Max Dreyer
Die Insel
Max Dreyer

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Die Turmhochzeit

Nun ist er auch dahingegangen, der alte Micheels – wenn ich jetzt in die Heimat fahre, werde ich ihn nicht wiederfinden, und er wird mir fehlen. Niemand wußte recht, wie alt er eigentlich war, auch der Tod wußte es nicht oder hatte es doch vergessen. Bis er jetzt auch an den steinalten Mann rührte und ihn mit aufnahm in den großen Reigen, leise und wie nebenher, wie mit müder und gedankenloser Hand, die ausruhte von dem grausam wilden Tageswerk der Zeit.

Der alte Herr – wie eine Mumie war er zuletzt geworden. Und kaum merkte man ihm noch etwas an von der Fröhlichkeit, die sein ganzes Dasein getragen hatte. Nur daß in seinen großen blauen Augen noch immer etwas von dem Schalk auffunkeln konnte, daß immer wieder in ihnen etwas nachzitterte von seines Lebens großem Schelmenstück. Das reichte allerdings auch für ein Menschenalter hin, selbst für sein gerecktes und gestrecktes, es hatte ihn berühmt gemacht – berüchtigt bei den sehr Ordnungsliebenden – und soll nicht vergessen sein, jetzt, wo das Grab ihn deckt.

Ein Kind der alten Hafenstadt war er und früh verwaist. War ein Straßenjunge wie die anderen auch, nur daß er mehr stille Stunden hatte als die meisten. Es war seine Liebhaberei, aus Schilf und Weiden sich 194 Flöten und Pfeifen zu schneiden, auf denen er es zu einer Art Meisterschaft brachte.

Die Liebe zur See ließ ihn Schiffsjunge werden. Er diente dann bei der damals noch ganz jungen Marine. Weil ihm seine starke natürliche Begabung gleich mit jedem Musikinstrument befreundete, kam er zur Matrosenkapelle, in der er bald als erster Trompeter seinen Platz gewann.

Nun blieb er der Kunst getreu. Er kehrte in die Stadt zurück und wurde hier Gehilfe des städtischen Musikmeisters und Instrumentenmachers, gern gesehen in festlichen Kreisen, auf Hochzeiten und Kindelbieren, wo seine Fertigkeit wie sein Frohsinn in gleicher Weise die Herzen eroberte.

Wer Ohren hatte zu hören, der wußte ganz genau, ob er oder sein schon etwas stümperig gewordener Meister die Nachtwache hoch oben auf dem Turm der Nikolaikirche hatte. Von hier aus mußte der diensttuende, umschauhaltende Stadtmusikant zu jeder halben und vollen Stunde, wenn seine Augen nichts von Feuer oder Wassergefahr bemerkten, das ruhesame Signal auf die friedlich schlummernden Dächer hinunterblasen.

Der Alte nun blies es immer in derselben Manier, trocken und mürrisch, dienstmäßig und automatisch leer. Fritz Micheels aber war mit dem Herzen dabei, er blies 195 es in Moll, er blies es in Dur, in allen Tonarten und mit wechselndem Zeitmaß, je nach seiner Seele Gebot. Feinspürige Kenner von Geist verstiegen sich zu der Behauptung, daß die Jahreszeiten, die Beleuchtung der Stunden, daß Schnee, Sturm, Sternenhimmel und Mondwolken gleichwie der Gemütszustand des Bläsers und die Verfassung seiner Börse ganz vernehmlich in seinem Spiel sich abmalten.

Eine Zeitlang hatte Nacht für Nacht ein unverkennbar schwermütiger und klagender Grundton in seinen Turmklängen vorgeherrscht, obwohl es Frühling war und der Fliederduft die nächtige Stadt beseelte, durch die engen Straßen sehnsüchtig brauste und hinaufjubelte bis über die Schallöcher des alten Kirchturms hinaus.

