Ernst Eckstein
Gesammelte Schulhumoresken
Ernst Eckstein

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Ferien.

Gegen Schluß des Semesters tritt in der Stimmung der deutschen Gymnasiasten eine seltsame Wandlung ein. Bis dahin hat er die Knechtschaft des Stundenzwanges mit jener edlen Resignation hingenommen, die der Weise einem unabwendbaren Übel entgegenbringt. Jetzt mit einemmal ergreift ihn ein selbstbewußter, beinahe trotziger Frohsinn. Noch leistet er den Befehlen des Lehrers Folge, aber sein Gesichtsausdruck steht mit dieser äußeren Unterwürfigkeit in schroffem Gegensatze. Auf der lächelnden Lippe schwebt ein unausgesprochenes Wort, das, ins Verständliche übertragen, ungefähr also lautet: »Ich gehorche! Ich stehe unter deiner Botmäßigkeit! Aber der Tag der Befreiung naht auf Sturmesflügeln! Wenn er erscheint, dann wehe dem Grundgesetz deiner Herrschaft!« Strafen, die sonst eine niederschmetternde Wirkung ausgeübt hätten, werden jetzt gleichgültig, ja fast mit offenem Hohn ertragen: der Skorpion des Absolutismus hat seinen Stachel verloren.

Wer in der Völker- und Staatengeschichte einigermaßen bewandert ist, der wird sich erinnern, daß ähnliche Stimmungen von jeher den Verschwörer am Vorabend der Entscheidung beseelt haben. Genau so dachte und fühlte der Neger, der unter Toussaints Führung die Fesseln seiner langjährigen Sklaverei sprengen sollte. Hätten die Plantagenbesitzer von St. Domingo ein deutsches Gymnasium besucht, sie wären niemals von den schwarzen Bataillonen überrumpelt worden. Der deutsche Gymnasiallehrer weiß nur zu genau, was jener Stimmungswechsel bedeutet. Er weiß, daß es die Perspektive auf die Ferien ist, die seiner Klasse so rebellisch die Adern schwellt.

Ferien! Das Wort hat für einen deutschen Gymnasiasten etwas Zauberisches! Schon viele Wochen im voraus wird bis auf den Tag und die Stunde berechnet, wie lange man noch auf den harten Subsellien zu schmachten hat. Die Phantasie eilt der Wirklichkeit in rauschendem Fluge voraus und bevölkert die Zukunft mit den beglückendsten Lichtstrahlen. Man entwirft Pläne; man gelobt sich, die anderthalb Monate diesmal so recht gründlich und nach allen Richtungen hin auszukosten. Man überläßt sich einer poesievollen Zerstreutheit, die sich von Woche zu Woche steigert und zuletzt in die vollendete Träumerei ausartet.

Mir und meinem vielgenannten Freund Wilhelm Rumpf war diese gesteigerte Spannung so unerträglich, daß wir den Freitag und den Sonnabend vor dem Beginn der Ferien jedesmal schwänzten. Zur gewohnten Stunde ergriffen wir unsere Schreibmappen und traten ins Freie. In dem kleinen Tempel der städtischen Promenade, der zu dieser Frist völlig verwaist stand, gaben wir uns ein Rendezvous und beratschlagten, was den Tag über zu beginnen sei. Wenn wir einen Entschluß gefaßt hatten, stellten wir unsere Uhren mit ängstlicher Genauigkeit nach der großen Turmuhr der Stadtkirche und verloren uns dann, halb Kinderspiele, halb Gott im Herzen, seitwärts in die Felder. Ganz besonders entzückend waren diese illegitimen Ausflüge am Schluß des Sommersemesters. Eine prächtige Landschaft, die noch im reichsten Festgewand strahlte, ein tiefblaues Himmelsgewölbe, und auf allen Hügeln und Hängen ein überschwenglicher Segen des köstlichen Obstes, – was brauchten wir mehr, um glücklich zu sein? Die Freude über den wolkenlosen Septembertag paarte sich mit dem Triumphgefühl über die gelungene Entweichung. Jauchzend strichen wir durch die einsamen Nußgärten und füllten uns, dem siebenten Gebote zum Trotz, die Taschen. Gegen zehn nahmen wir in der nächsten ländlichen Schenke einen Imbiß, dessen Mangelhaftigkeit durch den Glanz unserer Gemütsverfassung ersetzt wurde. Eine Stunde später rüsteten wir uns zum Heimweg. Es galt, rechtzeitig in der Behausung einzutreffen, denn die Sache sollte den Anschein haben, als kämen wir direkt aus dem Gymnasium.

Aus diese Weise verbrachten wir den Freitag und den Sonnabend. Wie Leander die Hero, so besuchten wir die Göttin der Freiheit unter dem Deckmantel des Geheimnisses . . . Für kurze Zeit hat dieser verstohlene Umgang einen unendlichen Reiz: auf die Dauer aber sehnt man sich nach dem festen Besitz. So hatten wir denn beim Läuten der Sonntagsglocken gerade genug an dem heimlichen Raube, und wonnetrunken begrüßten wir unser rechtliches Eigentum, – die Ferien!

