Max Dreyer
Spuk
Max Dreyer

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In einem kleinen Kieferngehölz, das vor den Seewinden geduckt zu dem Dünenhang hinankroch, hatte die Wagenburg des Zirkus Bignatelli Deckung genommen.

Künstler sind Abendmenschen und keine Frühaufsteher. Die Morgensonne hatte am Strand schon Peter Röper freundlich trocken gerieben, der schnaubend wie ein Seehund sich mit den Wellen herumgeschlagen und nun die stämmigen Glieder im Laufschritt rührte. Zu gleicher Stunde öffnete sich da in dem Ufergehölz die Tür des Wohnwagens auf der linken Flanke, eine feine Libellengestalt im Badetrikot trat auf die Treppe, ein junger schwarzer Kater sprang um ihre Füße, Florinde verließ als Erste das Nachtlager der Truppe.

Zuerst gähnte sie noch grimmig in die Morgenluft, dann atmete sie tief und froh den Hauch der See. Und nun strebte sie dem Wasser zu.

Sie flog über die Dünen, wie ein Hund lief der Kater neben ihr her, und jetzt, selbst mit einem Tierlaut knurrenden Behagens, warf sie sich in die Flut.

»Luz, Luzi, Luzifer!« rief sie ihren Begleiter. Aber all ihre Dressurkünste hatten noch nicht das Katzenvieh zu freiwilligem Bad bestimmen können. Der kleine schwarze Teufel riß aus in die Dünen und tat so, als ob er sich hier der niederen Jagd befliß.

Florinde schwamm hinaus, ungeschickt und anfängerhaft, aber sie strampelte mit Lust und ließ jauchzend von den Wellen sich werfen. Trudelte hier noch in dem Schaumgeriesel herum, sprang auf, schüttelte sich wie ein Pudel, 32 machte ein paar Saltos und lief dann in der Sonne auf und ab.

Jetzt war Luzifer wieder bei ihr. Beide suchten sich nun ein Sandnest, in dem sie von den Strahlen sich vollends trocknen ließ. Mit allem, was sie noch an Feuchtigkeit zusammenbrachte, spritzte sie neckend nach der wasserscheuen kleinen Bestie. Die schloß die Augen und verzog das Maul zu einem kleinen Miau – aber die Liebe zur Herrin duldete auch diese grauslichen Wassertropfen.

Als Florinde ins Lager zurückgehen wollte, sah sie Peter, der jenseits des Küstenvorsprungs gebadet hatte und inzwischen wieder angekleidet war, den Strand entlangkommen. Er erkannte sie nicht gleich – da sie ihm freundschaftlich ungezwungen zuwinkte, beschleunigte er seine Schritte. Sie hatte das Tier auf den Arm genommen, da sie von seiner Begegnung mit dem Fremden sich nichts Gutes versprach.

»Entschuldigen Sie, daß ich soviel anhabe«, sagte Peter scherzend, musterte sie fröhlich in ihrem Badetrikot und lachte mit seinem gesunden breiten Mund.

Sie waren gleich vertraut. »Haben Sie schon oder wollen Sie erst?« fragte sie.

»Ich habe schon.«

»Schade, daß wir nicht zusammen gebadet haben. Sie verstehen gewiß was vom Schwimmen.«

»N bißchen ja.« Er betrachtete sich das Tier. »O – ist das ein prachtvoll schwarzer Deubel. Keinen Fleck auf dem ganzen Fell.

»Ja, und hat er nicht Augen – so grün wie das höllische Feuer! Ja, das Wasser ist nicht sein Element« –

Peter wollte ihm den Kopf streicheln.

»Um Gotteswillen!« schrie sie auf. »Er kratzt und beißt Sie zuschanden.«

»Mir tut kein Tier etwas«, sagte er mit strahlender Ruhe. 33 Und schon kraute er Luzifer hinter den Ohren, der sich das gefallen ließ – gern sogar –!–

Mit großen weiten Blicken leuchtete sie Peter an. »Der erste fremde Mensch, von dem er sich anfassen läßt! Was müssen Sie für ein guter Kerl sein!«

Peter wurde es warm im Kamisol. Eine wohltuende Nähe umarmte ihn. Plötzlich aber fragte sie ihn etwas, darin er den Ruck einer deutlichen Entfernung spürte.

»Schwimmt Herr Hahnenkamp nicht?« fragte sie.

Er wurde brummig. »Weiß nicht. Ich weiß nur, daß er kaltes Wasser nicht mag.«

»Ja. Wenn einer so lang in den Tropen war!« Plötzlich krochen ihre dunklen Augen ganz in sich hinein, sie streckte die Arme von sich und spreizte die Finger und ihre Stimme stieg in schwärmende Höhe. »Was ist er schön! Was ist er einmal schön!«

Peter, der Unerschütterliche zubenannt, nahm nun doch Leben, Welt und Weiber wie sie sind. Er nickte gelassen und sagte nur: »Ach nee.« Dies kam allerdings doch etwas niederträchtig heraus, und so feuerte es bei ihr, der brennbaren, nicht wenig ein.

Unmut stieg in ihr auf. In solcher Verfassung aber mußte sie um sich schlagen und weh tun. Und da Zartheit nicht ihre Sache war, ließ sie ihre flackernden Schlingelaugen über ihn hin und her wandern, um dann mit dem Wohlwollen einer freundlichen Impertinenz zu bemerken: »während man die Schönheit bei Ihnen erst suchen muß.«

»Stimmt«, sagte er darauf mit höchstem Gleichmut. »Aber es lohnt. Denn bei mir ist sie innerlich.«

»Dann würd ich mich wenden lassen!« So hieb sie zu mit ihrem kecken Schnabel.

Sich ärgern? Amüsant ist die Kleine. Also lacht man mit ihr. Und ist sie nicht verteufelt hübsch, dieser Racker durch und durch! 34

Als ob sie wieder etwas gut machen wollte, umschlingt sie ihn jetzt mit zärtlichen Blicken. »Aber Luz mag Sie leiden – darauf können Sie sich was zugute tun. Sie sollen mir von sich erzählen. Wo stammen Sie her?«

»Ich stamme von hier.«

»Von hier? Was Sie sagen.«

»Das alte Bauernhaus da oben auf der Spitze ist unser Stammhaus.«

»O – das alte Haus da oben – wie schön liegt es da. Und wie schön ist es hier überhaupt. Hier könnte man leben!«

In ihre Stimme kam ein tiefer Klang. Ein weher sehnsüchtiger Zug stahl sich in die flackrigen Augen des Kindes der Landstraße. »Und Sie sind fortgegangen?«

»Ja. Als Seemann. Als Maschinist. Na – und dann wurde ich eben Schofför bei –«

Er stutzte, als ob ihn etwas störte oder warnte, den Namen auszusprechen. Aber schon nannte sie ihn, und er genügte, bei ihr alles wieder umzuschmeißen. »Herr Hahnenkamp – was ist er schön! Was ist er einmal schön!« Und sie zappelte in ihrer Ekstase.

