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II

Indessen kam der Monat Juli wieder und mit ihm die wenigen Tage der ungeduldig ersehnten Muße. Nach meiner Ankunft in Ostende hatte ich meinen Freund vom vergangenen Sommer wieder aufgesucht. Er war noch immer derselbe treuherzige, prächtige und herzliche Junge, und gleich bei unserer neuen Begegnung fühlten wir unsere Zusammengehörigkeit, unsere Charaktere paßten sich einander an, als wären wir nie getrennt gewesen. Das ernste und besorgte Wesen fiel mir bei meinem treuen Kameraden auf und blieb selbst bei den Äußerungen seiner frohen Laune fühlbar. In der männlichen und klangvollen Stimme, die sozusagen aus der gleichen Gießform geflossen zu sein schien wie die großen Glocken der Belfriede in den Städten, knirschten unterdrückte und dumpfe Untertöne, die eine Befangenheit und eine wachsende Besorgnis verrieten. Sein Stolz verwehrte ihm lange, mir dieses Leid anzuvertrauen, und so sehr ich auch wünschte, sein Geständnis hervorzulocken, fürchtete ich doch, ihn durch eine unmittelbare Frage zurückzuschrecken. Ich bemerkte auch, daß seine feste und rauhe Stimme, je mehr ich ihm gütlich zuredete, um ihn dazu zu veranlassen, mir sein Herz zu erschließen, zu schwanken begann und zu ersticken drohte; und noch mehr verneinten seine tränenumflorten Augen das Lächeln ohne Falsch, das seine Lippen zur Schau trugen. Der gute Durch scherzte nicht mehr mit der sonstigen Offenheit und Ausgelassenheit in seinem angenehmen und malerischen westflämischen Dialekt, jener Sprache mit den einschmeichelnden Beugungen, die sich in einem Gezwitscher von Vokalen verlieren und deren weiche Töne so seltsam gegen das trotzige Aussehen und die energischen Gebärden derjenigen abstechen, die sie reden.

Eines Tages entschloß ich mich, seiner Zurückhaltung überdrüssig, ihn ohne Umschweife zu fragen, was ihm das Herz beschwerte. Er versuchte zu widersprechen und zu leugnen, indem er seine Stimme erhob und in ein Lachen ausbrach; ich ließ mich jedoch durch diese falsche Fröhlichkeit nicht täuschen und drang um so stärker, ja fast schon zornig auf ihn ein, durch sein Mißtrauen verletzt. »Sie haben also nicht ein bißchen Freundschaftsgefühl für mich?« kam ich schließlich dazu, ihm zu sagen. Auf diesen Vorwurf hin ließ er sich zu einer Flut von schweren und heftigen Worten hinreißen, von denen ein jedes wie Schluchzen klang und sich in Tränen aufzulösen drohte, so daß er gezwungen war, seine Erregung unter einem krampfhaften Husten zu verbergen. Er gestand und schilderte mir die große Not seiner Angehörigen und aller übrigen seines Berufes. Obendrein drohte ihm diesen Winter die Aushebung, und man würde sicherlich einen Burschen, wie er war, nicht vom Militärdienst befreien, wenn er eine schlechte Nummer zöge! Die gefährliche und mühevolle Arbeit brächte so gut wie gar nichts ein, während die Bedürfnisse von Tag zu Tag sich steigerten. Sie machten dennoch keine schlechteren Fänge, legten stets dieselbe Tatkraft und denselben Eifer bei der Arbeit an den Tag! Wie kam es, daß man um sie herum reich wurde und sozusagen mit verschränkten Armen in Üppigkeit lebte, ohne auch nur einen schlechten Tag zu haben? Warum waren die Arbeiter allein zum Dulden bestimmt! »Ist es recht, Herr,« sagte Durch, »daß wir so wenig Brot haben? Jeden Tag beschneidet uns der Brotherr noch die kleine Ration, die er uns zubilligt. Wir kosten ihnen nicht viel, den Arbeitgebern! Von dem Augenblick an, wo wir etwas zu essen haben, sind wir mit unserem Schicksal zufrieden. Das einzige, was wir uns gönnen, ist das bißchen Kohlenglut im Fußwärmer der Großmutter, ein buntes Tuch oder ein Ring aus Silber für die Braut, ein Zuckerkand, ein Babeleer Babeleer == beliebtes Zuckerwerk für Kinder. für die Kleinen, ein geblümtes Paar Pantoffeln oder Stiefel mit bunten Steppnähten und recht hohen Hacken, um den Flotten zu spielen, wenn wir mit unseren Freundinnen nach der Arbeit umherschlendern, eine Handvoll Cenß Cenß == zwei Centimen. für die kleine Hosentasche unserer schönen neuen Hose aus schwarzem Tuch – der neuen vom letzten Ostern her – gerade so viel, um einige Flitters Flitter == Tanz. in den Tanzsälen am Hafen zu machen und aus einem Glas zu zweien ein oder zwei Liter Braunbier zu trinken, wobei man an einem Stück »Scholle« Scholle == flämische Benennung für getrockneten Fisch. knabbert, um das Bier sanfter durch die Gurgel laufen zu lassen! Bis jetzt hat man uns diese Annehmlichkeiten nicht verweigert. Wir nahmen das Leben von der lustigen Seite, und wenn uns ein Mißgeschick überkam, bei Gott, dann ging es auch wie eine Wolke wieder vorüber, wir bissen nur noch fester auf unsere Prieme, das ist alles!«