Wer vermöchte zu schildern, was ein deutscher Gymnasiast beim Beginn der Ferien empfindet! Sechs lange Wochen! Eine Ewigkeit! Freudig blitzenden Auges und stolz erhobenen Hauptes wandelt man umher, als ob man die ganze Welt besäße! Und zwar ist dieses Entzücken um so aufrichtiger und vollständiger, je weiter abwärts wir uns von der Prima entfernen, – vielleicht nur aus dem Grunde, weil die Empfindung von der Länge der Zeit mit der fortschreitenden Entwicklung des Menschen zusammenschrumpft. Dem Quartaner und Tertianer sind diese sechs Wochen in der Tat ein unbegrenzter Spielraum: das jugendliche Gemüt überläßt sich der Illusion, die Frist könne kein Ende nehmen. Der Primaner dagegen hat sich zu oft schon diese sechs Wochen »von rückwärts betrachtet«; die Erfahrung hat seinen Idealismus auf ein minder grandioses Maß reduziert; er weiß die Summe der Genüsse, die ihn erwarten, bereits annähernd abzuschätzen.

In einem Punkte verwerten die Schüler aller Klassen das Privilegium der Ferien gleichmäßig: im freien Genusse des Morgenschlummers. Das Recht, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Stunde in den hellen Tag hineinschlafen zu können, gießt über das ganze Wesen des deutschen Gymnasiasten einen Schimmer der rosigsten Verklärung. Wenn er nachts erwacht und sich, behaglich aufatmend, nach der anderen Seite wendet, so ist das Bewußtsein, am folgenden Morgen den sonst so verhängnisvollen Schlag der Glocke überhören zu dürfen, allein ausreichend, um die Ferien mit dem Gewand eines zauberischen Liebreizes zu umkleiden!

So dämmert der Tag heran. Draußen, in den Zimmern und auf dem Korridor ist schon alles geschäftig: der glückliche Gymnasiast rührt sich nicht. Selbst wenn er längst nicht mehr schlafen kann, hält er noch die Augen geschlossen, bis die Mutter oder die Schwester ihn, weniger aus Gründen der Moral, als mit Rücksicht auf die gestörte Hausordnung, weckt. Nun kleidet der Triumphator sich an, langsam, mit souveräner Verachtung der Zeit, – denn er hat ihrer ja mehr, als er braucht! Nach eingenommenem Frühstück verlaßt er das Hans: das ist ein unumstößliches Axiom der Ferienpraxis. Je nach der Verschiedenheit seines Alters und seines Temperaments verbringt er den Vormittag verschieden. Er streift durch Feld und Wald, er schlendert Arm in Arm mit seinem Intimus durch die Gassen, er besucht verstohlenerweise ein Bierhaus und wagt selbst eine Partie Billard. Der Quartaner und Tertianer gibt sich mit seinen Altersgenossen in besonders günstig gelegenen Höfen der Nachbarschaft ein Rendezvous, um zu spielen; er plant tolle Streiche und verabredet Ausflüge in die weitere Umgebung. Vor Mittagszeit aber betritt keiner, weder der Schüler von Quarta, noch der Oberprimaner, die elterliche Wohnung.

Nach Tische treibt sich der Feriengymnasiast zum Leidwesen seiner Angehörigen in störender Weise auf den Kanapees und Sesseln herum; trällert ein Lied, worüber seine ältere Schwester nervös wird; neckt seine jüngeren Brüder; nimmt eine illustrierte Zeitschrift zur Hand, trotz der wiederholten Versicherung des Vaters, das sei keine Lektüre für ihn; fragt, ob nicht bald Kaffee getrunken werde; stemmt seine Stiefel wider die polierten Tischfüße, legt sich ins Fenster oder verklebt seiner Mutter das Schlüsselloch des Nähtischchens mit Wachs. Die Anforderung, er möge etwas arbeiten, beantwortet er mit einem wohlwollenden Lächeln.

»Erst will ich mich ausruhen«, sagt er, behaglich die Arme reckend.

Wenn man das so mit ansieht, man sollte meinen, der Ärmste habe Monate lang Dienste in einer Tretmühle geleistet.

Der Nachmittag wird, je nach der Jahreszeit, zu Ausflügen in die umliegenden Bierdörfer, zu Fensterpromenaden, zu Skatpartien, zu Kahnfahrten und dergleichen benutzt, und der Abend bringt oft nur eine Fortsetzung des Nachmittags.

Dieses lustige, ungebundene Leben erfährt eine gelinde Trübung durch den Hinblick auf die Ferienarbeiten, die in einigen Gymnasien nicht ganz ohne Belang sind.

Ich meinesteils habe meine Pensa stets schon in der ersten Woche begonnen und so unter der Hand ohne ernstliche Schädigung meines Wohlgefühles erledigt. Die meisten Schüler warten jedoch bis zuletzt und verderben sich den Schluß der Ferien von Grund aus. Es leuchtet ein, daß die von mir befolgte Methode gerade vom Standpunkt des Epikuräers aus die einzig richtige ist, – auch richtiger als das andere Extrem, während der ersten Tage alles auf einmal zu absolvieren.

