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8. Der Waldwärter.

Und bist du jung, so habe acht
Und denk an deines Jungherrn Macht,
Er gibt dir Arbeit, gibt dir Brot,
Du kämpfest um der Deinen Not. –

Armsünderlieder.

In Susannens Hütte war es still an diesem Tage, wie auch sonst; die alte Blödsinnige war ausgegangen, indem sie den kranken Arbeiter sich selbst überließ; Anne hatte, wie wir wissen, das Herrenhaus bezogen, wo sie dem Fräulein als Kammermädchen und Wirtschafterin zur Hand gehen sollte. Susanne hatte ihre Entfernung nicht vermißt. Die alte Blödsinnige hatte sich von jeher nie sonderlich um ihre Tochter gekümmert und würde sie auch jetzt höchstens gebraucht haben, wenn sie einen Ableiter des scheltenden Zornes gesucht hätte. In der Hütte war es daher einsam und still. Der kranke Anton saß auf seinem Lager gelangweilt und verlassen, während die übrigen Dorfbewohner dort unter dem Maibaum jubelten. Sein Zustand erlaubte ihm nicht aufzustehen, und doch fühlte er sich gerade heute leichter und freier und somit doppelt von der Einsamkeit um sich her bedrückt.

In dem Gemach herrschte das trübe Dämmerlicht, welches nie, auch am hohen Mittage nicht, ganz aus demselben schied.

»Wo die Alte nur wieder steckt!« murmelte Anton, indem er an seinem Nägeln biß. »Sicherlich ist sie im Herrenhaus, und ich kann mich hier im Dunkeln langweilen, während sie dem Fräulein nachläuft! Ach, mein Gott! – Und die Anne könnte wohl auch einmal herkommen und nach mir sehen. Solange sie hier war, wußte sie mich doch immer zu pflegen.«

Es vergingen einige Minuten des tiefsten Schweigens, währenddes der Arbeiter still seinen Gedanken nachhing.

»Es ist um des Teufels zu werden!« rief er dann plötzlich aus. »Auch die hat mir das Fräulein nun wieder entzogen, die Alte und die Tochter, und mich lassen sie elend hier umkommen. Das ist der Dank dafür, daß man sich plagt und schinden läßt, um dem Kind des vornehmen Mannes Reichtümer herbeizuschaffen!«

»Wer so dumm ist, sich dazu herzugeben, verdient es nicht besser!« sagte lachend eine fremde Stimme.

Der Arbeiter sah sich halb erschrocken um und betrachtete den Waldwärter, der in der Türe stand, einen Augenblick mit schweigendem Zweifel.

»Wie kommst du hierher? Was willst du hier?« polterte er dann auf. »Wer hat dich herkommen geheißen?«

»Du wirst nicht ungehalten darüber sein«, sagte der Waldwärter, mit spöttischem Lächeln hereintretend, »da du dich eben so sehr über deine Einsamkeit und über die Leute, die daran schuld sind, beschwert hast. Die Anne ist bei dem Maifest im Dorfe, wo die Narren so jubeln, weil sie das Fräulein zur Maikönigin gemacht.«

»So, … das Fräulein ist also zur Maikönigin gewählt«, murrte der Arbeiter für sich hin, »überall und immer …«

»Ist sie den armen Leuten im Wege, he?« lachte Franz, als der andere innehielt. »Warum sprichst du deine Gedanken nicht aus? … Hast du doch eben laut genug darüber geflucht, daß sie dir sowohl die Aufmerksamkeit und den Beistand Susannens wie die Pflege Annens wegstibitzt.«

»Wer heißt dich denn horchen?« fuhr der Arbeiter wieder auf, »mache, daß du fortkommst! Ich bin doch lieber allein als mit dir zusammen!«

»Soll ich dir vielleicht die alte Blödsinnige schicken, die auf der Gartenmauer im Herrenhaus sitzt, um die Rückkehr ihrer schönen, lieben Maikönigin abzuwarten? Sie fürchtet sich nur vor dem Geschrei der Kinder, die immer hinter ihr dreinziehen, sonst wäre sie wohl gar unter den Maibaum gelaufen, um sich dort an dem feinen Kinde zu weiden und es zu hätscheln. Aber sie sitzt, wie gesagt, auf der Gartenmauer, um sich die Ankunft des Fräuleins ja nicht entgehen zu lassen. Die Alte würde auch nicht früher zu dir kommen, wenn ich es ihr Sagen würde; du kannst ihr das nicht zumuten, jetzt, wo sie alle Gedanken nur auf die Liebkosungen des vornehmen Fräuleins richtet, es würde ihr ja alle Freude verderben, wenn sie statt dessen an deinem Krankenbett sitzen sollte. – Und Anne? – Nun, ob die kommen wird, weiß ich noch weniger. Ich glaube, sie ist froh, daß sie aus der Hütte fort ist. Ich kann es ihr auch nicht verdenken, daß sie lieber dort in dem vornehmen Hause als hier in dem Elende bleiben will.«

Der Arbeiter fuhr mit der Hand an sein Kopfkissen, um sich höher aufzurichten, und schlug dann in zorniger Aufregung mit der Faust auf die Decke des Lagers.