Mittlerweile war Gust, der ältere Bruder von Burch, ein würdiges Gegenstück zu meinem Begleiter, nur noch stärker gebräunt, größer und schon bärtig, so daß man ihn ein lebendiges Bild dessen hätte nennen können, was Burch in zwei Jahren hätte werden müssen, von seinem großen Fischfang heimgekehrt, und an einem der darauffolgenden Tage, als ich die beiden Brüder zu einer Fahrt gemietet hatte, ergänzte er mir das Bild der bedauerlichen Lage der Seeleute unseres Küstenstrichs:

Die Reisenverkäufer, das heißt die Agenten, die sich mit dem Verkauf der Fischladung eines Fischerbootes für einen bestimmten Prozentsatz befassen, hatten sich mit den Reedern und Fischgroßhändlern gegen die machtlosen Meerestagelöhner verbunden. Und als ob es nicht genug damit wäre, daß diese Reisenverkäufer oder Halsabschneider die armen Teufel ohne Rücksicht ausbeuteten, brachte es der Menschenfresser Staat und die Menschenfresserin Gemeindeverwaltung, die durch einen Haufen von Steuerbeamten und Schergen verkörpert waren, auch noch dazu, sie der letzten Einnahmen zu berauben, die sie für den Preis so vieler Kämpfe und Gefahren erlangt hatten. Um ihnen zum Schluß noch den Gnadenstoß zu versetzen, machte das Ausland den belgischen Fischern auf dem Markt von Ostende selbst einen unheilvollen Wettbewerb. Ja, und die großen Seefischhändler von Ostende zogen ihnen, anstatt ihre bedürftigen Mitbürger, die ortsansässigen Fischer, zu begünstigen, die Engländer und Franzosen vor!

So kamen auch zahlreiche Boote aus Boulogne der isländischen Fischerflotte aus Ostende zuvor, zu deren Bemannung Gust gehörte und die gegen Ende Juni ins Meer gestochen war; und das Vorhandensein des französischen Schellfisches hatte bei der Versteigerung in der Fischhalle den Ostender Fisch um zehn Franken für den Korb herabgedrückt, so daß sein Wert nicht mehr betrug als siebzig Franken. Zu Gusts und seiner Kameraden Erbitterung waren es gerade die Fischagenten und Reeder aus Ostende, auf deren Bestellung die Schiffe aus Boulogne gekommen waren, um ihren Fischvorrat anzubieten.

