Alexander Dumas d. Ä.
Der Graf von Monte Christo. Vierter Band.
Alexander Dumas d. Ä.

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Das Versprechen.

Es war wirklich Morel, der seit dem Tage vorher entsetzlich litt; mit dem gesteigerten Ahnungsvermögen des Liebenden hatte er sich gesagt, daß infolge dieser Rückkehr der Frau von Saint-Meran und des Todes ihres Gemahls bei Villefort etwas vorgehe, was für seine Liebe für Valentine von Bedeutung sei.

Als sie erschien, rief ihr Morel, und sie lief an das Gitter.

Sie zu dieser Stunde hier? fragte sie.

Ja, arme Freundin, antwortete Morel. Ich komme, um schlimme Nachrichten zu holen und zu bringen.

Es ist also ein Unglückshaus! sagte Valentine; sprechen Sie, Maximilian; doch in der Tat, die Summe der Schmerzen ist schon groß genug.

Liebe Valentine, erwiderte Morel, der sich von seiner eigenen Aufregung zu erholen suchte, um auf die rechte Weise sprechen zu können, hören Sie mich wohl, ich bitte Sie; denn alles, was ich Ihnen sagen werde, ist ernst und bedeutungsvoll. Um welche Zeit gedenkt man Sie zu verheiraten?

Glauben Sie mir, ich will Ihnen nichts verbergen, Maximilian, sagte Valentine. Heute morgen sprach man von meiner Heirat, und meine Großmutter, auf die ich als sichere Stütze rechnete, hat sich nicht nur für diese Heirat erklärt, sondern wünscht sie so beschleunigt, daß nur auf die Rückkehr des Herrn d'Epinay gewartet wird, um den Vertrag zu unterzeichnen.

Ein schmerzlicher Seufzer öffnete die Brust des jungen Mannes; er schaute das Mädchen lange und traurig an und entgegnete sodann: Ah! es ist schrecklich, die Frau, die man liebt, ruhig sagen zu hören: Der Augenblick deiner Hinrichtung ist bestimmt; sie wird in einigen Stunden stattfinden. Doch gleichviel, es muß so sein, und ich werde keinen Widerstand leisten. Gut also! da man, wie Sie sagen, nur Herrn d'Epinay erwartet, um den Vertrag zu unterzeichnen, da Sie den Tag nach seiner Ankunft ihm gehören sollen, so sind Sie morgen mit Herrn d'Epinay verbunden, denn er ist heute in Paris angekommen.

Valentine stieß einen Schrei aus.

Ich war vor einer Stunde bei dem Grafen von Monte Christo, fuhr Morel fort, wir sprachen, er vom Schmerze Ihres Hauses, ich von Ihrem Schmerze, als plötzlich ein Wagen in den Hof rollte. Hören Sie, bis dahin glaubte ich nicht an Ahnungen, Valentine, aber nun muß ich wohl daran glauben: bei dem Geräusche dieses Wagens erfaßte mich ein Schauer; bald hörte ich Tritte auf der Treppe; der schallende Gang des Gouverneurs hatte Don Juan nicht so erschreckt, wie diese Tritte mich erschreckten. Endlich öffnete sich die Tür, Albert von Morcerf erschien zuerst, ich zweifelte an mir selbst, ich glaubte, ich hätte mich getäuscht, als hinter ihm ein anderer junger Mann kam, und der Graf ausrief: Ah! der Herr Baron von Epinay!

Alles, was ich an Kraft und Mut im Herzen habe, rief ich zu Hilfe, um mich zu fassen. Vielleicht erbleichte ich, vielleicht zitterte ich, aber sicherlich blieb ein Lächeln auf meinen Lippen; doch fünf Minuten nachher ging ich weg, ohne ein Wort von dem gehört zu haben, was während dieser fünf Minuten gesprochen wurde; ich war vernichtet.

Armer Maximilian! murmelte Valentine.

Und hier bin ich nun, Valentine. Antworten Sie mir, wie einem Manne, dem Ihre Antwort das Leben oder den Tod geben wird: Was gedenken Sie zu tun?

Valentine neigte das Haupt; sie war betäubt.

Hören Sie, sagte Morel, es ist nicht das erste Mal, daß Sie an die Lage denken, in die wir nun gekommen sind; sie ist ernst, sie ist dringend, sie berührt die äußerste Grenze. Ich glaube nicht, daß dies der Augenblick ist, um sich einem unfruchtbaren Schmerze hinzugeben; das mag gut für die sein, die in Bequemlichkeit leiden und ihre Zähren mit Muße trinken wollen. Es gibt solche Menschen, und Gott wird ihnen im Himmel ohne Zweifel ihre Resignation hienieden anrechnen; aber wer den Willen in sich fühlt, zu kämpfen, verliert keine kostbare Zeit und gibt dem Schicksal den Schlag, den er von ihm empfangen hat, unmittelbar zurück. Sagen Sie, Valentine, ich komme, um Sie zu fragen: Ist es Ihr Wille, gegen das üble Geschick anzukämpfen?

Valentine bebte und schaute Morel mit großen, starren Augen an. Der Gedanke, ihrem Vater, ihrer Großmutter, ihrer ganzen Familie zu widerstehen, war ihr nicht einmal in den Kopf gekommen.

Was sagen Sie, Maximilian? Und was nennen Sie einen Kampf? Nennen Sie es lieber eine Ruchlosigkeit! Wie, ich sollte dem Befehl meines Vaters, dem Wunsch meiner sterbenden Großmutter widerstehen? Das ist unmöglich.

Morel machte eine Bewegung.

Sie sind ein zu edles Herz, um mich nicht zu verstehen, und Sie verstehen mich so gut, lieber Maximilian, daß ich sehe, Sie erwidern mir nichts. Ich kämpfen? Gott soll mich behüten! Nein, nein, ich bewahre meine ganze Kraft, um gegen mich selbst zu kämpfen und meine Zähren zu trinken, wie Sie sagen; meinen Vater bekümmern, die letzten Augenblicke meiner Großmutter trüben . . . niemals!

Sie haben ganz recht, sagte Morel gelassen.

Mein Gott! wie Sie mir das sagen! rief Valentine verletzt.

Ich sage Ihnen das, wie ein Mann, der Sie bewundert, mein Fräulein, erwiderte Maximilian.

Mein Fräulein! rief Valentine, mein Fräulein, oh der Selbstsüchtige! Er sieht mich in Verzweiflung und stellt sich, als ob er mich nicht verstehe.

Sie täuschen sich, ich verstehe Sie im Gegenteil vollkommen. Sie wollen Herrn von Villefort nicht ärgern, Sie wollen der Marquise nicht ungehorsam sein und unterzeichnen daher morgen den Vertrag, der Sie mit Ihrem Gatten verbindet.

Mein Gott, kann ich denn etwas anderes tun?

Sie dürfen nicht an mich appellieren, mein Fräulein, denn ich bin ein schlechter Richter in dieser Sache, und meine Selbstsucht wird mich verblenden, antwortete Morel, dessen dumpfe Stimme, dessen geballte Fäuste eine wachsende Verzweiflung andeuteten.

Was hätten Sie mir denn vorzuschlagen? Vielleicht würden Sie mich geneigt finden, Ihren Vorschlag anzunehmen. Lassen Sie hören, antworten Sie! Es genügt nicht, zu sagen: Sie machen die Sache schlecht; man muß auch einen Rat geben.

Sprechen Sie im Ernst, Valentine, soll ich Ihnen diesen Rat geben?

Gewiß, lieber Max, denn wenn er gut ist, werde ich ihn befolgen; Sie wissen, ich bin treu in meiner Zuneigung.

Valentine, sagte Morel, indem er ein etwas abgelöstes Brett vollends beiseite schob, geben Sie mir Ihre Hand als Beweis, daß Sie mir meinen Grimm verzeihen; sehen Sie, mein Kopf ist ganz verstört, und seit einer Stunde haben die wahnsinnigsten Gedanken meinen Geist durchkreuzt. Oh! wenn Sie meinen Rat zurückweisen . . .

Das Mädchen schlug die Augen zum Himmel auf und stieß einen Seufzer aus.

Ich bin frei, fuhr Morel fort, ich bin reich genug für uns beide; ich schwöre Ihnen vor Gott, daß Sie meine Frau sein werden, ehe meine Lippen Ihre Stirn berührt haben.

Sie lassen mich zittern! rief das Mädchen.

Folgen Sie mir, sagte Morel; ich führe Sie zu meiner Schwester, die würdig ist, Ihre Schwester zu sein. Wir schiffen uns nach Algier, nach England oder nach Amerika ein, wenn Sie nicht lieber wollen, daß wir uns in irgend eine Provinz zurückziehen, von wo wir erst nach Paris zurückkehren, wenn unsere Freunde den Widerstand Ihrer Familie besiegt haben.

Valentine schüttelte den Kopf und erwiderte: Ich sah das voraus; es ist der Rat eines Wahnsinnigen, und ich wäre noch viel wahnsinniger, als Sie, wenn ich Sie nicht auf der Stelle durch das einzige Wort: Unmöglich, Morel, unmöglich, zurückwiese.

