jetzt – trotzest du noch?! Im Angesicht der wartenden Geier, die schon nach euch lauern! Ein Wink, und man führt euch hinab in die Zelle, die euch nur noch einmal, zum Sterben, hinausläßt.«

In schweigender Verachtung wandte er ihr den Rücken. Diese Antwort raubte ihr jede Beherrschung.

»Fort!« raste sie auf. »Zu den Geiern mit ihm!«

Ihr Wüten endete in einem Schrei. Nagel hatte sich zusammengeduckt wie eine Feder und rannte plötzlich mit voller Wucht seinen Kopf gegen Ossuns entblößte Seite. Wie ein Ball flog der Parse aufstöhnend zurück. Seine behaarten Hände griffen entsetzt in die Luft. Dann stürzte er rücklings, sich jäh überschlagend, hinab in den Zirkus und blieb reglos liegen.

Nagel zerrte an seinen Stricken, daß die Adern ihm schwollen.

»Bestie! Jetzt du ...!« keuchte er wild – – »jetzt du – nur eine Hand frei ...«

Es gelang ihm nicht mehr. Vier Schwarze warfen sich durch die geöffnete Türe und stießen ihn heftig die Treppe hinunter.

Werndt ging mit ruhigem Schritt in die Zelle. Nagel stand an die Mauer gelehnt, mit wogenden Flanken. Mit übermenschlicher Anstrengung zog er die blutende Hand aus der schneidenden Schlinge. Wie eine Katze sprang er die Inderin an. Mit einem schnellen Griff der befreiten Hand riß er ihr tollkühn den Dolch aus dem Gurt. Ein Schwarzer warf sich dazwischen. Der Stahl fuhr ihm tief in die Brust. Nagel strauchelte in seinem Ansturm. Als er aufsah, lagen die beiden Revolver der Inderin drohend im Anschlag. Mit einer heftigen Bewegung des Kopfes wies sie die anderen Schwarzen nach rückwärts. Sie besetzten den Ausgang, den Dolch in den Fäusten.

»Recht so! Recht so, junger Löwe!« spottete sie. »Wehre dich, ehe die Geier, die netten Tiere, dir die Augen aushacken, bei lebendem Leibe. Der Parse gibt seine Toten den Geiern, damit ihr Leib nicht Wasser und Feuer, Erde und Luft verpeste. Ihr seid Christenhunde, ihr seid dies Begräbnis nicht wert. Eure Leichen würden die Mägen der Geier anekeln. Lebend sollen sie euch zerfleischen. Lebend, doch wehrlos. Bei vollen Sinnen und doch gefesselt von lähmender Ohnmacht ... Ah, junger Tollkopf, suchen jetzt deine Blicke endlich ein Schlupfloch? Die Löcher dort in der Wand werden deine Kühnheit bald dämpfen. Ihr seid ja Helden und freut euch aufs Sterben. Ihr sollt es genießen, in vollem Bewußtsein. In fünf Minuten werdet ihr ein leises Zischen hören. Es kommt aus den Röhren und aus jenen Löchern. Langsam, sichtbar, ohne daß ihr es hindern könnt, wird ein weißes Gas diesen Wänden entströmen, die Zelle rings füllen ... das Gas der Betäubung ... Es würgt euer Atmen ... es lähmt euren Herzschlag – – starr werden die Glieder ... nur euer Hirn lebt noch ... man trägt euch nach draußen ... man läßt euch dort liegen ... die Geier umschweben euch, ruhig und sicher ... ihr seht sie sich senken ... langsam, langsam ... eure Blicke erstarren vor Grauen ... ihr seht ihre Hälse, die schnappenden Schnäbel ... ehe sie eure Augen zerstoßen ... Dann denkt an die Herrin der Inder, ihr Narren, und an ihre Rache! Graut dir allmählich, du großer Erfinder, vor meiner Liebe? Du bist ja so klug ... so rette euch doch vor der Strafe des Weibes, das dir zu gering war ...«

Werndt sah sie unbewegt an.

