Albert Ehrenstein
Tubutsch
Albert Ehrenstein

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Mein Name ist Tubutsch, Karl Tubutsch. Ich erwähne das nur deswegen, weil ich außer meinem Namen nur wenige Dinge besitze . . .

Es ist nicht die Melancholie und Bitterkeit des Herbstes, nicht die Vollendung einer größeren Arbeit, nicht die Benommenheit des aus langer, schwerer Krankheit dumpf Erwachenden, ich verstehe überhaupt nicht, wie ich in diesen Zustand versunken bin. Um mich, in mir herrscht die Leere, die Öde, ich bin ausgehöhlt und weiß nicht wovon. Wer oder was dies Grauenvolle heraufgerufen hat: der große anonyme Zauberer, der Reflex eines Spiegels, das Fallen der Feder eines Vogels, das Lachen eines Kindes, der Tod zweier Fliegen: danach zu forschen, ja auch nur forschen zu wollen, ist vergeblich, töricht wie alles Fahnden nach einer Ursache auf dieser Welt.

Ich sehe nur die Wirkung und Folge. Daß meine Seele das Gleichgewicht verloren hat, etwas in ihr geknickt, gebrochen ist, ein Versiegen der inneren Quellen ist zu konstatieren. Den Grund 2 davon, den Grund meines Falles vermag ich nicht einmal zu ahnen, das Schlimmste: ich sehe nichts, wodurch in meiner trostlosen Lage eine wenn auch noch so geringe Änderung eintreten könnte. Weil eben die Leere in mir eine vollständige, sozusagen planmäßige ist bei dem beklagenswerten Fehlen irgendwelcher chaotischer Elemente. Die Tage gleiten dahin, die Wochen, die Monate. Nein, nein! nur die Tage. Ich glaube nicht, daß es Wochen, Monate und Jahre gibt, es sind immer wieder nur Tage, Tage, die ineinanderstürzen, die ich nicht durch irgendein Erlebnis zu halten vermag.

 

Wenn man mich fragte, was ich gestern erlebt habe, meine Antwort wäre: »Gestern? Gestern ist mir ein Schuhschnürl gerissen.«

Vor Jahren, riß mir ein Schuhschnürl, fiel ein Knopf ab, war ich wütend, erfand einen eigenen Teufel, der diesem Ressort vorstand, und gab ihm sogar einen Namen. Gorymaaz, wenn ich mich recht entsinne. Reißt mir heute unterwegs ein 3 Schuhschnürl, danke ich Gott. Denn nun darf ich mit einiger Berechtigung in ein Geschäft treten, Schuhschnürln verlangen, die Frage, was ich noch wolle, mit: »Nichts!« beantworten, an der Kasse zahlen und mich entfernen. Oder aber: ich kaufe einem der unerbittlich: »Vier Stück fünf Kreuzer!« schreienden Knaben seine Ware ab und werde von mehreren Leuten als Wohltäter angestaunt. Auf jeden Fall vergehen dadurch etliche Minuten, und das ist auch etwas!

Mau sage nicht, ich sei wohl besonders geschickt darin, Langeweile zu empfinden. Das ist nicht richtig. Ich habe von jeher die außerordentliche Fähigkeit besessen, ich war von jeher mit dem Talent dotiert, die Zeit zu vertreiben, unter allen denkbaren Beschäftigungen die exotischeste ausfindig zu machen.

Beweis dessen: als ich unlängst in die Gansterergasse gehen sollte, trat ich auskunftheischend an einen Wachmann heran, obwohl mir die Lage des genannten Straßenzuges unbekannt war. Da nun machte ich eine wichtige Entdeckung, die mir geeignet erscheint, mehrere Weltgesetze zu erschüttern. 4