Sie werden also Ihrem Schicksale folgen, ohne auch nur einen Versuch des Widerstandes zu machen? sagte Morel düster.

Ja, und sollte ich darüber sterben.

Wohl! Valentine, versetzte Maximilian, ich wiederhole Ihnen noch einmal, Sie haben recht. In der Tat, ich bin ein Narr, und Sie beweisen mir, daß die Leidenschaft den Geist verblendet. Ich danke Ihnen, die Sie ohne Leidenschaft urteilen. Es ist also abgemacht; morgen sind Sie unwiderruflich mit Herrn Franz d'Epinay verlobt, und zwar durch Ihren eigenen Willen.

Noch einmal sage ich Ihnen, Maximilian, Sie bringen mich in Verzweiflung, noch einmal drehen Sie den Dolch in der Wunde um. Was würden Sie tun, wenn Ihre Schwester auf einen Rat hörte, wie der ist, den Sie mir geben?

Mein Fräulein, erwiderte Morel mit bitterm Lächeln, ich bin ein Selbstsüchtiger, wie Sie gesagt haben, und in meiner Eigenschaft als Selbstsüchtiger denke ich nicht an das, was andere in meiner Lage tun würden, sondern an das, was ich zu tun habe. Ich denke, daß ich Sie seit einem Jahre kenne, daß ich von dem Tage an, wo ich Sie kennen gelernt habe, all mein Glück auf Ihre Liebe gesetzt habe; daß ein Tag gekommen ist, wo Sie mir sagten, Sie lieben mich; daß ich von diesem Tage an meine Zukunft nur in Ihrem Besitz gesehen habe, denn Ihr Besitz war mein Leben. Nun denke ich nichts mehr; ich sage mir nur, ich hatte den Himmel zu gewinnen geglaubt und habe ihn verloren. Es kommt ja alle Tage vor, daß ein Spieler nicht nur das verliert, was er hat, sondern auch das, was er nicht hat.

Morel sprach diese Worte mit vollkommener Ruhe. Valentine schaute ihn einige Sekunden lang mit ihren großen, forschenden Augen an und suchte ihre Unruhe zu verbergen.

Aber was wollen Sie denn tun? fragte sie.

Ich werde die Ehre haben, Ihnen Lebewohl zu sagen, mein Fräulein, und wünsche Ihnen ein so ruhiges, so glückliches Leben, daß nicht einmal Platz darin ist für das Andenken an mich.

Oh! murmelte Valentine.

Gott befohlen, Valentine, leben Sie wohl! sagte Morel, sich verbeugend.

Wohin gehen Sie? rief Valentine, ihre Hand durch das Gitter ausstreckend und Maximilian am Rock fassend, indem sie aus ihrer eigenen inneren Aufregung schloß, daß die Ruhe ihres Geliebten nicht wahr sein konnte; wohin gehen Sie?

Ich will mich bemühen, keine neue Störung in Ihre Familie zu bringen und ein Beispiel geben für alle ehrlichen und ergebenen Menschen in meiner Lage.

Ehe Sie mich verlassen, sagen Sie mir, was Sie zu tun gedenken, Maximilian.

Der junge Mann lächelte traurig.

Oh! sprechen Sie, sprechen Sie, ich bitte Sie!

Hat sich Ihr Entschluß geändert, Valentine?

Er kann sich leider nicht ändern! Sie wissen das wohl? rief das junge Mädchen.

Also Gott befohlen, Valentine.

Valentine rüttelte am Gitter mit einer Kraft, deren man sie nicht hätte fähig halten sollen, und als Morel sich entfernte, streckte sie ihre Hände hindurch, rang sie und rief: Was werden Sie tun? Ich will es wissen, wohin gehen Sie?

Oh! seien Sie unbesorgt, sagte Maximilian, drei Schritte von der Türe still stehend, es ist nicht meine Absicht, einen andern Menschen für die Strenge verantwortlich zu machen, die das Schicksal gegen mich übt. Ein anderer würde Ihnen drohen, er werde Herrn Franz aufsuchen, ihn herausfordern, um sich mit ihm zu schlagen. Das alles wäre wahnsinnig. Was hat Franz mit dieser ganzen Geschichte zu tun? Er hat mich heute morgen zum ersten Male gesehen, er hat bereits vergessen, daß er mich gesehen; er wußte nicht einmal, daß ich lebte, als Ihre beiden Familien übereinkamen, daß Sie einander gehören sollten. Ich habe es also nicht mit ihm zu tun und schwöre Ihnen, daß ich mich durchaus nicht an ihn halten werde.

An wen wollen Sie sich dann halten? An mich?

An Sie, Valentine! Oh, Gott soll mich bewahren! Die Frau ist geheiligt, die Frau, die man liebt, ist heilig.

Also an Ihre eigene Person, Unglücklicher!

Nicht wahr, ich bin der Schuldige?

Maximilian, Maximilian, kommen Sie hierher, ich will es haben! rief Valentine.

Maximilian näherte sich mit sanftem Lächeln, und, abgesehen von seiner Blässe, hätte man glauben können, er befinde sich in seinem gewöhnlichen Zustande.

Hören Sie mich, meine liebe, meine angebetete Valentine, sagte er mit seiner wohlklingenden, ernsten Stimme, Leute wie wir, die nie einen Gedanken gehegt haben, worüber sie hätten vor der Welt, vor ihren Eltern, oder vor Gott erröten müssen; Leute wie wir können einander im Herzen lesen, wie in einem offenen Buche. Ich habe nie einen Roman gespielt, ich bin nie ein schwermütiger Held gewesen, ich trete nicht als Manfred oder als Antonius auf; doch ohne Worte, ohne Beteuerungen, ohne Schwüre hatte ich mein Leben auf Sie gesetzt; Sie tun nicht das gleiche; und Sie haben recht, so zu handeln, das habe ich Ihnen gesagt und wiederhole es. Aber Sie gänzlich verlieren, kostet mich das Leben. Sobald Sie sich von mir entfernen, Valentine, bleibe ich allein auf der Welt. Meine Schwester ist glücklich bei ihrem Gatten; niemand bedarf also auf Erden meines unnütz gewordenen Daseins. Hören Sie, was ich tun werde: ich warte bis zur letzten Sekunde Ihrer Verheiratung, denn ich will keinen Schatten von Hoffnung verlieren, den mir ein unerwarteter Zwischenfall bringen könnte . . . Herr Franz d'Epinay kann bis dahin sterben, in dem Augenblick, wo Sie sich dem Altar nähern, kann der Blitz ihn treffen . . . Alles scheint dem zum Tode Verurteilten glaublich, und die Wunder kehren für ihn in den Bereich des Möglichen zurück, sobald es sich um die Rettung seines Lebens handelt. Ich werde also bis zum letzten Augenblick warten, sage ich, und erst, wenn mein Unglück gewiß, unwiderruflich, ohne Hoffnung ist, schreibe ich einen vertraulichen Brief an meinen Schwager, einen andern an den Polizeipräfekten, um ihnen von meinem Vorhaben Nachricht zu geben, und zerschmettere mir in irgend einem versteckten Winkel die Hirnschale, so wahr ich der Sohn des ehrlichsten Mannes bin, der je in Frankreich gelebt hat!

Ein krampfhaftes Zittern schüttelte Valentines Glieder. Sie ließ das Gitter los, das sie mit beiden Händen hielt, ihre Arme fielen an ihrer Seite herab, und zwei schwere Tränen rollten über ihre Wangen. Der junge Mann blieb düster und entschlossen vor ihr stehen.

Oh, Mitleid, Mitleid! Nicht wahr, Sie werden leben? rief Valentine.

Nein, bei meiner Ehre! entgegnete Maximilian; doch was ist Ihnen daran gelegen? Sie haben Ihre Pflicht getan, und es bleibt Ihnen Ihr Gewissen.

Valentine fiel, ihr brechendes Herz zusammenpressend, auf die Knie und rief: Maximilian, Maximilian, mein Freund, mein Bruder auf Erden, mein wahrer Gatte im Himmel, mache es wie ich, ich bitte dich, lebe mit den Leiden, wir werden eines Tages vereinigt sein.

Leben Sie wohl, Valentine! wiederholte Morel.

Mein Gott! sagte Valentine, ihre Hände mit einem erhabenen Ausdruck zum Himmel erhebend, du siehst, ich habe alles getan, was ich konnte, um eine gehorsame Tochter zu bleiben; ich habe gebetet, ich habe gefleht, ich habe geweint, er hörte weder auf meine Bitten, noch auf mein Flehen, noch auf meine Tränen. Wohl! fuhr sie fort, indem sie ihre Tränen trocknete und ihre Festigkeit wiedergewann, wohl! ich will nicht vor Gewissensbissen sterben, ich will lieber vor Scham sterben. Sie werden leben, Maximilian, und ich werde niemand angehören, als Ihnen. Zu welcher Stunde? In welchem Augenblick? Auf der Stelle? Sprechen Sie, befehlen Sie, ich bin bereit.