»Ich brauche uns nicht zu retten, denn du wirst es nicht wagen. Mit mir stirbt die Lösung. Und sie ist dein Ziel, nicht mein Tod.«

Ein satanisches Grinsen verzog ihr Gesicht.

»Wirklich, du Weiser? Was nun, wenn ich diese Lösung mir selbst holen könnte? Wenn du dein Geheimnis einer Frau anvertraut hättest, die es mir verraten würde?«

Nagel starrte Werndt an, ihm stockte der Herzschlag. Auch Werndt war erschrocken.

»Eine Frau, die mein Geheimnis verraten würde, gibt es nicht,« sagte er fest, seine Erregung beherrschend.

»Auch nicht in der Hypnose? Wenn man sie fortlockt und ausfragt im Schlafe?«

Wieder flog ihr Revolver empor. Nagel stand, an die Mauer gepreßt, zum Sprunge bereit. Das Zimmer drehte sich um ihn herum. Sein Atem kam laut.

Sie zog höhnisch die Uhr.

»In fünf Minuten. – Du hast meine Liebe zurückgestoßen und Brahmas Willen verachtet. Nun rettet euch nichts mehr. Denkt an die Rache der Parsen ... beim Anblick der Geier!«

Die eiserne Türe schlug klirrend ins Lager. Das Echo zog durch die Wände des Ganges, als heule ein Tier auf – lang nachhallend ... schaurig ...

Mit einem einzigen Ruck zerschnitt Nagels Dolch den Strick an der Linken. Dann fiel auch Werndts Fessel zerschnitten zur Erde.

Der Ingenieur regte sich nicht. Alle Sinne lagen auf der Lauer nach einem Ausweg. Nagel klopfte die Wand ab.

»Glauben Sie, daß sie es tun wird, was sie uns drohte?«

»Ich hoffe, nicht. Nicht ich bin ihr Ziel, sondern das Meteor. Tötet sie mich, so beraubt sie sich selbst, auch wenn sie wirklich das Frühere weiß. Sie hofft wohl noch immer, daß ich ihr gehorche, und deshalb wird sie uns wohl – –«

Er brach horchend ab. Durch die Wand lief ein Rieseln und Knistern. Kleine Bläschen bildeten sich an den Löchern, dicht über dem Boden und stiegen schnell aufwärts. Dann andere, größere – ununterbrochen, stets heftiger strömend, in flimmerndem Pulsen ...

»Das Gas! – das Gas!« rief Nagel erschrocken. »Die Bestie ...! Sehen Sie!«

Werndt sprang nach der Wand. Mit einem Ruck riß er den Laboratoriumsmantel, den er noch trug, von seinem Körper und schnitt lange Fetzen, die er hastig ballte. Ohne einen Augenblick zu verlieren, stopfte er den Stoff in die Löcher. Nagel half ihm in Eile. Einen Augenblick stockte das Gas. Dann kam es an anderen Öffnungen stärker. Dicke, weiße Schwaden legten sich quer in die Luft. Werndt sah es erschauernd. Er arbeitete stumm, in verbissener Verzweiflung ... es ging um das Leben ... jetzt wußte er's sicher. Er kannte dies Gas. Wenige Minuten mußten genügen, den Raum hier zu füllen ... Ein fader, süßlicher Geruch nahm schnell zu. Wie im Fieber arbeiteten seine Hände. Der halbe Rock war schon verbraucht. Dutzende Öffnungen waren verschlossen, und immer noch hörte das Strömen nicht auf. Jetzt wurde es schwächer – – plötzlich – – merkbar – – Werndt schloß drei, vier Löcher auf einmal und prüfte ...

»Es hilft! Es hilft!« triumphierte Nagel.

Da zischte und prasselte es plötzlich stärker. Stärker als jemals. Zehn, fünfzehn Tuchstöpsel flogen mit lautem Knall in die Zelle – wie Champagnerkorken – – andere – – viele – –

Werndt fuhr jäh herum. Dicke, weiße Nebel drangen aus Decke und Wänden. Von vier Seiten gleichzeitig strömte das schillernde Gas ein. Nagel taumelte leicht. Ein Hustenanfall schüttelte ihn.

