Albert Ehrenstein
Tubutsch
Albert Ehrenstein

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Ich fürchte, das wird noch einmal traurig mit mir enden. Ich gleite in immer zweideutigere Sphären hinab. Gewiß: Leute, die mit moral insanity begnadet sind, Verbrecher, von dem großen Kannibalen Napoleon angefangen bis zu dem unösterreichisch aggressiven kleinen Kind, das eine serbische Zwetschge stiehlt und, von dem Söhnchen des Greislers verfolgt, zuerst »Mutter!« ruft, dann aber, jedenfalls die Beute zu sichern, sie in den Mund steckt: sie alle sind von der Natur mit Recht begünstigte Wesen, meist mit Gewissensmangel und jede Reue ausschließender Gedächtnisschwäche gepanzert. Auch das, was darwinferner Schwachsinn den Materialismus unserer Zeit nennt, der Amerikanismus, die bewunderungswürdigen Trustlöwen, sie sind moralisch berechtigt wie die Verzehrung von Ochsen, wie die Existenz von Kamelreitern beim Vorhandensein von Reitkamelen. Was man aber nicht zu rechtfertigen vermag, ist: anderen Leuten die kostbare Zeit stehlen und Unheil stiften, ohne selbst daraus Nutzen zu ziehen. Aus langer Weile, um unter 33 Menschen zu kommen und sie kennen zu lernen, bin ich zu Prinzipalen hinaufgegangen, die annonciert hatten . . . mich vorstellen als Hausknecht, Mittelschullehrer, Buchhalter, Graveur, Korrespondent, Hofmeister, Kammerdiener usw.

Und nach langem unklaren Hin- und Herreden, bis die Leute ganz verwirrt waren, empfahl ich mich stets mit den Worten, ich wolle es mir überlegen, und eventuell ein zweites Mal vorsprechen. Ein Nachsichtiger könnte das vielleicht noch einen relativ harmlosen Ulk heißen. Verwerflicher, boshafter, heimtückischer ist es schon, wenn sich einer absichtlich auf gewissen den Liebespaaren geweihten Bänken niederläßt, nichts dergleichen tut, wenn es noch hell ist, Zeitung liest und die Verzweifelnden zum Aufbruch nötigt . . . bei der geringen Anzahl der Sitzgelegenheiten gleicherweise gehaßt von den tschechischen Ammen, die sich nur auf den Bänken des Kaiser-Wilhelm-Rings schwängern lassen . . . von den langen Bosniaken des Votivparkes wie von den Deutschmeistern der Augartenanlagen gefürchtet, 34 dieses Spiel bis tief in die Nacht hinein fortsetzt. Angeblich um Daten zu sammeln für eine Statistik über die Zeit, die zwischen dem ersten Kuß und der Umarmungspremiere verläuft . . .

Man wird fragen, warum ich nicht diese schalen Vergnügungen sein ließ und mir nicht selber etwas leichteren Zeitvertreib gönnte? Hat es schon sein Vorteilhaftes, Besitzer eines Hundes zu sein, wegen der Fülle damit verbundener zeitverzehrender Beschäftigungen, wie weit werden diese simplen und harmlosen Genüsse, die ein armseliges Tier zu gewähren vermag, durch jene überstrahlt, welche die Gesellschaft eines Weibchens verschafft. Ich wende ein: wenn selbst ein homerischer Held satt wird »des Schlafes sogar und der Liebe, auch des Gesanges und fröhlichen Reigentanzes«, was für Gefühle und Müdigkeiten soll da erst unsereiner zu registrieren haben?

Noch gellen mir in den Ohren die in den Momenten der Verzückung hervorgestoßenen: »Ah«, »Oh«, »Jessas« und »Hast du mich auch 35 wirklich lieb« der Wienerinnen – wenn es Lyrikerinnen sind, sagen sie vermutlich: »Tandaradei!« . . . Die »Jaj«, »Joj« und »Juj« der Ungarinnen, ich höre sie, auch wenn ich mir die Ohren zuhalte. Die Berlinerin himmelt: »Schmeckt schön!«

Die einzigen, die nichts redeten, waren die Zigeunerinnen; aber man tat gut daran, wenn man sich ihnen in Liebe nahte, die Uhr zuhause zu lassen . . . und konnte dann noch von Glück reden, wenn Trántire und Chnarpe-diches einen nicht als Vater ihrer Kinder angaben, die von Rechts wegen dem ganzen Offizierskorps der nächsten Garnison hätten ähnlich sehen sollen . . . Ja, noch eine war so vernünftig gewesen, zu schweigen . . . Marischa, die Frau des Dorfrichters von Popudjin.

