Autorenseite

   weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

 

Onse vorderen waren vri,
En vri so bliven wi,
So lanc een hert dat lafheid haet
In eenen Kerlenboesem slaet.

Das Lied der flämischen Kerle.)

 

[I]

Früher brachte ich jeden Sommer einige Tage in Ostende zu, nicht etwa des »guten Tones« wegen und um unter den Reichen und den ständigen Genießern eines eleganten Badeplatzes genannt zu werden, sondern lediglich, um in den gesunden Dunstkreis des Weltmeeres unterzutauchen und mich mit der lebensstarken Poesie der Seelandschaft vollzusaugen.

Für mich ist unsere westflandrische Küste immer noch das wilde Kerlingaland der ersten Jahrhunderte, das die normannischen Piraten zurückschreckte und sich lange voll leidenschaftlicher Freiheitsliebe dem Joch der »Isegrime«, der mittelalterlichen Gewaltherrscher, entwand.

In unserer Zeitneige werden in Ostende während der Saison die Isegrime durch einen Schwarm von Kosmopoliten, Bankmännern, deutschen Juden, Kokotten, Unternehmern in Gesellschaftskleidung und Schlauköpfen höheren Ranges verkörpert. Die schlimmsten Isegrime wohnen jedoch auf die Dauer im Lande selbst und heißen Reeder, Fischhändler, Fischmakler, für die unsere armen Seefischer, die flämischen Kerle von heute, das Geschlecht sind, das auf Gnade und Ungnade steuer- und tributpflichtig zu sein hat.

Die gewaltigen Badehotels, die Strandvillen mit fremden und buhlerischen Namen, in denen die dicken Geldsäcke absteigen, gefallen mir ziemlich gut, unter der Voraussetzung, daß ich sie von voller See aus genießen darf; die Entfernung verwischt dann den kleinlichen Zierat und das bauliche Flickwerk der gangbaren Architektur und enthüllt dem Auge nur die riesigen Formen und großen Linien, die in einer fast imponierenden Weise den Anblick der festen Erde begrenzen.

Doch selbst wenn ich die Mittel dazu gehabt hätte, würde ich mich wohl gehütet haben, mich in diesen mehr oder minder prächtigen Palästen überteuern und rupfen zu lassen. Nein, ich stieg in irgendeinem kleinen Gasthof des einheimischen Viertels ab, der eine Verbindung von einer flämischen Herberge und einem englischen Boardinghouse war. Mit seiner ockergelben Front, jedes Fenster, hinter dem das Geranium, jene durch und durch gutmütige Blume, scharlachrot leuchtet, mit einem grünen Lattenwerk verziert, erweckt dieses Haus das Bild insulanischer Würde, gemildert durch herzliches Wohlwollen. Im Innern glänzt alles in jener besonderen Sauberkeit, die Kriegsschiffen eigen ist. Zwischen den Pfeilerspiegeln des »Dining-room« wechseln in regelmäßiger Reihenfolge riesengroße Taschenkrebse mit den Reklamen der großen »Steamer«-Linien ab und bilden in ihrer ganzen Formlosigkeit einen Gegensatz zu den eigensinnigen Babygesichtern und den in Buntfarbendruck verherrlichten schönen Misses der Weihnachtshefte.

Ich pflegte dagegen mit Vorliebe das Vorderzimmer, die Schankstube selbst aufzusuchen, die noch viel ortseigentümlicher und anheimelnder war. Über dem funkelnden Zink der Schenktafel lasten die Regimenter der »Pinten« verschiedenen Kalibers in langen Reihen, blankgeputzt und in Erwartung einer Mobilisation für die Schlachten in Ale und Stout. Kalte Hammelkeulen und Roastbeefs, staunenerregende Schweinsschinken von York, majestätisch wie die Queen Victoria selbst, leuchten blutrünstig unter den Glasglocken, die wahre Pantheonkuppeln sind, und von Zeit zu Zeit sieht man die Frau Wirtin, eine britisch angehauchte Ostenderin mit der Gebärde einer gezähmten Menschenfresserin, nachdem sie ihr Messer gewetzt hat, von jener Fülle eine breite Scheibe lossäbeln, die der Schiffskapitän, der Janmaat einer Schaluppe, der Jachtenbesitzer, der Postdampferpassagier mit gierigem Auge anlugen.