Der Wachmann roch nach Rosenparfüm. Man bedenke: ein parfümierter Wachmann. Welch eine contradictio in adjecto! Im ersten Augenblicke traute ich meiner Nase nicht. Zweifel an der Echtheit des Sicherheitsmannes stiegen in mir empor. Vielleicht hatte ein geriebener Verbrecher, um den Nachforschungen zu entrinnen, ein Usurpator sich in die Uniform eines Polizisten gehüllt. Erst die Auskunft überzeugte mich von seiner Echtheit. So delphisch war sie. Jetzt galt es herauszubekommen, ob vielleicht alle Sicherheitsleute – etwa infolge einer neuen Verordnung – Wohlgerüche zu verbreiten hatten oder ob der eine mit dieser Eigenschaft allein stand und damit sozusagen auf eigene Verantwortung handelte. Ohne Murren unterzog ich mich der weitläufigen Aufgabe. Eine Dissertation, oder noch besser, ein Essay: »Von den Wachleuten und ihren Gerüchen« schwebte mir vor . . . Polizist um Polizist ward beschnuppert, zwar kein zweiter Schandfleck seines Standes gefunden, immerhin aber festgestellt, daß kein einziger einen englisch 5 gestutzten Schnurrbart besaß. Eine Beobachtung, die sich an ähnlicher Bedeutung für die Wissenschaft nur mit einer anderen messen kann, die zu machen mir vor kurzem nach unsäglicher Mühe gelang. Nämlich: daß kein einziges Säugetier grün gefärbt ist.

Ob jener Polizist durch ein Dienstmädchen oder anderweitig-eigenes Verschulden zu seinem Geruche kam, dies festzustellen, mangelte mir der Mut. Und aus der Abhandlung »De odoribus polyporum« wurde nichts. Ich traute mich nicht, ihn zu fragen. Weil ein Sicherheitsmann, der nach Rosen roch, ein so außerordentlicher Sicherheitsmann, wenn nicht den »Raskolnikow«, so doch ganz gut »Schuld und Sühne« gelesen haben konnte. Und wissend, welch spannenden Kitzel es manchem Verbrecher bereite, sich zu martern und die Behörden zu eludieren, mich dann einfach als einen den Schauplatz seines Frevels frivol umkreisenden Missetäter verhaftete. Und mir das Geständnis, das beschämende Geständnis meiner Unschuld bevorstand. 6

Ähnliche Feigheit, wie dem Wachmann gegenüber, verhinderte mich auch, andere Rätsel völlig zu lösen, die zu wittern, denen nachzugehen mir einzige Beschäftigung und Lebensinhalt ist. Auf meinen Streifgängen kam ich oft an einer Gemüsefrau vorbei, einem Weibe mittleren Alters von ordinärem Aussehen und realistischer Ausdrucksweise. Sie führt hauptsächlich grüne Erbsen. Eine Kunde, die von diesem Artikel gekostet hatte, dann aber achselzuckend fortging, ohne zu kaufen, erhielt von ihr Titel, die denen irgendeines orientalischen Herrschers weder an Berechtigung noch an Mannigfaltigkeit nachstanden. Aber ein alter Spatz nascht täglich ungestraft, nie verscheucht von den Erbsen, pickt die Schoten an und schmaust die Körner. Und noch nie hatte ich die Courage, die Grünzeughändlerin zu fragen, ob sie vielleicht Witwe sei. Denn der Gedanke ist nicht von der Hand zu weisen: der Spatz ist niemand anderer als ihr verstorbener Gatte, der sie besuchen kommt und – o ahnungsvolles Unterbewußtsein – von ihr gefüttert wird! 7

Infolge meiner Schüchternheit werde ich niemals Klarheit darüber erringen.

Ebensowenig über das Schild eines Schusters. »Engelbert Kokoschnigg, bürgerlicher Schuhmachermeister zu den zwei Löwen. Gegründet 1891.« Welträtsel sind schwer zu lösen. Wochenlang zermarterte ich mir vergebens den Kopf, warum wohl der ehrsame Handwerker dieses doch nur einem Wirt zustehende Schild führte. Sollte durch diesen Übergriff die vermutlich mit der Geschäftsgründung zusammenfallende Eheschließung verherrlicht werden und einer der brüllenden Löwen die Schusterin sein? Oder war in jenem Jahre ein Dompteur von Weltruf in Wien gewesen, in den Strudel seiner Berühmtheit auch diese Bürgersleute reißend?

Wenn ich diesem unerträglichen Dilemma ein Ende machen, den Meister selbst ungestraft interviewen wollte, müßte ich mir unbedingt bei ihm ein Paar Schuhe machen lassen. Und das wäre wiederum, abgesehen von meinem immer chronischer werdenden Mangel an gebräuchlichen Zahlungsmitteln, 8 schwarzer Verrat an meinem Leibschuster, dem alten Peter Kekrewischy, der mir schon so oft mit seinen Erzählungen die Zeit vertrieben hat.