Dann rutschte ihre Schwärmerei ins mehr Praktische ab. »Ach – und was hat er für einen schönen Wagen. In dem ich auch einmal sitzen werde. Nein, den ich einmal fahren werde.«

»Sie –?« Darin war der gewisse Schofförhochmut.

»Ja – was denken Sie – ich habe meinen Führerschein. Beim Zirkus Bronislawski hab' ich einen der großen Wagen gefahren.«

»Na denn man to!«

Und wieder kam es sprunghaft bei ihr. »Sagen Sie, wie heißt Herr Hahnenkamp mit Vornamen?«

»Bodo«, knurrte er.

»Bodo – ach Bodo.« Die Augen strebten himmelwärts.

»Und Ihr wart in Südamerika –« 35

»Woll.«

»Wissen Sie, daß ich argentinisches Blut in den Adern habe?«

»Sieht Ihnen ähnlich.«

»Mein Großvater war Vacquero.« Und wieder eine Pause und wieder ein verzückter Blick. »Der schöne Bodo! Und in Brasilien war er. Da war er auch bei den Bodokuden –« sie kicherte vor sich hin zu diesem Wortgetändel. Und Peter kicherte bestätigend mit.

»Hat er die Bodokudenweiber auch bezaubert? Warum ist er nicht dageblieben!« Und plötzlich: »Ach, was geht er mich an!« Dabei schlug sie ein doppeltes Salto – Luzifer versuchte, es ihr gleichzutun, aber es wurde nur ein verquerer Luftsprung daraus.

Sie wollte ins Lager zurück, Peter blieb an ihrer Seite.

»Ich hab Ihnen meinen Steckbrief gegeben« – sagte er – »nun möchte ich auch von Ihnen genauer wissen, was sie eigentlich für eine sind.«

Sie pflanzte sich vor ihm auf, die Hände in die Seiten gestemmt. Und nun ertönte eine dumpfe Baßstimme. Er blickte nach links, nach rechts, nach oben – wußte nicht, woher sie kam – »Was Sie für eine sind, fragt der dumme Kerl!«

Sie lachte aus Leibeskräften über sein einfältiges Gesicht.

»Das waren Sie natürlich!« stieß er heraus, sehr kräftig, im Gefühl einer Beschämtheit.

»Nein, nein, nein«, leugnete sie mit todernstem Gesicht. »Das war mein Geist aus der Höhe.«

»Dunner Rohrbruch und Kesselstein!« Lustig scheltend schüttelte er den Kopf. »Was sind Sie bloß für 'ne Nummer!«

»Was ich für 'ne Nummer bin?«

Sie stellte sich großmächtig in Positur.

Dann Hahnenschrei, Pferdegewieher, brüllende Kühe, blökende Schafe, quiekende Ferkel, Hennengegacker, 36 Putengekolle? alles nacheinander, miteinander, durcheinander in lebendigstem Gemisch.

Lustig dreht sie sich im Kreise und schlägt sich die Schenkel.

»So. Da hast Du meinen berühmten Gutshof! Mann, Herr, Sennor, Signore – wie komm ich eigentlich dazu, Dir eine Separatvorstellung zu geben. Nummer hast Du gesagt? Ne Hauptnummer, 'ne Sensationsnummer. Jawoll! Sind wir auch unserer Familie schuldig. Meine Mutter war eine Weltberühmtheit. Die Dame ohne Unterleib.«

»Hahaha!« Nun schlägt er sich auf die Schenkel. »Das läßt Dir aber gut! Die Mutter ohne Unterleib – und dafür redest Du Bauch.«

Da tritt sie mit sehr ernster Miene auf ihn zu und ihre Worte sind schwer. »Nicht nur das, lieber Freund.« Mit liebenswürdigem Lächeln tritt sie ihm näher. »Erlauben Sie mal, Sie haben sich weiß gemacht.« Sie klopft und streicht an ihm herum – dann überreicht sie ihm seine Taschenuhr – und während sein Gesicht immer länger wird, sein Portemonnaie – –

»Dunnerkiel! Das schreit ja nun schon nach der Polizei.«

»Schupo! Schupo!« ertönt wieder fern von oben die Geisterstimme in tiefstem Baß.

Florinde dreht sich um wie ein Kreisel, dann springt sie mit hellem Lachen hochbeinig die Dünen hinan, Luzifer tollt um sie herum, oben auf dem Kamm schlägt sie noch ein Salto und ist gleich hinter den Hügeln verschwunden.

*

Hinter den Dünen aber geschah es, daß sie dem schönen Bodo, als hätte ihre Fantasie ihn beschworen, direkt in die Arme lief.

Er war mit einer Mappe voll Reiseaufnahmen nach Lisbets Hause unterwegs, aber er gehörte nun einmal zu denen, die alles mitnehmen, und diesem entzückenden Springinisfeld, 37 der ihm hier so ins Gehege kam, ließ er nicht gleich wieder los.

Sie aber erstarb keineswegs weder vor seiner Schönheit noch vor seiner Vornehmheit – das Ersterben lag nicht in ihrer Art – und ungezwungen hielt sie seinen dreisten Augen stand.

»Nun Sie Neuhochwohlschaumgeborene!« scherzte er sie an. »O die beneidenswerte See –!–«

Sie wollte eine schnippische Antwort loslassen, da erkannte er sie wieder und wurde noch vertrauter. »Wir haben uns ja gestern gesehen bei Fräulein Helmbrecht!«

Er reichte ihr die Hand. Aber ehe sie sie nahm, forderte plötzlich Luzifer ihre ganze Aufmerksamkeit. Das Tier kauerte im Dünengras – schlich geduckt näher – die Augen zuckten und stachen in grüner Wut – raubtierhaft setzte es an zum Sprung –

Herrgott! es geht dem Mann an die Kehle!