O, diese gemütliche und leckere Herberge!

Dabei das angenehme Ein und Aus der Menschen des Meeres, von dem kleinen pausbackigen Milchbart, dem Schiffsjungen an, bis zum rauhhaarigen Untersteuermann, die sich alle mit schlenkernden Armen im Schaukelgang hierhertrollen. Franzosen aus Dünkirchen, welche in weitabstehenden, bis an den Hintersten reichenden Krempenstiefeln herangestapft kommen, in losen, Hals und Brust entblößenden Kleidern von einem zweifelhaften Weiß, geriefelt mit Klebrigkeit, auf dem Kopf eine Art Zipfelmütze, Träger von Namen, die wie Fanfaren biblischer Hörner klingen: Marie-Saint-Esprit-des-Anges! Engländer in Dunkelblau, mit dem Barett halb im Nacken, weniger zum Prahlen aufgelegt und sauberer, aber mürrisch und eigenwillig; und schließlich die Fischer von Ostende in eigener Person, von sanftem Aussehen und sanften Gebärden, hübsche Burschen, die besten Kinder auf Gottes Erde, dabei etwas unsicher und linkisch, so daß sie fast mitleiderregend wie Tölpel wirken in dieser internationalen Schenke, in der ihre Konkurrenten aus Grimsby und Ramsgate, die von ihrer Regierung ganz anders als unsere belgischen Seeleute geschützt und gefördert werden, sich benehmen, als wären sie »at Home«.

Aus gewissen Betonungen, Blicken und der Art, wie sie ihre Gläser leeren, was oft einer Herausforderung ähnlich sieht, fühle ich mehr als einmal, daß sich Faustkämpfe und Messerstechereien von Tisch zu Tisch spinnen.

Obwohl unser Baas, ein großer Teufel von Inglischmann, ein früherer Freibeuter, der noch etwas Schmuggler geblieben, selbstverständlich auf seiten seiner Landsleute steht, versteift er sich auf Unparteilichkeit und würde nötigenfalls einen jeden Angreifer, ungeachtet der Person, hinausbefördern, so daß Prügeleien, die hier im Dunstkreis des Hopfens und des Alkohols ausgebrütet werden und aufwachsen, in der Regel nur außerhalb, und zwar viel weiter weg und viel später zum Ausbruch kommen.

Inzwischen fließen die Stunden glückselig dahin im Glanz einer vokalen und choreographischen Unterhaltung. Song and dance! Das sind Vorstellungen, zu denen die Fremden ausschließlich beitragen. Da gibt es Romanzen von einem Vergißmeinnichtblau, die mit der Hingabe einer ersten Kommunikantin von bärtigen, ungeschlachten Maaten gesungen werden, die an Bord Flüche von sich geben, beißender als ihre Priemchen und reichlicher als ihr Speichel! Und die Bourrées! Und die »Bagpipes«, die englischen Dudelsäcke! Je verwirrender die Füße des Tänzers, eines derben Schiffsjungen, stricken, umso ernster wird sein Gesicht und überzieht sich zuletzt mit wer weiß was für einem Ausdruck von Sehnsucht. Und wenn er seine Vorstellung beendet hat, macht er sich daran, mit einem Lächeln für die Waisen eines Alten zu sammeln, der den großen Zug getrunken hat, oder er versucht ganz einfach – wahrhaftig, er hat recht es einzugestehen, das Geld wird darum nicht weniger reichlich in sein Barett fließen – zugunsten der Schiffsmannschaft auf dem trocknen die Runde zu machen.

All diese fernen Abende, diese schweigsamen Abende der Vergangenheit am Meeresstrand beim Rauchen und Trinken, während man beobachtend, zuhörend dasaß und sich köstlich ängstigen ließ wie in einem Traum! Die seelige Betäubung nach dem Baden und den Ausflügen des Tages! In der offenen Tür taucht, wie in einen Rahmen gestellt, der immer dunkler werdende blaue Samt der Nacht auf, oder das Rubinlicht eines Feuers an der Mastspitze, das neben dem Brillant eines Sternes funkelt ... Good night! Die Matrosen trollen sich langsam davon, und ihre schleppenden Schritte hört man sich taktmäßig ins Weite verlieren. Aber abseits, in der Dunkelheit der äußersten Hafendämme oder in dem letzten Hafenbassin, das dem Spektakel und Lärm der Nachtbummler offen steht, entlädt sich der Kampfruf der alten Kerle: Harop! Harop!