»Und dazu sich noch sagen müssen, daß wir, wenn alles zum besten abläuft, knapp dasjenige verdienen, was wir zum Leben brauchen!« fügte der ältere Mitsu hinzu. »Urteilen Sie selbst, Herr: eine Schaluppe ist in der Regel mit vier Mann und einem Schiffsjungen bemannt und wird von einem Kapitän befehligt. Nach dem Fischfang, der, wenn das Wetter günstig ist, sieben bis acht Tage währt – ich spreche von der gewöhnlichen Nordseefischerei –, sich jedoch bei grober See und widrigem Wind um Beträchtliches in die Länge zieht, erreicht das Fahrzeug den Hafen mit einer Ladung, die durchschnittlich einen Wert von fünfhundert Franken hat. Der Schiffseigner zieht als erster von diesem Betrag die ganzen Gebühren für das Bugsieren, die Abgaben an die Fischhalle und die Eiskosten ab, was gut zweihundert Franken ausmacht. Er schlägt noch fünfzehn Prozent für die Havarien und die Abnutzung des Bootes sowie für die Instandhaltung der Taue darauf, was siebzig Franken ausmacht. Es bleiben also zweihundertfünfundzwanzig Franken Ertrag, wovon jeder Mann der Besatzung nur fünf Prozent erhält, was etwa zwölf Franken gleichkommt. Mit diesen zwölf Franken ist der Fischer gezwungen, den Lebensunterhalt seiner Familie zu bestreiten!

Und nicht nur die Ausländer sind es, die in Gemeinschaft mit unseren natürlichen Beschützern uns diese elende Brotrinde vom Mund fortreißen, wir werden obendrein noch von unseren Konkurrenten auf jegliche Art und Weise bei der Nordseefischerei geschädigt und verfolgt. Sie beschränken sich nicht darauf, uns ihre Häfen und Märkte zu verschließen, sie möchten selbst noch verhindern, daß wir überhaupt Fische fangen. Was die belgische Regierung anbetrifft, so ist der Schutz, den sie uns gewährt, einfach zum Lachen!«

Indem er mir darauf ausführlichere Erklärungen gab, erzählte Gust von den Zusammenstößen zwischen den belgischen Scharrnetzfischern und den englischen Heringsloggern. Die Scharrnetzfischer fischen vermittelst einer Art netzartigen Sackes. Dieses Scharrnetz, das durch ein starkes Ankertau an das Fahrzeug befestigt ist, das mit der Flut hinaussegelt, treibt auf dem Meeresgrund. Die Heringsfischer dagegen benutzen senkrechte Netze, die sich einige Meter tief unter Wasser befinden und einen Raum von einer Meile und mehr einnehmen, während sie von den auf der Oberfläche schwimmenden Schiffen gehalten werden. Der Heringslogger, der an diese schwimmenden Wände gesorrt ist, bleibt verhältnismäßig bewegungslos, während der Scharrnetzfischer fortwährend hin und her kreuzen muß. Die Folge davon ist, daß, wenn er auf seinem Weg auf die Netze eines Heringsfischers stößt, ein Weiterkommen nur dann möglich ist, wenn er sein Netz einzieht und bei diesem Manöver oft mehr als eine Stunde verliert, oder mit Gewalt durchzukommen versucht, indem er die Netze zerreißt, die ihm den Weg versperren. Zu dieser schnellen Selbsthilfe griffen in ihrer Verzweiflung über die Hindernisse, die sich ihnen überall, wohin sie sich auch wandten, in den Weg stellten, die Scharrnetzfischer, die Belgier ebensogut wie die Engländer, Holländer und Franzosen, das heißt die meisten. Aber die ehrlichen Inglischmänner verteidigten sich damit, niemals diese Gewaltmittel zu gebrauchen, und schrieben ihre ausschließliche Benutzung den flämischen Fischern zu. Sie gaben selbst einem dieser Schneidewerkzeuge, die dazu dienten, die Netze der Heringsfischer zu durchreißen, den Namen »belgian devil« und stellten dieses Vernichtungsinstrument als ein Beweisstück zur Niederschlagung der Konkurrenten bei allen Prozessen und Untersuchungen, die durch die Streitigkeiten zwischen den Fischern der beiden Völker entstanden waren, zur Schau.

