Ernst Eckstein
Gesammelte Schulhumoresken
Ernst Eckstein

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Vom Rauchen.

Das zierlich broschierte Heft der Gymnasialgesetze, das jedem neu aufgenommenen Schüler persönlich vom Herrn Direktor überreicht und ans Herz gelegt wurde, enthielt auch einen Paragraphen über das Tabakrauchen. Die Oberstudienräte bezeichneten dieses moderne Kulturlaster als »überaus schädlich für die Gesundheit und obendrein in hohem Grade kostspielig«, daher denn jeder Schüler der »Pflanzstätte« verpflichtet sei, ein Gelübde der Enthaltsamkeit abzulegen.

Die Wirkungen dieses Paragraphen waren der Art, daß ich der kompetenten Behörde, falls es ihr um die Förderung der Jugend ernstlich zu tun ist, den Vorschlag mache, künftighin folgende Ukase unter die Gesetzessammlung mit aufzunehmen:

»Die in hohem Grade zeitraubenden und gesundheitswidrigen Privatstudien sind jedem Schüler des Gymnasiums bei Relegation untersagt.«

»Das schweigsame Verhalten während der Lehrstunden zeugt von Stumpfsinn und wird daher dringlich verbeten.«

»Fortgesetzte Nüchternheit schädigt die Elastizität der Seele, wie schon der uralte christlich-germanische Wahlspruch beweist: ›Wer niemals einen Rausch gehabt. . . .‹ Daher sich denn jeder Schüler mindestens dreimal wöchentlich im Zustande eines schönen, augenrollenden Wahnsinns befinden muß.«

Und so weiter.

Nach den bisherigen Erfahrungen würde man auf diesem Weg wahre Musterbilder von fleißigen, aufmerksamen und nüchternen Schülern erziehen.

Kein Kenner der einschlägigen Verhältnisse wird mir bestreiten, daß es nur das Verbot ist, was den Quartaner an die Regaliakiste und in die Kneipe führt. Ich weiß mich sehr wohl zu erinnern, daß ich ein stark gebrautes Lagerbier mit einer wahren Überwindung trank, denn es schmeckte mir heillos bitter, und eine Tasse gezuckerter Milch wäre mir hundertmal lieber gewesen: aber ich erblickte im Bier das Kriterium der Männlichkeit, und so bezwang ich mein Widerstreben und sündigte ohne jeden Genuß. Hätte man uns damals täglich drei Seidel als Pensum diktiert, ich hätte mich lieber einsperren lassen, als daß ich mich diesem Zwange in Demut gefügt hätte.

Noch entschiedener und allgemeiner gilt dies vom Rauchen. Mit wahrer Todesverachtung qualmten wir in Tertia unsere Zigarren – nur weil es verboten war! Keinem von uns wäre es im Traum beigefallen, eine so unerfreuliche Summe von Beschwerden und Üblichkeiten durchzumachen, wenn wir nicht aus jenem Gymnasial-Paragraphen die Überzeugung geschöpft hätten, es müsse dem Rauchen doch irgend ein verborgener Zauber innewohnen, der sich durch fortgesetztes Studium entdecken ließe. Das Rauchen der Gymnasiasten würde auf ganz bescheidene Dimensionen beschränkt werden, sobald jener verhängnisvolle Paragraph hinwegfiele. Man gebe die Sünde frei, – und sie hört auf, zu verlocken.