Unter der Äußerlichkeit des schwerfälligen und gleichmütigen Flamen von heute taucht der teure unruhige Geist der alten Gemeinden auf. Nehmt euch in acht, ihr Engländer; du, Schmachtliedgirrer, und du, Giguenstampfer! ... nehmt euch in acht! Harop! Harop!

Am Morgen, beim Öffnen meines Fensters, beschaue ich die nebeneinander in langer Reihe liegenden Fischerboote, die sich wie fröstelnd aneinanderschmiegen und an der Spitze ihres Mastes eine kleine Fahnenzunge flattern lassen. Etwas später sind sie wie durch einen Zauber entschwunden. Das Hafenbecken liegt verödet da. Nicht eine einzige Barke ist geblieben. Sie haben geschwind ihre Segel entfaltet und sind in Zügen weggeschleppt worden bis zur Hafenausfahrt; sie haben während der Flut das Meer wieder erreicht. Dafür werden sie in einigen Stunden, unter der Bedingung, daß das Meer gnädig ist, alle wieder zum Hafendamm zurückgekehrt sein. So fliegen Tauben aus und schweifen gemeinsam in Himmelsweiten.

Vor mir erhebt sich das Gebäude der Fischhalle, dessen Glocke ihre regelmäßig wiederkehrenden Rufe erklingen läßt, die wie ein langes Avegeläut anmuten. Die immer mit durchdringenden, jedoch gesunden Gerüchen durchtränkte Fischhalle fließt von Gaben des Meeres über, die sich in Austernkörben und Korbwagen häufen und vom Hafendamm durch Schiffsjungen und sehnige Fischhändler in Karren herangefahren werden. Die Fischwagen warten indessen auf einem Geleise, das mit dem Bahnhof in Verbindung steht, bis der Augenblick gekommen ist, da sie diese ganzen Fischmengen den gefräßigen Bewohnern des festen Bodens hintragen werden. Wenn sie leer sind, was zum Beispiel an Sonntagen und an den Abenden der Fall ist, dienen diese großen Eisenbahnwagen als Schauplatz für die herrlichen Versteckspiele der Hosenmätze und kleinen Mädchen, die wie die Eltern aufgeputzt sind, jener rotwangigen und rundlichen Erben einer äußerst fruchtbaren Menschengattung. Als künftiges Futter der Fische versuchen diese lachenden Bengel schon, den schaukelnden Gang eines Seebären nachzuahmen! Wie viele von diesen munteren kleinen Schelmen werden auf dem Festland sterben? Denn die See ist lange nicht immer die schmeichelnde Katze, die mit ihren Schaumzungen die schönen Damen der wundervollen Sommermonate liebkost und umspielt.

Sie ist auch lange nicht die hochherzige Ernährerin jener, die sie über ihre Abgründe lockt; im übrigen hätte sie gut ihre wundersamen Fischzüge vergeuden können, so viel sie wollte, das Beste davon, fast der Gesamtbetrag des ganzen Gewinns, füllt die Geldkästen der gierigen und habsüchtigen Makler.

Wie groß sind die Ängste, wenn die See ihre dunklen Zornausbrüche hat und wenn sie sich wie eine Gebärende hin und her wirft, denn ihr Wochenbett bereitet Trauergepränge vor, anstatt Geburten zu künden! Wie glücklich fühlen sich die Ostenderinnen, wenn niemand fehlt, wenn alle Barken in den Hafen zurückgekehrt sind! An diesen Tagen der Angst sind Legionen auf dem Hafendamm; die Frauen spähen den Himmelsrand nach dem Segel des Vaters, des Gatten, Bruders, Verlobten und des geliebten Sohnes ab. An solchen Tagen stecken die Schornsteine der baufälligen alten Häuschen zur Mittagszeit keine lustigen Rauchfahnen auf. Und die letzten Taler, die dazu bestimmt waren, den Hunger zu täuschen, schmelzen dahin, um die Ängste in den Wirtsstuben der Schenken einzulullen! An diesen Tagen hat auch der Kinderschwarm, der an den Röcken der Hausmütter hängt, weinerlich klagt und leeren Magens ist, keine Lust zum Spielen.