Unsere einfachen Matrosen, um mit Gust und Burch Mitsu zu beginnen, sagten sich mit der ursprünglichen Logik der Kerle, der alten Ureinwohner, daß das Meer frei sei und niemand das Recht habe, sich darauf unter Ausschluß der anderen breit zu machen; demgemäß meinten sie, daß der Gebrauch des »belgischen Teufels« und jedes anderen Teufels ähnlicher Art nichts Strafbares an sich hätte. Lange also hatten sie sich schon der Tat schuldig gemacht, mit Beil- und Messerhieben den Weg durch das Garn der Störenfriede zu suchen und die Netze der Heringsfischer kurz und klein zu hauen. Jedenfalls haben unsere braven Jungen, seit der Haager Vereinbarung über ihre Pflichten aufgeklärt, jene sozusagen summarischen Betätigungen unterlassen. Man würde jetzt an Bord keines der Ostender Scharrnetzboote auch nur ein einziges der verbotenen Werkzeuge finden. Das hält die Engländer nicht ab, uns wie früher zu beschuldigen. Das Vorurteil ist besonders in Lowestoft eingebürgert, wo die Gerichte sich von einer beleidigenden Voreingenommenheit gegen die flämischen Seeleute zeigen. Klagt man sie nicht wegen Zerreißung der Netze der englischen Heringslogger an, so sucht man ihnen zum mindesten daraus einen Prozeß zu machen, daß sie ihre Lichter nicht vorschriftsmäßig aufsetzen. Bei anderen Gelegenheiten sollten unsere Fischer die Ausländer bedroht oder selbst überfallen haben, als ob es vernünftigerweise der Besatzung einer Ostender Schaluppe, die aus fünf oder sechs friedlichen Seeleuten und einem Schiffsjungen besteht, in den Sinn kommen könnte, einen mit mindestens zehn starken Burschen bemannten Heringslogger zu entern oder, wie es die Inselmänner vorgeben, zu »rammen«. Schließlich trieben die Peiniger von der anderen Seite des Kanals ihre Wut gegen unsere unglückseligen Landesgenossen so weit, daß sie sie beschuldigten, den britischen Kreuzern Widerstand zu leisten, wenn diese sie bei einem strafbaren Akt überraschten, als ob ein kleines, schwaches Fischerboot mit einer Bemannung, wie wir soeben gesehen haben, sich jemals entschließen würde, gegen vierzig bis siebzig Blaujacken der Königlich Britischen Marine zu kämpfen, die mit Gewehren versehen sind, ohne von ihrem Schutz, bestehend aus Hotchkiß-Schnellfeuerkanonen und schweren Armstrong-Vorderladern, zu sprechen.

Ich gebe hier einen großen Teil der Erläuterungen wieder, die mir Gust Mitsu in bezug auf die Lage der belgischen Fischer im Vergleich zu der der Ausländer zukommen ließ, denn diese Einzelheiten werden die Geschehnisse verständlicher machen, die sich aus dieser mißlichen und bis zur Widerrechtlichkeit unbilligen Lage ergeben sollten.

Gust berichtete mir noch, es wäre unzähligemal erwiesen, daß britische Reeder, die gegen die Belgier Klage erhoben wegen angeblich ihnen zugefügten Schadens, wie Vernichtung ihres Fischereimaterials, altes und außer Gebrauch gewesenes Gerät in See geschickt hatten, für das sie sich schlauerweise den Ersatz von unseren gutmütigen Landsleuten haben zahlen lassen.