Sie liebte, wie sie sich einen Riegel Brot abschnitt. Alle ihre Bewegungen waren von einer maschinenmäßigen Sicherheit. Unvergeßlich wird es mir bleiben, wie wir uns zum erstenmal fanden. Es war am Morgen nach ihrer Hochzeit, von der 36 ich nichts wußte, sie, mir unbekannt, mähte auf taufeuchter Wiese, im Vorwärtsgehen sich in den Hüften wiegend . . . die kurzen, ihre Waden freilassenden Röcke kamen nie aus dem Schwung . . . ich schlenderte vorbei und konnte es nicht unterlassen, mich zu ihr zu neigen und dem schönen, frischen Weib blühende Wangen und Kinn zu streicheln. Sie wurde rot, wehrte mir aber nicht: der Tod stand hinter mir, der Bauer mit der Sense. Doch ich hatte gerade noch die Geistesgegenwart, zu sagen: »Frau, also ich darf mir heut nachmittag die Maulbeeren in ihrem Weingebirge selbst holen?« Der Bauer glotzte wie ein Ochse. Sie, sich noch tiefer bückend, als wolle sie mir etwas auf den Boden Gefallenes suchen helfen, bejahte, und am Nachmittag waren im Weinberg nicht bloß die Maulbeeren anwesend . . . Und wenn ihr Mann und ihre Mutter auf der Wallfahrt weg waren nach Sassin, dann ließ sie mich's wissen, und ich schlich zu der Stallduftenden ins Zimmer, dann in der Dunkelheit, im Hof mich in acht nehmend vor dem 37 Düngerhaufen rechts und der Jauche links, nach Hause – die gefahrvolle Liebe zwischen Jehangir Mirza und der Maasumeh Sultan Begum zu besingen . . .

Die Begeisterung aber mußte bald erlahmen an dem niederdrückenden Widerstreit kleinlicher Schicksale mit ungeheuren Gefühlen und Vorstellungen; es ist ja auch ökonomisch auf die Dauer unmöglich, Ambrosia zu fabrizieren, während man selbst Kot fressen muß . . . Außerdem die unglückliche Begabung, selbst bei dem geliebtesten Weibe das Skelett zu sehen, wodurch wohl die Umarmung ein oder das andere Mal schluchzender werden kann, schließlich aber maßloses Grauen mich vom Weibe scheiden mußte . . .

Man gehe mir mit der Liebe! Eher möchte ich mir einen Hund halten. Die Hausmeisterin, kinderlos, hat einen, den ich hochschätze. Junger Zwergbulldogg, hält im Hof Cercle unter den Kindern; wenn sie ihm Rüben, Kalbsleber oder Würsteln bringen, hört er auf die Namen Schnudi, Puffi, 38 Bubi und noch einige andere. Will wer bloß schön tun mit ihm, ignoriert der Yankee alle Zurufe, wird man zudringlicher und ist man etwa eine alte Witwe, die ein Rosamascherl an seinem Hals befestigen möchte, knurrt er Warnung und schnappt zu. Seine unbegrenzte Reaktionsfähigkeit, sein jugendfrisch-stiermäßiges Zufahren auf jedes ihm vorgehaltene Taschentuch oder Papier, nicht zum letzten seine vorbildliche Selbstgenügsamkeit haben ihn zu meinem Ideal gemacht. Er vermag es, stundenlang dazuliegen und ohne jede Spur von langer Weile ein und denselben Knochen zu hypnotisieren, empfindet kein Bedürfnis nach irgendeiner Wandlung, kein Lehrer sagt ihm ironisch: »Sie werden es noch weit bringen«, er weiß es so tief, daß es ihm gar nicht mehr zum Bewußtsein kommt: niemand kann es weiter bringen als zu sich!

Ich jedoch muß, wenn es mir zu fad wird, »Ich« zu sein, notgedrungen ein anderer werden. Gewöhnlich bin ich Marius und sitze auf den Ruinen von Karthago; manchmal aber bin ich der Fürst 39 Echsenklumm, unterhalte Beziehungen zu einer Opernsängerin, gewähre dem Chefredakteur Armand Schigut bereitwilligst ein Interview über den Handelsvertrag mit Monaco, verbiete meinem Kammerdiener Dominik – dargestellt durch den Stiefelknecht Philipp – jemanden vorzulassen, die Baronin Zahnstein ausgenommen . . . und kaum mir das ewige Durchlaucht hin, Durchlaucht her auf die Nerven geht, werde ich eine gefeierte Diva, haue meinem nichtswürdigen Direktor, dem ich das schon lange gewünscht hab, eine herunter oder appliziere ihm einen Sessel. Um mich von dieser ungewohnten Anstrengung zu erholen, wollte ich gerade der Dichter Konrad Seltenhammer werden und im Café »Symbol« schweigend eine Zigarette rauchen. Als mich der Stiefelknecht unterbrach. Er hatte es satt, immer die Diener, Direktoren, Ruinen von Karthago, Zigaretten darzustellen, sehnte sich danach, auch einmal Fürst, Heroine, dramatischer Schriftsteller zu sein.