Morel, der abermals einige Schritte gemacht hatte, um sich zu entfernen, kehrte wieder zurück, streckte, bleich vor Freude, mit überwallendem Herzen, seine Hände Valentine entgegen und rief: Valentine, teure Freundin, Sie müssen nicht so mit mir sprechen, oder Sie geben mir den Tod. Warum sollte ich Sie der Gewalt verdanken, wenn Sie mich lieben, wie ich Sie liebe? Zwingen Sie mich nur aus Menschlichkeit, zu leben? Dann will ich lieber sterben.

Schließlich, wer liebt mich auf der Welt? murmelte Valentine. Er. Wer hat mich in allen meinen Schmerzen getröstet? Er. Auf wem ruhen alle meine Hoffnungen? Auf wem haftet mein irrer Blick? Auf wem rastet mein blutendes Herz? Auf ihm, auf ihm, immer auf ihm. Wohl! du hast recht, Maximilian, ich werde dir folgen, ich werde das väterliche Haus, ich werde alles verlassen. Oh! ich Undankbare, rief Valentine schluchzend, alles, sogar meinen guten Großvater, den ich völlig vergaß.

Nein, entgegnete Maximilian, du wirst ihn nicht verlassen. Herr Noirtier schien, wie du sagst, Sympathie für mich zu fühlen; Wohl, ehe du fliehst, teilst du ihm alles mit; du machst dir vor Gott aus seiner Einwilligung einen Schild. Sobald wir dann verheiratet sind, kommt er zu uns und hat statt eines Kindes zwei. Du hast mir erzählt, wie du mit ihm sprichst, und wie er antwortet; ich werde rasch diese rührende Zeichensprache lernen; oh! Valentine, ich schwöre dir, statt der Verzweiflung, die uns sonst erwartete, verspreche ich dir das Glück.

Oh! sieh, Maximilian, sieh, wie groß die Gewalt ist, die du über mich ausübst; du läßt mich beinahe an das glauben, was du sagst, und dennoch ist das, was du sagst, wahnsinnig; denn mein Vater wird mich verfluchen, ich kenne ihn, mit seinem unbeugsamen Herzen wird er mir nie vergeben. Höre mich, Maximilian, wenn ich durch List, durch Bitten, durch einen Zufall, was weiß ich? kurz, durch irgend ein Mittel die Heirat verzögern kann, nicht wahr, dann wartest du?

Ja, ich schwöre es dir, sobald du mir schwörst, daß diese verhaßte Heirat nie stattfinden wird, daß du, schleppt man dich vor den öffentlichen Beamten, vor den Priester, stets nein sagen wirst.

Ich schwöre es dir, Maximilian, bei dem, was ich Heiligstes auf Erden hatte, bei meiner Mutter.

Warten wir also, sagte Morel.

Ja, warten wir, versetzte Valentine, welche dieses Wort kaum atmete; es gibt so viele Dinge, welche Unglückliche, wie wir sind, retten können.

Ich baue auf dich, Valentine, sagte Morel, alles, was du tun wirst, ist wohlgetan; wenn man jedoch deinen Bitten kein Gehör schenkt, wenn dein Vater, wenn Frau von Saint-Meran verlangen, daß man Herrn d'Epinay rufe, um den Vertrag zu unterzeichnen . . .

So hast du mein Wort, Maximilian.

Statt zu unterzeichnen . . .

Komme ich zu dir, und wir fliehen; aber bis dahin wollen wir Gott nicht mehr versuchen, Morel, wir wollen uns nicht sehen, denn es ist ein Wunder, eine Gnade der Vorsehung, daß wir noch nicht überrascht worden sind. Würde man uns aber entdecken, wüßte man, wie wir uns sehen, so hätten wir kein Mittel mehr.

Du hast recht, Valentine, aber wie erfahren . . .

Durch den Notar, Herrn Deschamps.

Ich kenne ihn.

Und durch mich selbst. Glaube mir, ich werde dir schreiben. Mein Gott! Maximilian, diese Heirat ist mir so verhaßt, wie dir.

Gut! Gut! ich danke, meine angebetete Valentine. Nun ist alles abgemacht. Sobald ich die Stunde weiß, eile ich hierher, du springst über diese Mauer in meine Arme, es wird dir und mir nicht schwer fallen; ein Wagen erwartet uns an der Tür des Geheges, du steigst mit mir ein, ich führe dich zu meiner Schwester. Dort bleiben wir still oder schlagen Lärm, wie du es wünschest, und werden das Bewußtsein unserer Kraft und unseres Willens haben und uns nicht erwürgen lassen wie das Lamm, das sich nur durch einen Seufzer verteidigt.

Es sei so, ich sage dir ebenfalls: Was du tust, das ist wohl getan. Bist du zufrieden mit deiner Frau? sagte das junge Mädchen traurig.

Meine angebetete Valentine, ja sagen, heißt sehr wenig sagen.

Sage es immerhin!

Valentine hatte sich, oder vielmehr ihre Lippen dem Gitter genähert, und ihre Worte schlüpften mit ihrem duftenden Hauch auf Morels Lippen, der seinen Mund fest auf die andere Seite der kalten, unerbittlichen Scheidewand drückte.

Auf Wiedersehen, flüsterte Valentine, sich diesem Glücke entreißend, auf Wiedersehen.

Ich bekomme einen Brief von dir?

Ja.

Ich danke dir, Teure, auf Wiedersehen.

Das Geräusch eines unschuldigen und verlorenen Kusses erscholl, und Valentine entfloh unter die Linden. Morel horchte auf die letzten Töne ihres an den Hecken streifenden Kleides und ihrer Füße, die den Sand knirschen ließen, schlug dann die Augen mit einem unaussprechlichen Lächeln zum Himmel auf, der es gestattete, daß er so geliebt wurde, und verschwand ebenfalls.

Der junge Mann kehrte nach Hause zurück und wartete den ganzen Tag hindurch und den nächsten Tag, ohne etwas zu erhalten. Erst am zweiten Tage, gegen zehn Uhr morgens, als er eben zu Herrn Deschamps, dem Notar, gehen wollte, empfing er durch die Post ein Briefchen, das er sogleich als von Valentine herrührend, erkannte, obgleich er ihre Handschrift nie gesehen hatte.

Es lautete folgendermaßen:

Tränen, Bitten und Flehen, nichts hat gefruchtet. Gestern bin ich zwei Stunden lang in der Kirche Saint-Philippe du Roule gewesen und habe zwei Stunden aus dem Grunde meiner Seele zu Gott gebetet; Gott scheint mich nicht erhören zu wollen; die Unterzeichnung des Vertrags ist auf neun Uhr heute abend festgesetzt.

Ich habe nur ein Wort, Morel, wie ich nur ein Herz habe, und dieses Wort ist dir verpfändet, dieses Herz gehört dir. Heute abend also, um drei Viertel auf neun Uhr, am Gitter.

Deine Braut Valentine von Villefort.

P. S.

Mit meiner Großmutter geht es immer schlechter, gestern ist ihr gereizter Zustand in Delirium übergegangen, heute ist das Delirium beinahe Wahnsinn.

Nicht wahr, du wirst mich sehr lieb haben, Morel, damit ich vergessen kann, daß ich sie in diesem Zustande verlassen habe?

Ich glaube, man verhehlt vor Großpapa, daß die Unterzeichnung des Vertrags heute stattfinden soll.

Morel begnügte sich nicht mit den Nachrichten von Valentine, er ging zum Notar, und dieser bestätigte ihm, die Unterzeichnung des Vertrags sei auf neun Uhr abends bestimmt. Dann begab er sich zu Monte Christo. Hier erfuhr er wieder am meisten. Franz war bei dem Grafen gewesen, um ihm die Feierlichkeit anzukündigen; Frau von Villefort hatte ihn in einem Briefe um Entschuldigung gebeten, daß sie ihn nicht einlade; doch es werde durch den Tod des Herrn von Saint-Meran und durch den Zustand, in dem sich seine Witwe befinde, über ihr Haus ein Schleier der Traurigkeit geworfen, der die Stirn des Grafen, dem sie jegliches Glück wünsche, nicht verdüstern solle. Am Abend war Franz der Frau von Saint-Meran vorgestellt worden, die aus Anlaß dieser Vorstellung das Bett verließ, sich dann aber sogleich wieder niederlegte.

Morel befand sich, wie sich dies leicht begreifen läßt, in einem so aufgeregten Zustande, daß es dem durchdringenden Auge des Grafen nicht entgehen konnte; Monte Christo war auch freundlicher und liebevoller gegen ihn, als je, so liebevoll, daß Maximilian wiederholt auf dem Punkte war, ihm alles zu sagen. Doch er erinnerte sich des förmlichen Versprechens, das er Valentine gegeben hatte, und sein Geheimnis blieb im Grunde seines Herzens.

Der junge Mann las an diesem Tag zwanzigmal Valentines Brief. Es war das erste Mal, daß sie ihm schrieb, und aus welcher Veranlassung! So oft er ihre Worte wieder las, erneuerte er bei sich den Schwur, Valentine glücklich zu machen. Welche Macht erlangt nicht ein junges Mädchen, das einen so mutigen Entschluß faßt, und welche Ergebenheit verdient es nicht bei dem, welchem es alles geopfert hat! Muß es nicht in der Tat für seinen Geliebten der erste und würdigste Gegenstand seiner Verehrung sein! Denn es ist zugleich die Königin und die Frau, und man hat nicht genug an einer Seele, um einem solchen Mädchen zu danken und es zu lieben.