»Willst du mich umbringen, du Hund, mit deinen verfluchten Reden!« schrie er erbost. – »Geh zum Teufel und laß mich in Ruhe! Ich habe nichts mit dir zu schaffen, und wenn du nicht gehst … Oh, daß ich nicht aufstehen kann, um dir das Hirn einzuschlagen! Aber schreien will ich, wenn du nicht gehst, schreien, daß die Leute herbeikommen und dich hinauswerfen, du Schuft!«

»Daß du nicht aufstehen kannst, wer ist schuld daran?« lachte der andere boshaft. »So schrei denn, damit du von neuem den Blutsturz bekommst, den du in den Steinbrüchen deines gnädigen Herrn dir geholt hast. Es ist ohnedies vielleicht besser, daß du auf diese Art zu Ende kommst, als daß du langsam im Elend verdirbst. Zum Arbeiter taugst du doch nicht mehr, und dein Herr wird dich sicher nicht wieder aufnehmen, auch nicht als Tagelöhner; das hat er vorgestern dem Verwalter und den Knechten gesagt. Die Arbeiter aber, welche dir vorgestern deinen Wochenlohn vollgemacht, werden dir auch nicht immer Geld geben können, denn sie verdienen für sich selber kaum genug.«

»Die Arbeiter hätten mir den letzten Wochenlohn gegeben? Das ist eine elende Lüge!« rief der Kranke auffahrend. »Der Werkmeister hat der alten Susanne meinen Wochenlohn gegeben, und gesagt, daß der Herr das Geld für die letzten paar Tage dazugelegt hätte!«

»Weil er ein Narr ist und auf den Namen deines Herrn Gutes tun will, dessen er sich schämt«, lachte der Waldwärter; »vielleicht hat er geglaubt, daß du es nicht annehmen würdest, wenn du wüßtest, daß deine Kameraden dir es geben, die selber nichts haben.«

»Und warum hätte ich es nicht annehmen sollen von meinen Kameraden?« sagte der Kranke in sich kämpfend. »Die Reichen geben einem nichts. Hätte ich vielleicht verhungern sollen? Aber nein, ich würde es nicht angenommen haben« rief er plötzlich mit neuer Heftigkeit; »ich würde lieber verhungert sein, wenn ich das gewußt hätte. Ich brauchte mich wenigstens dann nicht zu schämen!«

»Wirst du nun noch länger mit deinen Gedanken hinter dem Berge halten, bei denen ich dich überrascht habe?« fragte der Waldwärter näher tretend.

»Schuft, der du bist!« rief der andere in wachsendem Zorn. »Es ist nicht wahr, was du mir gesagt hast! Du hast mich belogen, um mich gegen meinen Herrn aufzureizen, gegen den du von alters her einen Haß hegst!«

»Ja, – ich hasse deinen Herrn«, sagte der Waldwärter ingrimmig, indem er den Kolben seines Gewehres auf den Boden stieß; »ich hasse ihn, weil er schuld an meinem Unglück ist, weil er schuld ist, daß ich ein Lump geworden und von den Leuten verachtet bin! Ich hasse ihn und gäbe mein Leben drum, wenn ich ihn im Elend und Unglück verderben sehen könnte! Aber dazu ist freilich keine Aussicht, solange es solche Tröpfe gibt wie ihr, die sich für ihn zu Tode rackern und lieber selber verderben.« Der Kranke betrachtete den flammenden Zorn in des anderen Angesicht mit überraschtem Schweigen. Der Waldwärter aber fuhr ihn an:

»Du Tropf fragst, ob es wahr sei, daß er dir den Lohn abgezogen? Ich sage dir, bei den Gebeinen meiner Mutter, es ist wahr, was ich dir gesagt! Und wenn es nicht wahr wäre, bist du darum besser daran? Hast du dich nicht dein Lebtag in seinen Steinbrüchen geplagt und gequält? Was hast du davon? Solange du für ihn so gearbeitet, hattest du einen Lohn, von dem du grade die Woche zwischen Leben und Sterben vegetieren und die Lumpen für deinen Körper kaufen konntest! Sogar von diesem Lohn hat er dir Abzüge gemacht und statt dessen Branntwein aus seiner Brennerei gegeben, den du anderwärts zehnmal billiger und besser hättest kaufen können. Jetzt, wo du von seinem Dienst elend geworden, läßt er dich krepieren wie einen Hund. Und ist er nicht reicher und immer reicher geworden von eurem Schweiß, hat er nicht seine Güter gebessert und vermehrt und lebt in Saus und Braus? Und du fragst nach einer solchen Lumperei, ob es wahr sei, daß er dir von neuem einmal einen Abzug gemacht! Ist dein ganzes Leben neben dem seinen nicht der beste Beweis, daß der Arbeiter von seinem reichen Herrn um den Preis der Arbeit bestohlen und betrogen wird?«

Der Kranke sah mit stummem Nachdenken auf den Waldwärter, der aufgeregt durch das Gemach auf und nieder schritt.

»Ich glaube, du hast recht«, sagte er düster, »aber wer kann das ändern? Laß mich mit dem Gedanken in Ruh; es ist mir, als ob du mich zu etwas Bösem verführen wolltest.«

Der Waldwärter setzte sich auf einen Schemel neben dem Lager des Kranken, der ihn noch immer sinnend betrachtete.