»Luzifer!« rief Florinde. »Bist Du verrückt!«

Herr Hahnenkamp war vor dem bedrohlichen Gehabe der kleinen Bestie hastig ein paar Schritte zurückgewichen, und eine Angst bebte in den fragenden Augen. Dies gefiel ihr nicht an dem großen starken Mann.

»Das ist ja ein unheimliches Vieh!« stieß er heraus. Und weder mit dem was noch mit der Art, wie er es sagte, gewann er ihr Herz.

Aber schon war seine Schönheit wieder daran, sie gefangen zu nehmen. Da Luzifers Bösartigkeit von ihm abließ und im Gelände sich verflüchtigte, durfte er sich zu ihr niederbeugen und ungestört weiter mit ihr plaudern.

»Seltsam – Sie haben entschieden was Südamerikanisches in Ihrem Gesicht – nicht bloß in den Augen, auch in dem Schnitt der Züge –«

»Gar nicht seltsam.« Und nun erzählte sie auch ihm, daß der Vater ihrer Mutter Vacquero gewesen, daß er dann als 38 Pferdebändiger, als Lassowerfer und Kunstschütze nach Europa gekommen sei.

»O«, sagte er, »dies letzte ist mir besonders sympathisch. Und wissen Sie, daß ich hier ein Wort mitzureden habe! Daß ich gewissermaßen mit zum Bau gehöre. Sie sind doch auch Künstlerin –«

»Ja!«

»Darf ich fragen was?«

»Ich bin Jongleuse und Prestidigitateuse und nebenher noch so einiges«, gab sie sachgemäß und nicht ohne Selbstgefühl ihm zu wissen.

»Soll ich Ihnen sagen, daß ich in Rio grande do Sul einmal in der Arena als Stierkämpfer aufgetreten bin, und in Porto Allegre im Zirkus als Kunstschütze – allerdings infolge von Wetten. So daß Sie mich denn doch wohl als Außenseiter abtun werden.«

Sie aber ließ von ihrer Fantasie sich entführen. »O – Sie als Toreador – Sie als Espada –!–« Und ihre entzügelten Blicke scheuten sich nicht, der Pracht seines Wuchses zu huldigen.

»Das Illegitime gilt doch sonst nichts bei Euch Zünftigen«, sagte er mit schmunzelndem Wohlgefühl. »Und Sie sind Artistin mit Leib und Seele!«

»Mit der Seele?« Ein Nachdenkliches dunkelte über die Züge hin. »Heimatlos sein ist nichts für die Seele.«

Bodo horchte auf. Gescheit und empfunden war, was die Kleine sprach. Er ging darauf ein.

»Ihr redet doch immer von der Mutter Landstraße.«

»Wir tun das nicht. Die andern tun das. Die uns alles mögliche andichten. Mutter Landstraße – eine Stiefmutter ist sie. Und eine sehr harte dazu.«

Er musterte sie von Kopf zu Füßen. Ein leichtes loses Spielzeug ist das Mädel nicht.

Aber schon schwang ihr Ton unbeschwert sich auf, und er 39 bekam seine Spitze. »Die haben gut reden von der Landstraße. Die in einem Achtzylindrigen sitzen.«

Ah, damit winkte sie ihm, sehr vernehmlich. Und gleich hakte er ein. »Wenn ich Sie einladen darf, einmal mit mir zu fahren –!–«

Nun kam gleich ihre volle angestammte Dreistigkeit über sie. Und mit leuchtenden Augen bat sie: »Dann tun Sie noch ein weiteres und lassen mich selber fahren.«

»Ja – können Sie das?«

»Natürlich – ich habe den Schein. Den schwersten Zirkuswagen hab' ich gesteuert. Und dabei habe ich mich grün und gelb geärgert über jeden, der mich überholte. Jetzt möchte ich einmal alle überholen.« Ihre Augen und Arme schlugen Rad.

Hm – dachte Bodo – das Auto – ein Beförderungsmittel – auch hier –!–

»Über den Fall werden wir reden. Ihr Zirkus bleibt ja noch.«

»Ja.«

»Und ich lege mich hier jetzt auch vor Anker.«

Es lohnte sich für ihn zu bleiben. Zwei Frauen, Lisbet und Florinde – die denkbar größten Verschiedenheiten. Dies war das reizvolle Gegenspiel, das er brauchte.

Als er immer zärtlicher zu der Kleinen sich neigte, tönte aus dem Kieferngehölz weltbeherrschend ein weiblicher Bariton.

»O«, rief Florinde mit lachendem Schreck, »die Alte, die Kommandeuse, das Donnerblech! Der Ernst des Tages ruft.«

»Probe?« fragte er – »Übungen, neue Tricks, neue creation?«

»Nein, nichts von creation.« Und ihre Ungeniertheit sprudelte hervor: »jetzt kriegt sie mich beim Kartoffelschälen mit 'ran.«

Sie wollte winkend davon.

»Wie!« rief er, »bekomme ich keine Hand zum Abschied.« 40

Da kehrte sie um. »Auf Wiedersehn also.«

»Heute noch!« und seine Augen sprühten.

Luzifer lauerte im Hintergrund. Sie nickte kurz und ging.

Er blieb stehen. Sie soll sich noch einmal umwenden! Sein hypnotischer Wille packte sie im Nacken. Ein paar Mal schien es, als wolle sie den Kopf drehen. Dann aber geriet sie ins Laufen, Luzifer sprang vor ihr her, und sie war verschwunden.

Vielleicht – vermutlich – sicherlich steckt sie jetzt hinter einem der Wachholderbüsche und späht zu mir herüber!

Bodo lächelte vor sich hin. Gut Ding will Weile haben. Mit den Anfängen war er zufrieden, und pfeifend trat er den Weg zu Lisbet an.

*

Eine wundervolle Mappe aus Krokodilleder versprach erlesene Schätze. Mit angemessener, klug gemäßigter Bedeutsamkeit breitete Bodo seine lebendigsten Aufnahmen aus dem Lande der Bakairis, der Kamayura, der Nahuqua, der Auëto vor Lisbet aus.

Ein ausgezeichneter Apparat, von einem scharfblickenden und treffsicheren Auge bedient, hatte hier eine Reihe sehr charakteristischer Bilder geliefert, und nur einem Fachmanne wäre aufgegangen, daß in ihnen mehr ein anschaulich, ein repräsentativ Gewinnendes und Bestechendes als wissenschaftliche Gründlichkeit das Wort führte.