Morel dachte mit unaussprechlicher Unruhe an den Augenblick, wo Valentine zu ihm kommen und sagen würde: Hier bin ich, Maximilian, nimm mich! Er hatte den ganzen Fluchtplan entworfen und alles vorbereitet. Zwei Leitern waren im Verschlag des Geheges verborgen; ein Wagen, den er selbst fahren wollte, stand bereit; kein Diener, kein Licht sollte Verrat bringen können; erst an der Mündung der ersten Straße sollten die Laternen angezündet werden.

Von Zeit zu Zeit durchlief ein Schauer Morels Leib; er dachte an den Augenblick, wo er Valentine beim Herabsteigen von der Mauer beschützen, wo er zitternd in seinen Armen die fühlen würde, der er bisher nur die Hand gedrückt und die Fingerspitzen geküßt hatte.

Als aber der Nachmittag kam, als die Stunde immer näher herannahte, fühlte Morel das Bedürfnis, allein zu sein; sein Blut kochte, die einfachsten Fragen, schon die Stimme eines Freundes, hätten ihn gereizt, er schloß sich in seiner Wohnung ein und suchte zu lesen. Doch sein Blick schlüpfte über die Blätter hin, ohne etwas davon zu verstehen, und er warf am Ende das Buch weg, um zum zweiten Male seinen Plan durchzugehen und die Flucht sich in allen Einzelheiten vorzustellen. – Endlich nahte die Stunde.

Noch nie hat ein Verliebter die Uhren friedlich ihren Weg gehen lassen; Morel plagte die seinigen so sehr, daß eine schließlich um sieben Uhr halb neun Uhr zeigte. Dann sagte er sich, es sei Zeit aufzubrechen, da neun Uhr ja wirklich die für die Unterzeichnung des Vertrags bestimmte Stunde sei, doch aller Wahrscheinlichkeit nach würde Valentine diese Stunde gar nicht abwarten. Morel trat folglich, nachdem er nach seiner Pendeluhr um halb neun Uhr aufgebrochen war, in das Gehege, als es vom nahen Kirchturm acht Uhr schlug.

Pferd und Wagen verbarg er hinter dem in Trümmern liegenden Mauerwerk, in dem er sich selbst zu verstecken pflegte. Allmählich neigte sich der Tag, und das Blätterwerk des Gartens drängte sich in dichte Büschel von undurchsichtigem Schwarz zusammen. Morel trat aus seinem Versteck hervor und schaute durch das Loch im Gitter; es war noch niemand anwesend.

Es schlug halb neun Uhr. Abermals verging darauf eine halbe Stunde mit Warten. Morel schritt auf und ab und hielt in immer schneller sich folgenden Zwischenräumen sein Auge an die Bretter. Der Garten wurde immer finsterer, doch vergebens suchte er in der Dunkelheit das weiße Kleid, umsonst horchte er in der Stille auf das Geräusch der Tritte.

Das Haus des Staatsanwalts, das man durch das Laubwerk erblickte, blieb düster, und nichts deutete an, daß sich dort ein so wichtiges Ereignis, wie die Unterzeichnung eines Heiratsvertrages abspielen sollte.

Morel sah auf seine Taschenuhr, sie zeigte drei Viertel auf zehn Uhr; doch fast in demselben Augenblick schlug die schon öfters gehörte Kirchenuhr halb zehn Uhr. Bereits eine halbe Stunde war über die von Valentine selbst festgesetzte Zeit hinaus verflossen. Sie hatte auf neun Uhr zugesagt, eher früher, als später. Es waren furchtbare Augenblicke für das Herz des jungen Mannes, auf das jede Sekunde wie ein bleierner Hammer fiel.

Das leiseste Geräusch der Blätter, das schwächste Wehen des Windes spannte sein Ohr und ließ den Schweiß auf seine Stirn treten; bebend rückte er seine Leiter zurecht und setzte, um keine Zeit zu verlieren, den Fuß auf die erste Sprosse. Mitten unter diesem Wechsel von Furcht und Hoffnung, mitten unter diesen angstvollen Schlägen seines Herzens verkündete die Kirchenuhr die zehnte Stunde.

Oh! es ist unmöglich daß die Unterzeichnung eines Vertrages so lange dauert, wenn nicht unvorhergesehene Ereignisse eingetreten sind, murmelte Maximilian voll Schrecken; ich habe alles erwogen, ich habe die Zeit genau berechnet, welche diese Förmlichkeiten beanspruchen . . . es muß etwas vorgefallen sein.

Dann ging er bald in größter Aufregung an dem Gitter auf und ab, bald kehrte er zurück und stützte seine glühende Stirn an das kalte Eisen. War Valentine nach dem Vertrage ohnmächtig geworden, oder hatte man sie in ihrer Flucht aufgehalten? Dies waren die beiden einzigen, gleich verzweiflungsvollen Möglichkeiten, die er sich vorstellen konnte.

Vielleicht hatte sie mitten auf der Flucht die Kraft verlassen, und sie war in irgend einer Allee in Ohnmacht gefallen.

Oh! wenn dem so ist, rief er, von seiner Leiter herabspringend, so verliere ich sie durch meine eigene Schuld!

Dieser Gedanke ließ ihn nicht mehr los und haftete in seinem Geiste mit einer Beharrlichkeit, die schließlich den Zweifel zur Gewißheit werden ließ. Seine Augen, welche die zunehmende Dunkelheit zu durchdringen suchten, glaubten im Schatten einer Allee einen liegenden Gegenstand zu bemerken; er rief endlich laut, und es kam ihm vor, als ob eine unartikulierte Klage zu ihm dringe.

Endlich hörte er halb elf schlagen, er konnte sich unmöglich durch die Hoffnung länger hinhalten lassen, seine Schläfen schlugen mit aller Gewalt, Wolken zogen vor seinen Augen vorüber. Da erkletterte er die Mauer und sprang auf der anderen Seite hinab.

Maximilian war durch Einsteigen in fremdes Gebiet gedrungen; er bedachte die Folgen, die eine solche Handlung haben könnte; doch er war nicht so weit gegangen, um zurückzuweichen. Er strich zuerst an der Mauer hin, kam dann mit einem Sprunge durch die Allee und drang in ein Gebüsch. In einem Augenblick war er am Ende des Gebüsches. Von hier aus konnte er das Haus überschauen. Er sah nun bestätigt, was er bereits vermutet hatte; statt der Lichter, die, wie es an feierlichen Tagen üblich ist, an allen Fenstern hätten erglänzen sollen, sah er nichts als eine graue Masse, die noch durch einen großen Schatten verschleiert war, den eine ungeheure, den Mond verhüllende Wolke herabwarf.

Ein Licht lief gleichsam wie bestürzt an drei Fenstern des ersten Stockes hin. Diese drei Fenster gehörten zur Wohnung der Frau von Saint-Meran. Ein anderes Licht blieb unbeweglich hinter roten Vorhängen. Diese roten Vorhänge verhüllten das Fenster des Schlafzimmers der Frau von Villefort.

Morel erriet alles. So oft hatte er, um Valentine in Gedanken zu jeder Stunde zu folgen, sich den Plan dieses Hauses vorgestellt, daß er es, ohne darin gewesen zu sein, genau kannte. Der junge Mann war noch mehr erschrocken über diese Dunkelheit und dieses Schweigen, als vorher über die Abwesenheit Valentines. Ganz bestürzt, beinahe wahnsinnig vor Schmerz, entschlossen, allem zu trotzen, um Valentine wiederzusehen und sich Gewißheit über das Unglück, das er ahnte, zu verschaffen, trat er bis an den Saum des Gebüsches und schickte sich an, so rasch als möglich den ganz freiliegenden Blumengarten zu durchschreiten, als ein zwar noch entfernter, aber doch vom Winde zu ihm getragener Stimmenton an sein Ohr drang. Bei diesem Geräusch machte er einen Schritt rückwärts in das Blätterwerk hinein, versteckte sich darin völlig und blieb stumm und unbeweglich. Sein Entschluß war gefaßt; war es nur Valentine, so wollte er ihr zurufen; kam sie in Begleitung einer anderen Person, so konnte er sie wenigstens sehen und sich versichern, daß ihr kein Unglück begegnet sei; waren es aber fremde Personen, so konnte er vielleicht ein paar Worte von ihrem Gespräche auffangen und sich das unbegreifliche Rätsel erklären.

Der Mond trat nun aus der Wolke hervor, die ihn verbarg, und Morel sah an der Tür Herrn von Villefort, begleitet von einem Manne in schwarzem Anzuge, erscheinen. Sie gingen die Stufen herab und auf das Gebüsch zu; kaum hatten sie vier Schritte gemacht, als Morel den Doktor d'Avrigny erkannte.