Die Epoche, in der ich am meisten gegen das Tabaksverbot frevelte, war mein Biennium in Quarta und Tertia. Wir hatten da unser sechs eine Art Tabakskollegium gegründet, das seine Sitzungen unter freiem Himmel abhielt. Durch den Wiesengrund am östlichen Ende der Stadt strömte ein Bach, von Erlen und anderem Dickicht umsäumt. Selten nur verirrte sich eines Menschen Fuß an dieses trauliche Ufer – und hier saßen wir geschart und ließen in feierlichem Ernste den Qualm unserer Zigarren zum Firmament aufsteigen. Mein Vater hatte damals von einem bösen Schuldner zweitausend Zigarren an Zahlungs Statt empfangen, die der Versicherung dieses Spekulanten zufolge unter Brüdern hundert Taler wert sein sollten, in Wirklichkeit aber ein so niederträchtiges Kraut waren, daß mein Vater sie schon auf den bloßen Geruch hin beiseite stellte. Da mir um jene Zeit jede, auch die beste Zigarre ganz abscheulich schmeckte, so waren mir diese Zahlungsobjekte trotz ihrer Verwerflichkeit äußerst willkommen. Vor Beginn unseres Tabakskollegiums füllte ich mir die Taschen und regalierte dann meine Genossen mit echten Havannas. Schwarz, der sich viel auf seine Kennerschaft zugute tat, wehte sich wiederholt mit den Fingern den Rauch in die Nase und sagte bedeutsam: »Ja, die Zigarre ist gut.« – »Ein feines Blatt«, fügte Knebel hinzu. Und nun rauchten wir mit wütender Vehemenz – etwa dreimal so schnell als ein erwachsener Durchschnittsraucher. – Knebel ward immer blässer und blässer, aber er lächelte in stoischem Gleichmut und wiederholte nur zuweilen mit halb verlöschender Stimme: »Wirklich, ein sehr feines Blatt! Aber schwer!« – Noch zwei Minuten, und der Ärmste ließ die Zigarre sinken, beugte sich über das Wasser und erbrach sich so heftig, daß ihm der Angstschweiß in großen Perlen auf die fiebernde Stirn trat.

Trotz unseres kollegialischen Mitleids war uns diese Katastrophe äußerst willkommen, denn sie bot uns die Möglichkeit, ohne ein Geständnis der eigenen Schwäche die Zigarren zu beseitigen und dem stöhnenden Knebel beizuspringen. Einer von uns trat weiter oberhalb an den Bach und tauchte sein Taschentuch in die rieselnde Flut, um Knebel die Schläfe zu kühlen. Ein zweiter und ein dritter faßten den Dulder bei den Armen; ein vierter klopfte ihm beschwichtigend auf den Rücken. Die Zigarrenstummel flogen ins Wasser; Knebel erholte sich, und stolz im Selbstgefühle einer männlichen Tat begab man sich auf den Heimweg.

Unterwegs blies man sich verschiedene Male den Atem ins Gesicht und fragte:

»Du, riecht man's?«

»Noch ziemlich. . . .«

Dann wurde Gras gekaut oder ein Apfel verzehrt, denn auch die Eltern durften von unseren Orgien nichts wissen. Noch stundenlang trugen wir die Empfindung einer gewissen Üblichkeit mit uns herum. Ja, zuweilen, wenn Schwarz ein paar wirklich schwere Zigarren mitgebracht hatte, waren wir förmlich berauscht, und alles, was um uns vorging, machte uns den Eindruck eines beklemmenden Traumes. . . .

Und doch ertrugen wir diese Leiden mit Genugtuung, – denn die herbe Frucht war verboten!

Auch die Furcht, »abgefaßt« zu werden, steigerte unser Mißgefühl. In Quarta und Tertia bebt man wie ein scheues Mädchen vor dem Gedanken, wegen irgend einer Freveltat »eingesponnen« zu werden. Bei mir persönlich kam noch hinzu, daß ich während des Jahres in Tertia um ein Prämium kandidierte; eine »Abfassung« wegen Rauchens hätte aber dieses Prämium im Keime erstickt.

Mit welcher Ängstlichkeit hielten wir selbst an dem verborgenen Strande des Wiesenbachs Umschau, ob nicht irgend ein bedrohlicher Wanderer nahe! Einmal überraschte uns der felder- und wälderdurchstreifende Registrator Bieler so jählings, daß wir gerade noch Zeit hatten, den Brand unserer Zigarren in die weiche Erde zu drücken. Der alte Herr schien nicht wenig befremdet, hier am einsamen Quell eine Reihe von Knaben zu finden, die sich nicht einmal Blumen zum Kranze wanden, sondern in sichtlicher Verlegenheit aufsprangen und die Mützen zogen.

»Was macht Ihr denn hier?« fragte er argwöhnisch.

»Wir krebsen«, gab Schwarz mit großer Schlagfertigkeit zur Antwort.

»So, gibt's hier Krebse? Und was brennt denn da drüben?«

»Ach da«, sagte Schwarz . . . »Wir haben vorhin ein kleines Pulvermännchen gemacht, und da glimmt das Papier noch.«

Der Registrator entfernte sich, ohne sich über die Glaubhaftigkeit dieser Bemerkung zu äußern. Tagelang schwebten wir in heilloser Angst, er möge uns denunzieren; denn der Quartaner lebt der Meinung, die ganze Welt sei gegen ihn verschworen, und die Bürgerschaft kenne kein höheres Interesse, als ihn anzuzeigen.