Unter den Ferienarbeiten, mit denen man uns die Flügel ein wenig zu binden hoffte, nahm der deutsche Aufsatz einen hervorragenden Rang ein. Und zwar gab man uns zu wiederholten Malen das Thema: »Wie verbrachte ich meine Ferien?« Diesen Aufsatz schrieb ich stets in der ersten Woche, denn die historische Wahrheit gehörte von je zu den geringsten Verdiensten solcher Arbeiten. Ganz faule und versumpfte Kameraden, die niemals aus eigenem Antrieb ein Buch in die Hand nahmen, gaben sich in dem Ferienaufsatz den Anschein, als hätten sie umfassende Privatstudien im Xenophon und im Curtius geleistet. Die Lehrer nahmen das merkwürdigerweise stets so beifällig hin, daß ich als Obersekundaner den Entschluß faßte, dieses lügnerische Selbstlob einmal auf die Spitze zu treiben. Da war denn in meinem Aufsatz etwa folgender Passus zu lesen:

»Ich erhob mich des Morgens zwischen vier und fünf, nahm in aller Eile den Kaffee ein und verfertigte alsdann bis gegen 10 Uhr lateinische Stilübungen. Hierauf machte ich einen halbstündigen Spaziergang, um sofort wieder an meine Arbeit zurückzukehren. Ich las Corneille, Racine, Molière und Chateaubriand, bis ich zu Tische gerufen wurde, was in der Regel so gegen ein Uhr statthatte. Die Stunden von zwei bis fünf widmete ich dem Griechischen, der Geschichte und der Geographie. Hierauf unternahm ich in Begleitung meines Vaters einen Spaziergang, von dem wir meistens so gegen halb sieben Uhr zurückkehrten. Um sieben Uhr wurde zu Nacht gespeist, und nun arbeitete ich von acht bis elf Mathematik, Physik und Kirchengeschichte. Oft auch habe ich die Mitternacht an meinem stillen Pulte herangewacht, denn ich hatte mir nun einmal fest vorgenommen, eine gewisse Summe von Lernstoff zu bewältigen. Sagt doch schon ein alter Klassiker: ›Wir lernen nicht für die Schule, sondern für das Leben.‹ Meine Mußestunden benutzte ich dann zur Lektüre von Goethe, Schiller, Klopstock, Wieland, Herder, Lessing, Platen, Rückert und Roderich Benedix; auch übersetzte ich viele Oden des Horaz metrisch ins Deutsche. Des Sonntags besuchte ich von neun bis elf die Kirche, hielt mich jedoch, um nicht aufzufallen, meist abseits, weshalb mich die Herren Lehrer ohne Zweifel nur selten wahrnahmen. Einmal war ich zwei Tage lang in Frankfurt, und diese in jeder Hinsicht belehrende Reise will ich hier zum Gegenstand einer ausführlichen Schilderung machen.«

Ich wurde um dieses Aussatzes willen »wegen Unfugs« mit sechs Stunden Karzer bestraft und dazu beauftragt, dasselbe Thema noch einmal, und zwar in jeder Hinsicht wahrheitsgemäß, zu behandeln.

Drei Tage später also reichte ich dem Lehrer eine neue, von der ersten wesentlich differierende Arbeit ein, die folgenden Passus enthielt:

»Des Morgens schlief ich bis neun, mitunter sogar bis zehn Uhr. Denn, sagte ich bei mir selbst, wozu sollst du dich plagen, wenn du's gut haben kannst? Gearbeitet habe ich nur sehr wenig. Ich erledigte zwar zur Not meine Pensa: im übrigen aber verspürte ich einen seltsamen Abscheu gegen jede Tätigkeit. Man lebt nur einmal auf der Welt, pflegte mein Großonkel Schmidthenner zu sagen. So hielt ich es denn für zweckmäßig, mir die kurze Freiheit recht zunutze zu machen. Fast täglich bestand ich mit Wilhelm Rumpf einen Ringkampf, wobei immer derjenige siegte, der den Untergriff hatte. Solche Übungen sind in jeder Beziehung praktisch. Ich merkte dies bei dem Zwist mit dem Gänsehirten von Wieseck. Der Mann wollte uns ausschimpfen, weil Rumpfs kleiner Pudel ihm die Gänse gejagt hatte. Wir zerbläuten ihn jämmerlich. Hieraus erhellt, daß der Jüngling sich nicht früh genug in körperlichen Exerzitien ergehen kann. Wie sagt schon Horaz? usw. usw.«

In diesem Stile ging es zwölf Seiten lang. Am Schluß meiner tückischen Abhandlung hatte ich die zwölf Stunden Karzer, die ich diesmal eroberte, so vollständig verdient, daß ich mich noch jetzt über die Nachsicht des sonst so leicht erregbaren Lehrers wundere.

»Wie verbrachte ich meine Ferien?«

In der Tat ein trostloses Thema für einen deutschen Gymnasialschüler, der weder lügen, noch seine Lehrer beleidigen will!


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