Sobald der junge Mann diese beiden kommen sah, wich er unwillkürlich noch weiter zurück, bis er an den Stamm eines Ahornbaumes stieß, der den Mittelpunkt einer Baumgruppe bildete; hier war er genötigt, stehen zu bleiben. Bald hörte der Sand auf, unter den Tritten der beiden Männer zu knirschen. Ach, sagte der Staatsanwalt, der Himmel erklärt sich offen gegen unser Haus. Welch ein furchtbarer Tod! welch ein Donnerschlag! Versuchen Sie es nicht, mich zu trösten! Ach! es gibt keinen Trost für ein solches Unglück; die Wunde ist zu heftig und zu tief! Tot! Tot!

Ein kalter Schweiß ließ die Stirn des jungen Mannes eisig werden und seine Zähne klappern. Wer war in dem Hause gestorben, das Villefort selbst ein verfluchtes nannte?

Mein lieber Herr von Villefort, antwortete der Arzt mit einem Tone, der den Schrecken des jungen Mannes verdoppelte, ich habe Sie durchaus nicht hierher geführt, um Sie zu trösten, ganz im Gegenteil.

Was wollen Sie mir sagen? fragte der Staatsanwalt bestürzt.

Ich will Ihnen sagen, daß hinter dem Unglück, das Sie betroffen hat, sich ein anderes, vielleicht noch größeres verbirgt.

Oh! mein Gott! murmelte Villefort, die Hände faltend, was werde ich hören?

Sind wir ganz allein, mein Freund?

Ja, ganz allein. Doch was sollen diese Vorsichtsmaßregeln bedeuten?

Sie bedeuten, daß ich Ihnen eine furchtbare Mitteilung zu machen habe, sagte der Doktor; setzen wir uns!

Villefort fiel mehr auf eine Bank, als er sich darauf setzte. Der Doktor blieb, eine Hand auf seine Schulter legend, vor ihm stehen.

Vor Schrecken außer sich, hielt Morel mit einer Hand seine Stirn, während er mit der andern sein Herz preßte, daß man es nicht schlagen höre.

Reden Sie, Doktor, ich höre, sagte Villefort; schlagen Sie, ich bin auf alles gefaßt.

Frau von Saint-Meran war allerdings sehr alt, aber sie erfreute sich einer vortrefflichen Gesundheit.

Morel atmete zum ersten Male seit zehn Minuten.

Der Kummer hat sie getötet, sagte Villefort; ja, der Kummer, Doktor! Die Gewohnheit, seit vierzig Jahren mit dem Marquis zu leben . . .

Es ist nicht der Kummer, mein lieber Villefort, entgegnete der Doktor; der Kummer kann töten, obgleich die Fälle selten sind, aber er tötet nicht in einem Tage, er tötet nicht in einer Stunde, er tötet nicht in zehn Minuten. Villefort antwortete nicht; er hob das Haupt empor und schaute den Doktor mit erschrockenen Augen an. Sie sind während des Todeskampfes da geblieben? fragte Herr d'Avrigny.

Gewiß; Sie sagten mir leise, ich sollte mich nicht entfernen.

Haben Sie die Symptome des Übels wahrgenommen, dem Frau von Saint-Meran erlegen ist?

Sicher. Frau von Saint-Meran hat in Zwischenräumen von einigen Minuten drei aufeinander folgende schwere Anfälle gehabt. Als Sie ankamen, keuchte sie bereits seit mehreren Minuten; sie hatte sodann eine Krise, die ich für einen Nervenanfall hielt; doch ich fing an, wirklich zu erschrecken, als ich gewahrte, wie sie sich auf ihrem Bette mit starren Gliedern und steifem Halse erhob. Da erkannte ich an ihrem Gesichte, daß die Sache ernster sein mußte, als ich glaubte. Als die Krise vorüber war, suchte ich in Ihren Augen zu lesen, aber vergebens. Sie hielten den Puls, Sie zählten die Schläge, und die zweite Krise trat ein, ehe Sie mich wieder anblickten. Diese zweite Krise war furchtbarer als die erste, die Nervenzuckungen wiederholten sich, der Mund zog sich zusammen und wurde ganz blau. Bei der dritten verschied sie. Ich hatte bereits bei der ersten den Starrkrampf erkannt; Sie bestätigten mich in dieser Meinung.

Ja, vor allen Anwesenden, versetzte der Doktor; doch nun sind wir allein . . .

Mein Gott, was wollen Sie mir sagen?

Daß die Symptome des Starrkrampfes und der Vergiftung durch vegetabilische Stoffe ganz dieselben sind.

Herr von Villefort sprang auf, doch nach einem Augenblick der Unbeweglichkeit und des Stillschweigens fiel er wieder auf seine Bank und sagte: Oh! mein Gott, Doktor, bedenken Sie auch, was Sie sagen?

Morel wußte nicht, ob er träumte oder wachte.

Hören Sie, sagte der Doktor, ich bin mir des Gewichtes meiner Erklärung und des Charakters des Mannes, dem gegenüber ich sie abgebe, völlig bewußt.

Sprechen Sie mit dem Beamten oder mit dem Freunde? fragte Villefort.

Mit dem Freunde, mit dem Freunde allein in diesem Augenblick; die Ähnlichkeit zwischen den Symptomen des Starrkrampfes und denen der Vergiftung durch vegetabilische Substanzen ist so groß, daß ich nur zögernd unterzeichnen würde, was ich da sage. Ich wiederhole Ihnen auch, daß ich mich nicht an den Beamten, sondern an den Freund wende. Dem Freunde also sage ich: Während der drei Viertelstunden der Krisis studierte ich den Todeskampf, die Krämpfe, den Tod der Frau von Saint-Meran; nach meiner Überzeugung ist sie nun nicht nur vergiftet gestorben, sondern ich vermöchte auch zu sagen, welches Gift sie getötet hat.

Mein Herr!

Alles hat sich gezeigt, Schlafsucht, unterbrochen durch Nervenkrisen, Überreizung des Gehirns, Starre der Zentralteile des Nervensystems: Frau von Saint-Merau ist einer starken Dosis Strychnin oder Brucin unterlegen, die man ihr, nehme ich an, aus Zufall, vielleicht aus Irrtum, beigebracht hat.

Oh! das ist unmöglich! rief Villefort, die Hand des Doktors ergreifend; mein Gott, ich träume, es ist furchtbar, solche Dinge von einem Manne, wie Sie sind, zu hören! Im Namen des Himmels flehe ich Sie an, lieber Doktor, gestehen Sie mir, daß Sie sich täuschen können.

Allerdings kann ich dies, doch ich glaube es nicht.

Doktor, haben Sie Mitleid mit mir, seit einigen Tagen begegnen mir so unerhörte Dinge, daß es mir vorkommt, als müßte ich ein Narr werden.

Hat noch jemand außer mir Frau von Saint-Meran gesehen?

Niemand.

Hat man bei dem Apotheker eine Arznei holen lassen, die nicht von mir verordnet worden ist?

Nein.

Hatte Frau von Saint-Meran Feinde?

Ich kenne keine.

Hatte jemand ein Interesse an ihrem Tode?

Mein Gott! Nein; meine Tochter ist ihre einzige Erbin, Valentine allein . . . Oh! wenn mir ein solcher Gedanke käme, . . . ich würde mich erdolchen, um mein Herz zu bestrafen, daß es einen solchen Gedanken hatte hegen können.

Oh, teurer Freund! rief Herr d'Avrigny, Gott verhüte, daß ich irgend jemand anklage; verstehen Sie wohl, ich spreche nur von einem Zufall, von einem Irrtum. Doch Zufall oder Irrtum, es ist eine Tatsache, die ganz leise zu meinem Gewissen spricht und verlangt, daß mein Gewissen ganz laut mit Ihnen spreche. Forschen Sie nach!

Bei wem? wie? worüber?

Hören Sie! Sollte sich nicht Barrois, der alte Diener, getäuscht und der Frau von Saint-Meran irgend einen Trank gegeben haben, der für seinen Herrn bestimmt war?

Wie könnte denn ein für Herrn Noirtier bereiteter Trank Frau von Saint-Meran vergiften?

Das ist ganz einfach; Sie wissen, daß bei einzelnen Krankheiten die Gifte als Heilmittel dienen; die Lähmung ist eine dieser Krankheiten. Vor ungefähr drei Monaten entschloß ich mich, nachdem ich alles angewendet hatte, um Herrn Noirtier Stimme und Bewegung wiederzugeben, ein letztes Mittel zu versuchen; seit drei Monaten behandle ich ihn mit Brucin; so waren in dem letzten Tranke, den ich ihm verschrieb, sechs Zentigramm enthalten. Sechs Zentigramm ohne Wirkung auf die gelähmten Organe des Herrn Noirtier, an die er sich überdies durch stufenweise Dosen gewöhnt hatte, sechs Zentigramm genügen, um jede andere Person zu töten.