So ging die Sache in Quarta und Tertia. In Sekunda wurden wir bereits frecher. Des Abends nach Sonnenuntergang bummelten wir häufig mit brennender Zigarre durch die Stadt. Anfangs gebrauchten wir die Vorsicht, das glühende Ende mit der Hand zu bedecken; später ward auch diese Reserve kühn über Bord geworfen. So begab es sich denn nicht selten, daß ein Sekundaner wegen Tabakrauchens mit Strafe belegt wurde. Wenn ich meinesteils diesem Schicksal entging, so lag das nur daran, daß ich in Sekunda über die Freude am Rauchen so ziemlich hinaus war und nicht den vierten Teil so oft »blotzte«, als in Quarta und Tertia. Auch hatte ich, wenn ich extra muros gegen die Gymnasialgesetze sündigte, allzeit Glück.

Ein einziges Mal wurde ich als Sekundaner wegen öffentlichen Rauchens denunziert, aber nicht bei den Gymnasiallehrern, sondern bei dem Stadtprediger, der uns den Konfirmanden-Unterricht erteilte.

Dieser Mann, der sehr ehrwürdige Kirchenrat Doktor Philipp Jakob Engel, war in jeder Beziehung ein Original. Er hatte sich unter dem schwarzen Talar ein frisches, fröhliches Herz bewahrt. Nichts lag ihm ferner als Puritanertum und einseitiger Zelotismus. In der Weise des großen Doktor Martinus Luther genoß er sein Leben, – zum mindesten was Wein und Gesang betraf. Im Punkte des Weibes war er allerdings vom Schicksal mißhandelt, denn er hatte sich, vom Rausch der Minne verlockt, eine Wirtstochter aus Bromskirchen zur Gattin erkoren, die ihm das Dasein mehr mit Dornen als mit Rosen durchflocht. Er suchte dann in der feierlichen Stille des Wirtshauses Trost für die Leiden seiner Häuslichkeit. »Der Wind bläst heute wieder von Bromskirchen«, pflegte er den Stammgästen zuzurufen, und dann wußte man, daß der Kirchenrat nicht vor ein Uhr nachts den Heimweg antreten würde.

Doktor Engel leitete also den Konfirmanden-Unterricht, und zwar abwechselnd in dem einen Jahre den der Knaben und in dem anderen den der Mädchen. Ich hatte glücklicherweise ihn zum Seelsorger! Wer es irgend einrichten konnte, sparte sich für das Jahr Engels auf, denn das Joch dieses Gerechten war sanft und schmerzlos. Der Unterricht fand von elf bis zwölf statt. Kurz vor halb erschien der Herr Kirchenrat langsamen Schrittes im Lehrsaale, wandelte wohl noch fünf Minuten lang, in Gedanken verloren, auf und ab und begann dann mit einer kurzen Wendung, deren feierliches Phlegma gegen sein sonstiges Feuer wunderbar kontrastierte, die Gesangbuchverse zu überhören. Human wie er war, nahm er nie den geringsten Anstoß daran, daß man diese Gesangbuchverse einfach ablas. Nachdem die Aufgabe zur beiderseitigen Befriedigung erledigt war, schritt er an das Abfragen der Katechismussprüche, die wir ebenfalls ganz unverfroren vom Blatte wegstahlen.

»Nun, und was denkst Du Dir bei diesem Spruche?« forschte er dann wohl gelegentlich.

Der Schüler gab eine Antwort, die mit einem langsamen »Ganz gut!« belohnt wurde, wenn sie nur einigermaßen verdaulich war. Im andern Falle meinte der Kirchenrat, das lasse sich wohl hören, sei aber doch nicht so ganz richtig – und nun lieferte er mit salbungsvollem Behagen die korrekte Erklärung. Fünf Minuten vor drei Viertel sah er zum erstenmal auf die Uhr, zwei Minuten später zum zweitenmal. Um drei Viertel aber stemmte er die rundlichen Finger auf die Tischplatte und murmelte durch die Zähne:

»So, ich habe jetzt noch ein Amtsgeschäft, und da wollen wir's denn für heute gut sein lassen. Für das nächste Mal lernt Ihr mir den folgenden Vers und die folgenden Sprüche.«

Und hiermit verließ er das Lehrzimmer.