»Was hast du denn für Grund zum Haß gegen den Gutsherrn?« fragte Anton neugierig auf die frühere Äußerung des anderen. »Du sagtest, er wäre schuld an deinem Unglück?«

Der Waldwärter rückte seinen Schemel näher und sah den Arbeiter mit einem eigentümlichen Lächeln an. Seine Stimme klang kalt und schneidend, als er antwortete. »Du bist ein Tropf«, sagte er langsam; »was geht es dich an, wie viele und wie sie unter dem Druck der Reichen zugrunde gehen? Ist es nicht genug, daß es überhaupt der Fall ist? Hat nicht jeder einzelne das Recht auf ein ehrliches Leben, und sind es nicht Verhältnisse der erbärmlichsten Scheußlichkeit, daß einem dies Recht entzogen werden kann? Aber ich will dir meine Geschichte erzählen; es tut mir selber wohl, mein Herz einmal ausschütten zu können, bevor ich es ganz vergrabe.«

Draußen sank die Sonne schon tiefer und die Dämmerung in dem Gemach der Hütte wurde dichter und trüber. Das große Auge des Waldwärters leuchtete unheimlich, und der kalte, veränderte Ton seiner Stimme hallte seltsam in den öden Wänden. Der Arbeiter fühlte sich befangen und bewegt; sein Blick hing an dem düsteren, lodernden Auge des anderen, und er lauschte in erwartungsvollem Bangen, während der Waldwärter seine Geschichte erzählte.

*

An dem Totenbette einer Frau stand ein Knabe von zehn bis elf Jahren. Die Verstorbene war seine Mutter, deren rauhes Äußere mit dem groben Kopftuch die Arbeiterin verriet. Der Mann dieser Frau war ein Jahr zuvor gestorben, – infolge eines Blutsturzes, den ihm die anstrengende Arbeit zugezogen hatte. Der Knabe hatte damals an ihm keinen Vater, die Frau keinen Gatten verloren; der Mann hatte sich um beide nie viel gekümmert. Er teilte seinen Verdienst mit ihnen, und sie hatten zu leben, solange er lebte. Frühmorgens ging er an die Arbeit; mittags kam er zum Tisch, wo ihm seine Frau eine Suppe vorsetzte; dann ging er wieder an die Arbeit und kehrte erst spät am Abend zurück. Aber weder bei Tisch noch abends sprach er viel mit seiner Frau; gewöhnlich wurde nur ein Gruß gewechselt. Um den Knaben bekümmerte er sich noch weniger, wiewohl das Kind seinen düsteren Ernst mit Liebkosungen und Herzlichkeiten zu verscheuchen suchte. Weder die Frau noch der Mann klagten über einander bei dritten. Es schien, als wäre die Mißstimmung, die ihre Herzen trennte, nach außen erstorben, als wäre sie abgetan, versenkt in ihrem Inneren, und die beiden Gatten füreinander kaum vorhanden. Sie handelten nach ihrem Innern, die äußere Berührung war mechanisch, wie im Leben unter Fremden. Sie konnten und durften so handeln, aber sie dachten dabei nicht an das Kind. Dieser Knabe war also aufgewachsen, fremd, ohne Liebe; er sah von seinen Eltern nichts als ihr äußeres, verschrumpftes Dasein. Sein Herz zog sich scheu in seiner Brust zusammen; es verbarg sich tiefer und tiefer vor dem Schauer jener lieblosen Kälte. Der Knabe wurde düster und menschenfeindlich, noch ehe er die Menschen kannte. Nie sah man ihn mit den andern Kindern des Dorfes spielen, wie es die Jugend gewöhnt ist; stets ging er teilnahmslos und schweigend an ihnen vorüber. Seine Seele war zur Hälfte erstorben, ehe er ins Leben trat. – Die Leute sahen die leise, schweigende Mißstimmung durch diese Hütte ziehen, ohne daß sie sonderlich darauf geachtet hätten. Manche schüttelten wohl den Kopf und meinten, daß die Familie wohl nicht glücklich wäre. Glücklich! – Diese Leute verstanden von dem Verhältnis nichts, ja sie sahen nicht einmal etwas davon. Als einst ein Bekannter den Arbeiter fragte, ob er sich mit seiner Frau veruneinigt, sagte der Mann mit großem, ruhigem Erstaunen: »Veruneinigt? Ich wüßte nicht Weshalb. Es ist ja im Hause alles stets in Ordnung.« Die Kurzsichtigen fanden das auch und glaubten, daß die schneidende Kälte in dem Verhältnis nur so eine Abspannung oder gleichförmige Ruhe sei. An die Fröhlichkeit ihres ersten Zusammenlebens, an die frühere Munterkeit des Arbeiters und Lieblichkeit des Mädchens dachte niemand zurück; wenn es vielleicht auch geschah, so hielten sie die Änderung ihrer Stimmung für Folge der Sorgen. So war das Verhältnis der beiden ein ruhiger Wasserspiegel, unter dem niemand den ausgebrannten Vulkan vermutete.

Der Knabe, dessen junges Leben in diesem harten Boden Wurzel schlug, fand nichts, gar nichts von Nahrung seiner Seele, von Pflege seines Herzens. Die Knaben im Dorf hielten ihn für einen Heimtücker und behandelten ihn danach, wenn er sich einmal sehen ließ. Dadurch wurde er auch heimtückisch; sooft er konnte, verdarb er den übrigen ihr Spiel und ihr Vergnügen und hatte eine boshafte Freude an ihren Tränen und ihrem steigenden Groll. Hatte man ihn lieben gelehrt? Er war einsam und ohne Liebe aufgewachsen, und es war kein Wunder, daß er an Ungeselligkeit und liebloser Bosheit Gefallen fand. Als sein Vater starb, weinte er nicht; er kannte ihn ja nicht, und das Blut allein macht die Eltern noch nicht aus. Sie begruben den Mann still und einfach. Es war niemand dabei, dessen zitternde Hand eine Scholle auf den versenkten Sarg geworfen hätte. Die Frau saß ruhig in ihrer Hütte, wo einige Nachbarinnen sie besucht hatten, die sie trösten wollten und bald wieder verließen; der Knabe war in den Wald gegangen, wo er Vogelnester zerstörte und den Vöglein ihre Eier wegnahm.