Mein lieber Doktor, es besteht keine Verbindung zwischen der Wohnung des Herrn Noirtier und der der Frau von Saint-Meran, und nie ist Barrois in das Zimmer meiner Schwiegermutter gekommen. Schließlich muß ich Ihnen auch sagen, Doktor, obgleich ich weiß, daß Sie der geschickteste und besonders der gewissenhafteste Mann von der Welt sind, obgleich unter allen Umständen Ihr Wort für mich eine Fackel ist, die mich leitet, wie das Licht der Sonne, – so ist es doch, trotz dieser Überzeugung, für mich ein Bedürfnis, mich auf den Satz: Irren ist menschlich, zu stützen.

Hören Sie, Villefort, sagte der Doktor, gibt es einen von meinen Kollegen, zu dem Sie so viel Zutrauen haben, wie zu mir?

Warum? Was wollen Sie damit sagen?

Rufen Sie ihn, ich teile ihm mit, was ich gesehen, was ich wahrgenommen habe, und wir nehmen die Öffnung der Leiche vor.

Und Sie werden die Spuren des Giftes finden?

Nein, nicht des Giftes, ich habe das nicht gesagt, sondern wir werden die Reizung des Systems bestätigt finden, die unleugbare Asphyxie erkennen und Ihnen sagen, lieber Villefort: Liegt Nachlässigkeit zu Grunde, so bewachen Sie Ihre Dienerschaft, – geschah die Tat aus Haß, so bewachen Sie Ihre Feinde.

Oh, mein Gott! was schlagen Sie mir da vor, d'Avrigny? entgegnete Villefort ganz niedergebeugt. Sobald ein anderer in das Geheimnis gezogen ist, wird eine Untersuchung notwendig, und eine Untersuchung bei mir, unmöglich! Dennoch, fuhr der Staatsanwalt, den Arzt unruhig anschauend, fort, dennoch, wenn Sie es durchaus verlangen, werde ich es tun. Ich muß in der Tat wohl der Sache auf den Grund gehen, mein Charakter heischt es. Doch Sie sehen mich zum voraus von Traurigkeit erfüllt, Doktor, auf mein Haus nach so vielen Schmerzen diesen Flecken zu werfen! Oh! für meine Frau und meine Tochter ist das der Tod; und ich, Doktor, Sie wissen, ein Mann gelangt nicht dahin, wo ich bin, ein Mann ist nicht fünfundzwanzig Jahre Staatsanwalt gewesen, ohne sich viele Feinde zuzuziehen; die Zahl der meinigen ist groß.. Wird diese Geschichte ruchbar, so ist das ein Triumph für diese Feinde, der sie vor Freuden jubeln läßt und mich mit Schmach bedeckt. Doktor, verzeihen Sie mir diese weltlichen Gedanken. Wenn Sie Priester wären, würde ich, es nicht wagen, Ihnen dies zu sagen; aber Sie sind ein Mensch, Sie kennen die anderen Menschen; Doktor, nicht wahr, Sie haben mir nichts gesagt?

Mein lieber Herr von Villefort, antwortete der Doktor erschüttert, meine erste Pflicht ist Menschlichkeit. Ich hätte Frau von Saint-Meran gerettet, wenn es in der Macht der Wissenschaft gelegen hätte, dies zu tun; aber sie ist tot, und ich schulde alle meine Kunst den Lebenden. Begraben wir in die tiefste Tiefe unserer Herzen dieses furchtbare Geheimnis! Sollte aber jemand den Schleier lüften, so mag man immerhin mein Schweigen meiner Unwissenheit zur Last legen. Suchen Sie jedoch trotzdem, suchen Sie eifrig, mein Freund, denn es bleibt vielleicht nicht hierbei . . . Und wenn Sie den Schuldigen gefunden haben, so werde ich Ihnen sagen: Sie sind Beamter, tun Sie, was Sie wollen.

Oh! Dank, Dank, Doktor! sagte Villefort mit unsäglicher Freude, ich habe nie einen besseren Freund gehabt, als Sie.

Und er erhob sich, als befürchte er, der Doktor könnte von seinem Zugeständnis zurücktreten, und zog ihn nach den Hause fort. – Sie verschwanden.

Morel streckte, als müßte er Atem schöpfen, den Kopf aus dem Gebüsche hervor, und der Mond beleuchtete sein Gesicht, das so bleich war, daß man es für ein Gespenst hätte halten können.

Gott beschützt mich offenbar, aber auf eine furchtbare Weise! sagte er. Doch Valentine! Valentine! arme Freundin! wird sie so vielen Schmerzen widerstehen? Während er diese Worte sprach, schaute er abwechselnd das Fenster mit den roten Vorhängen an. Das Licht war fast völlig von dem Fenster mit den roten Vorhängen verschwunden. Ohne Zweifel hatte Frau von Villefort die Kerzen ausgelöscht, und die Nachtlampe allein sandte ihren Schein an die Scheiben.

Am Ende des Gebäudes sah er dagegen eines von den drei Fenstern mit den weißen Vorhängen sich öffnen. Die auf dem Kamin stehende Kerze warf nach außen einige Strahlen ihres bleichen Lichtes, und es lehnte sich einen Augenblick jemand mit dem Ellenbogen auf den Balkon.

Morel bebte; es kam ihm vor, als hätte er ein Schluchzen gehört.

Man darf sich nicht darüber wundern, daß die sonst so mutige und kräftige, nun aber durch die beiden stärksten menschlichen Leidenschaften, die Liebe und die Furcht, erschütterte und überspannte Seele dergestalt geschwächt war, daß sie abergläubischen Sinnestäuschungen unterlag.

Obgleich Maximilian unmöglich von Valentine wahrgenommen werden konnte, kam es ihm vor, als würde er von dem Schatten am Fenster gerufen; sein gestörter Geist sagte es ihm, sein glühendes Herz wiederholte es. Dieser doppelte Irrtum wurde unwiderstehlich; er trat aus seinem Versteck hervor und setzte, auf die Gefahr hin, gesehen zu werden, oder Valentine zu erschrecken, mit zwei Sprüngen über das Blumenbeet, erreichte die Reihe von Orangenbäumen, die sich vor dem Hause ausdehnte, gelangte auf die Stufen der Freitreppe, stieg diese rasch hinauf und stieß an eine Tür, die sich ohne Widerstand vor ihm öffnete.

Valentine hatte ihn nicht gesehen; ihre zum Himmel aufgeschlagenen Augen folgten einer silbernen Wolke, die, einem aufsteigenden Schatten ähnlich, an dem Azur hinglitt; ihr poetischer, überwallender Geist sagte ihr, es sei die Seele ihrer Großmutter.

Morel durchschritt das Vorhaus und fand das Treppengeländer. Auf den Stufen ausgebreitete Teppiche dämpften seinen Tritt; übrigens war er zu jenem Grade von Überspannung gelangt, wo ihn selbst das Erscheinen des Herrn von Villefort nicht erschreckt hätte. Sollte sich dieser zeigen, so war Morel entschlossen, sich ihm zu nähern, seine Liebe zu gestehen und um die Einwilligung des Staatsanwalts zu bitten. Morel war verrückt.

Zum Glück sah er niemand.

Jetzt kam ihm die Kenntnis, die er durch Valentine vom Innern des Hauses gewonnen hatte, zu statten. Er gelangte ohne Unfall oben auf die Treppe, und hier deutete ihm ein Schluchzen, über dessen Quelle er keinen Zweifel hegte, den Weg an, dem er zu folgen hatte. Er wandte sich um; eine etwas geöffnete Tür ließ den Schein des Lichtes und den Ton einer seufzenden Stimme zu ihm dringen. Im Hintergrunde eines Alkovens, unter dem weißen Tuche, das ihren Kopf bedeckte und ihre Form hervorhob, lag die Tote, schrecklicher noch in Morels Augen seit der Enthüllung des Geheimnisses, die ihm durch Zufall zuteil geworden war.

Neben dem Bette kniete Valentine, den Kopf in die Kissen eines Polsterstuhls vergraben. Man sah, wie sich ihr Körper von Zeit zu Zeit durch das Schluchzen emporhob; ihre starren Hände hielt sie gefaltet.

Valentine war vom offengebliebenen Fenster weggegangen und betete ganz laut in Tönen, die auch das unempfindlichste Herz gerührt haben müßten; die Worte entschlüpften ihren Lippen, rasch, unzusammenhängend, unverständlich, so sehr preßte ihr der brennende Schmerz die Kehle zusammen. Der Mond, der durch die Öffnung der Vorhänge glitt, ließ den Schein der Kerze erbleichen und übergoß mit seiner fahlen Farbe dieses trostlose Bild.

Morel konnte dem Schauspiel nicht widerstehen, er war von keiner musterhaften Frömmigkeit und auch nicht so leicht empfänglich für gewöhnliche Eindrücke, aber Valentine weinend, leidend, vor seinen Augen die Hände ringend . . . das vermochte er nicht still zu ertragen. Er stieß einen Seufzer aus, flüsterte einen Namen, und der in Tränen gebadete, marmorbleiche Kopf hob sich empor und wandte sich ihm zu.

Valentine erblickte ihn und zeigte kein Erstaunen. In einem von der höchsten Verzweiflung erfüllten Gemüte ist kein Raum für geringere Regungen. Morel reichte seiner Freundin die Hand. Statt jeder Entschuldigung, warum sie ihn nicht aufgesucht, deutete sie auf den unter dem weißen Tuche liegenden Leichnam und fing wieder an zu schluchzen.