Das waren die Tage, da der Herr Lohgerbermeister Waderstraat, wohlangesehen, einer der Wortführer im Bürgerquartier, seiner Tochter Christine die Hochzeit rüstete. Das hübsche, grade und resolute Mädchen hatte eine Reihe Bewerber gehabt. In Familienangelegenheiten aber ließ sich der Vater nicht hineinreden, für ihn kam nur ein zünftiger Schwiegersohn in Frage, und so bestimmte er ihr als Mann ihrer Wahl kurzerhand den wohlhabendsten Bäckermeister der Altstadt. Der war dick, hatte Bäckerbeine und sang Tenor.

Christine aber fühlte eine Abneigung gegen Männer, 196 die dick sind und eine hohe Stimme haben. Sie mochte ihn nicht, und ihr Widerstreben wuchs in der Brautzeit. Gleichwohl fand sie nicht den Mut, dem gewaltigen Vater Trotz zu bieten, die Vermittlung der Mutter aber fehlte seit Jahren.

Der, den sie mochte, war ein ganz anderer – niemand anders als Fritz Micheels. Aber ehe sie den Spielmann kriegte, eher hätte der Vater Gerbermeister ihnen beiden eigenhändig das Fell abgezogen.

Und es kam der Polterabend. So viel Topfscherben hatten sich kaum jemals vor der Tür eines Brauthauses aufgetürmt, die ganze Altstadt hatte hier ihre lauten Glückwünsche abgeworfen. Auch sonst war die Feier würdig und wohlgelungen mit ihren Deklamationen, Theater- und Musikaufführungen. Nur die Braut war freudlos, ernst und verbissen. Fritz Micheels aber, der das kleine vom Musikmeister gestellte Orchester hatte leiten sollen, war ausgeblieben. Der Stadtmusikant selbst führte es statt seiner. Dafür hatte er dem Alten für heute Nacht den Turmdienst abgenommen.

Man trennte sich beizeiten, so wollte es der gute Ton in guten Bürgerkreisen. Die ausgiebige Festeslust war dem folgenden, dem Hochzeitstag selber vorbehalten. Nur eine Ausschweifung blieb nach altem Brauch dem Bräutigam zugestanden: er durfte später, 197 gegen die mitternächtige Stunde, mit Kameraden vor dem Kämmerlein der Braut ein Ständchen singen.

Still lag jetzt das Haus, nachdem die letzten Gäste es verlassen hatten. Da trat aus dem Hoftor ein weibliches Wesen. Dieses Wesen umschritt behutsam den Scherbenberg und ging dann die Straße hinunter. Es war Christine, die vor ihrer Hochzeit die Flucht ergriff.

Die Leute haben später erzählt, sie hätte ins Wasser gewollt. Die bekannte Mythenbildung der Empfindsamkeit, gegen die wir uns auflehnen müssen, wenn wir auch damit dem, was weiter mit der Fliehenden geschah, vor gewissen Richtern die mildernden Umstände rauben. Christine trug, vom Mondlicht deutlich bezeugt, eine Handtasche. Wer aber tritt mit solchem Bahngepäck die Reise ins Jenseits an?

Sie wollte zum Bahnhof. Der Weg dahin ging über den Nikolaikirchplatz – sie konnte nicht dafür, daß sie hier mit Fritz Micheels zusammentraf, der seinen nächtigen Turmdienst antreten wollte.

Es gab ein Staunen und Raunen. Natürlich nahm er zart der Gequälten und Gejagten sich an. Sie bargen sich vor dem zudringlichen Mond in das Portal, das den Eingang zum Turm behütete.

Sie erzählte, daß sie fort wolle, zu der Schwester ihrer Mutter. Da meinte er, es ginge doch kein Zug jetzt in der Nacht – erst gegen Morgen –, und der 198 Bahnhof sei gesperrt. Sie könne doch nicht die ganze Nacht im Freien herumlaufen.