»Stiefel«, . . . sagte ich zu ihm, »Stiefel! 40 Hochmut kommt vor dem Fall.« »Meister«, sagte er, »Meister! Ich bin kein gewöhnlicher Stiefelknecht!« »Das ist selbstverständlich. Ein Stiefelzieher, der in meinen Diensten steht, ist eo ipso mehr kein gewöhnlicher Stiefelzieher.« »Ich meinte es nicht so.« »In deinen Fasern stockt Götterblut? Bist du eine verzauberte Prinzessin oder gar jener Stiefelzieher, den Zeus der Hera insinuierte?« »Das nicht, aber immerhin aus einer alten Familie. Wisse: ich stamme in gerader Linie von dem berühmten Stiefelzieher ab, den Mithridates verschluckte, um seinen Magen gegen alle Gifte zu feien.« »Der muß seinen Herrn genau so sekiert haben, wie du mich, daß er zu dieser Verwendung gekommen ist.« Philipp verbat sich alle derartigen Anspielungen auf die Schicksale ebenso verdienstvoller als erlauchter Ahnen. »Sonst kündige ich schonungslos. Ohnehin bin ich als Präsident in Aussicht genommen für den demnächst in Amerika stattfindenden I. Internationalen Stiefelzieherkongreß. Roosevelt selbst . . .« »Roosevelt?« »Ich meine den Stiefelzieher 41 Roosevelts. Wir nennen ihn Roosevelt, der Kürze wegen . . . er hat mich eingeladen zu präsidieren . . . eben wegen meiner Eigenschaft als Nachkomme eines berühmten . . . oder glaubst du, der Stiefelzieher des Herrn Tubutsch . . .?« »Ja, wie kommst du denn nach Amerika, o Stiefelknecht meiner Seele?« »Mein Leib, mein schlechter Leib bleibt hier liegen, mein Geist schwingt sich auf, entfliegt, kriecht in einen Leitungsdraht und ist im Nu drüben. Früher waren wir schlechter dran, Blitze sind nicht immer zu haben und auf den Vagabunden, den Wind, war kein Verlaß, der hat uns immer justament dort abgesetzt, wo wir absolut nicht hinwollten . . . am Tanganikasee oder auf den Fidschiinseln . . . wo weit und breit keine verwandte Seele zu treffen war . . .«

Es schmeichelte mir, mit einem Wesen in Kontakt zu sein, durch das ich dem Präsidenten der Vereinigten Staaten gewissermaßen sehr nahe stand, wir schlossen also miteinander einen Pakt, dem nach wir von nun an in den Hauptrollen abwechselten. Er 42 war der Greisler, der: »Heut ham mer aber an fein Primsenkas!« sagte, ich die Kunde, die achselzuckend ein Stück davon kostete. Dann war wieder ich das Elefantenbaby . . . im Kreise rund herumlaufend . . . und er das »Nein! wie lieb!« rufende Kind; endlich er der Baumstamm, mit einem Hut auf einem Ast donauabwärts treibend bis ans schwarze Meer, ich der über ihn fluchend ins Wasser gefallene Ruderer, die Wasserratte, die zwischen den Wurzeln haust oder die das Billett des Baumstammes auf seine Gültigkeit prüfende Fischotter. Bis die Unmöglichkeit, durch eine wenn auch noch so große Willensanstrengung mir selbst und den anderen Leuten meine Verwandlung in den Fürsten Echsenklumm oder in die Wasserratte auch äußerlich wahrnehmbar zu machen, mir die Lust an diesem Spiel verdarb. »Philipp!«, sagte ich, »Komm her.« Philipp kam, wenn auch widerstrebend, als schwante ihm Unheil. Ich schlug ihn sorgfältig in braunes Packpapier ein und ging spazieren. Aber niemand der Vorübergehenden wollte 43 mich fragen, was in dem kleinen braunen Paket enthalten sei. Und ich hatte doch schon eine kleine Rede vorbereitet: »Meine Damen und Herren! Hier sehen sie durchaus nichts Gewöhnliches! Ein sprechender Stiefelzieher! Er stammt ab von dem Stiefelknechte seiner asiatischen Majestät, des Königs Mithridates von Pontus . . . demnächst wird er dem I. Internationalen Stiefelzieherkongresse präsidieren. Roosevelt selbst . . .« Niemand war neugierig und aufdrängen wollte ich mich nicht . . . daß ich unbefragt blieb, wäre möglicherweise noch zu ertragen gewesen, doch seitdem ich so treulos an ihm gehandelt, seine Geheimnisse zu profanieren gesucht, verstummte Philipp . . . seine Seele war wohl für immer nach Amerika ausgewandert . . . ich war wieder allein . . .