Gut, er und seine Werke sind etwas altväterisch, er grüßt noch: »Mein Kompliment!«, und wenn ich etwas von ihm haben will, sagt er: »Ja, mein Herzerl!« Aber er ist gütig wie der Kanarienvogel, der in seiner Kokosnußschale uns lauscht, mit seinem Gesang unterbricht und sich dann durch einen zuckerwärts geführten Schnabelhieb belohnt. Und die Reden des Schusters sind auch wie ein Gesang, wie ein leiser Gesang der Resignation. In Klausenburg ist er geboren, das Untergymnasium hat er dort absolviert, war der beste Schüler, dann ist ihm der Vater gestorben, und der Vormund, ein Fleischhacker, hat ihn nicht weiterstudieren lassen. In den Ferien mußte der Knabe in der Fleischbank mithelfen, und als er dann zum Gymnasialdirektor ging, wollte ihn der nicht aufnehmen, weil die Mitschüler einen, der Fleisch ausgetragen hatte, ewig hänseln würden und auch die Anstalt das Dekorum zu wahren habe . . . 9 Der Vormund hat ihn dann zu einem Schuster in die Lehre gegeben, weil die Fleischerburschen ein Gymnasiasterl nicht unter sich dulden wollten und ihm selbst der Beruf viel zu ekelhaft gewesen sei. Gar das Blutvergießen! Aber im Jahre 48, wie die Klausenburger auch ihren Rummel haben mußten, hätte er doch tüchtig mitgetan, allerdings bei der Musikbande.

Ein Mitschüler, der schlechtere Noten hatte als er, wurde Direktor der Wiener Sternwarte, und ein paar Schritte von ihr entfernt, sitzt in einem pappriechenden, finsteren Kammerl ein Mann, dessen Frau bedienen geht, dessen einzige Tochter in Agram verheiratet ist, ein Mann, zu alt, zu sanft, zu arm, um sich einen Gehilfen halten zu können, ein Mann, der nach vielem Bitten froh sein muß, wenn ihm die Kunden seiner langsamen Arbeit wegen nicht weitergehen.

Jetzt hat ihm übrigens die Frau einen kleinen Nebendienst verschafft. Täglich sehe ich den schwachen Mann mit seinen zitternden Händen eine Gelähmte 10 spazieren fahren. Dafür kriegt er etwas Kleingeld und darf sich dann am Sonntag nicht etwa ein Gläschen Wein gönnen, nein! aus der Bibliothek der Gelähmten ein Buch aussuchen und die halbblinden Augen durch den kleinen Druck ganz zugrunde richten, während ein anderer. Hofrat, Baron, Komtur des Franz-Josef-Ordens &c. dafür bezahlt wird, daß er die ewigen Sterne auf die Erde herabzieht, in einem leibhaftigen Fiaker fährt, geradezu in Saus und Braus lebt – aus keinem anderen Grunde, als weil er keinen Vormund besaß, der Fleischhauer war.

Dies ist mein einziger Verkehr, ein alter Schuster und, richtig! noch ein zugrunde gegangener Huterer an dem nichts bemerkenswert ist, außer daß er mit dem Kaiser Max nach Mexiko geriet. Er weiß von diesem Lande sonst nichts zu sagen, als daß es dort sehr heiß war. Nichtsdestoweniger ist er in meinen Augen ein Mann von Bedeutung, ich habe keinen in meiner Bekanntschaft, der weiter herumgekommen wäre als er . . . und etwas Exotisches 11 weht um ihn, wenn er sagt: »Ja, in Veracruz!« und ich ihn pflichtgemäß frage, was es denn an diesem Orte gegeben habe, und er dann seinen einzigen Witz macht: »Ja, in Veracruz, da hams keinen so guten Sliwowitz g'habt wie hier.« . . . Ich bin gehalten, darüber zu lachen, darf es mir mit ihm nicht verderben. Er ist Armenrat, und vielleicht setzt er es doch endlich durch, daß ich Wiener Bürger werde. Ich könnte die kleine Pfründe dereinst gut brauchen . . .

Einen Bekannten hatte ich noch, einen o-beinigen Doctor philosophiae, der vor lauter Fleiß auch den Abiturientenkurs der Exportakademie absolviert hat und unglaublich viel Sprachen kann. Er heißt Schmecker, ist bei der Zentralbank in Kondition, strebert was Zeug hält und gönnt sich keinen Urlaub. Ich meinte deswegen einmal zu seiner Glatze: »Ja, mein Lieber, es hat auch seine Schattenseiten, wenn man als Bankdirektor enden will.« Bankdirektor muß der wirklich werden, aber das »Enden« hat ihm die Freude im vorhinein versalzen, und wenn 12 er mich von weitem sieht, komm' ich näher, schaut er weg.