Daß aber menschliche Gestalten das Feld beherrschten, war Lisbet durchaus nach ihrem künstlerischen Sinn, der mit den Gebrauchsgegenständen, den Waffen, den Hausgeräten, den Kochtöpfen und dem Trinkgeschirr, den Masken, dem Körperschmuck weniger anzufangen wußte.

»Was trägt denn der Bororohäuptling da für ein Insigne seiner Würde?«

» Ja« – und er flüsterte scherzhaft geheimnisvoll – »das ist 41 unter uns gesagt nichts anderes als eine ganz gewöhnliche Kuhkette, vermutlich Essener Herkunft.«

Sie lachte mit ihm.

Aber schon war ihr Auge bei ein paar Frauengestalten der Kamayura. Sie waren völlig unbekleidet. Bodo gab hierzu seinen Kommentar. »Während die Frauen fast immer ganz nackt umhergehen, sieht man die Männer fast nie ohne Hüfttuch.«

Er sagte es in rein sachlichem Ton. Und sie, die es anhörte, spürte keinerlei Veranlassung, hier von der Sachlichkeit irgendwie abzuweichen. Während er sich jetzt doch in seelische Untersuchungen begab.

»Darf man daraus nicht seine Folgerungen ziehen? Zeigt das nicht wieder einmal, in wieviel größerer Naturnähe sich die Frauen als die Männer befinden? Daß sie recht eigentlich die Natürlichen sind und die Unschuldigen. Ist nicht Schuld überhaupt etwas Unnatürliches, etwas Naturfremdes? Ein Destillat des Verstandes – der Überlegung – des fragenden Gewissens –«

Sie machte einen Bogen um diese Philosophie. »Gut geschnittene Gesichter sind darunter. Die in der Mitte –«

»Das ist Paleka, die Tochter und Erbin des verstorbenen Häuptlings. Eine glänzende Partie – man neckte mich denn auch mit ihr als mit meiner Zukünftigen. Aber das Schicksal hat es anders gewollt.«

Er bekam einen flüchtigen Blick von der Seite. Wollte er ihr von seinen Liebesabenteuern in der Wildnis erzählen? Die gingen sie nichts an.

»Seltsam!« meinte sie. »Alle haben etwas Starres und Hartes im Auge. Ist das die Angst vor der Kamera?«

»O nein. Die hatte durchaus etwas reizvolles für sie. Dieser besondere Ausdruck kommt daher, daß sie keine Wimpern haben.«

»Wie?« 42

»Die werden schon den Kindern ausgerupft.«

»Ist das denkbar. Das, was das Auge schützt –!«

»Sie behaupten, es hindert sie am sehen.«

»Und damit zerstören sie auch, was dem Blick Licht und Schatten gibt – seine Modulation, seine Melodie und Musik! Den Brauen scheinen sie nichts zu tun.«

»Die einzigen Haare, die sie außer den Kopfhaaren dulden. Wie es aber mit ihrer Kopfpflege bestellt ist –«

Er zeigte ihr eine neue Aufnahme. »Die ist nicht etwa gestohlen«, erklärte er. »Die Schaustellenden haben dazu stillgehalten – bald hätte ich gesagt, ohne mit der Wimper zu zucken.«

Paleka kauerte auf dem Boden. Eine Freundin, die über ihr saß, hatte ihren Kopf zwischen den Knien und befreite die Haare von unerwünschten Bewohnern. Die sie zum Lohn für ihre Liebesmühe als Leckerbissen verspeiste.

Lisbet lachte hell auf. »Das ist ja zoologischer Garten!« Und sie dachte dabei: ob zwischen diesen Mann und seine »Zukünftige« nicht auch noch andere Hindernisse sich eingestellt haben?

Die Unterhaltung belebte sich immer mehr. Es ließ sich gut mit ihm plaudern. Und jetzt kam die indianische Männerwelt an die Reihe.

Eine Gruppe von Nahuqualeuten. Sehr muskelkräftige Gestalten darunter, die Lisbet mit Kennermiene musterte. Der mächtige Brustkorb fiel auf.

»Gibt es Sport bei ihnen?« fragte sie.

»Ja. Sie sind tüchtige Ringer.« Hier wurde sie sehr hellhörig. »Sehen Sie sich einmal den linken Flügelmann an. Das ist der Häuptling Tumayaua. Mit dem hab' ich einmal meine bittere Not gehabt.«

»Wie?« Sie bekam große sehr fragende Augen.

»Mit dem hab' ich ein richtiges Matsch ausgefochten – weiß gegen farbig.« 43

»Sie sind Ringkämpfer –?–«

»Nun – so weit es zum Hausgebrauch gehört. Wir hatten schon als Schüler unsere eigene Palästra. Und ich war da besser als auf der Schulbank.« Hier spielte nun die sattsam bekannte Koketterie einer unbescheidenen Bescheidenheit – alle bedeutenden Männer wollen schlechte Schüler gewesen sein – die sie als ziemlich selbstverständlich hinnahm. Schon hatte er ein anderes Blatt hervorgeholt – auf dem zeigte sich Bodo Hahnenkamp selbst in der vollen Glorie seines kampfgeschulten Körpers.

Er kargte nicht mit seinen Reizen, zeigte sich im Kreise der Indianer hüfttuchbekleidet wie sie. Seine Gestalt ist höher als die der andern, seine Glieder sind viel edler, bei aller nervigen Kraft. Plump wirken die Wilden neben ihm. Macht es ihm Freude, sich so zu zeigen? Es ist ihm nicht zu verdenken.

Er und Tumayaua standen einander musternd sich gegenüber. Es war die Szene vor dem Ringkampf. Nicht leicht zu sagen, auf wen man tippen sollte.

»Von dem Kampf selbst haben Sie keine Aufnahme?«

»Die Platten sind nicht geworden. Von meinen Begleitern war der Schlingel, der Raymundo, am Apparat, und der hatte mit Januario hoch gewettet und zitterte um den Ausgang.«

»So erzählen Sie bitte von dem Matsch.« Sie hörte ihm gerne zu.

»Ja – eine Zeitlang stand es schlecht mit mir. Die Herren da haben ihren besonderen Komment und ihre eigenen Kniffe. Ich bin gewohnt, mehr mit den Armen, mehr mit dem Oberkörper zu ringen – bei ihnen sind die Beine die Hauptakteure. Und dann – das Treten mit dem Hacken in die Kniekehle – diese Niederträchtigkeit ist ein beliebter Trick. Übrigens kannten die alten Griechen ihn auch schon. 44 Gegen all das mußte man erst gewappnet sein. Dann aber habe ich ihn gekriegt.«

Er sprach es einfach, ganz im Stile des Tatsachenberichtes. Sie suchte bei ihm unwillkürlich nach Spuren des Siegerkranzes auf stolzer Stirn, aber sie fand sie nicht und freute sich auch hier seines Taktes.