Früher träumte ich vom Ruhm. Er wurde mir nicht zugestellt. Und was blieb, waren Sarkasmen gegen die Glücklicheren. Darin war ich seit jeher groß. Als ich nichts mehr in mir zu zerfressen hatte, zerfraß ich andere. Nun bin ich schwächer, milder 44 geworden. Wie gesagt, ich schreibe mit Bleistift. Meine Nahrung ist zart wie die eines Kranken. Einen ganzen Vormittag brachte ich unlängst damit hin, einem General zuzuschauen, der auf der Mariahilfer Straße vor jeder Auslage stehen blieb, ob es nun ein Wäschegeschäft war oder ein Friseurladen. Es war nach den Manövern. Ich fühlte weder Schadenfreude noch Mitleid; stand bloß und sah zu, so lang, bis ich der General war und mich fähig fühlte, die Rolle zu übernehmen, die er des weiteren durchzuführen hatte. Die Art, wie er den Säbel hob, um nicht das Pflaster zu streifen, sonst eine Reflexbewegung, war unsäglich traurig . . . . Am nächsten Tag vertiefte ich mich ebensolang in eine Dohle, die vor einem Blumengeschäft in der Weihburggasse auf und ab, rastlos auf und ab trippelte. Die gestutzten Flügel, gebrochen, streiften den Schmutz der Pflastersteine. Und hatte einige Tage vorher noch den Stephansturm umkreist oder eine Brigade kommandiert . . . Ich hätte sehr gern eine Zusammenkunft zwischen dem General und der 45 Dohle vermittelt. An so große Unternehmungen aber wage ich mich nicht mehr, seitdem mir die letzte so mißglückt ist . . .

Ich kam auf meinen Fahrten häufig an einem Gasthaus vorbei, dessen Wirt mit dem Vornamen Dominik heißt. Nun ist der Vorname Dominik unter Wirten kein seltener. Warum? Das ist unergründlich. Dadurch jedoch, daß ich so oft an dem Schild dieser Weinstube vorüber mußte, spannen sich nach und nach Beziehungen zwischen mir und seinem Inhaber. Nicht, daß ich den Wirt je gesehen hätte, Gott bewahre! derart realer Vorbedingungen bedarf es bei mir nicht . . . Aber als ich eines Tages in den Kalender sah, da fand ich, daß gerade sein Namenstag war. »Heute solltest du aber doch einmal zu ihm hineinschauen«, dachte ich und zog mir die roten Glacéhandschuhe an. Ich trat ein. Es geschah nichts von dem, was ich erwartet hatte. Ein Mann in einer blauen Schürze, das Abwischtuch auf der Schulter, der Hausknecht, bediente mich. Ich warte und warte, um des 46 Geehrten ansichtig zu werden. Er kommt nicht. Überhaupt nichts dergleichen. Ich werde ungeduldig und will schon bald gehen und frage den Hausknecht, wo sein Herr bleibt. Der Kerl zögert mit der Antwort, ich sage es ihm auf den Kopf zu, der Wirt habe vermutlich Brauereizahlungstag und sei ausgerückt. So kam es ans Licht: der Gastwirt war verräterischerweise zu einem Heurigen gefahren, hatte an seinem Ehrentage sich entfernt, um bei einem anderen Wirte, also sozusagen bei sich, zu zechen. Die Vorstellung ist gewiß urkomisch und das Sujet eines Niederländers würdig: ein Wirt, der bei einem anderen Einkehr hält. Aber ich hatte Zeit und Geld geopfert und war doch nicht zu jener Erfüllung gekommen, die ich ersehnt hatte. Als wollte mich das höhnende Schicksal, das so gern dem Kleinen alles nimmt, um dem Großen noch mehr zu geben, meiner geringen Erlebnisse, des ungeheueren Anblickes eines seinen Namenstag feiernden Wirtes, berauben! Komisch, doch typisch, denn derartige Vorfälle wurden wiederholt gegen mich 47 ausgespielt. Vielleicht, um mich des Lebens Unfähigen durch solch »feines Positionsspiel« herauszuekeln. Ich rede nicht davon, daß ich früher, als ich noch Bekannte hatte, sie oft monatelang nicht sah, dann wieder eines Tages sie sich offenbar zu dem Zwecke zusammengetan zu haben schienen, mir durch eifriges Grüßen zumindest eine Armlähmung zu verursachen. Es gibt bessere Beispiele.