Früher besaß ich auch einen entfernten Verwandten, den Agenten Norbert Schigut. Einmal traf er mich unangemeldet auf der Straße und teilte mir ohne jede Aufforderung – offenbar wollte er allen Gerüchten zuvorkommen – in einem triumphierenden Tone mit, seine Frau sei ihm zwar unlängst durchgegangen, bald aber wieder reuig zu ihm zurückgekehrt. Ich sagte, das komme oft vor. Auch ich hätte zuerst mit Stahlfedern geschrieben, sei dann zur Füllfeder übergegangen, um enttäuscht wieder auf die Stahlfeder zurückzugreifen, ohne deswegen die Hoffnung aufzugeben, dereinst in den Besitz einer Schreibmaschine zu gelangen. Er erwiderte arglos, das hätte wohl in der schlechten Qualität der Füllfeder seine Ursache gehabt und träfe es sich direkt ausgezeichnet, daß er gerade jetzt die Vertretung einer erstklassigen amerikanischen Füllfedermarke besitze. Ich bekam einen unendlichen Lachkrampf, überlegte noch, ob ich mir nicht ein Bisserl von dem Lachen 13 einwickeln und für die Tage der Trostlosigkeit aufheben solle. Da ging auch schon der komische Mensch fort, beleidigt, als hätte ich ihn durch mein Gelächter in seiner – kaufmännischen Ehre angreifen wollen. Seitdem sind wir nicht mehr verwandt.

Allein irre ich in der großen Stadt umher. Niemand schenkt mir Beachtung. Höchstens hie und da ein auf dem Dache eines vorbeifahrenden Geschäftswagens ängstlich herumlaufender Pintscher, der bellt mich an. Ich hätte oft Lust, zurückzubellen. Leider verbietet das der Anstand. Man muß das Dekorum wahren. Und so kann ich auch zu diesem Pintscher nicht in nähere Beziehungen treten. 14

 

Früher habe ich geschrieben. Aber als ich das letztemal einen Blick ins Tintenfaß warf, lagen darin zwei Fliegen. Ertrunken.

Was da vorgefallen war, ein Doppelselbstmord aus Liebe . . . oder ein Absturz in den Glasbergen infolge ins Rollen geratener Staubkörner . . . das ließ sich nicht mehr eruieren. Das Wort: »Ruhm« zerbarst mir; wer weiß, was diese Fliegen für ihr Volk gewesen waren! Ein Grauen überkam mich, es abzuschütteln ging ich ins Freie, geriet in die Nähe der Kahlenbergbahn und sah – neben dem einem Bahnbediensteten gehörigen ärmlichen Hause – auf einem Misthaufen einen alten und einen jungen Hahn miteinander um die Weltherrschaft kämpfen. Ganz hingenommen von diesem Ereignisse ging ich heim, und wunderte mich am nächsten Morgen sehr, in keiner Zeitung die kleinste Notiz über diesen Gigantenkampf um die Hegemonie auf dem Düngerhaufen zu finden. Gar die Nachricht von dem erschütternden Ableben der beiden Fliegen dürfte überall erst nach Schluß des Blattes eingetroffen sein. 15

Die zwei Hähne hatten ihren Kampf mit dem Aufgebot aller Kräfte geführt, es war keiner jener betrügerischen Schauringkämpfe gewesen, alles war gewiß ehrlich zugegangen, und doch kein Wort! Vielleicht ebendeswegen . . . Sohin hätte eigentlich für mich die Verpflichtung bestanden, alle Blätter der Welt zu berichtigen. Aber bei dem diametralen Gegensatze der Weltanschauungen, der mich von den Herausgebern mehr oder minder illustrierter Publikumsblätter trennt, bei der Verschiedenheit der Dinge, die sie und ich wichtig zu nehmen organisiert sind, war es ziemlich fraglich, ob ich mit meiner Ansicht durchdringen würde.