Wenn schon die Hochseefischerei so gut wie nichts einbrachte, so war die andere noch weniger lohnend. Burch erzählte mir, daß die Fischhändler seiner Verlobten ins Gesicht gelacht hätten, weil sie gewagt hatte, für ein Dutzend Kilogramm Garnelen drei Franken zu fordern. Sie gaben ihr einfach die Ware zurück, so daß sie sich ihrem Angebot unterwerfen mußte; denn hätte sie es nicht tun wollen, würden sich die Ausbeuter an ein anderes armes Ding gewandt haben, das willfähriger und leider vielleicht noch bedürftiger und verzweifelter gewesen wäre. Und dabei sich sagen müssen, daß in den Restaurants eine Handvoll angerichteter Garnelen als Vorspeise zwei bis drei Franken kostet!

»Ach,« fragte mich der arme Junge, »warum verhandeln diese reichen Herren und Damen nicht ohne weiteres mit uns? Was soll diese Vorliebe, den reichen Händlern, den großen Lieferanten die Taschen zu füllen, die uns kaum einen Heller bewilligen für eine Sache, die sie mit einem Goldstück bezahlt bekommen?«

Ich sann darüber nach, daß auf allen Stufen des wirtschaftlichen Lebens die Vermittler die Rolle der Ausbeuter spielten. Das Mißverhältnis zwischen dem Verdienst eines angestellten Arbeiters, des Haupterzeugers der ganzen Produktion, und jenem des Händlers, der seine Gelder verdoppelte und auf Kosten der anderen schmarotzte, schrie wirklich um Rache in kommender Zeit! Und ich beklagte diese Trägheit, diese dumme Gleichgültigkeit und unsinnige Eitelkeit des Millionärs, der dem Handeltreibenden ohne zu handeln und zu feilschen fabelhafte Summen für eine Ware zahlt, für deren Erwerb oder Herstellung der elende Sklave des Bodens, des Meeres, der Bergwerke, der Fabrik oder Nähstube nicht mehr erhalten hat, als so viel, um nicht Hungers zu sterben! Indem ich diese Betrachtungen machte, fühlte ich in mir eine Wut und Auflehnung aufsteigen, die diejenige der armen Opfer jener widerwärtigen Ausbeutung übertraf, bis ich zuletzt nicht mehr wußte, was unerhörter war, das Sichbescheiden und die Sanftmut des Armen oder die Frechheit der Oligarchen!

Diese acht Tage Ferien gingen für mich in einem Zustand von Mißbehagen und Aufregung vorüber. Ich fühlte tief die Verzweiflung, die mich umgab, und wenn mir Burch nicht die Widerwärtigkeiten anvertraut hätte, die ihn und seine Berufsgenossen niederdrückten, so hätte das Äußere der Straße, das ganze Fischerviertel bis zu dem Aussehen der elenden Hütten, ja selbst bis zur schwülen Luft, die über ihnen lastete, mir ihr Elend verraten.

Die Drehorgeln und die mechanischen Klaviere der meiner Wirtschaft benachbarten Schenken, die Musikmühlen, die mich so häufig gehindert hatten zu schlafen und mir während der Sonntags- und Montagsnächte Flüche entlockten, begleiteten nicht mehr die Belustigungen der derben Tänzer, die miteinander oder mit ihrer Liebsten im Arm umhersprangen. Mehr denn je hielten sich die fremden Seeleute in einem Haufen für sich. Jede Gebärde, jedes gleichgültige Wort der sonst so friedfertigen Ostender atmete Feindschaft, Herausforderung und Haß. Heftige Wortwechsel waren jetzt an der Tagesordnung, und die Streitenden warteten nicht mehr auf nächtliche Stunden und einen entlegenen Winkel, um handgemein zu werden, sondern selbst am hellen Mittag mußte die Polizei eingreifen, um Schlägereien zu schlichten und Faustkämpfer sowie Messerhelden zur Wache zu bringen.