Aber der Tod des Mannes hatte dennoch Einfluß auf das Leben der Zurückbleibenden. Die Frau war genötigt, selbst und allein für ihren Unterhalt zu sorgen, und es fiel ihr schwer. Sie hätte es vielleicht etwas besser haben können, wenn sie in den Steinbrüchen der gutsherrlichen Familie Handdienste hätte tun wollen; aber sie wies diesen Gedanken mit Heftigkeit zurück. Auch auf den Herrenhof selbst wollte sie nicht, wie ihr der Pfarrer bei seinem Besuch vorschlug und seine Fürsprache dazu anbot. Sie wollte weder als Arbeiterin noch als Magd dort abhängig sein, wie sie sagte, sondern selbst ihren Erwerb suchen, wo es und wie schwer es auch immer sei. Es war ihr in der Tat schwer, und sie darbten manchmal; aber die Frau murrte nicht. Sie tat Dienst bei den Bauern und im Wirtshaus des Dorfes; war die Zeit vorbei, wo sie hier Beschäftigung finden konnte, so suchte sie sich durch Besenbinden in der Nachbarschaft ihr Brot zu verschaffen. Die Leute gaben ihr wohl aus Mitleid, wenn sie konnten, in der Erntezeit und sonst zu tun; aus Mitleid ließ der Wirt im Dorfe die Gläser und Zimmer von ihr reinigen; aus Mitleid kaufte man ihr in der Nachbarschaft ihre schlecht gebundenen Besen ab. Es war eine traurige Existenz für die Frau, und sie trug sie nicht lange.

Als sie auf dem Krankenbett lag, rief sie ihren Sohn herbei. Der Knabe, der nicht wußte, was diese Vorbereitung zu bedeuten habe, kam mit zweifelhafter Neugierde heran und fragte, was sie ihm zu sagen habe; die Mutter mochte fühlen, wie lieblos diese Worte in solchem Augenblick in dem Munde ihres Kindes klangen; sie rückte sich mühsam den Kopf höher und warf einen langen Blick auf den Knaben. Dann aber lehnte sie sich wieder mit einem Seufzer zurück; sie mußte ja wissen, wer das Herz dieses Kindes erstickt, wer ihm jede Liebe geraubt habe. Der Knabe fragte darauf ungeduldig von neuem, was sie ihm mitzuteilen habe; er wollte hinaus aus der drückenden Kammer, wo ihm das Sterbebett keine besondere Stimmung einzuflößen schien.

»Bleibe, mein Sohn«, sagte die Kranke ruhig; »es ist doch das letzte Mal, daß ich mit dir spreche, du kannst mir diese paar Augenblicke opfern.«

Der Knabe gehorchte und setzte sich gleichmütig an dem Lager nieder, indem er den Ellbogen auf die Knie stützte und dabei an den Nägeln kaute.

»Ich will dir von deinen Eltern erzählen, von mir und deinem verstorbenen Vater«, sagte die Sterbende seufzend. »Ich möchte das nicht für immer mit mir hinunternehmen, damit du nicht vielleicht später, wenn du an deine Erziehung denkst, deine Eltern verfluchst. Auch sollst du dich nicht dem übergeben, der uns alle elend gemacht hat.«