Ja, wenn die abgestürzten Fliegen Besitzer eines Powidlbergwerkes gewesen wären und Pollak von Parnaß geheißen hätten, die Hähne . . . der österreichische Vorkämpfer, Schachmeister Papabile, und der andere der präsumtive champion of the world . . . dann hätte man sich nicht auf die Straße wagen können, ohne bei jedem zweiten Schritt aus dem Hinterhalte der Trafikauslagen hervor von den Alltagsgesichtern dieser Heroen angeglotzt zu werden. 16

Aber bleiben wir lieber unter uns und erledigen wir unsere Angelegenheiten selbst. Bezüglich der Hähne konnte ich ja nichts mehr veranlassen, es wäre auch mir, dem Autor, ferngelegen, etwa Partei zu nehmen und gewaltsam in den Gang der Schlacht einzugreifen. Ebenso fern wie etwa den Schlummer der zwei ins bittere Tintenfaß des Todes gefallenen Fliegen durch eine Exhumierung und darauffolgende Feuerbestattung zu entweihen. . . . Ich beließ sie an dem Ort, wohin sie das Schicksal geworfen.

Angesichts des eben geschilderten Unbekanntbleibens kühnster Heldentaten wird niemanden mein gerechter Entschluß überraschen: alles, was ich in Hinkunft noch aufzuzeichnen habe, um es sozusagen noch vergänglicher zu machen, mit Bleistift niederzuschreiben.

Eher kann man mir Selbstsucht nachweisen in meinem pietätvollen Vorgehen den Fliegen gegenüber. Denn was kann besser zu meiner Stimmung passen als der für andere, robuster Geartete vielleicht gar nicht wahrnehmbare Geruch ihrer Verwesung? 17

Jetzt habe ich einen Anlauf genommen und mir ein Straßenverzeichnis gekauft. Ich hätte das schon früher tun sollen. Leute wie ich, deren Schwerpunkt außer ihrem Selbst liegt, irgendwo im Universum . . . Jedem Eindruck hingegeben sind wie Wachs . . . die müssen ihr Sensorium unaufhörlich füttern, und sei es mit Geschäftsschildern, um über die gähnende Leere hinwegzukommen.

Ich reife im Kleinen. Tirol ist ein schönes Land, aber es werden dort bald die Baedeker auf den Bäumen wachsen, und die meisten gar reisen, indem sie ihr Milieu mitnehmen . . . in Form ihrer Verwandten und Freunde.

Überhaupt ist es ganz gleichgültig, wohin wir reisen: wir gehen ja mit. Können uns nicht zu Hause lassen. Diese Art zu reisen behagt mir nicht. Wenn schon, dann aber in die Zeit.

Ich möchte einen Herrn aus dem vierzehnten Jahrhundert sprechen, ich möchte dem Herrn Menemptar meine Aufwartung machen, dem altägyptischen Dichter, vokalgewaltigen Lyriker, 18 weltberühmten Verfasser des Hymnenzyklus »An das Nilkrokodil«, bin aber leider so sehr außer aller Form, daß ich durch keine Vision oder Halluzination den Wackern vor mich zwingen kann. Techniker! her mit der Zeitbahn. Nein, bevor nicht ein Kondukteur, mit dem Globus an der Uhrkette, »Cambrium! Aussteigen!« ruft, früher tu ich nicht mit.

Oh, auch dann nicht, denn kaum so etwas existiert, ist auch der Herr Pollak dabei und läßt im Cambrium seine Butterbrotpapiere liegen. Und das hat es wirklich nicht verdient. Ich sehe schon, es ist besser, ich gehe hier spazieren, auf der Linzer Straße, weil das die zweitlängste Gasse von Wien ist . . . Ich möchte auch die zweitlängste Gasse von Wien sein . . . mir wäre dann leichter.

Was es zu sehen gibt? Nicht viel. Neben einem Laden, in dem Regenschirme feilgehalten werden, steht ein Literaturverschleiß, Papierstreifen posaunen den Ruhm des Buches der letzten Tage, nebenan andere das endliche Eintreffen der neuen 19 Heringe. Die einen mögen das eine geniale Einrichtung der nichtorientalischen Großstadt nennen, die übrigen, Ländlichen, über diese Unordnung verrückt werden. Ich aber weiß nicht, welches die Regenschirme, welches die Bücher und welches die Heringe sind: vor meinen Augen verschwimmen alle Unterschiede, sie werden mir zu minimal, als daß ich in den scheinbar so diversen Gegenständen mehr als geringfügige Abstufungen ein und derselben Materie zu erblicken vermöchte . . . Abstufungen, die ewig wiederkehren, während bloß die menschliche Ausdrucksweise wechselt. Denn sage ich, ein Buch aus der Hand legend: »Diesen Hut muß ich schon irgendwo gesehen haben«, oder bringt mich das Verzehren eines falschen Hasenbratens auf die Idee, daß ich es hier mit einem Modetalent zu tun habe, das solcher Anschauungsart begrifflich und stofflich zugrundeliegende ist und bleibt ein und dasselbe, sonst wäre sie unmöglich.