In der neuen und vornehmen Stadt, auf der eleganten Deichpromenade hatte man keine Ahnung von diesem Gären voll dunkler Vorbedeutung, kaum daß ein Echo jener Raufereien zum Gegenstand der beiläufigen Unterhaltungen an den Mittagstafeln der Gäste wurde oder sich in den alltäglichen Strandklatsch mischte. Ein herrliches Wetter trug dazu bei, die elegante Welt in ein üppiges Wohlbefinden und eine vegetative Ruhe zu wiegen. Die Hitze war in diesem Jahr so stark, daß sie überall anderswo, als am Meeresstrand, unerträglich wurde. Niemals, so weit die schwer zu befriedigenden Ostender denken konnten, war die Saison derartig einträglich gewesen. Die Gasthöfe, Villen und Logierhäuser waren von Badegästen überfüllt.

In den Stunden der eleganten Schaustellungen auf dem Strand vor dem Viereck des Badeplatzes gab es eine blendende Entfaltung von hellen, voll Geschick in eine reizende Unordnung gebrachten Toiletten, bot sich eine ganze Auslese von Berufsschönheiten aller Länder der Erdkugel den Blicken dar, die in sichtbar zur Schau getragenen Liebeständeleien ein Schwarm junger Dummköpfe von unerträglichem Hochmut und unleidlicher Geckenhaftigkeit umflatterte.

An den Abenden war man damit beschäftigt, im Kasino zu tanzen und leidenschaftlich zu spielen. Die bunt zusammengewürfelten Konzertprogramme im Kursaal brachten den Abonnenten der Opernhäuser und Italienischen Oper die großen Erfolge des verflossenen Winters in Erinnerung; Richard Wagner wechselte mit Delibes, und der Tanz aus den »Meistersingern« buhlte mit den Pizzicati aus »Silvia«.

Indessen faulenzten und feierten die Fischer in größerer Zahl als sonst. Sie setzten eine gewisse mürrische Großtuerei darein, den Asphalt des Wandelplatzes für sich in Anspruch zu nehmen, und legten mit finsteren Gesichtern, ohne sich von der Stelle bringen zu lassen, Beschlag auf die bequemen Bänke, die für das Nichtstun der Spaziergänger der feinen Welt vorbehalten waren.

In der Straße begrüßte sich die umherschlendernde Jugend nicht mehr mit der gewohnten Gutmütigkeit und den üblichen Späßen oder mit jenen groben, aber herzlichen Zurufen, die von Rippenstößen begleitet wurden, und die ihre guten plebejischen Gesichter breiter auflachen und fröhlicher erstrahlen ließen. Am Kanal, am Fuße des Dammes hatten die Bootsleute aufgehört, ihre Fahrzeuge und ihre guten Dienste den alltäglichen Spaziergängern auf den Deichpromenaden anzubieten.

Wenige Ostender Barken stachen jetzt in See. Der Umsatz des Hafens und der Fischhalle wurde nur vom Ausland aufrechterhalten.

Ich erinnere mich besonders eines schmerzlichen Gegensatzes dieser Totenruhe des Marktes an einem Regattatage. Die Vergnügungsjachten, die aus Dover kamen, stolz, tadellos, neu angestrichen, die Luxusboote, die die Hafeneinfahrt bevölkerten, von der aus so viele der Arbeit geweihte Schaluppen Ostendes auszogen, den drohenden Schiffbrüchen entgegen, waren, während die Kanonen ihre Begrüßungssalven donnerten, mit ihren weißen, wie das Vorhemd eines Dandy schimmernden Segeln, wie Ballschuhe glänzenden Kielen, erschienen und ließen vielfarbene Wimpel wie keck gebundene Krawatten vom Mast herabwehen. Diese Amüsierflotte, diese Besatzungen von Amateurseeleuten, diese Dilettanten der Schiffahrt zogen an den leeren, runzeligen Barken der Ostender Fischer vorüber, an streikenden Fischerbooten, die, weit davon entfernt, sich in festlichem Aufputz zu ihrem Empfang aufzutakeln wie zur sonstigen Kirmeszeit, sogar ihre Flaggen eingezogen oder ganz herabgeholt hatten.