»Wir sind verloren!« keuchte er schwer. Instinktiv riß er den Rock nochmals hoch, neue Fetzen zu reißen. Seine Hand sank herab ... hoffnungslos ... es gab keine Rettung ... in steigenden Wolken drängte das Gas und würgte den Atem. In wilder Verzweiflung schüttelte Nagel den nutzlosen Mantel.

»Meister – –! Es darf nicht sein ... das Ende ...«

Ein Hustenanfall unterbrach ihn. Die Tasche des zerrissenen Laboratoriumsmantels fiel offen nach unten. Ein schmales, längliches Röhrchen schob sich zwischen das Futter, rutschte über den Mantel zu Boden und klang klirrend auf ...

Mit einem Griff hatte Werndt es gefaßt.

»Das Reagensglas – – das Meteor ...« sagte er plötzlich in eiserner Ruhe. »Der furchtbare Stoff im ersten Stadium des Reinzustandes ...«

Seine Stirne war schmerzhaft gespannt. Wie brennende Hunde jagten sich seine Gedanken. Sie ahnten die Rettung ... und mußten sie finden, mußten ...

»Hohn! Hohn!« stöhnte Nagel. »In diesem Augenblick dieses Glas ... der teuflische Stoff – dicht vor dem Ziel, und nun solch ein Ende ...!«

Werndt hatte die Faust an die Schläfe gepreßt.

»Eine Minute, großer Gott – – eine einzige Minute Zeit, daß ich erkenne – – was ich schon ahne – – eine Minute – –!« Es klang wie ein Aufschrei – – von Husten erdrosselt – er taumelte rückwärts.

»Nagel!« stöhnte er schwer, im Kampf mit den Schwaden. Halten Sie das Glas einen Augenblick ...! Bis ich weiß ... bis ich weiß ... ich sehe es schon ... ich greife es fast ...«

Nagel hörte ihn kaum. Das Blut drängte ihm siedend und schwindelnd zur Schläfe. Der Herzschlag hämmerte schmerzend und laut. Wie durch einen weißen Schleier sah er den Freund. Maßlose Wut, Verzweiflung, Empörung schüttelte ihn, wie ein Sturm.

»Verfluchter Stoff!« schrie er auf. »Du Höllengeburt – – zum Satan mit dir ...!«

Da kam aus der anderen Ecke ein Aufschrei –, jubelnd, unwirklich aus steigenden Wolken – –

»Gerettet ...! Glas öffnen ...! Hinwerfen ...! Um Gottes willen ... nur öffnen!«

Nagel wußte nicht mehr, was er hörte. Seiner selbst nicht mehr mächtig, ohne Bewußtsein der eigenen Handlung, und doch noch gehorchend, wankte er quer durch den Raum, das Glas in der Rechten. Wie ein höllischer Spuk glänzte die silberne Röhre. Wütend stieß er die Platinhülse zurück. Sie flog an die Mauer. Mit letzter Kraft riß er den Gummikorken nach außen ... Dann sprang er wild hoch ... sprang, wie ein Tier ... Wie eine feurige Erbse glühte das Präparat in dem Glas und stieß helle Strahlen geheimnisvoll von sich. Unerträgliche Hitze erfaßte die Röhre – große Brandblasen bildeten sich auf Nagels Fingern. Mit wehem Schrei ließ er die feurige Glasröhre los ... Glühend und zischend fiel sie hinab auf die schmutzigen Steine, in zahllose klirrende Splitter zerstäubend. Winzige Kügelchen, wie Quecksilbertröpfchen, rollten zur Wand und bildeten Schweife und flimmernde Schleier. Grünlicher, fluoreszierender Nebel stieg hastig hoch und wogte herab. Wie eine Hand fuhr er tief in die weißen, sich drängenden Wolken. Und diese Hand zog – zog schmale Streifen zur Erde herunter, drehend und wirbelnd, schraubend und stoßend, hierhin und dorthin, wie zu einem Sterne, wie ein Magnet, eine saugende Pumpe ... Immer deutlicher formten sich Bänder, wie tanzende Strahlen, sich immer neu färbend, erst weißlich, dann dunkelnd, allmählich erglühend, und plötzlich in grünlichem Schimmer aufleuchtend ...