Man glaubt, ich sei paradox? Ich habe bloß von einem Betrunkenen gelernt. 20

Es war Abend, ich ging die Linzer Straße retour, um mir die Häuser auch in umgekehrter Reihenfolge zu merken, da stolperte eine schwankende Gestalt auf mich zu und fragte: »Wo san mer denn doda?« Ich antwortete, wir befänden uns auf der derzeit zweitlängsten Gasse Wiens, auf der Linzer Straße. »Dö gibt's ja gar net«, scholl es zurück. »Sie haben gewiß zuviel Schopenhauer konsumiert, guter Mann?« »Da schneiden S' Eahna aber gründli, dös war Zöbinger Riesling«, berichtigte der weinnasige Unbekannte . . . und ich sann darüber nach, ob nicht vielleicht auch Schopenhauer, von Dionysos hinweggerafft, auf seine berühmte Theorie gekommen sei. Ähnlich wie ihn angeblich Lord Byron, ihm vorgezogen, zum Weiberfeind gemacht haben soll.

Die Theorie des Betrunkenen hatte etwas für sich, denn wirklich: nahm man der Linzer Straße die Zeit weg, dann blieb nichts übrig als Materie, die sich hie und da den Spaß erlaubte, sich aus dem Cambrium in die zweitlängste Gasse Wiens zu 21 verwandeln . . . »Wo san ma denn jetzt?« fragte eine mühsame Stimme. »Auf der Linzer Straße«, ärgerte ich mich. »Scho wieder!« war die Antwort . . . man mußte vermutlich herben Weines voll sein, um das Gesetz von der ewigen Wiederkehr des Gleichen zu entdecken. Weiser und Wahnsinniger, Wahnsinniger und Trunkener – wo ist da der Unterschied? Ist es mit der Weisheit der großen Philosophen nicht so weit her, jener Bazillus, der Weisheit erregt, am Ende nicht sonderlich verschieden von anderen, nicht so renommierten? Oder sind die orphischen Urworte der Herren nur um so wahrer, weil sie sich jeden Augenblick aus dem durch nichts gehemmten Unterbewußtsein eines vom Weine Entrückten ergießen konnten? . . . Der große Unbekannte machte Halt und versuchte eine Laterne am Umfallen zu verhindern . . . ich Tor ging weiter! Später allerdings bedauerte ich es, mich nicht mit ihm in ein lehrreiches Gespräch eingelassen zu haben, um, wenigstens! zu erfahren, wieso er auf die Vermutung gekommen sei, die Linzer Straße existiere 22 nicht. Damals, erfüllt von der Freude, von jemandem eines Gespräches gewürdigt worden zu sein, Freude über dies für meine Verhältnisse große Erlebnis, ging ich mit schnellen Schritten heimwärts . . . vielleicht aus Furcht, von einem Wachmann bei dem Betrunkenen ertappt und als Dieb verhaftet zu werden.

Kein Policeman erschien. Aus Vorsicht. Denn es strolchten Plattenbrüder herum, streiften mich nicht ganz rücksichtsvoll, und da der Abend so von Abenteuern gestrotzt, hatte ich mich sogar mit dem Gedanken eines nächtlichen Überfalls befreundet und war bereits entschlossen, dem nächsten Bedrohlichen zuvorzukommen und ihm aus freien Stücken meine Geldbörse und Uhr entgegenzuhalten, mit dem Wunsche, er möge sich fürderhin ihrer bedienen . . .

Es wäre mir nicht leicht gefallen, mich von meiner Uhr zu trennen, der Quelle unzähliger kleiner Lustbarkeiten.