Vor Jahren, da ich etwas lebenslustiger war, der erschütternde Tod der zwei Fliegen Pollak sich noch nicht zugetragen hatte und also auch noch nicht mir zum Mahnwort geworden war, mich vor dem Fatum ruhiger zu verhalten, damals hatte ich über alle Bedenken hinweg einen Anlauf genommen und einen Spazierstock erstanden. Um auf Abenteuer auszuziehen. Ohne Spazierstock geht das nicht. Ebensowenig wie ein Ritter seine um Jungfrauen geführten Kämpfe mit Riesen, Zwergen und Drachen ohne Tartsche unternommen hätte oder mit einem Sattel, der noch keinen Namen hatte.

Ich knüpfte eines Sonntags zum ersten und 48 letzten Male die Krawatte mit jener Sorgfalt, wie sie vergleichsweise höchstens die Propheten auf das Gürten ihrer Lenden verwendet haben dürften, und fuhr mit der Tramway nach Sievering hinaus. Keine kleine Wollust, an den Haltestellen vorbei zu sausen, während andere starr bei ihnen stehen bleiben mußten. Bei der Billrothstraße stieg leider ein entfernter Bekannter ein, Snob durch und durch, aus der Tasche protzte ihm ein französisches Buch, ein Band Balzac. Ich verwies es ihm scherzend, in die freie Natur gebundene Bücher hinauszuschleppen, noch dazu solche, die allgemein getragen würden, machte ihn darauf aufmerksam, daß nur das noch nicht Moderne wahrhaft wert sei, von ihm kolportiert zu werden, er jedoch mißverstand meine Absicht und zerrte mich in ein längeres Gespräch. Über das Ende Balzacs, wie die Sand Musset, Friederike den Goethe betrogen haben solle, und o Idylle von Sesenheim! als Pfarrerstochter selbstredend ein Kind von einem Theologen zur Welt gebracht hätte – das heißt, wenn man Lenz und einige französische 49 Grenzoffiziere vernachlässigt . . . Wahrheit und Dichtung!

Wir sprachen über das Weib . . . wie jedes mit Vernunft oder Phantasie geschlagene männliche oder weibliche Wesen an sich eifersüchtig sein und außerdem notwendig von den tierischen Ahnen ererbte Eifersucht leiden müsse . . . kamen vom Hundertsten ins Tausendste, und erst als es zu spät war, der Wald uns bereits aufgenommen hatte, tat der Unselige den Mund auf, um mir mitzuteilen, daß ich das Wichtigste versäumt habe. In der Tramway hätte ein fesches junges Mädchen meinen Witzeleien gelauscht, die ganze Zeit hindurch vorläufig ihre Blicke auf mir ruhen lassen, sei auch nachher uns noch ein hübsches Stück gefolgt, schließlich aber, da sie nicht gut mich ansprechen konnte, abgefallen. Vom Weibe – sprach ich, bis, zwei Schritte entfernt, lachend, sich wiegend und tänzelnd und blühend in seiner Pracht das Leben davonging! . . . Als sollte es daran nicht genug sein, da wir auf engem Pfade einer entgegenkommenden Liebeseinheit 50 ausweichen wollten, stieg mir das Weibchen davon auf den Spazierstock, den ich elegisch nachschleifen ließ: der Stock brach – ein deutlich warnender Wink von oben, den kaum betretenen Steig alsogleich zu verlassen . . . Auf einer Wiese nicht weit davon konnte ein sechzehnjähriges schlankes Fräulein, von der Mama begleitet, nichts tun als Herbstzeitlose pflücken. Ich folgte ihrem Beispiele . . . 51

 