*

Und weiter mußte er ihr erzählen und das Erzählte bildnerisch beleben.

Jetzt hatte er ihr Funde von eigenem wissenschaftlichen Wert zu weisen: Originalzeichnungen der Eingeborenen. Eine Auslese kleiner Rindenzeichnungen, zum Teil von der verblüffenden Fassungsgabe naivster Naturbetrachtung. Schildkröten, Kolibris, Affen, ein kleines Jagdstück: ein Tapir, von einem Hund verfolgt, dann ein zum Sprung sich kauernder Jaguar.

Und jetzt kam der Clou des Ganzen: nichts weniger als ein Portrait und gar ein Bildnis von dem schönen Bodo selbst!

Von der Schönheit war allerdings nichts geblieben. Aber Lisbet schlug die Hände über dem Kopf zusammen vor einer sehlechthin künstlerischen Intuition, die das Charakteristische dieser Züge anpackte. Wie war die Weichheit des Mundes und im Gegensatz zu ihr die Härte der Stirn herausgearbeitet!

Kaum konnte es eine bessere Anleitung zum Studium dieses Gesichtes und seiner Wesenheit geben. Und damit den Schlüssel zum Wesen des ganzen Menschen –?

Ungleichartiges – hat das nicht jeder von uns? Hat nicht jeder zwei verschiedene Hälften – nur auf einer Seite sitzt das Herz – ungleich der linke und der rechte Körperteil – zum Messen verschieden – wie auffällig die Ungleichheit der Hände und Füße – wie verschieden unsere Profile –

Und die zwei Seelen in unserer Brust – 45

Führt nicht jeder von uns ein Doppelleben – –

Sie geriet nun doch auf philosophische Abwege. Geschah das zu seinen Gunsten?

Zu seinen Gunsten war es jedenfalls, daß sie Hennig, der sich jetzt einfand, ziemlich kühl begrüßte.

Hennig war so unbefangen, sich selbst nicht als Störung zu empfinden. Und hätte er sich als solche empfunden, er wäre imstande gewesen, das als ein Stück seines guten Rechts zu betrachten.

Er beteiligte sich höchst ungezwungen an der Unterhaltung der beiden, die nun ihrerseits Wert darauf zu legen schienen, sich nicht unterbrechen zu lassen.

Hennig ließ sich glatt in das Gespräch übernehmen, dem es an fesselnden Einzelheiten gewiß nicht fehlte. Lisbet aber hatte einmal die Empfindung, es ist mir doch ganz lieb, daß er nicht eher gekommen ist, daß er sich Bodo in seiner unverhüllten Athletenschönheit nicht mit mir zusammen angesehen hat – aber dies Gefühl war unbestimmt und schattenhaft und flog gleich wieder davon. Bodo war bei seinen sprachlichen Aufzeichnungen angelangt, die für einen Gedankenaustausch mancherlei ergaben, und er war kein schlechter Erörterer seiner Forschungen.

»Eine für mich besonders wertvolle Tatsache – wegen ihrer geistigen Perspektive. In der Bakairisprache heißt ›kura‹ gut – und schlecht ist ›kurapa‹. Also: schlecht ist das Deminutiv von gut, seine Verkleinerungsform, seine Abschwächung, seine Entartung.«

Hennig war von dem Gegenstand gewonnen. »Die Naturvölker haben offenbar alle dies glücklich Bejahende ihrer Weltanschauung. Gut ist das Ursprüngliche, gut ist das Leben – ›allen, allen ist das Dasein so gelind‹ – gut ist der Mensch, gut ist Gott. Und der Böse ist nichts als seine mehr oder weniger komische Karikatur.«

»Dies Naturvolkhafte reicht noch sehr munter in unser 46 Mittelalter hinein«, bemerkte Lisbet, »wie es uns allerlei Holzschnitte bestätigen.«

Hennig nickte. »Aber dies war dann die Zeit, wo von grausamer religiöser Wühlarbeit und schlotternder Gedankenblässe dieser erschreckliche drohende Dualismus feindlicher Mächte geschaffen wurde, der dann einem sehr praktischen Christentum sehr gelegen kam.«

Die Aussprache fing an, dem schönen Bodo, der für sie den Ton angegeben hatte, ein wenig zu entgleiten. Und allmählich paßte ihm Hennigs Gesellschaft immer weniger. Er hatte mit Lisbet zusammensein wollen. Daß nun dieser unerwünschte Nachbar sich hier einfinden mußte – in dessen Art die gewisse geistige Überheblichkeit sich wieder unangenehm bemerkbar machte. In dessen Blicken eine beobachtende Zudringlichkeit lauerte – –

Er packte seine Blätter wieder in die Mappe von Krokodilleder, deren erlesene Schönheit er keine Veranlassung hatte zu verstecken. Und selbstverständlich mußte der Spürsinn dieses Naturforschers gleich darauf beißen.

»Eigene Jagdbeute, nicht wahr?«

Wie wißbegierig der Herr war! Nun, er konnte bedient werden. Bodo nickte voll Gelassenheit. »Auf dem Paramatinga habe ich mir den Burschen geholt. Er wurde sehr ungemütlich gegen unser Kanu. Mein Maultiertreiber Carlos war über Bord gegangen und hätte bald daran glauben müssen.«

So, Du Stubenhocker – da hast du einen kleinen Happen, dir den Mund zu stopfen!

Jetzt aber so etwas wie ein Heldenlied anzustimmen, hütete er sich wohl. Er gab das Gewehr aus der Hand und griff nach dem Kochlöffel.

»Die Schwanzspitze dieses unfreundlichen Gesellen hat dann aber sehr versöhnend gewirkt.«

»Wie das?«

»Sie hat uns vorzüglich geschmeckt.« 47

Lisbets Hausfrauensinn erkundigte sich nach der Zubereitung.

»Alligatorenschwanz, in den Schuppen geröstet«, gab er sachkundig den Gang an.