Und als ob die Stürme nicht emsig genug zu Werke gingen, um die dichte Bevölkerung durchzusieben, fahren ab und zu der Typhus, die Cholera und die Pocken mit einem kräftigen Besenhieb in das Gewimmel der Unglückseligen, denen man, wenn man sieht, wie schwer sie leiden, nichts Besseres glauben dürfte wünschen zu müssen, als daß sie eines Tages ein für allemal ausgelöscht würden! Dennoch beginnt hier das wuchernde Wachstum immer von neuem. Und für einen Schiffbrüchigen gibt es stets sechs Säuglinge. Der Vater betritt oft das Nachtreich der Wassertiefe, ehe sein Jüngstes das Tageslicht erblickte. Jeden Sommer entfalten die auf den Fensterbänken der elenden Hütten aufgepflanzten Geraniumstöcke nicht eine Blume weniger als sonst, und die Haushalte zählen stets dieselbe Zahl von kleinen Kindern!

Die Greise auf den Türschwellen scheinen ebenso zahlreich wie die Mütter und Kinder, und man muß annehmen, daß die See hauptsächlich nach Männern in ihrer Lebensblüte giert. Die Witwen mehrerer Ehemänner können Kinder aus verschiedenen Betten vorzeigen, Waisen verschiedener Stürme, möchte man sagen. Der letzte Ehegemahl ist häufig kaum viel älter als der älteste Sohn!

Die vielen Streifzüge in den kleinen Schiffergassen, die so häßlich, ach ja, so schmutzig und so eng, aber dennoch so malerisch belebt sind! Und das Bild der zierlichen Stadt mit bunten Häusern wie aus Nürnberger Spielzeugkästen, das der »Quai des Pêcheurs« bietet, wenn man ihn von der Ebene aus, die den neuen Leuchtturm umgibt, betrachtet!

Ich bleibe vor den Verkaufsständen der Krambuden stehen und bewirte die kleinen lungernden Bengel, denen die Lüsternheit nach leckeren Dingen die Augensterne weitet, mit einem Pfund schwarzer oder spanischer Herzkirschen. Die Gevatterinnen schöpfen Luft an der Schwelle ihrer Haustüren, bessern Netze aus oder stricken eine jener Jacken für die Männer, die aus blauer Wolle und ohne Naht sind – wie das Untergewand unseres göttlichen Herrn und Meisters – und sich eng um den gewölbten Rumpf schmiegen. Und die vielen Dämmerungsstunden, die ich im Anschauen dieses Fischerufers verbrachte mit seinem ewigen Wechselspiel von Abfahrt und Ankunft der Seeleute!

Wollte man sie nach ihrer äußeren Erscheinung beurteilen, so würde man diese kräftigen Tolpatsche für die trägsten Arbeiter des Erdenrundes halten. Sie führen ihre großen, phlegmatischen und kraftstrotzenden Körper an den Kais und Hafendämmen spazieren, oder liegen der Länge nach auf dem Bauche, starren in die Wolken und forschen in der fernsten Ferne des Himmelsrandes nach den Segeln der Kameraden. Einzelne von ihnen sind von einem ziegelfarbenen Braun, andere haben Gesichter, die dunkelgebrannt und wie in Holz geschnitzt sind; fast bei allen ist die Haut ebenso derb wie das Schwarzbrot, das sie essen. Sieht man sie miteinander scherzen oder unbeweglich eine ganze Ewigkeit über ihrem Glas Bier sitzen, so wäre es leicht möglich, sich über ihre Tatkraft und Regsamkeit zu täuschen.