Ich lebe immer in der Erwartung eines Ungeheuerlichen, das da kommen soll, eintreten, einbrechen soll bei mir. Ein Orang-Utan etwa, ein Auerhahn mit glühenden Augen oder am besten ein wütender Stier. Dann aber fällt mir ein, daß der ja gar nicht durch die Tür könnte, und ich lasse meine übergroßen Hoffnungen sinken . . . Wenn jemand läutet, erscheinen alle Nachbarn bei den Türen, auch ich gehe sofort an die Pforte meines Kabinetts mit separiertem Eingang . . . falls mich einer meiner alten Freunde aufsuchen sollte, bereit, den Überzieher umzunehmen und mit ihm spazieren zu gehen oder aber, wenn er es wünscht, ihm die Sehenswürdigkeiten meiner Wohnung zu weisen: meinen Stiefelknecht Philipp und – mit umflorter Stimme – die zwei Fliegen Pollak . . . Ungeheures oder doch Angenehmes erwarte ich: wenn ich öffne, hat es meistens nebenan geläutet. Oder aber es ist ein Bettler. Denen gebe ich nichts. Erstens habe ich selber nichts, zweitens, wenn man ihnen etwas gibt, gehen sie sofort weg und lassen einen 52 stehen. Und das ist durchaus nicht meine Absicht . . . Auch andere Leute sind leider so rücksichtslos, läuten an, und dann, wenn sie ihre Auskunft haben, gehen sie fort. So letzthin . . . Klingelt es in aller Früh, ich ziehe mich hastig und unvollständig an, mache auf, stehe im Zug: ein Mann ist draußen, der fragt, ob ich der Herr sei, der das Kristallöl bestellt habe? Ein anderer hätte fluchend die Türe zugeschlagen, ich bin höflich, antworte unvorsichtigerweise: »Nein!«, gebe aber nichtsdestoweniger meine Absicht zu erkennen, mich mit ihm in ein Gespräch einzulassen . . . schon wegen der Seltsamkeit seines Metiers. Kristallölausträger . . . er jedoch dreht sich brüsk um, wendet mir den Rücken zu und schreitet die Stiege hinauf . . . und ich muß mich zusammennehmen, daß ich nicht bei dieser Gelegenheit infolge all der erlittenen Enttäuschungen zusammenbreche . . .

 

Jehangir Mirza sagt: »Wie ein unkörperlicher Schatten schwanke ich hin und her, und wenn mich 53 nicht eine Wand unterstützt, falle ich platt zur Erde.« Eine Wand stützt mich nicht. Mir scheint, mir wird auch so etwas passieren wie ein Fall zu Boden . . . Nein, ich halte es nicht mehr aus! Was fesselt mich noch? Schnudi, der kleine Zwergbulldogg, ist nicht mehr. Ein alter Mann mit stechendem Bart, einem Pinkel auf den Schultern . . . Ahasver . . . ist in den Hof gekommen, hat sein »Handlé« gerufen, die Ankunft des Fremden scheint den Hund irritiert zu haben, er fuhr los. Der Hausierer ruft ein-, zweimal »Marschierst?«, der Hund hört nicht, schnappt nach den Beinen des Eindringlings. Der spuckt ihm dämonisch zwischen die Augen, und der Hund dreht sich wie wahnsinnig im Kreise herum, mit der kurzen Zunge bemüht, den Fremdkörper über der Nase zu entfernen. Es gelingt ihm nicht, der Hausierer geht weg, der Hund dreht sich weiter, seine Augen sehen nichts mehr, sind blind von der rasenden Jagd, Schnudi, Schnudi mit dem Rosamascherl dreht sich weiter, weiter . . . bis er erschossen werden muß . . . Nun habe ich 54 niemand mehr. Einen Einspännergaul sah ich an, ob er nicht mit mir reden mag . . .

Ich wette: er wollte nur nicht mit mir im Gespräche gesehen werden. Mit andern, glaub' ich, hätte er nach einiger Anstrengung reden können . . . 55

 

Was hält mich ab, dem allen ein Ende zu machen, in irgendeinem See oder Tintenfaß zur ewigen Ruhe einzugehen oder die Frage zu lösen, welchem irrsinnig gewordenen Gott oder Dämon das Tintenfaß gehört, in dem wir leben und sterben, und wem wieder dieser irrsinnige Gott gehört? Zu irgendeiner Marischa, und sei sie wer sie sei, jedenfalls zu einer Dirne, Unreinen oder Ehebrecherin zu schleichen, dabei sich in Acht nehmen vor allerhand . . . dem Düngerhaufen rechts und der Jauche links . . . um dann daheim die leidvolle Liebe zwischen Jehangir Mirza und der Maasumeh Sultan Begum zu besingen . . . wäre das wirklich ein so großes Vergnügen, Ambrosia zu fabrizieren, während man selbst Kot schlingen muß? Und wenn man ein Dichter wäre, man ist noch immer nicht mehr als ein geborener Tierstimmenimitator. Und bist du ein Meister des Wortes, der Worte fand, voll wie das Brüllen des Stieres: ein Bettler bist du und läßt nachahmend aus dir erschallen die Stimme des über Pferde herrschenden Fürsten und jene des aus einer 56 schwarzen Puppe sich aufwärts, lichtwärts schwingenden Schmetterlings, wenn es nicht gar die Stimme eines andern Dichters ist – alle Stimmen läßt du aus dir erschallen, o Tierstimmenimitator, um die eigene Leere zu übertönen, deinen Mangel an einer eigenen Stimme . . . Was weile ich noch? Ab! bevor ich noch zum gichtbrüchigen Schuster werde . . . Wozu noch weiter den entnervenden Widerstreit kleinlicher Schicksale mit ungeheuren Gefühlen und Vorstellungen hinunterwürgen? 57