Nagel hatte die Hand an die Lippen gepreßt. Der Schmerz der Brandblase ließ etwas nach. Erst jetzt bemerkte auch er die seltsamen Sterne des weichenden Gases. Überrascht und fragend sah er auf Werndt.

Der Ingenieur stand mitten im Raum, die Hand auf dem Herzen, die Augen in seltsam beseligtem Glanze ...

»Gott in allem!« sagte er tief, von Andacht ergriffen. »Heureka – Nihilium ist es ... der Stoff an sich!«

»Ist das Rettung?« fragte Nagel beklommen.

Werndt hielt seine Hand und drückte sie fest.

»Rettung und Lösung! Gott gab sie zugleich.«

Er wies auf die leuchtenden Kügelchen unten. Wie kleine Vampire schlürften sie merkbar das weißliche Gas ein, banden es an sich, saugend und perlend, wuchsen zu Tröpfchen, zu Sammelmolekeln, wie zierliche Bälle, rissen die giftigen Schwaden zur Erde. Wie aus dünnen Wolken tauchten die Körper der Männer ins Freie. Sichtbar, wie an einem Wasserstandmesser, fielen die weißgrauen Schleier nach unten – strichweise, zentimeterweise, schneller und schneller ... sanken vom Kopf zu den Schultern, den Hüften, tiefer und tiefer, zu Knien und Knöcheln.

In unaussprechlicher Wonne atmeten beide die würzige Luft ein, die seltsam belebend die Lungen erfüllte. Kaum zentimeterhoch deckte die Gasschicht den Boden des Kellers und fiel zu erlöschendem Staub auseinander ...

»Das Glimmern hat aufgehört,« sagte Werndt.

Nagel schüttelte staunend den Kopf.

»Wie aus einer Lösung Pulver ausfällt. Die Rätsel des Meteors nehmen kein Ende.«

»Es sind keine Rätsel mehr! Alles liegt offen. Die Glieder der Kette sind restlos geschlossen. Ich sehe jetzt klar – ich sehe das Ende ...«

Der Jüngere lief neubelebt durch den Raum.

»Dann mögen sie kommen, die Mörder und Geier und uns endlich öffnen! Frei, frei müssen wir werden, um jeden Preis!«

Ein kühler Luftzug blies aus den Wänden.

»Ah!« machte Werndt. »Man beginnt mit der Klärung.«

»Womit?«

»Fühlen Sie nicht diesen Wind? Man läßt Luft ausströmen. Die Vorrichtung ist ausgezeichnet ersonnen. Man glaubt uns betäubt. Nun reinigt man wieder die Zelle vom Giftgas. Unten scheint irgendeine Pumpvorrichtung zu wirken. Es bilden sich deutliche Wirbel dort – sehen Sie –, oben strömt frische Luft ein. Man hat also die Absicht, den Raum zu betreten ... uns bald abzuholen ...«

»Sie sollen kommen!« knirschte Nagel. »Diesmal sind unsere Hände ja frei. Und einen Dolch habe ich auch.«

Der Ingenieur schüttelte zweifelnd das Haupt.

»Die Gefahr ist zu groß, daß es mißlingen könnte. Entweder überwältigt man uns, oder man schlägt nur die Tür zu und läßt uns verhungern.«

»Teufel, ja!« brummte Nagel. »Doch was sonst denn tun? Heraus müssen wir auf jeden Fall.«

»Hinlegen – betäubt stellen – hinaustragen lassen – wenn ich rufe, aufspringen – und über die Träger – rasch! rasch – ehe man kommt!«

Blitzschnell warfen sich beide lang hin. Keinen Augenblick zu früh. Eine Kette fiel außen klirrend herab. Dann sank die Türe zurück. Die Herrin der Inder trat hastig herein. Sie war allein. Sie zog die Türe hinter sich zu und ging durch den Raum. Prüfend beugte sie sich über Werndt. Irgend etwas schien sie stutzig zu machen.

