Ernst Eckstein
Gesammelte Schulhumoresken
Ernst Eckstein

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Die Primanerliebe.

Die oberen Gymnasialklassen sind der eigentliche Schauplatz für die platonische Liebe. Die Primanerliebe ist sogar sprichwörtlich geworden, und in akademisch gebildeten Kreisen gehört es zum vornehmen Ton, über diesem erste Aufflackern des erotischen Prinzips geringschätzig zu lächeln. Man vergißt eben im rastlos wiederkehrenden Kampf des Lebens, was man zu einer Zeit fühlte, da sich Herz und Geist erst für diesen Kampf vorbereiteten. Wie kalt und verständig schrieb der herangereifte Goethe über Lili, die den jungen Goethe so magisch gefesselt, so unwiderstehlich hingerissen und bezaubert hatte! Der Mensch wird nüchterner und erblickt dann die Vergangenheit durch die Brille seiner philiströsen Alltagsstimmung.

Unter Primanerliebe versteht man gemeinhin eine jugendliche Dummheit, die in schauderhaften Sonetten und tausendfach wiederholten Fensterpromenaden gipfelt, eine Landpartie als Perihel des Entzückens und die Abreise der Geliebten in das Pensionat als schrecklichste Katastrophe kennt, häufige Einschulungen in die Subsellien hervorruft und beim Abgang nach der Universität in Bier, Paukereien und wohlgewachsenen Schenkmädeln ertränkt wird. Dergleichen mag sich ereignen; aber wenn der Verlauf der normalen Primanerliebe in der Tat mit dem Vorgeschilderten buchstäblich übereinstimmt, so folgt daraus lange nicht, daß eine unwichtige Lächerlichkeit vorliegt.

Was ist überhaupt eine Kleinigkeit? Was ist geringfügig? Nur die engherzigste Arroganz kann hier den Maßstab der eigenen Subjektivität anlegen. Was mir sehr geringfügig und wertlos erscheint, ist einem anderen vielleicht das halbe Leben. Das Kind, dem seine Puppe ins Wasser fällt, ist nicht etwa zum Schein, sondern ernstlich und im tiefsten Grunde seines Herzens unglücklich; der Knabe, der zu Anfang des neuen Semesters nicht versetzt wird, fühlt nicht etwa einen Miniaturschmerz, sondern sein ganzes Ich ist unter Umständen so sehr von der Qual seines verletzten Ehrgefühls durchdrungen, daß ihm jede Hoffnung zu Grabe geht; daher es denn keineswegs unerhört ist, daß Schulknaben sich aus solchen »geringfügigen« Anlässen den Tod gegeben. Nirgends ist der Begriff der Größe und der Kleinheit so relativ als in dem, was unser Gemüt angeht. Jede Sorge, jede Neigung, jede Leidenschaft wird einen gesellschaftlich oder philosophisch höher Stehenden finden, der sie von seinem Standpunkt aus belächeln darf. Der Professor, der außer sich gerät, weil ihm ein Exemplar seiner mit so heißer Liebe gepflegten Schmetterlingssammlung ruiniert wurde, kommt dem ernsten Forscher in gewissem Sinne komisch vor; der Dandy, den der plötzliche Verlust seines Handschuhknopfs in Erregung bringt, scheint dem Denker geradezu unbegreiflich; die Hausfrau, die über einen häßlichen Fleck in ihren frisch gescheuerten Dielen in Tränen ausbricht, erweckt vielleicht unseren Hohn: und doch liegt in allen diesen Fällen ein wirklicher Schmerz vor. Würde nicht etwa ein Heros, ein Gott, der unser ganzes Tun und Treiben aus der Vogelperspektive betrachtete, selbst die ernstesten Obliegenheiten unseres Staatslebens komisch finden? Die ganze irdische Geschäftigkeit mit ihrem anspruchsvollen Eifer unterscheidet sich von dem krabbelnden Treiben der Milben, die das Mikroskop in einem Stückchen Käserinde entdeckt, durch kein wesentliches Kriterium. Hier wie dort finden wir ein mühsames Hasten im Interesse der Ernährung und Fortpflanzung; hier wie dort lauert im Hintergrunde der Tod, der die ganze Komödie hinwegfegt. Daß wir dem Treiben der Menschen eine höhere Wichtigkeit beilegen als dem der Milben, kommt nur daher, weil wir zufällig Menschen sind. Wären wir Milben, so schwärmten wir vielleicht für die großen Fragen des Milbentums.