 

Das Leben. Was für ein großes Wort! Ich stelle mir das Leben als eine Kellnerin vor, die mich fragt, was ich zu den Würsteln dazu wolle, Senf, Kren oder Gurken . . . die Kellnerin heißt Thekla . . . Beschränkt sind die Möglichkeiten, immer aber die großen Worte . . . Eine Diskrepanz für viele. Einst war ich zur Simultanvorstellung eines berühmten Schachspielers geladen. Der Produktionssaal ein dumpfer stickiger Raum voll von Tabakdampf. Plötzlich erschallt der Ruf: »Der Meister naht!« Wer tritt ein? Wegstehende, dünnschalige Ohren, ein beschränkt aussehender Mensch in einem abgetragenen Anzug. Das kurze, blaue Röckchen war aber gewiß nicht abgetragener als sein Gesicht. Haha! der Meister naht . . .

Was erübrigt denn noch zu tun? Nicht viel. Ich hatte früher einmal einen Bekannten, der besaß seinerseits wiederum einen Kollegen, mit dem er in die Tertia gegangen war. Dann wurde dieser Kollege meines gewesenen Bekannten seiner Indolenz, seines geringen Bestrebens wegen, noch mehr 58 Ochs zu werden, als er ohnehin war, und dadurch Wohlgefallen zu finden in den Augen der Professoren – er wurde aus der Schule genommen und in eine Fleischbank oder Schusterwerkstätte gesteckt? Nein, zufällig in ein Weingeschäft. Er traf einige Wochen nachher am Kai meinen Bekannten – Waldemar Tibitanzel hieß der und machte ungedruckte Gedichte – und berühmte sich vor ihm, nach so kurzer Lehrzeit schon binnen weniger Minuten hundert Jahre alten Bordeaux herstellen zu können. Es ist gewiß zu bedauern, daß der hoffnungsvolle Jüngling traumschnell auch aus dieser Laufbahn glitt. Bei seinem Genie hätte er uns gewiß in Bälde mit einem Bordeaux zu bedienen vermocht, der aus der Ewigkeit stammte, wenn nicht gar aus dem Cambrium.

Das tat er aber keineswegs. Der Wandlungsfähige tauchte als Erzengel im Burgtheater auf. Mein Bekannter sah ihn knapp hernach auf dem Graben wieder. Waldemar Tibitanzels Barttracht hielt künstlerisch zwischen Christusbart und 59 Mädchenkinn gleicherweise die Mitte, und ein genauer Beobachter hätte die der Wahrheit nahekommende Vermutung ausgesprochen, er sei nicht rasiert. Von den Schnallen seiner Schuhe war die schwarze Politur abgefallen, gelbes Messing kam zum Vorschein, und so auch in der geringfügigsten Kleinigkeit offenbarte sich der desolate Zustand seiner Finanzen und sein Österreichertum. Der Erzengel, scheinbar vertieft in sein eigenes glattrasiertes Gesicht, ignorierte nun schon perfekt den Ungedruckten, der sich tags darauf bitter bei mir beklagte. Und ehe noch eine Woche ins Land gegangen war, starb Waldemar Tibitanzel, mitten in einem Trauerspiel in fünf Aufzügen.

Wenn ich morgen den mir unbekannten Weinpantscher und Mimen zur Rechenschaft ziehen werde für längst vergangene Sachen, so tue ich das aus sowas wie Solidarität, kurz es handelt sich hier um rein prinzipielle Dinge . . . und nicht bloß um derartige Velleitäten . . . Denn ich, mein Gott, selbst früher, als ich noch König war und viele Leute auf 60 meinen Gruß lauerten, grüßte ich für meine Person nicht regelmäßig. Ich grüßte einmal doppelt, mit tiefer Verbeugung, das andere Mal in einer Art Willenslähmung gar nicht, und wenn sich die Leute nicht damit zufrieden gaben, die doppelte Portion und die nicht erhaltene zusammenzulegen und auf zweimal zu verteilen, sondern über mein ungeschlachtes Benehmen brummten, kümmerte ich mich blutwenig um diese Fliegen.