Der Knabe sah ihr ruhig in die Augen, während er auf das ihm unverständliche Rätsel lauschte. Die Kranke aber erzählte ihm nunmehr in langsamen und oft abgebrochenen Worten, wie sie zuerst mit seinem Vater bekannt geworden. Damals war sie ein schönes und lebhaftes, harmloses Geschöpf gewesen. Sie liebte den Arbeiter, der um sie freite, aufrichtig, und die Leute, welche sie am Sonntag zusammen gehen sahen, hielten sie für ein glückliches Paar. Der Arbeiter war in den Steinbrüchen des Herrn Stempel beschäftigt, und sein Verdienst, Wenn auch nicht bedeutend, versprach doch für den notwendigen Unterhalt beider in einem bescheidenen Haushalt auszureichen. Als sie sich verheirateten, zogen sie in eine der Hütten, welche an jenem Ende des Dorfes nach der Richtung der Steinbrüche lagen. Die junge Frau stellte sich abends an die Türe der Hütte, um von ferne schon die Rückkehr ihres Gatten von seinem Tagewerk beobachten zu können. Ihr Glück, ihre stille häusliche Freude dauerte ungetrübt einige Wochen fort. Eines Tages stand die Frau des Arbeiters eben vor ihrer Tür, als der junge Herr, der damals die Besitzung seines verstorbenen Vaters angetreten hatte, aus den Steinbrüchen von einer Besichtigung zurückkehrte. Er war ermüdet und trat zu der jungen Frau in die Tür, indem er sich, den Schweiß von der Stirn trocknend, ein Glas Wasser ausbat. Dabei hielt er sich eine kleine Weile auf, indem er mit der hübschen Frau scherzte und ihr in die Wangen kniff. Die Frau lachte und ließ sich seine Unterhaltung gefallen; war er nicht der gnädige Herr, und konnte sie ihn wohl zurückweisen? Als er sie jedoch umarmen wollte, wußte sie sich seiner Zudringlichkeit bescheiden und doch nachdrücklich zu entziehen. Die junge Frau verschwieg ihrem Manne am Abend diesen Vorfall; sie hatte sich dabei nichts vorzuwerfen und wollte ihm einen unnützen Ärger ersparen. Einige Tage darauf trat der Gutsherr nach einem Spaziergang abermals bei ihr ein. Die junge Frau errötete diesmal bei seinem Anblick; sie wußte, was sie nach jenem Vorfall von ihm zu erwarten habe, und dies Bewußtsein gab ihrem Wesen eine leise, ängstliche Befangenheit. Der Gutsherr betrachtete sie in ihrem Erröten mit lächelndem, besonderem Ausdruck; er scherzte und unterhielt sich eine Weile ruhig und gemessen mit ihr, aber die Frau zitterte heimlich unter seiner Gegenwart. Erst allmählich rückte er ihr näher, und seine lüsterne Begier sprach sich deutlicher in seinen Blicken aus. Die Frau nahm endlich ihren ganzen Mut zusammen und verwies ihm mit ernsten, ruhigen Worten, durch die nur das Beben ihrer Stimme klang, ein für allemal sein Benehmen. Da ließ der vornehme, junge Mann plötzlich seine Maske fallen. Er erklärte ihr rund und unumwunden seine Absichten und fügte die Drohung hinzu, daß er im anderen Falle ihren Mann aus der Arbeit entlassen werde; dann schied er, um ihr einige Tage Bedenkzeit zu lassen. Die junge Frau blieb in düsteren Gefühlen der Angst und Verzweiflung zurück. Sie wagte es nicht, ihrem Gatten den Vorfall zu gestehen; mußte er nicht glauben, daß sie früher schon dem Gutsherrn Gelegenheit zu diesem Plan gegeben? Und was sollte sie tun? Sie vermochte den Gedanken nicht auszuführen, daß sie ihre Pflicht gegen den Mann, den sie liebte, verletzen solle. Aber mußte sie nicht fürchten, daß der Gutsherr seine Drohung erfülle, daß er dem Arbeiter die Mittel ihres Unterhalts entziehe und sie beide dem Elend preisgebe? Nein, sie glaubte nicht daran, daß er es tun würde, sie hielt ihn dieser teuflischen Rache nicht fähig; es war nur eine Drohung, eine Versuchung, die er ihr bot, und sie wies sie zurück. Einige Tage wich sie dem Gutsherrn aus. Sie besuchte ihren Mann in den Brüchen, ging zu den Nachbarinnen und behielt, wenn sie sonst zu Hause sein mußte, eine Freundin bei sich. Der Gutsherr kam ein- und zweimal wieder; als er aber ihre Absicht merkte, blieb er gänzlich weg. Die junge Frau freute sich schon ihrer List und hoffte, daß der Herr sie auf diese Weise vergessen und seine Absichten aufgeben werde. Aber sie täuschte sich.