Keines von ihnen wagte im ersten Augenblick, in diesem Zimmer zu reden. Jedes zögerte, das Stillschweigen zu brechen, das der Tod, der mit dem Finger auf den Lippen irgendwo im Winkel stand, aufzuerlegen schien.

Valentine wagte es zuerst und sagte: Freund, wie bist du hierher gekommen? Ach! ich würde dir sagen: Sei willkommen, wenn dir nicht der Tod die Tür dieses Hauses geöffnet hätte.

Valentine, erwiderte Morel mit zitternder Stimme und gefalteten Händen, ich war seit halb neun Uhr da; ich sah dich nicht kommen; die Unruhe erfaßte mich, ich sprang über die Mauer, drang in den Garten und hörte Stimmen, die über das unselige Ereignis sprachen.

Was für Stimmen? fragte Valentine.

Morel bebte, denn die Unterredung des Herrn d'Avrigny mit Herrn von Villefort trat vor seinen Geist, und er glaubte durch das Leichentuch die gekrümmten Arme, den steifen Hals, die blauen Lippen der Vergifteten zu sehen.

Die Stimmen Ihrer Bedienten haben mich von allem unterrichtet, sagte er.

Doch hier erscheinen, heißt uns zu Grunde richten, mein Freund, versetzte Valentine ohne Schreck und ohne Zorn.

Vergib mir, sagte Morel mit demselben Tone, ich will mich entfernen.

Nein, man würde dir begegnen, bleibe.

Doch wenn man käme? . . .

Das Mädchen schüttelte den Kopf und entgegnete: Es wird niemand kommen, sei unbesorgt, hier ist unsere Schutzwache. Und sie deutete auf die durch das Tuch sich abdrückende Form des Leichnams.

Doch, ich bitte dich, sage mir, was ist mit Herrn d'Epinay geschehen? fragte Morel.

Herr Franz kam, um den Vertrag zu unterzeichnen, gerade in dem Augenblick, wo meine gute Großmutter den letzten Seufzer aushauchte.

Ach! rief Morel mit einem Gefühle selbstsüchtiger Freude, denn er bedachte, daß dieser Tod Valentines Verheiratung auf unbestimmte Zeit verzögerte.

Doch was meinen Schmerz verdoppelt, fuhr das Mädchen fort, als sollte dieses Gefühl auf der Stelle seine Strafe erhalten, ist der Umstand, daß meine gute Großmutter sterbend befohlen hat, diese Heirat sobald als möglich zu vollziehen. Mein Gott! im Glauben, mich zu beschützen, handelte auch sie gegen mich.

Hörst du! sagte Morel.

Die jungen Leute schwiegen.

Man hörte, wie eine Tür sich öffnete und Tritte den Boden des Ganges und die Stufen der Treppe krachen ließen.

Es ist mein Vater, der sein Kabinett verläßt, sagte Valentine.

Und den Doktor zurückbegleitet, fügte Morel bei.

Woher weißt du, daß es der Doktor ist? fragte Valentine erstaunt.

Ich setze es voraus, sprach Morel.

Valentine schaute den jungen Mann an.

Man hörte indessen, daß die Tür, die auf die Straße führte, wieder zugeschlossen wurde. Herr von Villefort drehte den Schlüssel auch in der Tür zum Garten um und stieg dann die Treppe hinauf.

Im Vorzimmer blieb er einen Augenblick stehen, ohne Zweifel überlegend, ob er in seine Wohnung oder in das Zimmer der Frau von Saint-Meran gehen sollte; Morel warf sich hinter einen Türvorhang. Valentine machte keine Bewegung; es schien, als sei der höchste Schmerz über gewöhnliche Befürchtungen erhaben.

Herr von Villefort kehrte in sein Zimmer zurück.

Nun kannst du weder in den Garten, noch nach der Straße hinaus.

Morel schaute das Mädchen voll Erstaunen an.

Es gibt nur noch einen erlaubten und sichern Ausgang, nämlich durch die Wohnung meines Großvaters. Komm, komm, sagte sie aufstehend.

Wohin? fragte Maximilian.

Zu meinem Großvater.

Ich, zu Herrn Noirtier?

Ja.

Bedenkst du auch, Valentine?

Ich bedenke. Und zwar seit langer Zeit. Ich habe nur noch diesen Freund auf der Welt, und wir bedürfen seiner beide . . .

Nimm dich in acht, Valentine, sagte Morel, ungewiß, ob er tun sollte, was ihn Valentine tun hieß, nimm dich in acht, die Binde ist von meinen Augen gefallen. Als ich hierher kam, beging ich eine Handlung des Wahnsinns. Bist du wohl auch im Besitz deiner ganzen Vernunft, teure Freundin?

Ja, und ich habe nur eine Bedenklichkeit in der Welt, nämlich, daß ich die Überreste meiner armen Großmutter, die ich mir zu bewachen gelobt, allein lassen soll.

Valentine, der Tod ist durch sich selbst heilig.

Ja, so ist es, und überdies wird es nicht lange währen.

Valentine durchschritt den Gang und stieg eine kleine Treppe hinab, die zu Noirtiers Wohnung führte. Morel folgte ihr auf den Fußspitzen. Im Vorzimmer fanden sie den alten Diener.

Barrois, sagte Valentine, schließe die Tür und lasse niemand herein. Sie ging voran. Noch in seinem Lehnstuhle sitzend, auf das geringste Geräusch achtend, durch seinen alten Diener von allem, was vorfiel, unterrichtet, heftete Noirtier seine Blicke auf den Eingang des Zimmers; er sah Valentine, und sein Auge glänzte.

Es lag in dem Gange und in der Haltung des Mädchens etwas Ernstes, Feierliches, was dem Greise auffiel. So glänzend auch sein Auge war, so wurde es doch forschend. Lieber Vater, sagte sie, höre mich wohl! Du weißt, daß die gute Mama vor einer Stunde gestorben ist, und daß ich nun, dich ausgenommen, auf der Welt niemand mehr habe, der mich liebt?

Ein Ausdruck unbeschreiblicher Zärtlichkeit leuchtete aus den Augen des Greises. Nicht wahr, dir allein muß ich meinen Kummer oder meine Hoffnungen anvertrauen?

Der Gelähmte machte ein bejahendes Zeichen.

Valentine nahm Maximilian bei der Hand und sagte: So sieh diesen Herrn an! Der Greis heftete sein Auge forschend, zugleich aber etwas erstaunt auf Morel.

Es ist Herr Maximilian Morel, der Sohn des ehrlichen Kaufmanns in Marseille, von dem du ohne Zweifel hast sprechen hören.

Ja, machte der Greis.

Ein tadelloser Name, den Maximilian glorreich machen wird, denn mit dreißig Jahren ist er Kapitän der Spahis und Offizier der Ehrenlegion. Der Greis machte ein Zeichen, daß er sich dessen erinnere.

Wohl, guter Papa, sagte Valentine, vor dem Greise niederkniend und mit der Hand auf Maximilian deutend, ich liebe ihn und werde nur ihm gehören! Zwingt man mich, einen andern zu heiraten, so sterbe ich, und mußte ich mir selbst das Leben nehmen. Die Augen des Gelähmten drückten eine ganze Welt stürmischer Gedanken aus.

Nicht wahr, guter Papa, du liebst Herrn Maximilian Morel? sagte das Mädchen.

Ja, machte der Greis.

Und du willst uns, die wir deine Kinder sind, gegen den Willen meines Vaters beschützen?

Noirtier heftete seinen gescheiten Blick auf Morel, als wollte er ihm sagen: Je nachdem.

Maximilian verstand ihn und sagte: Mein Fräulein, Sie haben eine heilige Pflicht in dem Zimmer Ihrer Großmutter zu erfüllen; wollen Sie mir erlauben, daß ich die Ehre habe, einen Augenblick mit Herrn Noirtier zu sprechen?

Ja, ja, das ist es, sagte das Auge des Greises; dann schaute er Valentine unruhig an.

Wie er es machen werde, um dich zu verstehen, willst du sagen, guter Vater?

Ja.

Oh! sei unbesorgt, wir haben so oft von dir gesprochen, daß er wohl weiß, wie ich mit dir rede.

Dann fügte sie mit einem anbetungswürdigen Lächeln, das freilich durch eine tiefe Traurigkeit verschleiert war, zu Maximilian gewendet, hinzu: Er weiß alles, was ich weiß.

Valentine erhob sich, rückte für Morel einen Stuhl vor, empfahl Barrois, niemand eintreten zu lassen, umarmte zärtlich ihren Großvater, drückte ihrem Verlobten traurig die Hand und entfernte sich.

Um Noirtier zu beweisen, daß er Valentines Vertrauen besitze und alle ihre Geheimnisse kenne, nahm er das Wörterbuch, die Feder und das Papier und legte alles auf einen Tisch, auf dem eine Lampe stand. Vor allem, sagte Morel, vor allem erlauben Sie mir, Ihnen zu erzählen, mein Herr, wer ich bin, wie ich Fräulein Valentine liebe, und was meine Absichten in Bezug auf Ihre Enkelin sind.