Wenn ich morgen meine Sekundanten – und sollte ich keine anderen finden: meine Schicksalsgenossen und Wahlbrüder: den alten Schuster und den Huterer zu dem Erzengel hinaufschicken werde, liegt da ein ganz anderer Fall vor. Ich will sterben und bei dieser Gelegenheit einen zweiten Menschen, den ich in seiner Nichtigkeit erkannt habe, abdrehen, wie man einen giftigen Gashahn abdreht, wie Ahasver den inferioren Zwergbulldogg Schnudi abdrehte . . .

Sollte ich am Leben bleiben, was ich nicht hoffe, so vermache ich trotzdem meinen Stiefelknecht Philipp und ein gewisses Tintenfaß demjenigen, der sich 61 darum meldet; unter mehreren Bewerbern sollen bei sonst gleicher Qualifikation parfümierte Wachleute den Vorzug haben. Bevor ich aber die Kurbeldrehung setze und mich aus der Kurve hinaustragen lasse, an einem Meilenstein zu zerschellen, bevor ich mich aufmache in jenes ferne Land . . . die Rouleaux endgültig fallen und mir die Aussicht auf die Linzer Straße entziehen werden, will ich noch einen Anlauf nehmen und dem auf der Plattform eines Wagens ängstlich herumlaufenden Pintscher Antwort bellen, mit den sechs Kindern um den Straßenarbeiter herumsitzen, den Schuster Engelbert Kokoschnigg fragen, warum er das Schild »Zu den zwei Löwen« führt, die Grünzeugfrau, ob sie Witwe ist, und wenn nicht, warum sie den erbsenpickenden Spatzen duldet – ich neide ihm sein sorgenloses Dasein! Ich werde des Wirtes Dominik ansichtig zu werden versuchen, mich in dem flügellahmen Raben in der Weihburggasse betrachten, und wenn ich in der dazugehörigen Stimmung sein sollte, in einem speziellen Falle eigenohrig die Frage lösen, ob die Lyrikerinnen wirklich 62 »Tandaradei« sagen. Mehr Freuden gewährt ja das Leben nicht . . . Man glaubt, ich sei lustig? Ja! Herzzerreißend lustig! Dies alles ist nichts als Galgenhumor. Und Furcht. Scheint mir nämlich das Leben aus derartigen Nichtigkeiten, wie ich sie vorhabe, zusammengesetzt zu sein, wie wenn der Tod mir zum Possen eine adäquate Rolle spielen wollte? Mich enttäuschte. Der Tod, vormals der Bauer mit der Sense, ein grober Flegel immerhin, aber als solcher eine respektable, durch zahllose Bilder sehenswerter Maler akkreditierte Persönlichkeit, er nimmt in meiner Vorstellung immer komischere Gestalten an. Ich sehe ihn nicht als schwarzen Ritter, er kommt als nahender Meister, oder ein Clown tritt auf, steckt die Zunge heraus, sie wächst ins Unendliche und durchsticht mich . . . ich sehe den Tod als Kondukteur, der meinen Fahrschein einzwickt, für ausgenützt erklärt, nicht warten will bis zur nächsten Haltestelle, mich zum Aussteigen drängt . . . mit eines tschechischen Akzentes nicht entbehrenden Worten . . . ich sehe ihn als rohen Jungen, 63 Fledermäuse annagelnd, als Laternen auslöschenden Studenten, Reichstag auflösenden Minister, und jüngst sah ich den Tod gar als Motorführer. »Dem Wagenführer ist es verboten, mit den Fahrgästen zu sprechen.« Die Übereinstimmung ist auffallend . . .

Ich glaube, ich würde es nicht ertragen, wenn mich auch noch der Tod mit einer Enttäuschung abspeist . . .

Eine tiefe Apathie und Gleichgültigkeit hat mich befallen, meine Seele ist jedes höheren Aufschwunges unfähig, seit langem vermied ich es, Goethe zu lesen, weil ich mich im tiefsten Innern seiner unwürdig fühlte. Und nun soll mir ein strahlender Tod entgehen, Freund Hein mir zusammenschrumpfen zum Spottbild? Wäre das gerecht? Mag dem sein wie ihm wolle, mir bleibt nichts anderes übrig, ich werde von dannen gehen, die Erde, dieses Kabinett mit separiertem Ausgang! verlassen, verlassen . . . Was ist denn soviel dabei? Rouleaux fallen . . . man sieht nichts von der Straße . . . Wie ich mich darauf freue! Wozu sich fürchten? Ich werde einen 64 Anlauf nehmen und hinüberspringen. Oder sollte ich doch bleiben? Allen Leuten geht es gut. In den Auslagen der Greisler stehen Dalmatinerweine. Das war früher nicht. Ich aber besitze ja so gar nichts, nichts was mich im Innersten froh machen könnte. Ich besitze nichts als wie gesagt – mein Name ist Tubutsch, Karl Tubutsch . . .

 


 


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