Es wäre eine blöde Verkennung der Tatsachen, wenn wir leugnen wollten, daß die sogenannte Primanerliebe nicht selten die einzige wahre Liebe ist, die ein menschliches Herz auf Erden zu fühlen bekommt. Alphonse Karr sagt einmal sehr bezeichnend: »Wenn die Mädchen wüßten, welch' einen Schatz von Liebe das Herz eines solchen jungen Menschen, der zum erstenmal liebt, in sich birgt! Wenn sie ein Verständnis hätten für diese Hingebung, diese Vergötterung! Wenn sie ahnten, daß sie für einen solchen Jüngling das Leben mit all seiner Wonne, das Paradies mit all seinem geheimnisvollen Zauber darstellen . . .! Aber in ihrer törichten Geringschätzung für diesen Jüngling, in ihrer noch törichteren Bevorzugung blasierter und verkommener Geschöpfe lassen sie sich diese erste Liebe von Grisetten oder Kammermädchen hinwegschnappen!«

Wenn die Primanerliebe selten zu einem praktischen Resultat führt, so liegt dies vorzugsweise in der Natur unserer sozialen Verhältnisse. Auch sind es wiederum nur diese sozialen Verhältnisse, die der Primanerliebe in den Augen des wohlbestallten Bürgers eine so überaus komische Färbung verleihen. Ein achtzehnjähriger Fischerbursche aus Capri, der seine fünfzehnjährige Teresina liebt und sie nach zwei Jahren eines mehr oder minder romantischen Brautstandes zum Altare führt, erscheint uns poetisch: ein achtzehnjähriger Primaner im gleichen Fall erregt beinahe unsere Mißbilligung. Und doch waltet hier wie dort das gleiche Naturgesetz ob. Die Komik, die einem verliebten Primaner innewohnt, erwächst nur aus dem Umstand, daß der Weg von dem Abiturientenexamen bis zur Würde eines vom Staat besoldeten Kreisrichters ein sehr langer und unerquicklicher ist. Leider kümmert sich Eros um solche Äußerlichkeiten nicht; am wenigsten aber hat er Respekt vor den Gymnasialgesetzen. Es gibt Lehrer, die kindisch genug sind, jede Regung der Liebe, die vor Beendigung des Gymnasialkursus eintritt, als eine strafbare Neigung für Allotria zu betrachten; ja, ich erinnere mich, daß einer dieser kurzsichtigen Pedanten mit Karzerstrafen vorging, weil ein jugendlicher Leander keine nur irgend denkbare Gelegenheit versäumte, an gewissen Fenstern vorüber zu wandeln. Dieser Versuch, das Sonnenlicht mit der Nachtmütze zu fangen, berührte mich schon damals so kläglich, daß ich mit dem unverständigen Cato fast Mitleid empfand. Was sind drei Tage Karzer gegen einen freundlichen Blick aus geliebten Augen?

Ich verwahre mich hier gegen ein Mißverständnis! Nicht im Traume fällt es mir ein, jede erotische Bummelei des deutschen Primaners für eine Haupt und Staatsaktion des Herzens zu halten; ich erhärte nur, daß solche ernstlichen und tiefen Empfindungen ungleich häufiger sind, als die Schulweisheit selbst der liberalsten Pädagogen sich träumen läßt. Man darf sich hier nicht durch die Außenseite beirren lassen. Die glühende, das ganze Wesen durchleuchtende Liebe tritt in diesem ersten Jugendalter oft ganz in derselben kindischen Gewandung auf, wie die müßige Tändelei. Die Fensterpromenade ist keineswegs nur der Zeitvertreib des koketten Flaneurs: auch der echte, im tiefsten Grund der Seele entflammte Romeo wählt dieses Mittel, – und nur die Musik oder die Dichtkunst vermöchte zu schildern, was er dabei empfindet. Die Mutter des jungen Mädchens, die meist nach langer Blindheit dahinter kommt, daß dieses ewige Vorüberziehen ihrem Töchterchen gilt, zankt nicht ohne eine stille Befriedigung ihrer geschmeichelten Eitelkeit über die »dummen Jungen«, die etwas Besseres tun könnten, als so ihre Zeit zu vertrödeln: aber sie ahnt nicht, daß hier eine reinere und gewaltigere Leidenschaft vorliegt, als die halb aus Wohlgefallen, halb aus Berechnung zusammengesetzte, bürgerlich abgestempelte Salonliebe, die nach einer Reihe hochachtbarer Begegnungen zu einer Erklärung und schließlich zu einer respektablen Ehe führt. Diese Verkennung ist um so weniger begreiflich, als die Menschen doch alle einmal jung und mehr oder minder in dem gleichen Falle gewesen. sind.