»Er atmet!« entfuhr es ihr überrascht. Mit einem raschen Griff riß sie den Rock über seiner Brust auf und warf sich neben ihm auf das Knie. Ihr Ohr neigte sich tief auf sein Herz – da fuhr sie aufschreckend hoch. Werndts Arme hatten sie eisern gepackt und zwangen sie unwiderstehlich herab. Wie eine Panterkatze wehrte sie sich vor dem schmerzenden Griff – sekundenlang –, dann zogen die würgenden Stricke sich zu. Mit keuchender Brust und geschlossenen Augen lag sie vor Werndt.

»Was tun mit der Bestie?« fragte Nagel ernst. Das gräßliche Bild von Dumascus Tod stand hell vor ihm auf. »Dies Reptil darf nicht leben und Menschen vernichten!«

Werndt antwortete nicht.

Da riß die Inderin die Augen weit auf. Blicke glühenden Hasses trafen den Ingenieur.

»Töte mich!« zischte sie ihn an. »Du stehst mit dem Scheitan im Bunde, da du noch lebst!«

Er wandte sich ab.

»Nein. Mit einer höheren Macht, die mich schützt, und die auch dich strafen wird, Weib!«

»Dieser Dämon soll leben?!« brach Nagel los. Zum erstenmal verstand er den Meister nicht mehr.

Werndt hob die Waffen der Liegenden auf und ging schnell zur Türe.

»Mein ist die Rache, spricht der Herr. – Es wird Zeit für uns, Nagel. Kommen Sie mit!«

Wie unter Peitschenhieben bäumte die Herrin der Inder sich hoch.

»Noch eine Sekunde, weisester Mann!« schrie sie grell. »Deine Großmut beleidigt mich mehr als dein Hassen. Sie nützt dir nichts mehr. Mit all deiner Weisheit hast du doch verloren. Du glaubst jetzt in deine Werndt-Stadt zurückkehren zu können, in dein Laboratorium, zu deinem letzten Meteorblock – als sei nichts verändert. Geh doch und eile dich! Unten, am Malabarhill findest du Autos, am Bahnhof wartet der Eilzug. Wenn du Glück hast, erreichst du ein Aero. Es ist jetzt zehn Uhr. In sechs Stunden kannst du im schnellsten Flugzeug Benares erreichen. Jetzt, in vier Stunden, um zwei Uhr fünfzehn Minuten, drückt Professor Cachin in deinem Laboratorium auf den Knopf, der deine elektrischen Ströme regiert. Um zwei Uhr fünfzehn Minuten beginnt er das große Experiment, das du ihm vorbereitet, bevor wir dich holten. Ganz, wie bei deinem letzten Versuche ...«

Mit einem Sprung war der Ingenieur an ihrer Seite. Er schüttelte sie mit beiden Fäusten, daß ihr Kopf auf den Stein schlug.

»Weib! Satan! – das ist nicht wahr! – Sag, daß du logst ...! Sprich, oder ich ...«

Ihr giftiger, triumphierender Blick traf ihn wie ein Axthieb. Seine Arme sanken nach unten, vernichtet, kraftlos. Einen Atemzug lang. Dann flammten seine Augen jäh auf in wilder Verzweiflung.

»Fort!« stieß er heraus. »Fort! Eh' es zu spät ist ...! Es darf nicht geschehen ...!«

Mit ungeheurer Kraft stieß er die Türe zurück und stürzte nach außen. Nagel folgte ihm auf dem Fuße. Das gelle Gelächter der Herrin der Inder schrie in ihren Ohren.