Denn wie oft habe ich in einem Park, wenn es mir zu ermüdend wurde, einen der alten Herrn zu 23 beobachten, welche den ball- oder diabolospielenden Kindern zusehen . . . die Zeit zu gerinnen begann und in die Ewigkeit zu kreisen schien, wie oft habe ich mich da einem der Knaben genähert und ihm zugeredet: »Möchten Sie nicht die Güte haben, mich zu fragen, wieviel Uhr es ist?« . . . Ich glaube, man kann die Höflichkeit unmöglich weiter treiben. Die alten Herren wenigstens drückten durch Stockbewegungen ihr Befremden aus, aber ihr Betragen kümmerte mich nicht, sie waren ja meine Konkurrenten, was das Zeitbieten anlangt . . . und wenn mir ein mutiger Knabe meine Bitte gewährte, was ja manchmal geschah . . . dann ließ ich den Deckel springen und gab chronometrisch genau an, wie weit der Tag vorgeschritten war . . . und mein Vergnügen darüber war nicht geringer als das eines Gefirmten, der zum erstenmal als Zeitkünder funktioniert . . . Es läßt sich daher begreifen, wie ungern ich die Uhr weitergegeben hätte, einen für den Betrieb meines Geschäftes unumgänglich nötigen Gegenstand . . . 24

Möglich, daß die Strolche justament nicht wollten; vorbeifahrende Straßenpflüge und ihre Lenker, in deren Nähe ich mich hielt, brachten mich in Sicherheit und überhoben mich der Ausführung meines Planes . . .

Wenn einmal ein Tag ereignisreich anfängt, nimmt er gewöhnlich einen nicht minder lebhaften Verlauf: Kanalräumer hoben die Gitter aus und schickten sich herkulisch an, in die Unterwelt hinabzusteigen. Bei ihrem Anblick brach in mir eine alte Wunde auf, die unstillbare Sehnsucht ward in mir wach, Kanalräumersgattin zu sein. Die meisten anderen Frauen ehebrechen des Tages, sie aber können – ohne Gefahr zu laufen, ertappt zu werden – diesem ihren Berufe des Nachts nachgehen. Ich empfehle dieses Thema der Beachtung unserer Dramatiker. Überlasse es ihnen großmütig. Wie ich auch sonst die heimische Industrie zu unterstützen gesonnen bin . . . .

Nein, der Hausmeister, der mich so lang warten läßt, soll nicht mehr über mich zu klagen haben. 25 Als er seinerzeit auf meinem Meldezettel unter der Rubrik Religion: »Griechisch-paradox«, unter Beschäftigung las: »Ich strebe eine kleine Anstellung beim Chorus mysticus an«, soll er in die Worte ausgebrochen sein: »A so a Kampl hat im Dreirösselhaus, was i und meine Frau denken, no nie net gwohnt.« Er soll nicht zu reden haben. Ich will mich mittels des Straßenverzeichnisses ernstlich, gewissenhaft auf die Fiakerprüfung vorbereiten. Oder noch besser: ich gedenke unter die Erfinder zu gehen. Was ich erfunden habe? Ich werde mir mein Tintenfaß als Fliegenfänger patentieren lassen. Ich teilte die mit mir vorgegangene Wandlung sofort dem Hausmeister mit. Er sah mich verschlafen und unsicher an, nach Erhalt des Sperrsechserls wünschte er mir sogar: »Gute Nacht!«, und holperte auf seinen Schlapfen bettwärts. Aber auf seiner Denkerstirn stand geschrieben: »Was san Sö? Schlafens eahna erst eahnern Rausch aus!« . . . Erfinder? Das schließt nicht aus, daß ich mich vielleicht schon morgen in die Kleidung eines Cabkutschers oder eines 26 Karfiolslowaken hülle, die Bekanntschaft einer Kanalräumerin zu machen trachte, und ihre eheliche Treue einer Probe unterziehe . . . .

Nein, das werde ich nicht tun, ich fühle nicht mehr die Kraft dazu in mir. Der zweifelnde Blick des Hausmeisters hat meine ganze Energie hinweggenommen! Und als ich im Schein des zusammensinkenden Wachsstengels aus der Visitkarte, die auf der Tür meines Kabinetts mit separiertem Eingang prangt, ersah, daß ich der Herr Karl Tubutsch war, da sagte ich leise, niedergeschmettert, nichts als: »Scho wieder!« . . . . 27

 

Oft in der Nacht fahre ich auf. Was ist? Nichts, nichts! Will denn niemand bei mir einbrechen? Alles ist vorausberechnet. Oh, ich möchte nicht der sein, der bei mir einbricht. Abgesehen davon, daß – meinen Stiefelknecht Philipp und vielleicht noch ein Straßenverzeichnis ausgenommen – bei mir nichts zu holen ist, ich gestehe es offen und ehrlich: ich kenne den Betreffenden zwar nicht im geringsten, aber ich habe es auf den Tod des armen Teufels angelegt. Das Federmesser liegt gezückt, mordbereit auf dem Nachtkastel. Philipp, der Stiefelknecht, wacht wurfgerecht darunter . . . will denn niemand bei mir einbrechen . . . ich sehne mich nach einem Mörder.