Die Kirmes von Ostende, die mit den Festen der eleganten Welt zusammenfällt, verlieh dem Viertel der Fischer immerhin ein Aussehen von wilder Freude und Bewegtheit. Bei den Wirtsleuten, meinen Nachbarn, wiederholten die Musikautomaten unaufhörlich ihre Schleifer und langweiligen Quadrillen. Aber diese Fröhlichkeit hatte einen falschen Klang; es schien einem, wenn man die Tänzer und Trinkenden in Augenschein nahm, daß diese nur eine Abwechslung suchten, um sich einmal gründlich durch ein ungestümes Abendmahl zu betäuben, ehe sie zu einem, wer weiß welchem Golgatha hinansteigen mußten. Ich hatte die Mitsus seit mehreren Tagen nicht gesehen. Die Abwesenheit von Burch beunruhigte mich besonders. Die Nacht von Sonntag auf Montag während der Kirmes war die letzte meines Aufenthaltes in Ostende, und mein treuer Gefährte, den ich davon unterrichtet hatte, gab trotzdem kein Lebenszeichen von sich. Nachdem ich vergeblich an unserer gewöhnlichen Zusammenkunftsstelle gewartet hatte, machte ich mich auf die Suche und stieß endlich auf ihn beim Herauskommen aus einer Schenke, in der Musik spielte. Er war von seiner Braut, einer blonden Garnelenfischerin, begleitet, die er mir schon im vergangenen Jahr vorgestellt hatte; ihre üppige und gesunde Erscheinung hatte damals mein Herz erfreut. Jetzt fiel mir an ihr das hungrige und verwahrloste Aussehen einer Arbeitslosen auf. Das Elend hatte ihre rosigen und vollen Wangen ausgehöhlt, und Falten, die wie tiefe Kerben waren, sprachen von vielen brotlosen Tagen. Nur mit großer Mühe gelang es mir, die traurige Überraschung zu verbergen, die mir diese Wandlung verursacht hatte. Burch schien mehr als sonst getrunken zu haben und war durch mein Erscheinen zuerst verwirrt.

»Nun,« sagte ich mit einem Vorwurf in der Stimme, »was ist mit Ihnen? Man faulenzt, man hat sich ans Streiken gemacht, somit ...«

»Ach, Herr,« rief er erregt, »alles ist verloren, alles ist aus ... Ich kenne mich selbst nicht mehr, und ich weiß nicht, was sie noch aus mir machen werden! ... Nein, Sie können sich das gar nicht vorstellen, was sie alles erfinden, um uns auszuhungern. Sie haben sich jetzt nichts Besseres ausdenken können, als ein paar Reichen aus Antwerpen zu erlauben, sich zusammenzutun, um uns Konkurrenz zu machen und uns, den armen Teufeln, die letzte Verdienstmöglichkeit zu nehmen. Diese fremden Eindringlinge besitzen eine Schindmähre von Dampfschiff, das auf einmal hundert Personen an Bord nehmen kann, so daß jetzt alle Liebhaber von Seefahrten es aufgegeben haben, sich unserer Segelboote zu bedienen. Was sollen wir also unnütz unsere Zeit am Deich verlieren? Sehen Sie, da ist es besser, denk ich, die Sache gar nicht erst mit anzuschauen, denn die Wut macht einem das Blut kochen; und so wahr es einen Gott gibt, würden wir, von dem einzigen Bedürfnis getrieben, Dinge kurz und klein zu schlagen und vielleicht selbst Menschen anzugreifen, uns zu irgendeiner Gewalttat hinreißen lassen. Darum werden Sie mich nicht mehr auf meinem Posten sehen. Der Herr ist uns treu geblieben, das ist wahr, aber es sind unsereins viele, und da er uns nicht allesamt mieten kann, so wollte ich nicht der einzige sein, der ...«

Er beendigte seinen Satz nicht, wurde ganz verlegen und errötete, da er zu befürchten schien, sich seiner Entsagung und rührenden Treue gerühmt zu haben.