Während der Saison lauern diejenigen von ihnen, die durch den Fischfang nicht in Anspruch genommen werden, am Hafendamm auf das Vorbeikommen der Fremden, um ihnen eine Seelustfahrt in einem jener kleinen Segelboote anzubieten, die in der Bucht am Fuße der von Seetang angefressenen Pfähle ankern. Neunmal in zehn Fällen geht der Spaziergänger vorüber und fühlt sich belästigt. Ich selbst habe zu Anfang diese bescheidenen Unternehmer kaum beachtet und hörte mit Ungeduld ihre Aufforderungen, die sie in einem verfänglichen Französisch kauderwelschten:

»Ein gutes Bris' für eine kleine Seefahrt, Herr? ... Ein gutes Boot und ein gutes Matros, Herr? ...«

Eines Tages jedoch drückte das Gesicht von einem jener braven Jungen eine so beschwörende Bitte aus und zeigte solchen Verdruß bei meiner Ablehnung, daß ich, schon im Begriff weiterzugehen, einwilligte, seine Nußschale zu mieten. Er wrickte sein Fahrzeug, bis wir aus der Hafeneinfahrt herausgekommen waren. Darauf machte er sich an die Arbeit, seinen Mastbaum hochzuwinden und das Segel zu hissen.

Mein Schiffer war ein großer, hellhaariger Bursche mit ziegelbrauner Haut, starkgliedrig und kräftig wie ein reifer Mann, obgleich er noch nicht das Alter eines Militärpflichtigen hatte. Die vollen und träumerischen Lippen, um die zuweilen ein trotziger Zug spielte, enthüllten ungewöhnlich weiße und gesunde Zähne. Aus seinen blauen Augen, die jenes tiefe und einlullende Blau der warmen Julinächte hatten, quollen mitteilsame Blicke. Das offene und reine Gesicht des Jungen mit seinem einschmeichelnden und gutmütigen Ausdruck stand in einem Widerspruch zu seiner achtunggebietenden Schulterbreite und der Wölbung seiner Armmuskeln. Die Enden seiner Wolljacke waren in die enganliegenden Hosenschlitze eingestopft; ein gelber Riemen gürtete seinen Leib; auf dem Kopf saß, etwas nach hinten zurückgeschoben, die kleine Mütze der Ostender Seeleute. In dieser Ausstaffierung offenbarte er durch seine Bewegungen ungebundene Freiheit, Sicherheit und wirkliche Anmut. Obgleich ich für das einfache Volk schon immer eine Vorliebe hatte, gefiel mir dieser Junge doch noch ganz besonders.

Ich ließ mich auf ein Gespräch mit ihm ein, und es hatte den Anschein, daß er meine Zuneigung erriet und ich ihm Vertrauen einflößte, denn er teilte mir schon während der ersten Fahrt eine Menge Einzelheiten über seine Person, seine Angehörigen, seinen Stand und seinen Beruf mit.

Er hieß Burchard, oder eigentlich, kurz und vertraulich genannt, Burch Mitsu, war der zweite von fünf Brüdern, von denen der nur um zwei Jahre ältere, ein mustergültiger Fischer und Seemann, bei der Hochseefischerei Anstellung hatte und sich, wie die Seeleute, von Painpol bis Grönland, von Neufundland bis Island zu jeder Schellfischzeit auf Fischfang begab. Burch pries diesen älteren Bruder mit einer begeisterten Bewunderung und träumte davon, einmal in seine Fußtapfen treten zu dürfen.

Inzwischen machte er seine Lehrzeit an Bord eines jener Fahrzeuge durch, die den Küstenfischfang betreiben. Ich hatte meine Freude daran, den guten Jungen von sich und seinen Leuten reden zu hören. Er erzählte mir mit so viel Natürlichkeit von ihren Mühen und Gefahren, von ihren lächerlichen Gehältern, von den Sorgen, welche seine Mutter, die Witwe geblieben war, mit all den jüngeren Brüdern und Schwestern hatte, einer wahren Nestbrut und ganzen kleinen Welt, die man füttern und bewahren, mit Holzschuhen versehen und in guter Gesundheit halten mußte, er sprach mit einer solchen Hingabe, einer für den Zuhörer dieser vertraulichen Einzelheiten so wohltuenden Wärme, daß ich nicht müde wurde, ihm zu lauschen. Während er redete, hantierte er am Mast und am Segel. Seine stolze Gestalt zeichnete sich scharf von der Unendlichkeit des Landschaftsbildes ab. Mehr als einmal erinnerte ich mich, während ich ihm zuhörte, jener Stelle in Goethes Werther, wo dieser von dem Eindruck spricht, den auf ihn ein Liebesidyll machte, das mit der ganzen Betonung der echten Leidenschaft von einem Dorfburschen erzählt wurde, der der Held dieser Geschichte war. Die männliche und sanfte Sprache war wie erfüllt von einer Erkenntnis der Pflicht, die in ihrem höchsten Sinn erfaßt worden war, und alles, was er sagte, klang nach einer schlichten Innigkeit, die jenen warmen und überquellenden, einfachen Herzen aus dem Volk, jenen jungfräulichen und fast kindlichen Naturen von ursprünglicher Denkfähigkeit, sicherem Gefühl und edelmütiger Veranlagung eigen ist, denen niedrige Handlungen, Verrat und Treubruch immer unbekannt bleiben werden.