Wie ein Spürhund jagte Werndt durch das Labyrinth dunkler Gänge. Es war, als treibe ein innerer Instinkt ihn den richtigen Weg. Nagel hatte Mühe, ihm nachzukommen. Er hielt den Dolch in der Faust. Der Gang führte durch breite Keller, dann stieg er ganz plötzlich. Zwei Treppen führten in verschiedener Richtung nach oben. Werndt zögerte kurz. Dann nahm er die rechte mit riesigen Sprüngen. Sie endete vor einer eisernen Türe. Er stieß sie zurück. Im gleichen Augenblick sprangen zwei, drei, vier, fünf Inder ihm schreiend entgegen. Nagel hatte es auch schon gesehen. Sein Dolch fuhr dem vordersten Gelben ins Herz. Er brach dumpf zusammen und fiel auf den Boden. Werndt hatte den Revolver der Inderin blitzschnell verschossen. Jetzt warf er ihn von sich. Er packte zwei Gelbe wie Kinder am Halse. Mit unglaublicher Kraft, die Nagel ihm niemals zugetraut hätte, würgte er beide wie zappelnde Hunde. Blaugrau im Gesicht, mit rollenden Augen, schmetterte er ihnen die Faust an die Schläfen. Sie lagen wie tot. Nagel hatte den letzten gefaßt. Er flehte um Gnade. Ein Hieb warf ihn rückwärts. Mit einem hastigen Blick überflog Nagel das Zimmer. Es war wohl der Wachtraum. Die Leute hatten Würfel gespielt. Vor ihnen lag auf dem Tisch eine Handvoll Geld und ein offener Beutel. Er griff nach der Börse. Es war seine eigene, die man ihm gestohlen. Dann jagte er Werndt nach. Er lief schon weit draußen. Über die Brücke. Ein riesiger Schwarzer stand mitten im Wege, mit offenen Armen und sperrte den Durchgang. Nur einen Augenblick, dann prallte Werndt gegen ihn, unwiderstehlich, als sei es ein Schatten. Wie ein Stier rannte er mit seinem Schädel dem Mann in den Magen. Der Riese schrie auf und klappte zusammen. Dann rollte er über die Brücke ins Wasser. Mit drei Sätzen war Nagel an Werndts Seite. Das Gesicht des Ingenieurs war entstellt vor Erregung. Sein Assistent hatte ihn noch nie so gesehen. Ein wildes Feuer brannte in seinen Augen. Wie ein Rasender hetzte er durch den Park nach der Stadt hin. Ein leeres Auto stand an einer Ecke.

»Zum Flugpark!« schrie Werndt kurz und sprang in den Wagen. Er wartete kaum noch, ob Nagel heran war. Das Auto schoß in vollem Rennen zum Hafen. Ein englisches Aero stand noch auf dem Flugplatz. Werndt lief auf es zu, bevor sie noch hielten. Der Führer des Flugzeugs stand wie eine Säule und ließ beide schreien.

»Benares? Benares? – Ausgeschlossen! Muß um zwei wieder hier sein. Habe andere Fahrten –«

»Nehmen Sie, Mann, und machen Sie vorwärts!« schrie Nagel erbittert und hielt ihm die klingende Börse entgegen. Der Mann wehrte ab und ging nach dem Hafen.

»Vor vier nicht zu machen. Nicht für alles Geld da.«

Werndt stand da, als wolle er ihm an die Kehle. Ehe der Mann sich versah, war er auf dem Flugsitz. Der Motor sprang an.

»Halt!« schrie der Ire und lief auf sein Aero. Es war schon zu spät. Ein schmales Brett, von Nagel geschleudert, flog ihm an die Beine, dann folgte der Beutel. Er fiel, schreiend, purzelnd. Wie eine Katze sprang Nagel in das sich schon hebende Aero. Dann jagten sie über die Dächer von Bombay.

Werndt saß an dem Steuer, den Kopf wie zum Angriff nach vorne gestoßen. Er war jetzt ganz Spannung, voll eiserner Ruhe. Nur in seinen Augen stand es wie ein Aufschrei ...

Das Aero war ein vorzüglicher Renner. Der neueste Flugtyp. Und doch nur ein Stümperwerk gegen Werndts eigenen »Falken«, den Sohn jenes Aeros, in dem er und seine Gefährten vor Wochen den furchtbaren Absturz erwartet. – Der Geschwindigkeitsmesser fraß Kilometer. Werndt goß Öl auf und pumpte neue Luft in den Benzinbehälter. Minutenweise sah er die Zeit nach und hetzte das Tempo.