Wenn ich wenigstens Zahnschmerzen hätte. Ich könnte dann dreimal »Abracadabra« sagen, auch das heilige Wort »Zip-zip« dürfte die gleiche magische Wirkung haben . . . und wenn es mit den Schmerzen selbst dann nicht besser würde, möchte ich keineswegs zum Zahnarzt gehen, nein, die Schmerzen hegen und pflegen, sie nie erlöschen lassen, immer 28 wieder wachrufen. Es wäre doch wenigstens ein Gefühl! Aber meine Gesundheit ist unerschütterlich.

Daß irgendein Leid seine Krallen in mich schlüge! . . . Nur die andern, die Nachbarn haben dies wenig gewürdigte Glück. Hier im Haus wohnt ein behäbiges Ehepaar, beide verdienen hübsch, sie ist erste Verkäuferin in einem großen Modewarenhaus, er Oberpostkontrollor, sie haben ein einziges Kind und lassen sich nichts abgehen. Unlängst ist ihm der Vater gestorben, den er schon zwanzig Jahre bei sich wohnen hatte. Es war in den Ferien, die Leute hätten also Zeit gehabt. Und diese Unmenschen beraumen das Begräbnis für den Vormittag an, stehen in aller Früh auf, damit sie vor halb acht Uhr mit der Elektrischen um sechs Kreuzer auf den Zentralfriedhof fahren können!

Wenn mir wer gestorben wäre, den rechtschaffen zu betrauern ich so Ursache hätte, ich hätte mir zumindest einen Fiaker spendiert. Aber so ist es: den Menschen, die nicht trauern wollen, sterben die Verwandten . . . mir jedoch . . . ich darf nichts erleben, bin sozusagen ein Mensch, der in der Luft steht . . . 29

Sechs Kinder sitzen friedlich und brotessend rund herum um einen der Pflasterung beflissenen Straßenarbeiter, drei rechts, drei links, und staunen seinem Werke zu; ich möchte mich auch daneben hinsetzen, schon um die darüber entstehende Verwunderung und Verlegenheit des lieben Straßenräumers zu genießen. Unmöglich. Bei dem heutigen Stande der ärztlichen Wissenschaft würde man mir gewiß meine wirklich bescheidenen Freuden durch eine kleine Internierung stören . . . . 30

 

Ich nehme mein Diner täglich in einer Würstlerei ein. Es kommen immer so ziemlich dieselben scharfgeschnittenen Gesichter hin, Kommis, gehetzt und eine Zigarette im Mund, hastige Modistinnen, die nicht einmal so viel Zeit haben, ein Sacktuch fallen zu lassen, wenn es nötig ist . . . arme alte Leute, Reisende oder Fremde, von denen irgendein Körperteil etwas im Krankenhaus zu tun hat . . . es kennen mich fast alle Besucher schon . . . bis auf den buckligen Hausierer, der hie und da durchgeht und Zündhölzelschachteln, Bleistifte, Manschettenknöpfe, Briefpapier und Hosenspanner an den Tischen herumbietet. Wie gesagt, die Menschen kennen mich, aber würde es auch nur einem Mitglied dieser egoistischen Gesellschaft einfallen, mich zu fragen, warum ich in roten Glacéhandschuhen esse? Und ich esse doch bloß deshalb in Handschuhen, damit man mich nach dem Grund dieser Handlungsweise fragt und ich dann antworten kann: »Ich pflege mir in der Zerstreutheit die Nägel zu beißen und damit das nicht geschieht, und sie ruhig wachsen und der 31 Vollendung entgegenreisen können, trage ich Handschuh!«

Ich habe mir die Glacéhandschuh vergebens gekauft. Sie halten mich entweder für zu verrückt oder für zu fein, als daß sie es wagen würden, mich anzusprechen . . . Niemand forscht mich aus, nicht einmal Thekla, die bleiche, schwarzlockige Kellnerin, die mich täglich fragt, ob ich Gurken, Senf oder Krenn zu den Würsteln haben wolle . . . . Thekla, der ich immer drei Kreuzer hinschiebe, nicht einmal sie erleichtert mein Gemüt durch eine so naheliegende Frage, obgleich sie doch gewissermaßen dazu verpflichtet wäre. 32

 


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