Hier habe ich einen vor mir, sagte ich mir, den es schwer, aber zugleich auch gefährlich sein würde bis zum Äußersten zu treiben! Einmal aus dem Gleichgewicht geraten, würde er niemals zu sich zurückfinden.

Ich fühlte mich diesem Gefährten immer mehr verbunden und wiederholte häufig meine Ausflüge an der Seeküste entlang bis Knocke auf der einen Seite und La Panne in der anderen Richtung.

Die Gewohnheit, ihn um mich zu sehen, wurzelte sich derartig bei mir ein, daß die Vormittage, an denen ich durch einen Zwischenfall daran verhindert wurde, mit ihm hinauszusegeln, eine Leere in meinen Tag brachten. Manchmal wurde er auch durch andere Kunden in Anspruch genommen, und ich sah mich gezwungen, mehr um ihm eine Freude zu bereiten, als aus besonderem Vergnügen daran, ein anderes Boot zu mieten und mich mit den Diensten eines seiner Kameraden zu begnügen, den mir der biedere Junge empfahl. Ich habe selbst nach und nach die Beobachtung gemacht, daß mein junger Freund diese Gelegenheiten einzurichten wußte, um einen seiner weniger glücklichen und bedürftigeren Wettbewerber aus seinem unverhofften Fund Nutzen ziehen zu lassen. Wohl keine Art angeborenen Zartgefühls dürfte ihm fremd gewesen sein. Ich hatte mich übrigens niemals über seine Vertreter zu beklagen. Es waren tüchtige Seeleute wie er, die, weit davon entfernt, wie das in diesen Zeiten des bitteren Daseinskampfes allgemein üblich ist, ihrem Gefährten die Kundschaft wegzuschnappen, oder ihn herabzusetzen, »anzuschwärzen«, um sich dadurch selbst besser in Geltung zu bringen, über Durch nur das Beste sprachen, seine Tüchtigkeit im Beruf lobten, bestätigten, was ich über seine sympathische Familie wußte, und den guten Jungen selbst in bezug auf gewisse Züge in seinem Charakter, die ihn seine Bescheidenheit gehindert hatte zu offenbaren, überboten.

In diesem Jahr, noch mehr als sonst, blickte ich dem Herannahen des Endes meiner kurzen Mußetage mit einem Gefühl der Traurigkeit und Besorgnis entgegen.

Die See fesselt und beglückt mich so, daß ich sie niemals anders verlassen habe, um nach dem großen Schmelzofen der Stadt zurückzukehren, als unter einem schmerzlichen Zusammenkrampfen meines Herzens. Und fast bis zu hellen Tränen verzweifelt, die Nase an die Scheiben gedrückt, sehe ich jedesmal vom Zug aus die Umrisse des Leuchtturms hinter der Umfassung der vom Westwind seitwärts geneigt dastehenden Bäume versinken!

Jetzt, da ich eine Seele gefunden hatte, die so trefflich der Gegend entsprach, die mein ganzes Entzücken hervorrief, ein Wesen, das mit dieser heimatlichen Natur so ganz im Einklang war, fiel mir das Abschiednehmen noch schwerer. Wie herrlich eine Gegend auch sein mag, – bin ich doch der Meinung, im Gegensatz zu einer großen Anzahl ländlicher Misanthropen und menschenfeindlicher Bewunderer der Landschaft, daß der Mensch ihr eigentlicher Mittelpunkt, ihr wahrer Brennpunkt bleibt. Oft genügt ein menschliches Wesen, ein richtig eingeborenes Geschöpf, um den Ausdruck eines Landes zu verdichten und zusammenzufassen und uns sogar eine Rasse mit dem ganzen Nachdruck und der Großartigkeit eines Symbols zu verdeutlichen.