»Elf Uhr zwanzig,« sagte er nach einer Weile. Es war das erste Wort, das er sprach. Er sah den fragenden Blick seines Freundes. »Es wäre entsetzlich, wenn es nicht gelänge. Wir müssen es zwingen ...«

Der Jüngere suchte noch nach einem Zuspruch. Er glaubte Werndts Ängste mitfühlen zu können. Der ganze Ruhm des entscheidenden Experiments stand auf dem Spiele. Alles war bis zum Letzten gediehen, gesät, vorbereitet, und nun sollten andere frevelhaft ernten.

»Cachin wird es nicht können,« meinte er tröstend. »So leicht raubt man einem Werndt seinen Ruhm nicht. Alle Welt wird erfahren, daß man Sie bestohlen, und daß Sie allein diese Lösung gefunden.«

Die bleiche Stirn Walter Werndts hob sich ein wenig. Verständnislos sah er den anderen an.

»Ruhm? Lösung? Neunundfünfzig Gramm Radium, Thorium, Niton und Polonium liegen frei zur Vernichtung. Mehr, als jemals die Erde vereinigt gesehen. Milliarden Kilowatt elektrischer Ströme stehen ihm zur Verfügung. Der ganze letzte Meteorblock, der größte von allen, dient diesem Versuche. Cachin wird ganz nach der letzten Methode verfahren, die man ja Frau Mabel im Schlafe entrissen. Er wird das Meteor in den zehn Öfen schmelzen, meine Ströme darauf konzentrieren – das Meteor wird geladen, zum Bersten, mit all diesen Kräften. Ungeheuere Emanationen der radioaktiven Elemente werden die Wirkung ins Furchtbarste steigern. Radium, Thorium, Selen, Polonium werden die Transmutation, die Vernichtung vollziehen. Das Licht wird erlöschen, die Hitze wird steigen –« Sein bleiches Gesicht fuhr wild hoch – »Aber dies alles diesmal nicht langsam, in vielen Minuten und ganzen Sekunden ...! Die Gewalt der Ströme, die Strahlung der riesigen Radiummengen wird diesmal so furchtbar sich äußern, daß alles bisher wie ein Kinderspiel aussieht. – Vernichtung ist Lösung zum Rätsel des Aufbaus. Nur, wenn es gelingt, aus dem Tode des Stoffs neues Leben zu zeugen – im gleichen Zehntausendstel einer Sekunde –, nur dann kann das Letzte, die Schöpfung, gelingen. Um das zu erreichen, mußte diesmal gerade umgekehrt vorgegangen werden wie vorher. Das Kuppelventil muß geschlossen werden, nicht geöffnet. Die Hitze muß so unerträglich gesteigert sein, daß ein menschliches Wesen sie auch im Shaphander und Stahlschrank nicht mehr ertrüge. Der ganze Versuch sollte diesmal gar nicht im Laboratorium selbst, sondern von außen, kilometerweit ab, durch elektrische Kabel, geleitet werden. Ich wollte Ihnen gerade das Prinzip der veränderten Methode erklären, als man uns niederschlug. Die Wiederholung der alten Methode am ganzen Block und bei diesen Mengen radioaktiver Körper ist experimentell ganz undenkbar. Ihr fehlte das Wichtigste, der zeitliche Zusammenfall von Vernichtung und Zeugung, die Zusammenziehung der Transmutation in einen einzigen Zeitpunkt ...«

Nagels Augen waren ernster und starrer geworden, je mehr Werndt erklärte. Eine furchtbare Ahnung stieg in ihm auf. Sein Herz schlug wie rasend ...

»Und wenn Cachin das alles nicht weiß und doch den Versuch nach der alten Methode beginnt? Dann ...?«

Der Ingenieur lag wie ein Raubtier über dem Lenkrad. Seine Antwort kam scharf zwischen knirschenden Zähnen.

»Dann wird das Nihilium, wie ich es nannte, im gleichen Zehntausendstel jener Sekunde, da Cachin den Schalter der Ströme herabdrückt, mit Radiumkräften und vielen Milliarden von Volt sich vollsaugen, sich selbst, das Meteor, das Laboratorium und alles, was in ihm noch lebend und tot ist, in viele Billionen Korpuskel zersprengen, und all unser Hoffen im Weltall zerstäuben ...!«

* * *


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