Der Gutsherr hatte um diese Zeit die Arbeiten in den Brüchen vergrößert, weil er dem Geschäft eine weitere Ausdehnung geben wollte. Er zog neue Arbeiter aus anderen Gegenden heran; viele auch folgten von selbst, in Hoffnung auf dauernden Erwerb. Das Dorf füllte sich mehr mit Steinarbeitern, – vielleicht zu sehr, als daß der Besitzer sie alle regelmäßig hätte verwenden können, während die ungleiche Zeit den Handel unregelmäßig und schwankend machte. Dies letztere wenigstens war der Vorwand, unter dem der Gutsbesitzer plötzlich eine Anzahl ablöhnen ließ. Unter ihnen befand sich der Mann dieser Frau. Die Abgelöhnten sahen sich mit einem Male außer Verdienst, und ihr elendes, verkümmerndes Ende war vorauszusehen. Da erbarmte sich der vornehme junge Mann, übergab einem Teile von ihnen seine Felder zu bewirtschaften, nahm andere auf sonstige Art in Tagelohn und unterhandelte mit einem Werkmeister ein für allemal auf eine feste Zahl von Arbeitern, die er dauernd beschäftigen wolle. Die Leute priesen seine Menschenfreundlichkeit. Er hatte auf diese Art sie alle vor Arbeitslosigkeit geschützt, solange sie brauchbar waren; die Arbeiterzahl war fest ausgemacht und konnte bei lebhafterer Zeit durch die neuen Tagelöhner vergrößert werden, so daß auch die letzteren gleich jenen auf längere Dauer gesichert waren. Unter keinem von diesen Teilen befand sich aber der Mann, welcher sich durch die Widerspenstigkeit seiner Frau den Groll des Herrn zugezogen hatte, und obwohl der Werkmeister für den fleißigen Arbeiter selbst ein gutes Wort einlegte, wollte er doch nichts von Überschreitung der festen Zahl wissen. Die beiden Gatten sanken allmählich tiefer und tiefer in Dürftigkeit; der Frau aber bemächtigte sich überdies eine düstere, stumpfe Niedergeschlagenheit. Sie, welche durch ihr heiteres Gemüt die Sorgen und Lasten ihrem Manne so oft versüßt hatte, wurde stumm und trübsinnig; in dem traurigen Blick ihres Auges lag ein Vorwurf, eine bange, heimliche Angst und Unruhe, und kaum vermochte sie jetzt, wenn ihr Gatte sie liebreich trösten und mit Hoffnungen aufrichten wollte, demselben in die Augen zu sehen. Sie glaubte an seine Hoffnungen nicht, sie wußte, warum sie nicht erfüllt würden; aber sie schwieg darüber. Und doch schien es, als ob das Vertrauen des Mannes sicherer gegangen wäre als das ahnungsvolle Bangen der Frau. Nach längeren Wochen, als das Elend der Hütte höher und höher gestiegen war, kam eines Tages der Werkmeister freudig herein, indem er dem Gatten die Nachricht brachte, daß der Herr infolge größerer Bestellung ihm jetzt den Auftrag gegeben hätte, den Mann wieder als Arbeiter anzunehmen. Fast erschrak die Frau dabei; es war, als ob eine innere Stimme sie vor der plötzlichen, unerwarteten Sinnesänderung wie vor einem Unglück warnte, und doch wußte sie sich nicht zu sagen, warum sie für dies anscheinend reuige Gutmachen einer Übereilung dem Herrn in ihrem Herzen nicht innig danken sollte. Erst als Tage und Wochen vergingen, ohne daß sie den Gutsherrn wiedersah, begann sie in die Freudigkeit ihres Mannes einzustimmen und sich mit heißem Dank in die Besserung ihres Loses zu finden. Aber ihre Ahnung hatte sie doch nicht getäuscht. Wie zufällig trat eines Tages der vornehme junge Herr abermals in ihre Hütte, und die Dankesworte auf ihren Lippen verstummten bei dem Anblick des spöttischen Lächelns, mit welchem der Herr ihre Rede abschnitt und sie fragte, ob sie sich jetzt besonnen habe? Nun erst mit einem Mal durchzuckte sie wie ein Blitz die Erkenntnis seines ganzen wohlüberlegten Plans. Es war die sichere Berechnung ihres Verfolgers, daß die Wiederkehr des Glückes sie geschmeidiger als das Unglück selbst für die Erneuerung seiner Drohung machen werde. Sie hatte das Unglück bitter gekostet, aber bitterer noch wäre ihr nach dem kurzen Traum des Glückes das Erwachen zu neuem Jammer gewesen, und diesmal führte die Berechnung den Menschenkenner zu seinem Triumph. Die Frau wurde düster und scheu, das Gefühl ihrer Schande nagte an ihr, und sie floh, sooft sie konnte, die Gegenwart ihres Mannes. Kein Zuspruch, kein liebreicher Versuch desselben, sie zu erheitern, vermochte den quälenden Vorwurf ihres Herzens zu betäuben; ja seine Liebkosungen machten sie nur düsterer und stiller; mußte sie sich nicht doppelt verächtlich und schuldig dabei fühlen? Aber das war noch nicht alles. Ihrem inneren Leid wurde die Krone aufgesetzt, als der Mann eines Tages früher von der Arbeit zurückkam und ein Blick ihm die Entfremdung und anscheinend kalte Zurückgezogenheit seiner Frau erklärte. Er sprach nichts; kein Wort, kein Blick verriet seine Gefühle; nur als sie laut weinend ihm zu Füßen fiel und ihre ganze Seele entschleiern wollte, stieß er sie kalt mit dem ruhigen Scheidewort zurück: Es ist gut, ich weiß genug! Von nun an war das Leben der beiden füreinander innerlich abgeschlossen. Äußerlich blieb es scheinbar ruhig und ungestört, denn der Mann wollte des öffentlichen Geredes willen von einer Trennung nichts wissen. Als ob nichts vorgefallen, ging die Regelmäßigkeit des Haushaltes ihren Gang. Der Mann brachte den Erlös seiner Arbeit allwöchentlich nach Hause, wo ihm die Frau für die Lebensbedürfnisse sorgte; aber nie mehr fiel zwischen beiden ein anderes Wort, als es dies äußere Leben nötig machte, nie, – auch da nicht, als der Hausstand durch die Geburt eines Knaben vermehrt wurde. Die Frau nahm das Kind einstmals auf den Arm und hielt es ihm entgegen, indem sie die Hand beteuernd aufs Herz legte und mit tränendem Auge zu ihm aufblickte; aber der Mann drehte sich stumm und ohne sie anzuhören mit kaltem gleichgültigen Blick von ihr ab. So wuchs der Knabe auf, ungeliebt, verstoßen von seinen Nächsten, lieblos, feindselig gegen alle.

Als ihm die sterbende Mutter dies sein Geschick erzählte, sah er ihr kalt und ungerührt ins Auge.

»Und du hast mich auch verstoßen und warst doch meine Mutter?« fragte er sie ernsthaft.

Die Erinnerung ihres langen freudlosen Lebens, das sie selbst verhärtet hatte gegen alle Gefühle, sprach sich in den tiefgefurchten Zügen ihres Gesichts aus. Sie wollte auf den Vorwurf des Knaben etwas erwidern, aber ihre zunehmende Schwäche warf sie wieder zurück.

»Höre«, sagte sie mühsam, »meine Augenblicke sind gezählt; ich habe dir das Schicksal deiner Eltern und das deine mitgeteilt, damit du meinem letzten und – einzigen Rate gehorchst. Halte dich fern von den Häusern dieser Reichen, mache dich nicht abhängig von ihrem Gold, mit dem sie nicht bloß das Leben der Armen ins Elend schleudern können, mit dem sie auch ihre Seelen zu vergiften vermögen! Das Schicksal deiner Eltern und das deine haben es dir gezeigt. Hörst du mich? Werde zu allem, was du willst, aber nicht zum Arbeiter für jene, die dich erdrücken können, wenn sie Lust haben. Und … und fluche nicht deinen Eltern … denke, daß es ein anderer war, der ihren Bund zerriß und dich … unser Kind also in Elend und Lieblosigkeit aufwachsen ließ, denke daran und … bete für mich … und deinen Vater, der zum Dank … in der Arbeit für unsern Verderber … seinen Tod finden mußte … bete für ihn, denn … Gott ist mein Zeuge … er war dein Vater!«

Der Knabe blieb eine Zeitlang schweigend und nachdenkend an dem Lager stehen und drückte dann der Toten die Augen zu. Er war sehr blaß, und es ging in diesem Augenblicke viel, wozu andere jahrelange Erfahrung brauchen, in seiner Seele vor. Dann schweifte er zwei Tage lang einsam im Walde umher und ließ sich vor niemandem sehen.