So verkörperte mir, ich will es nochmals betonen, dieser einfache Arbeiterjunge – der sich dessen niemals bewußt geworden ist, welche Bedeutung er in meinen Augen besaß –, das geheimnisvolle und ewig junge Weltmeer und den stoischen und unerschrockenen Beruf des Seemanns. Geschlechter von erlesenen Schiffbrüchigen lebten wieder auf und sprachen aus der Entfaltung dieser blonden Jugend. Dieser arme Teufel, dieser Paria stand auch in einer Wechselbeziehung zu dem flämischen Vaterlande, und durch seinen Gesichtsausdruck, der zugleich entschlossen und ruhig, männlich und rührend war, vergegenwärtigte ich mir das Aussehen jener Kerle, jener »Blaufüße« Flämisch »Blonwvoer«, eine Möwcenart und ehemalige Benennung der Kerle., die der Schrecken der Isegrime und der Normannen waren. Mehr noch als das alles fesselte mich an diesem ärmlichen, ungebildeten Fischer ein geheimnisvoller, unerklärlicher Zauber, den ich mir erst später deuten konnte. Häufig entströmte seinen Gesprächen und seinem Gesichtsausdruck, seinen einfachsten Gebärden und seinem Verhalten beim Manövrieren unseres Bootes, ja seiner ganzen Persönlichkeit, durchaus im Gegensatz zu der Bedeutung und augenblicklichen Tragweite seiner Worte und Bewegungen, ein dunkler Einfluß von nachhaltiger Wirkung. Wenn ich ihm zuhörte und ihn betrachtete, mußte ich – ich hätte nicht sagen können, warum, – an hochherzige Opfer denken, und ich brachte ihn unwillkürlich mit Vorgefühlen in Zusammenhang, die ebenso wehmütig waren wie das Leid über einen Verlust. Ich hatte ihn vor mir, und schon war er mir wie ein Gedenken, ich möchte fast sagen wie eine Legende. Mehr als einmal kam mir dabei der Kehrreim über unsere ältesten Vorfahren auf die Lippen: »Wir wollen die Kerle singen. Das sind ganz schlimme Lumpen. Sie wollen den Rittern Gesetze machen und tragen die Mützen verwegen!« Heute kann ich mir diese leidenschaftliche Stimme, dieses Wesen, das etwas dunkel Tragisches an sich hatte, dieses seltsame und kündende Licht erklären, das ihn zu gewissen Augenblicken mit seinen Strahlen umwob.

Mein letzter Abend in Ostende begünstigte und verdüsterte in einer eigentümlichen Weise diese geheimnisvoll freundschaftlichen Neigungen. Ich hatte lange mit Burch auf dem Meeresdamm am Fuße des alten Leuchtturms geweilt, ganz in die Betrachtung des Meeres und in seine Musik versunken. Seit Stunden redeten wir kaum mehr etwas. Wir mußten uns zur Heimkehr entschließen. Im Augenblick des Abschiednehmens blieben unsere Hände lange ineinander ruhen: »Also bis aufs nächste Jahr,« sagte ich; »wenn Sie nicht von heut auf morgen einwilligen sollten, sich einmal nach Brüssel zu wagen.«

Aber bei dem Gedanken, sich ins Innere des festen Landes zu begeben, wandte Burch wie als einzige Antwort seine kindlich ergebenen Blicke auf die katzenhafte Bezauberin und lenkte sie dann auf mich mit einem treuherzigen ungläubigen Lächeln, das, viel beredter als Worte, die entschiedene Ungereimtheit dieser Reise in bezug auf seine Person und vielleicht auch auf sein Schicksal ausdrückte.

Die See grollte und sang leise; sie hatte den Anschein, als wollte sie einen Buckel machen. Doch in diesem Augenblick unseres Abschiednehmens erhob sich dort über der leichtbewegten Fläche, fast als würde das herrische Element, das unumschränkte Gewalt über meinen treuen Kameraden hatte, eifersüchtig, eine große Woge und sprang auf uns zu; am Wellenbrecher aufleuchtend und zerstiebend, entlud sie sich wie die ferne Salve einer Kompagnie.



   weiter >>