»Und der Geschmack?«

»Ich kann nur sagen hummerartig.«

Sie fragte weiter nach dem Speisezettel der Forschungsreise. Und er gab mit so sybaritisch vergnügten Augen Auskunft, daß Hennig den Verdacht nicht loswurde, die Gastronomie sei an seiner Entdeckungsfahrt nicht unbeteiligt geblieben.

Und schon bereicherte Bodo Hahnenkamp weiter mit schmatzender Freigebigkeit den europäischen Speisezettel.

»Aus kleineren Eidechsen läßt sich ein vorzügliches Ragout bereiten, das ganz wie Hühnerragout schmeckt. Besonders lecker aber ist Schlangenfleisch.«

»Um des Himmelswillen!« rief Lisbet.

»Und am delikatesten das der gefährlichsten, der Klapperschlange. Es ist ja auch nur in der Ordnung, daß die Gefahr ihren Lohn bekommt.«

Jetzt ging es nun doch ohne einen Ausflug ins Heroische nicht ab.

»So kann Jaguarfleisch, das mit Schweinefleisch die größte Ähnlichkeit hat, was besonders Köstliches sein. Am Zartesten ist natürlich das von jungen Tieren. Und wenn man sich dann so, um die zu erbeuten, die ganze Familie auf den Hals lädt« –

Er nahm unwillkürlich eine gewisse Haltung an, zu der er denn doch wohl seine Berechtigung hatte, und für die in Lisbets Blicken eine Anerkennung sich einstellte.

Hennig aber dachte für sich: hm, die beiden scheinen ja ganz gut im Zug zu sein.

Wer ist dieser Mann? Was hab ich von ihm gesagt? Er gefällt mir – weil ich nicht klug aus ihm werde. Aber komm' 48 ich ihm nicht schon näher? Wie wäre es, wenn wir ihn noch mehr von den Gefahren erzählen ließen, die er da in der Wildnis bestand!

Hennig wollte Heldentaten von der Jaguarjagd heraufbeschwören. Aber hierauf ging der zu erforschende Forscher nun doch nicht ein. Hatte ihn etwas stutzig gemacht?

»Fürchterlicher als die großen Raubtiere«, erklärte er mit sehr klugem Abschwenken, dem Hennig seine Anerkennung nicht versagen konnte, »werden einem ja die kleinen blutigen Bestien, die ganz kleinen. Da war diese grimmige Mutuka-Bremse, vor der jedeiner aufs tapferste reißaus nahm. Da waren die Borrachudos, die kleinsten und gemeinsten aller Stechfliegen, die einem die Märsche zu wahren Höllenfahrten machen konnten. Und im Lager, wenn man seine Nachtruhe haben wollte – der mosquito polvora, dieser fast unsichtbare Plagegeist drang unbehindert durch die feinsten Gazemaschen. Nach den Stichen – man mußte ein Gott sein, um sich da nicht zu kratzen – schwärte die Haut noch wochenlang.«

Erreichte er nicht, was er wollte? Einen bewundernden Blick heimste er von Lisbet ein für diese kleinen und doch so großen Opfer, die er seiner Wissenschaft gebracht hatte.

»Immerhin« – er schlug wieder den bescheidenen Ton an – »sind die Insekten hier nicht in dem Maße wie in Afrika Träger von bösartigen Krankheitsstoffen. Von Malaria blieben wir verschont. Das Klima ist im allgemeinen gesund. Die Natur hat hier doch etwas Gütiges. Bis auf das eine: Die Gewitter.«

Hier nun spitzten sich Hennigs Ohren zu steilster Höhe.

»So etwas von Entladungen. Die Indianer verkriechen sich unter ihre Matten. Fast heldenhaft kommt man sich vor, wenn man den Kopf oben behält. Um den die Kugelblitze wie Bomben herumfliegen.«

Das flunkerst du! rief es in Hennig. Und fast 49 heldenhaft kamst du dir vor? – Sollte hier deine Achillesferse sein, du starker Mann. Sollst du zu den elektrisch Anfälligen gehören? Sind die Elektroden so in dir gelagert, dann hat das heldische in dir jedenfalls seine Not.

Und hier, wo wir in einer ausgesprochen elektrischen Zone uns befinden – wie wirst du dich hier bewähren?

Ja, Lisbet – und wenn dein Unverstand auch tausendmal auf meinen elektrischen Spleen schilt – die Blitze sollen und werden in diesen Mann hineinleuchten und uns völlig zeigen, wes Geistes Kind er ist.

*

Vor dem Zirkuszelt lag in einen Feldstuhl machtvoll hingegossen der Herr Direktor Karl Poot. Sein leicht roastbeeffarbenes, im übrigen offenes und gut geschnittenes Gesicht hatte die Dämpfung eines gemütvollen Pflegmas.

Er war in Hemdsärmeln, die aufgekrempelt seine gewaltigen Unterarme freigaben. Im Mund hatte er die kurze Pfeife. Neben ihm im Gras stand sein Frühschoppen, zwei Flaschen Bier. Mehr wurden ihm nicht bewilligt, denn es gab über ihm noch eine höhere Instanz. Als Kenner trank er aus der Flasche.

Auf dem Platz war ein flimmernd buntes Treiben. Künstler übten, andere saßen und besserten, Männer wie Weiblein, an ihrem Kostümen. Zwischen dem Betrieb hier und den Wohnwagen war ein lebhaftes Hin und Her.

Der Befehlshaber rief jetzt mit seiner heiseren, aber durchdringenden Stimme eine Parterreakrobatin, deren Leistungen er beobachtet hatte, zu sich und übte anerkennende Kritik, in dem er ihr in die rechte Sitzbacke kniff. Dann nahm er die Meldung seines Regisseurs entgegen, des ersten Clowns Mr. Jackson, der mit einer Mappe feierlich auf ihn zuschritt.

Abraham Jackson war, im Gegensatz zu den anderen amerikanischen Clowns aus Berlin NO., ein echter Yankee. 50 In Baltimore, Maryland U.S. hatte seine Wiege gestanden. Er war leidenschaftlicher Temperenzler, hatte aber alle Vierteljahre seine »Fasttage«, wie Karl Poot scherzte, der, wenn er herzlos wurde, den alten Knaben schmucklos einen Quartalssäufer nannte.

»Na, Ham – kumm, sett Di up Dienen Pöker.«

So lud der Direktor den Alten ein, neben ihm im Gras Platz zu nehmen. Wenn er einigermaßen aufgekratzt war, sprach er, der Hamburger Jung, sein Plattdeutsch. Er reichte dem Alten seinen Tabaksbeutel. Der stopfte sich seine Pfeife.