Als er zurückkam, zeigte er sich noch boshafter und menschenfeindlicher als früher. Aber er vergaß doch oder verachtete den Rat seiner Mutter. Eine Zeitlang arbeitete er auf dem Hofe des Gutsherrn; vielleicht, weil er keinen anderen Ausweg fand, seinen Hunger zu stillen. Aber die Knechte und Mägde beschwerten sich über seine ränkevolle Bosheit, die jede ihrer Freuden durch eine Tücke zu stören oder zu trüben wußte, und wenn er ihnen irgendeinen Schabernack antun konnte, es gewiß nicht versäumte. Der Gutsherr jagte ihn daher vom Hofe. Den Tag darauf aber trat er in Dienste des alten Waldwärters, den er bei seinen Wanderungen begleitete; und als einige Jahre darauf der alte Wärter gestorben war, gaben ihm die Behörden dessen Stelle. Sein Beruf brachte ihn weniger mit den Dorfbewohnern zusammen, und er schweifte auch selbst lieber im Walde umher, als daß er mit Menschen verkehrte. Seine Bosheit hatte hier weniger Spielraum. Aber wenn er im Dienst mit ihnen zusammenkam, trat er ihnen voll Anmaßung und schneidenden Hohnes entgegen, und gegen etwaige Frevler verfuhr er mit Haß und grausamer Strenge. Mehrmals gebrauchte er seine Waffen gegen solche armen Leute, doch gewöhnlich mit Vorsicht, daß ihm die Behörden nichts anhaben konnten. Er wußte wohl, daß er trotzdem auch in diesem Stande ein Sklave war und daß seine Vorgesetzten ihm ebensowohl wie ein reicher Herr seinen Arbeitern seine äußere Existenz vernichten konnten, nachdem seine moralische schon vernichtet war durch seinen Beruf und die Verachtung der Leute. Einmal traf er mit dem Gutsherrn zusammen, der von seinem Jagdrevier zurückkehrend einen kürzeren Weg durch den königlichen Wald einschlug und mit seinem Gewehr durch den Forst ging, während sein Hund in den Büschen jagte. Der Waldwärter schoß das Lieblingstier des reichen Herrn nieder und lachte in boshafter Freude über die ohnmächtige Wut des anderen. Dann, als der Wärter ihm auch die Flinte abnahm, kam es zu einer Szene, wobei der Waldwärter den Grund seines Unglücks und seinen ganzen, glühenden Haß gegen jenen enthüllte.

»Ja, ich bin ein Lump!« schloß er seine zornentflammte Anrede, in welcher er den lang aufgehäuften Groll seines Herzens ausschüttete. »Ja, ich bin ein Lump, wie du sagst, und doch bin ich besser als du, der mich dazu gemacht! Nicht ich bin der einzige, dem du durch die Macht deines Geldes ein friedliches Leben geraubt hast! Gehe hin und sieh, wie sie ihr Leben genießen und sterben, während du, der mit ihrem Schweiß Handel treibt, während du dich auf seidenen Kissen in üppigen Lüsten wälzest! Ihr Leben, ihrer aller Leben hast du gestohlen, um dein eigenes größer zu machen! Ein Lump bin ich, und der Verachtung der Leute hast du mich preisgegeben; denkst du, ich frage nach der Achtung dieser Tröpfe, welche dir freiwillig ihr Leben zum Opfer bringen? Denkst du, daß ich nicht lieber hier draußen im Walde bin als unter jenen Tröpfen, die mich an das Elend meiner Eltern erinnern und meine Bosheit aufreizen? Aber ich will daran erinnert, ich will gereizt sein, damit ich dich nicht vergesse, dich, dessen Macht meine Eltern elend und mich zum Lump machen durfte! Ja, sieh mich an und rolle die Augen; dieser Gedanke einzig und allein treibt mich dahin zurück, und ich schwelge in der tröstenden Hoffnung, daß auch diese Tröpfe dereinst zur Einsicht kommen und daß ich dich enden sehe in Not und Verzweiflung, wenn die rote Rache über deinem Haupte loht!«

*

Der Waldwärter Franz hatte seine Mitteilungen mit steigender Erregung und tiefer, ergriffener Stimme dem kranken Arbeiter vorgetragen. Nach den letzten Worten über die Szene zwischen ihm und dem Gutsherrn schwieg er erschöpft; der Kranke hörte das Fliegen seiner pochenden Brust und sah das düstere Flammen seiner Augen, aber er wagte ihn nicht zu stören. Es entstand eine lange, bange Pause zwischen ihnen, während welcher der Waldwärter seine Fäuste an die Stirn drückte und den Kopf tiefer auf die Knie sinken ließ.