Wenn wir auf der einen Seite nicht leugnen können, daß die äußeren Allüren der Primanerliebe nicht selten den Eindruck einer naiven Ungelenkigkeit, ja einer kindischen Fadheit machen, – alles natürlich vom Standpunkte des gesetzten Familienvaters, – so dürfen wir auf der anderen Seite nicht verhehlen, daß es gerade die herrschende Sitte mit ihren verknöcherten Regeln ist, die den Primaner so lange in dem Zustande der gesellschaftlichen Unreife und Torheit erhält. In gewissem Sinne ist das Alter von sechzehn bis achtzehn Jahren das unglücklichste des ganzen Lebens.

»Ich war«, so schildert Paul Heyse den Zustand des Halbwüchsigen, »ein lang aufgeschossener, blasser junger Mensch, in jenem verlegenen Alter, wo man den Knabenschuhen sich entwachsen fühlt und noch sehr unsicher in die Fußstapfen der Männer zu treten versucht. Mit einer tollkühnen Phantasie und einem blöden Herzen, zwischen trotzigem Selbstgefühl und mädchenhafter Empfindlichkeit hin und her geschaukelt, zupft man grübelnd an allen Schleiern, die die Geheimnisse des Menschenlebens sterblichen Augen verdecken, weiß heute das letzte Wort über die letzten Dinge, gesteht sich morgen, daß man noch im ABC stecke, und gebärdet sich überhaupt so unbehaglich widerspruchsvoll, daß man sich selbst unerträglich werden würde, wenn man nicht von Leidens-, das heißt Altersgenossen umgeben wäre, die es nicht besser machen und doch auch darum nicht aus der Haut fahren.«

Es ist vornehmlich der deutsche Jüngling, der dies Mißbehagen auskostet, und zwar zunächst und in erster Linie aus dem betrübenden Grunde, weil ihm die Gesellschaft absolut keine Stellung anweist. Der Verkehr eines sechzehnjährigen jungen Menschen mit den übrigen Mitgliedern der Gesellschaft und insbesondere mit den gleichaltrigen und älteren Mädchen entbehrt jeder vernünftigen Basis und Norm. Er mag der geistreichste und geweckteste Kopf sein: die Damen rechnen ihn nicht für voll, und die Herren erst recht nicht. Ja, vielfach deutet man seine Anwesenheit im Salon als Zudringlichkeit. In Deutschland ist es eine Sünde, nicht vollständig erwachsen zu sein. In Frankreich, in England ist das anders. Ich habe in Paris hundertmal den ungezwungenen, graziösen und doch keineswegs allzu vertraulichen Ton bewundert, in welchem selbst Knaben von vierzehn und fünfzehn Jahren mit älteren Leuten verkehren. Da waltet nicht eine Spur von Befangenheit ob, da herrscht nicht jene blöde Verschämtheit, die nicht weiß, wo sie mit den langen Beinen und Armen hin soll. Wohl aber hat sich gerade infolge dieser Freiheit und Leichtigkeit eine bescheidene Reserve ausgebildet, die sehr wohltätig mit der vorlauten Keckheit kontrastiert, die als anderes und nur zu begreifliches Extrem den halbwüchsigen Deutschen charakterisiert. Wo soll ein deutscher Jüngling eigentlich seine gesellschaftliche Schule durchmachen? Bis zu einem gewissen Alter verbietet man ihm – entweder direkt, oder indirekt durch die unfreundliche, verletzende Behandlung – den Zutritt in die Gesellschaft. Dann mir einemmal werden ihm die Pforten geöffnet, und nun verlangt man die Manieren eines Gentleman. Aber dergleichen erlernt sich nicht über Nacht. Ich erblicke in der Liebenswürdigkeit, mit der die Franzosen ihre jungen Leute behandeln, ein Hauptmoment ihrer geselligen Überlegenheit. Der gebildete Franzose hat sich von jung auf jene gefälligen Manieren angewöhnt; sie sind ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Der Deutsche dagegen soll sie seinem fast fertigen Menschen nachträglich aufkleben. Daher braucht man denn später nur ein wenig zu kratzen, um die Politur wegzubröckeln und den ungeleckten Bären hervorschimmern zu sehen.