»So geht de Sak nu nich wieder. Wir müssen uns was Neues ausklambüstern, Ham, mein süßer Hammel. Du bist auch wie 'ne ausgepustete Stallatern. Un das hochgepupelte Ehrlikum aus den Badeorten – eine blasierte Bande – wie die nassen Säcke sitzen sie da. Wenn sie dasitzen.«

Er schimpfte, also war er verhältnismäßig gut gelaunt – wenn er ernstlich böse war, schwieg er.

»De lütte Florinde is ja gut eingeschlagen. Man bloß mit dem olen Transtäbel, dem verflossenen Flohbändiger, als Zauberer is nich viel los. Öwer he segt: an dat Oogenverblennen – mut he sich ierst gewennen.«

Zur Belohnung für seine Dichtkunst nahm er einen tiefen Schluck aus der Buddel.

»Na – als Knochenbeilage für de lütte Deern müssen wir ihn schon in Kauf nehmen. Denn ich möcht sie doch gern behalten.«

»Haben Sie gemachen festes Vertrag?« fragte Ham.

»Nee – sie wollte nich –«

»Ich belieb, sie hat often Landstraße satt bis oben hin.«

»Mensch, mach so was nich!«

»Often sie hat in ihren Augen dieses Weh nach Heim.« Dabei wurden seine eigenen großen schmerzlichen Komikeraugen trüb und schwer, und man konnte wohl von ihm 51 glauben, daß er auf Augen sich verstand, die ihre Sehnsucht haben.

Florinde saß derweil vor dem Küchenwagen im Kreise der zum Kartoffelschälen beorderten weiblichen Kräfte. Sie hörte deren Geplapper nicht mit an. Ihre Gedanken gingen eigene Wege.

Plötzlich fuhr sie zusammen und warf die Augen gegen die Wimpern und stieß ihre ekstatischen Worte aus: »Was ist er schön! Was ist er einmal schön!« Dabei fuhr ihr das Messer tief in den Finger.

»Ei verflucht!«

Und nun sog sie mit lustvollem Schaudern ihr eigenes Blut.

Auf dem Platz aber kam jetzt, von einem glänzenden Schweißfuchs gezogen, ein Jagdwagen gerollt. Eine Frau, eine Dame führte die Zügel. Ein Groom saß hinten auf, das war die Frau Direktorin sich schuldig.

Sie kam aus dem Badeort, wo sie Einkäufe gemacht und repräsentativ für das Unternehmen gewirkt hatte.

Mit drohender Miene sprang die machtvolle Gewalthaberin von dem Wagen, der wie erlöst aufächzte. Ehe sie aber vor die beiden Männer trat, griff sie nach der Tasche ihres Hosenrocks, holte ein überlebensgroßes Zigarrenetui hervor und entbrannte sich eine Havanna, die aus Schwedt a. O., dafür aber riesenhaft war, und umspannte sie, um durch Zärtlichkeit zu ersetzen, was dem Kraut an Vornehmheit fehlte, mit allen fünf Fingern ihrer fleischigen Hand.

Dann in gnädiger Mäßigung ihres dröhnenden Organs, kraft dem sie in der Truppe ihren Ehrentitel »das Donnerblech« trug, rapportierte sie ihrem Ehegemahl: »also, mein Herzensdieb – der Vorverkauf mal wieder belämmert. Belämmert, belämmert. Ja – det hilft nu allens nich« – aus ihrer Mundart spritzte das Spreewasser – »wir müssen 'ne neue Rakete steigen lassen.«

»Das' nu leicht gesagt« – 52

»Oder 'ne olle, die aber für die Jesellschaft hier wat Neues is. Na wenn Du auch nicht recht 'ran willst – Du weißt schon, wat ick meine.«

»Ne, nee, mien söte Popp – dormit lat mi tofreden.«

Jetzt wurde sie tatkräftig. Und ihre Stimme schlug alles zu Boden. »Du, mein Junge – preisgekrönter Ringkämpfer forderst zum Ringkampf auf. Verteidigst Dein Medaillon und setzt 'n Jeldpreis aus. Nobel. Die bekannten hundert Märker. Was noch immer jezogen hat.«

Nu machte Karl Poot, der gemaßregelte Despot, ein streng verweisendes Gesicht mit grämlichen Mundwinkeln. »Du weißt, daß ich nicht mehr im Training bin.«

»Quatsch mit Sauce –«

»Un wer weiß, was hier für Brüder in den Bädern rumwimmeln.«

»Poot – Du bist mal wieder mein Dod!« Sie gab die angestammte Übermacht nicht aus der Hand. »Kiek Dir doch mal an, was hier so an Cavalleros herumspazifiziert! Wenn Du, der geschulte Ringer, mit diese erholungsbedürftigen Zivilisten nich fertig wirst – denn hau jefälligst ab aus der Manege und mach 'n sauren Milchkeller uf! Abraham – jeliebter Patriarch – hab' ich nich recht?«

Ham Jackson machte die traurigen Kulleraugen kugelrund. »Ich belieb, es wird werden wie immer. Nobody – kein Mann sich findet zu dem Meeting.«

»Tut er auch nich. Soll er auch nich. Aber die Frauensleut sollen hier jieperich auf den halbnackten Männerkampf werden. Döller als die Andalusierinnen uf 'n Stiergefecht. Herrjott – Leute sollen kommen! Ick möcht mal wieder Menschenjeruch in unsere Bude haben! Un in acht Tagen is der Wechsel von Feuringer fällig.«

»Nu läßt Du mich da auch noch an riechen! Ach – un de Sünn schient so schön!« Er nahm trostbedürftig den letzten Schluck aus der Buddel. 53

Frau Direktor Regine Poot blieb unerbittlich. »So mein Verführer, nu läßt Du morgen Dein Schlachtroß satteln un Deine Cherubims holen ihre Tuten – so reitet Ihr in die Welt – Du hast inzwischen Dein tapferes Bierherz mit Deinem jungen Männermut umpanzert – und denn verkündest Du den sprachlosen Mitbürgern, sie sollen 'rankommen – 'ran, immer 'ran – und sich den stolzen Siegespreis verdienen!«

*

Um das alte Haus auf der Uferhöhe trieb der Vollmond, Wolken umzogen, sein geisterhaftes Schattenspiel.

Bodo, der Besitzer, wollte ihm einen Besuch abstatten.