»Du bist der einzige, dem ich das erzählt«, sagte er langsam, nachdem er einen Gang durch die Stube gemacht und sich dann wieder neben ihn niedergelassen hatte; »und diese Mitteilung tut meinem erbitterten Herzen wohl. Du weißt nun, was ich gegen deinen Herrn habe, und wenn du kein Tropf bist, weißt du dasselbe auch von dir.«

»Ja, 's ist wahr mit dem Elend, aber ich weiß auch, daß mit deiner Rache nichts gebessert wird«, murmelte Anton.

»Tor, gibt ein Augenblick der Rache nicht Ersatz für Jahre, für ein ganzes Leben voll Elend? Ist eine süße Stunde nicht mehr wert als hundert traurige Jahre? Dein Elend ist dir gewiß, du verschlimmerst also nicht einmal etwas durch den Genuß der Rache.«

Das Zwielicht draußen im Dorf wurde duftiger grau, als nach dem Verschwinden der Sonne hinter den Bergen nur noch eine rote Glut den westlichen Himmel färbte. In dem Gemach war es unheimlich und düster, nur die tiefe, gedämpftere Stimme des Waldwärters klang unverständlich zwischen den öden Wänden.

»Geh! … Laß mich in Ruhe«, sagte zuletzt Anton unruhig; »ich will nichts damit zu schaffen haben.«

»Aber den Gutsherrn davon in Kenntnis setzen … he!« erwiderte mit grimmigem Lachen der andere; »willst du das?«

»Laß mich los!« rief der Kranke, indem er seinen Arm von dem eisernen Druck des Waldwärters zu befreien suchte, aber ermattet von der Anstrengung zurücksank.

»Siehst du, mein Junge, daß du in meiner Gewalt bist?« lachte der andere boshaft. »Willst du nun sprechen? Denkst du, den Gutsherrn durch Mitteilung dir gewogen zu machen? Hast du vergessen, wie die reichen Leute den Armen und Arbeitern ihren Dank zahlen?«

»Laß mich los! Willst du mich morden?« rief Anton, während er neue, verzweifelte Anstrengungen machte und seine Brust in steigender Aufregung höher ging. »Laß mich los! Ich werde gegen niemand sprechen, gegen niemand, ich schwöre es dir.«

Der Waldwärter betrachtete ihn einen Augenblick schweigend in der Dunkelheit, indem er sich über ihn beugte, und stand alsdann kaltblütig auf. »Ich glaube fast selbst, daß du gegen niemand mehr sprechen wirst«, murmelte er für sich. »Es wird wohl bald keine Gefahr mehr damit haben.«

Der Kranke war zurückgesunken und lag mit geschlossenen Augen und hochfliegendem, ängstlichen Atemholen auf dem Lager. Durch die Stille hörte man in der Ferne den Jubel der Dorfbewohner, welche eben mit der Musik unter dem Maibaum weg nach dem Wirtshaus zogen. Auf der Gasse näherten sich Stimmen älterer Leute, die in ihre Hütten zurückkehrten. Der Waldwärter nahm sein Gewehr und verließ das Gemach durch die Hintertür, wo er dann über die Hecke sprang und im Dorfe verschwand. Der Kranke blieb allein. Eine Zeitlang lag er schweigend in fieberhafter, halb besinnungsloser Unruhe; dann, als die Angst seiner Gefühle sich steigerte, tastete er umher und rief. Aber es war vergebens!

»Sie haben mich verlassen … sie lassen mich allein … sterben, wie einen Hund«, murmelte er vor sich hin. »Anne und die Alte … keine ist da …«

Eine heftige Erschütterung seiner Brust riß ihn zu einem Schrei der letzten Verzweiflung auf; dann sank er besinnungslos zurück. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür der Hütte und, erschrocken über den Angstschrei des Kranken, flog das Arbeitermädchen herbei. Ein dunkler Blutstrom quoll aus Mund und Nase des Kranken und befleckte Annens Kleider, die an seinem Lager niedersank. Das arme Mädchen nahm mit zitternder Angst seinen Kopf in die Hände und richtete ihn mit klagenden, liebreichen Worten empor. Aber ihr Auge irrte ratlos durch das dunkle Gemach; zu helfen wußte sie nicht. Die Ströme des Blutes wurden allmählich schwächer, und der

Kranke lag schwer und welk in ihrem Arm. Nach langen, ewigen Minuten, die Anne in dieser qualvollen Lage verbrachte, schlug endlich der Kranke mit einem matten Blick das brechende Auge auf und starrte sie langsam an.

»Anton, ich bin es, beruhige dich«, stieß die Arme in ratloser Angst aus; »Gott, mein Gott! Was kann ich tun? Und ich kann dich doch so nicht verlassen! Aber sei ruhig, Anton! Die Mutter muß wohl bald kommen und Hilfe herbeischaffen!«

Aber die Mutter kam nicht. Das Mädchen saß in steigendem, verzweifeltem Bangen an dem Lager, wo sie nicht helfen konnte und das sie nicht zu verlassen wagte. Nach langen entsetzlichen Minuten bewegte der Kranke langsam die Lippen, und das Mädchen beugte sich zitternd mit gespannter Aufmerksamkeit über ihn.

»Höre mich«, flüsterte er gebrochen; »geh … zu Herrn … Stempel und … sag ihm … daß er … sich … in acht nehmen soll … Der Wald …«

Die Worte erstickten in einem letzten, heftigen Anfall, welchen die schwachen Kräfte des Kranken nicht überdauerten. Sein Körper zuckte zusammen, und das Mädchen ließ ihn mit einem bangen Schrei fallen. Der Arbeiter des Herrn Stempel war tot.


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