Was das für Amtsgeschäfte waren, die so regelmäßig um drei Viertel auf zwölf wiederkehrten, das habe ich nie in Erfahrung gebracht.

Bei diesem Kirchenrat, dessen echt christliche Milde aus der vorstehenden Schilderung zur Genüge erhellen wird, hatten mich einige der sogenannten Stadtschüler, auf die wir Gymnasiasten mit Verachtung herabsahen, wegen öffentlichen Rauchens angezeigt.

Als ich den Saal betrat, riefen sie mir triumphierend entgegen:

»Heute wird er Dich vornehmen!«

So recht behaglich war mir bei dieser Eröffnung, trotz Engels bekannter Nachsichtigkeit, nicht zumute. Doch beherrschte ich mich und gewärtigte mit stoischer Ruhe der Dinge, die da kommen sollten.

Der Kirchenrat erschien, wie üblich, kurz vor halb. Sein Antlitz hatte diesmal etwas ungewöhnlich Ernstes und Feierliches. Ja, ich glaubte einen Zug von Schmerz zu entdecken, der elegisch um die herabgezogenen Lippen spielte. So mußte der biblische Vater dreinschauen, wenn er des verlorenen Sohnes gedachte. . . .

Gebeugten Hauptes schritt der Kirchenrat einige Male auf und ab. Dann blieb er stehen und rief mich beim Namen.

»Komm einmal heraus«, sagte er mit einer Stimme, die mir ein tiefes seelisches Weh zu atmen schien.

Die Stadtschüler rieben sich schmunzelnd die Hände.

Nicht ohne Verlegenheit trat ich zu dem Kirchenrate heran, der mich ein wenig abseits führte und mir dann mit gedämpfter Stimme ins Ohr raunte:

»Eh' ich's vergesse, sag' doch Deinem Herrn Vater, ich könnte morgen abend nicht zum L'Hombre-Kranz kommen.«

Frohe Enttäuschung!

»So,« fuhr er nun mit energisch dröhnender Stimme fort, »nun geh' auf Deinen Platz und vergiß nicht, was ich Dir gesagt habe!«

Es war der nachsichtigen und liebevollen Natur dieses Priesters unmöglich, irgend jemanden zu verletzen. So ignorierte er denn vollständig die schnöde Anzeige meiner Gegner und genügte nur in dieser wahrhaft klassischen Weise dem Dekorum.

In Prima wichen unsere Lehrer insoweit von dem Wortlaute des Gymnasialgesetzes ab, als sie ein Auge zudrückten, wenn die Schüler innerhalb ihrer vier Pfähle zur Zigarre oder zur Pfeife griffen. Nur das Rauchen auf der Straße war hier verboten. Aber gerade deshalb ward es mit Vorliebe kultiviert. Wäre es dem Gymnasiasten wirklich nur um das Kraut zu tun, so hätten wir unserem Rauchgelüste bei einer so milden Praxis hinlänglich fröhnen können: aber jetzt hatten die Zigarren im Hause ihren wesentlichen Reiz verloren. Die Sehnsucht des Primaners galt der öffentlich gerauchten Straßenzigarre. Einige von uns trieben die Sache so weit, daß sie vor dem Beginn der Lehrstunden in dem Schulsaale rauchten, was hin und wieder zu gräßlichen Untersuchungen führte, ohne daß jemals der Täter entdeckt worden wäre.

Als wir schließlich Studenten wurden, und der letzte Zwang wegfiel, da hingen sehr viele unserer Matadore das Rauchen überhaupt an den Nagel; wie denn zum Beispiel mein früherer Mitschüler, der Geheime Medizinalrat Dr. Schwarz in Hamburg, noch bis auf den heutigen Tag ein abgesagter Feind der Zigarre ist. Wenn ihm diese Zeilen hier zu Gesicht kommen, widmet er vielleicht meinen abscheulichen Tertianer-Glimmstengeln ein dankbares Lächeln der Erinnerung; denn ihnen schuldet er die erkleckliche Summe, die er jetzt infolge seines Nichtrauchens alljährlich zurücklegen oder für die Vervollständigung seiner humoristischen Bibliothek aufwenden kann.


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