Ich höre, machte Noirtier.

Er bot ein eindrucksvolles Schauspiel, dieser Greis, scheinbar so kraftlos und unnütz, der aber doch der einzige Beschützer und die einzige Stütze, der einzige Berater zweier junger, schöner, starker Liebenden geworden war. Sein Antlitz, in dem sich Adel und ungewöhnliche Energie paarten, brachte eine mächtige Wirkung auf Morel hervor, der seine Erzählung zitternd begann.

Er teilte dem Greise mit, wie er Valentine kennen gelernt habe, wie er sie geliebt, und wie sie, vereinsamt und unglücklich, wie sie war, seine Ergebenheit aufgenommen habe. Er sprach von seiner Geburt, von seiner Stellung, von seinem Vermögen; und mehr als einmal, wenn er den Blick des Gelähmten befragte, antwortete ihm dieser Blick: Es ist gut: fahren Sie fort!

Als Morel diesen ersten Teil seiner Erzählung beendigt hatte, sagte er: Mein Herr, soll ich nun, da ich Ihnen meine Liebe und meine Hoffnungen geschildert, auch meine Pläne schildern?

Ja, machte der Greis.

Wohl, so hören Sie, was wir beschlossen haben.

Er setzte hierauf Noirtier alles auseinander, wie ein Wagen in dem Gehege warte, wie er beabsichtige, Valentine zu entführen, zu seiner Schwester zu bringen, zu heiraten und mit ergebenem Warten auf die Verzeihung des Herrn von Villefort zu hoffen.

Nein, machte der Greis.

Nein, versetzte Morel, wir sollen nicht so handeln?

Nein.

Dieser Plan findet also nicht Ihre Beistimmung?

Nein.

Gut, es gibt noch ein anderes Mittel, sagte Morel.

Der Blick des Greises fragte: Welches?

Ich werde Franz d'Epinay aufsuchen, fuhr Maximilian fort, ich bin glücklich, Ihnen dies in Abwesenheit des Fräulein von Villefort sagen zu können, und mich gegen ihn so benehmen, daß er sich als ein mutiger Mann zu handeln gezwungen sieht.

Noirtiers Blick fragte fortwährend: Was werden Sie tun?

Hören Sie, antwortete Morel. Ich werde Franz, wie ich Ihnen sagte, aufsuchen und ihm erzählen, welche Bande mich mit Fräulein Valentine vereinigen. Ist es ein Mann von Zartgefühl, so wird er es dadurch beweisen, daß er von selbst auf die Hand seiner Braut Verzicht leistet, und von dieser Stunde an bis zum Tode kann er auf meine Freundschaft und Ergebenheit rechnen. Weigert er sich, sei es aus Interesse, sei es aus lächerlichem Stolz, so werde ich mich, nachdem ich ihm auseinandergesetzt, daß er Valentine Zwang antue, daß sie mich liebe und keinen andern lieben könne, mit ihm schlagen und ihn töten, oder mich von ihm töten lassen. Töte ich ihn, so wird er Valentine nicht heiraten; tötet er mich, so bin ich sicher, daß Valentine ihn nicht heiratet.

Mit unsäglichem Vergnügen betrachtete Noirtier dieses edle, aufrichtige Antlitz, auf dem sich alle Gefühle ausprägten, die seine Zunge sprach, denn der sprechende Ausdruck seines schönen Gesichtes verlieh Morels Worten das, was die Farbe einer genauen und wahren Zeichnung verleiht. Als jedoch Morel zu sprechen aufgehört hatte, schloß Noirtier wiederholt die Augen, was, wie man sich erinnert, nein bedeutete.

Nein? versetzte Morel. Also mißbilligen Sie diesen zweiten Plan wie den ersten?

Ja, ich mißbillige ihn, machte der Greis.

Aber was soll ich tun, mein Herr? fragte Morel. Nach den letzten Worten der Frau von Saint-Meran wird die Heirat Ihrer Enkelin bald vollzogen werden; soll ich die Dinge ihren Weg gehen lassen?

Noirtier blieb unbeweglich.

Ja, ich begreife, sagte Morel, ich soll warten. – Ja.

Aber mein Gott, wenn Sie die beiden einzigen Wege verwerfen, die mir möglich scheinen, von wem soll uns die Hilfe kommen, die wir vom Himmel erwarten?

Der Greis lächelte mit den Augen, wie er zu lächeln pflegte, wenn man zu ihm vom Himmel sprach. Er war immer noch der alte Atheist und Jakobiner.

Vom Zufall? fragte Morel. – Nein. – Von Ihnen? – Ja. – Von Ihnen? – Ja, wiederholte der Greis.

Begreifen Sie wohl, was ich Sie frage, mein Herr? Entschuldigen Sie mich, doch mein Leben hängt von Ihrer Antwort ab; wird unser Heil von Ihnen kommen? – Ja. – Sind Sie dessen sicher? – Ja.

Es lag eine solche Festigkeit in dem Blicke, der diese Versicherung gab, daß man unmöglich an dem Willen, wenn vielleicht auch an der Macht, zweifeln konnte.

Oh, ich danke, mein Herr, ich danke tausendmal. Doch wenn nicht ein Wunder des Herrn Ihnen die Sprache, die Gebärde, die Bewegung zurückgibt, wie können Sie, an diesen Stuhl gefesselt, sich dieser Heirat widersetzen?

Ein Lächeln erleuchtete das Antlitz des Greises, ein seltsames Lächeln, das Lächeln der Augen auf einem unbeweglichen Gesichte.

Ich soll also warten? fragte der junge Mann. Doch der Vertrag?

Es erschien dasselbe Lächeln.

Wollen Sie mir sagen, er werde nicht unterzeichnet?

Ja, machte Noirtier.

Also wird der Vertrag nicht unterzeichnet werden! rief Morel. Oh! verzeihen Sie mir, mein Herr, bei der Ankündigung eines großen Glückes ist man zu zweifeln berechtigt; der Vertrag wird also nicht unterzeichnet werden?

Nein, machte der Gelähmte.

Trotz dieser Versicherung wollte Morel nicht an sein Glück glauben. Das Versprechen eines ohnmächtigen Greises war so seltsam, daß es, statt der Willenskraft zu entspringen, ebensogut in einer Schwäche der Organe seinen Ursprung haben konnte. Ist es nicht natürlich, daß der Wahnsinnige, der nichts von der Störung seines Geistes weiß, für sein Vermögen Unüberwindliches ausführen zu können glaubt? Der Schwache spricht von Lasten, die er aufhebt, der Schüchterne von Riesen, denen er Trotz bietet, der Arme von Schätzen, über die er zu gebieten hat, der Niedriggeborene nennt sich in seinem Stolze Jupiter.

Ob nun Noirtier die Unentschiedenheit des jungen Mannes begriffen hatte, ob er der Gelehrigkeit, die er gezeigt, keinen vollen Glauben schenkte, er schaute Maximilian fest an. Was wollen Sie, mein Herr? fragte Morel, soll ich Ihnen mein Versprechen, nichts zu tun, wiederholen?

Noirtiers Blick blieb fest und starr, als wollte er sagen, ein Versprechen genüge nicht; dann schaute er auf Morels Hand.

Soll ich schwören, mein Herr? fragte Maximilian.

Ja, machte der Lahme mit derselben Feierlichkeit.

Morel begriff, daß dem Greise an diesem Eide viel gelegen sei.

Er streckte die Hand aus und sagte: Ich schwöre Ihnen bei meiner Ehre, abzuwarten, was Sie gegen die Ansprüche des Herrn d'Epinay zu unternehmen gedenken.

Gut, machten die Augen des Greises.

Nun befehlen Sie, mein Herr, daß ich mich zurückziehe?

Ja.

Morel bedeutete durch ein Zeichen, er sei bereit, zu gehorchen.

Erlauben Sie, mein Herr, fuhr Morel fort, daß Ihr Sohn Sie umarmt, wie es soeben Ihre Tochter getan hat?

Man konnte sich in dem Ausdrucke der Augen des Greises nicht täuschen. Der junge Mann drückte auf Noirtiers Stirn seine Lippen an dieselbe Stelle, an die Valentine die ihrigen gedrückt hatte.

Dann verbeugte er sich zum zweiten Male vor dem Greise und ging hinaus. Außen fand er den alten Diener, den Valentine in Kenntnis gesetzt hatte; er erwartete Morel und geleitete ihn durch die Krümmungen eines düsteren Ganges, der zu einer nach dem Garten gehenden kleinen Tür führte. Bald hatte Morel das Gitter erreicht; durch die Hagenbuchenhecke war er in einem Augenblick oben auf der Mauer und durch seine Leiter in einer Sekunde in dem Luzernengehege, wo sein Wagen immer noch seiner harrte. Er stieg ein, kehrte müde und matt, aber mit freierem Herzen in die Rue Meslay zurück, warf sich auf sein Bett und schlief, als läge er in den Banden tiefer Trunkenheit.


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