Er war übler Laune. Ein Verlangen nach der kleinen Florinde hatte ihn abends in den Zirkus geführt. Die schlecht besuchte Vorstellung hatte ihn, den weidlich Verwöhnten, nicht wenig gelangweilt. Nur in den Leistungen der Kleinen fand er, vielleicht bestochen von dem Reiz ihrer Person, erfreulich Originelles.

Er ging dann als Mäzen hinter die Kulissen, von dem direktorialen Paar herzlich willkommen geheißen. Aber Florinde bereitete ihm eine Enttäuschung. Waren seine Wünsche zu vorschnell gewesen?

Wohl kam sie ihm freundlich entgegen. Aber in dem Haschenden und Huschenden ihrer Art war heut' etwas geradezu Scheues. Hatte sie eine Furcht vor ihm zu überwinden? Sein Selbstgefühl bestätigte es ihm, und um so stärker wirkten ihre Reize.

Aber er sah nun doch, daß er seine werbende Leuchtkraft ein wenig herabstimmen mußte. Und auf diese Weise gelang es ihm, ihre Einwilligung zu einem kleinen Mondscheinspaziergang sich zu erschmeicheln.

Indes – sie waren kaum ein paar Schritte gegangen und er war eben im Begriff, ihren Arm zu nehmen, da stutzte 54 sie auf wie ein sicherndes Wild. Horchte nach dem Ausläufer des Kieferngehölzes hinüber – Klänge eines dumpfen Saiteninstrumentes drangen zu ihnen her –

»O!« rief sie, »das ist Ham mit seinem Banjo, er spielt seine wundervollen Niggersongs. Das tut er nicht oft. Vollmondschein –«

Und was tat sie? Ließ ihn stehen und rannte den Tönen nach. Forderte ihn nicht etwa auf mitzukommen. Ließ ihn stehen!

Sollte er hinterherlaufen? Was fiel diesem dummen Seiltänzerbalg nur ein!

So etwas war ihm denn doch noch nicht vorgekommen! Mächtig stieg ihm diese Ungezogenheit in die Krone.

Ungezogenheit? Angst hatte sie vor ihm. In Sicherheit wollte sie sich bringen. Bodo! Frauenkenner! Und kennst dich selber so wenig aus – wie die Frauenkenner alle.

Er lachte über sich und lächelte vor sich hin. Etwas mehr Grandseigneur in der Liebe sein. Auch ihre Stunde wird schlagen. Stunden sind zum Schlagen da.

Aber um seine Stimmung ist es nun doch geschehen. Da die Banjotöne – was gibt ihnen einen so dunkeldrohenden Untergrund? Das düster polternde Grollen in der Ferne – Donner – Gewitter ist in der Luft. Nu ja, seine unglückliche Zeit ist das. Diese infamen elektrischen Spannungen, die ihm nun einmal die Nerven überspannen und zerreißen.

Und wieder zuckt etwas wie Groll in ihm auf. Ham – wer ist Ham! Der das Niggerinstrument so betörend spielt – dessen Songs so köstliche Seltenheiten sind – bei Vollmond eine besondere Offenbarung – wer ist das?

Einer von der Truppe – natürlich! Ein Nebenbuhler?

Ach lassen wir diese Jahrmarktsbande. Was mir blühen soll, das blüht mir doch.

Und ist diese kleine Kanaille nicht schließlich nur eine 55 Folie – die erwünschte Figurantin für das Gegenspiel? Denn um Lisbet geht es. Um sie – um sie!

Ja, ja! Sie beherrscht immer mehr seine Gedanken. Das Herbe, Spröde, Unberührte ihrer Art gibt ihr die große Gewalt über den Frauengenießer.

Stolz machte es ihn, daß zwischen ihnen beiden sich gleich der Klang eingestellt hat, aus dem – auf Herzensmusik versteht er sich nunmal – die bewußte Melodie werden kann – werden muß.

Muß – ja muß! Hier ist ein Ziel, für das es wahrlich lohnt, die ganze Männerkraft einzusetzen. Was hat sie alles herzugeben an Geschenken!

Da ist nun dieser kleine elektrische Schwarmgeist von Wissenschaftler um sie herum. Den brauch' ich gewiß nicht zu fürchten, dieses Ritterlein vom Mikroskop. Mikroskopisches liegt ihr nun ganz gewiß nicht – ihr, deren künstlerischer Formsinn ins Michelangeleske greift.

Das Künstlerische aber, das Romantische in ihr ist neugierig auf das verzauberte alte Haus da oben, das nach dem Tode meines Vaters niemanden mehr seine Pforte aufgetan hat. Zeit wird es, daß ich mir es wieder zu Gemüte führe. Hoffentlich kommt dieses verdammte Gewitter nicht herauf.

Aber es scheint abzurollen, und so begibt er sich auf den Weg zur Höhe. Dies Haus – viel liegt mir persönlich ja überhaupt nicht an ihm. Ein Ding, in das man soviel hineingeheimnißt hat – Vater konnte einen ja gruselig machen mit dem alten Kasten – so was reimt sich nun mal nicht mit meinem den Realitäten dieses Daseins zugewandten Sinn.

Und – ist es zu glauben – wie der alte Bau sich anstellt – wie er mit den huschenden Mondschatten sich drapiert – sein Spiel ganz bewußt mit dem Hell und Dunkel treibt – ist das noch ein Haus – ist das nicht selbst ein Gespenst?

Da über dem düstern Strohdach der mächtige, hoch sich 56 reckende Schornstein – mit den Fratzen seiner Ziegelverkleidung – ein Phantom –

Schwebt da nicht etwas über ihm – ja, ja – da bewegt sich etwas – geisterhaft – Rauch kann es doch nicht sein – sind es Dohlen, die da nisten, die keine Ruhe finden können auf geheimnisvoll nächtigem Flug –

Reckt es sich nicht höher und höher in den gespenstigen Reigen – ja es bewegt sich – das ganze Haus bewegt sich – es hebt sich in die Luft – ist sein Dach nicht ein mächtiges Flügelpaar – es schwebt – es fliegt auf ihn zu – will es ihn holen –?–

Bin ich verrückt? Hab' ich elektrische Visionen? Immer noch rumort der Donner da hinten am Horizont – steht das Haus mit ihm im Bunde – hat es auch seine Gewitterpsychose?

Aber ich hab' genug von diesem Hexentanz des verwunschenen Gemäuers –

Und Bodo Hahnenkamp macht kurz auf der Hinterhand kehrt und springt den Abhang hinunter.

*


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