Ich habe meine Jugend in einer kleinen Stadt verlebt, die ungleich beträchtlichere Chancen für die Geselligkeit bot, als etwa Leipzig oder Berlin; aber ich wüßte mich nicht zu erinnern, daß ich in irgend einem Kreise unseres Gemeinwesens einem vernünftigen und natürlichen Verkehr zwischen den Schülern und Schülerinnen begegnet wäre. Schon als Quintaner spielten wir stets nur »unter uns«. Wenn sich ab und zu eine »Emanzipierte« in unsere Gesellschaft wagte, so wurde sie von ihren Freundinnen bedenklich schief angesehen, denn die Mütter behaupteten, so etwas schicke sich nicht. Später, als das Spielen aufhörte, erstarb auch dieser letzte Rest von Beziehung, und es war fast ein Zufall, wenn irgendwo einmal eine Begegnung statthatte. Die Folge dieser eigentümlichen Klausur war natürlich ein vollendeter Mangel an savoir vivre. Beide Teile kamen bei einem solchen zufälligen Rencontre nicht aus der Befangenheit heraus, und das Resultat war eine gründliche Bestimmung. Man fuhr, wie Paul Heyse sagt, nur deswegen nicht aus der Haut, weil so und so viele Leidensgefährten gleichfalls drin stecken blieben.

Was bleibt also einem Primaner, der in solchen Verhältnissen aufgewachsen ist, übrig, als schließlich seine Zuflucht zu Fensterpromenaden und ähnlichen Albernheiten zu nehmen? Er wäre vielleicht der verständigste Mensch von der Welt, er würde vielleicht mit verdoppeltem Fleiß arbeiten, wenn er nur ab und zu einmal Gelegenheit hätte, die knospende Göttin, die er verehrt, zu sehen und zu sprechen: so aber vertrödelt er seine Zeit, um das mühsam und flüchtig zu erhaschen, was die Gesellschaft ihm – der Himmel mag wissen aus welchem Grunde! – für die Regel vorenthält.

Übrigens zeigt sich das Auskeimen unverstandener Liebesempfindungen, wie jedermann weiß, schon im frühesten Knabenalter. Nur sind sich diese Regungen ihres Zieles so völlig unbewußt, daß hier Kombinationen möglich sind, die späterhin bei einer voll entwickelten Liebe zu schmerzlichen Katastrophen führen. Noch in Untersekunda liebte ich mit meinem besten Freunde gemeinsam eine und dieselbe Adorata. Arm in Arm zogen wir an ihrem Fenster vorbei, ohne daß sich jemals ein Gefühl von Eifersucht in uns geregt hätte. Auch raubte uns diese ätherische Huldigung weder den Appetit noch den Schlaf. Das Ganze war in der Tat eine Kinderei, ein erstes, harmloses Vibrieren der Seele, und als uns schließlich der Vater des gefeierten Mädchens ohne Verständnis für unsere Ritterlichkeit bei dem Ordinarius der Klasse verdächtigte, so überwog unsere Entrüstung, und wir beschlossen ohne jeden Herzenskampf, die Tochter eines so barbarischen Vaters mit Verachtung zu strafen. Ganz derselbe Freund hatte später in Prima eine Leidenschaft, die ihn auf Jahre hinaus tief unglücklich machte und schließlich seinen Tod herbeiführte.

Es gilt hier also, zu unterscheiden und nicht vornehm ablehnend die ernstesten Dinge, die ein Menschenherz zu bewegen imstande sind, mit dem Leichten und Nichtigen über einen Kamm zu scheren. Das herrlichste Mittel, die Leidenschaften zu lenken, ist ihr Verständnis.


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