Der edle, treffliche Junge! Aus diesem Grund also mied er mich, so daß ich ihn nirgends wiederfinden konnte.

»Armer, armer Burch!« murmelte ich.

Ich fand keine anderen Worte, so zum Zerspringen voll war mein Herz von dem Wunsch, sein ganzes Wesen mit meinen Gefühlen zu umfassen.

Am vorangehenden Tag schon hatte das fatale Dampfboot, über das sich die Bootsleute von Ostende beklagten, mein Mißfallen erregt; doch wenn auch meine ästhetischen Gefühle durch diese ebenso erfinderische wie abscheuliche Maschine verletzt worden waren, auf der die den Zeitläuften nicht Rechnung tragenden Bürger wie auf dem Verdeck von einem Omnibus zusammengepfercht saßen, so bemächtigte sich meiner ein wahrer Haß, als ich erfuhr, daß der scheußliche Kasten sich nicht nur gegen die Größe und Harmonie des Meeres vergriff, sondern auch noch dazu diente, diese sympathischen Arbeiter, die meinem Herzen besonders teuer waren, auszuhungern.

»Armer, armer Burch!«

Ich mußte nur immerzu diese Worte wiederholen, ohne mich entschließen zu können, die Hände meines Freundes loszulassen, und schaute dabei tief in seine blauen Augen, um mich für alle Zeiten durch den Abglanz seiner schönen Seele in Bann schlagen zu lassen.

Hatte mich schon die Trennung im vorigen Jahr so viel gekostet, um wieviel empfindlicher war mein Schmerz heute, denn er wurde durch eine wirkliche Gewissensangst um meinen Lieblingsgefährten gesteigert. Ich hatte das Empfinden, daß er vor mir die düstersten Aussichten verhüllte, um mich nicht in Unruhe zu versetzen. Ich ging zu Bett, konnte jedoch nicht schlafen; die ganze Nacht verfolgte mich das Bild von Burch wie die Erscheinung eines schon beweinten Freundes.

In der benachbarten Gastwirtschaft nahm ein Akkordion immer wieder dieselben kläglichen, einen Tanz vorgaukelnden Weisen auf, eine trügerische Polka, wie jene, die Burch in dieser Nacht getanzt haben mußte.

Warum nur trugen mich die Klänge dieses vorstädtischen Musikinstrumentes in die legendenhaften Zeiten des Kerlingalandes zurück? Zuweilen glaubte ich, den gefühlvollen und kriegerischen Dudelsack der Ureinwohner zu hören. Außerdem bestand noch ein anderer, eindrucksvollerer und zeitgemäßerer Zusammenhang: ein Riß in dem Blasebalg des Akkordions verursachte ein klagendes Ausströmen der Töne, und in regelmäßigen Abständen, sobald die durchlöcherte Stimme angeschlagen wurde, entwich der Klang wie ein Röcheln, als ob aus einer durchschossenen Lunge das Blut mit den letzten Atemzügen hervorquoll.

Um diese Besessenheit noch zu verstärken, knallten auf dem nahen Jahrmarktplatz Raketen, Feuerwerkskörper und Gewehre. Ich kam darauf, mir den letzten Abend mit Burch auf dem Deich, am Strand des eifersüchtigen Meeres, während der Ferientage des vergangenen Jahres in die Erinnerung zurückzurufen, als mir die leuchtenden Wogen den fernen Knall von Schüssen einer Kompagnie vorgegaukelt hatten. In dieser Nacht schienen mir die Entladungen jener dunklen Schießerei bedeutend näher gerückt zu sein im Vergleich mit damals, und es war mir, als jammerte das Akkordion nach jedem Schuß, als wimmerte es, durch seine Wunde furchtbar beklemmt und dem Ersticken immer näher, nach dem Gnadenstreich.



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