Still stand sie bei ihm. Da hob er den Schlüssel zur Kirchentür. »Komm mit auf den Turm. Guck dir einmal die Welt von oben an. Du sollst sehen, das ganze Leben hat dann ein anderes Gesicht.«

Schon hatte er aufgeschlossen und wollte sie eintreten lassen. Sie rührte sich nicht. Da ging er voran und reichte ihr die Hand. Eine Weile zauderte sie noch, dann ließ sie sich von ihm führen.

Tiefste Finsternis verschlang sie beide. Nun kam doch eine Furcht über sie. Schon aber hatte er eine Laterne angezündet; mit dem Lichte ging er jetzt schnellen Schrittes die Treppe hinan, er leuchtete ihr und sie folgte ihm schweigend.

Die Stufen wollten kein Ende nehmen. Steiler und enger wurden die Treppen, zuletzt leiterartig. »Wird es geh'n?« fragte er. Sie nickte.

Und nun waren sie oben. Ein zimmerartiger Raum hieß sie willkommen, sehr bescheiden, aber doch von wohligem Behagen. Bilder an den Wänden, ein Tisch mit zwei Stühlen, und gar ein kleines Ruhebett, auf dem der Wächter frühmorgens nach getanem Dienst noch ein paar Augen voll Schlaf mitnehmen durfte.

Die Luft war dumpf. Er machte das Fenster auf. Jauchzend warf sich der Frühling herein. 199

»Willst du einmal hinunterblicken?« fragte er. Sie trat zu ihm. »Sieh mal, da ist eure Straße, und da ist euer Haus.«

Es zuckte durch sie hin. Da ward ihm bewußt, wie dumm das von ihm gewesen, und er nahm streichelnd ihre Hand.

»Nun mach es dir bequem!« lud er sie ein. Sie setzte sich, bereitwillig, wenn auch nur halb, von dem Aufstieg erschöpft und benommen von dem Ganzen dieses überirdischen Abenteuers.

Und jetzt schlug der Schwall eines dröhnenden Glockenklanges über sie zusammen – die machtvolle Turmuhr unter ihnen verkündete die halbe Stunde.

»Ich muß das Signal geben,« sagte er pflichttreu und nahm das Instrument. »Willst du mit?«

Sie folgte ihm halb unbewußt. Ein paar Stufen höher ging es, zu einer Plattform über dem Gemach. Hier waren nach allen Seiten Fenster und offene Luken. Er blickte ringsum, trat dann an die eine Öffnung und blies das Zeichen in die Nacht hinaus.

Jetzt hatte sie das Verlangen, auf die Welt dort unten auch einen Blick zu werfen. Erst kam ein Schwindel über sie, aber da er ihren Arm fest in die Hand nahm, konnte sie alles ohne Scheu betrachten. Sie sah die rotbedachten Häuser, eine Herde, die schlummernd sich duckte und zusammenschmiegte. Das 200 breite Band des Flusses sah sie, den weiten Hafen und das Haff. Ja, bis zu dem Dünenkranz in die Ferne und an den Rand der See leuchtete ihr der Mond.

»Schön ist das,« sagte sie gehoben. Und von ihrer Not war ein großes Stück im Schwinden.

So fühlte sie sich schon wohliger, als sie beide wieder in das Gelaß hinunterstiegen. Und jetzt nahm sie ehrlich und ganz auf dem Stuhl Platz, den er ihr bot.

Freilich mit der Zwiesprache war es so ein eigen Ding. Sie geriet sehr bald ins Stocken. Lange sagten sie beide nichts, dann redeten sie aneinander vorbei – und blickten auch aneinander vorbei – auf die Bilder an den Wänden – er hielt sich an das Konterfei eines alten Stadtsoldaten, sie rettete sich zu einer Ansicht vom Gänsemarkt.

Lautlos, in tiefem Schlummer, lag tief unter ihnen die Stadt. Nur einmal, wie aus geisterhafter Ferne, klang Hundegebell zu ihnen herauf. Das war eine willkommene Unterbrechung. »Ein Hund,« sagte er. Und sie bestätigte es mit einem glücklichen »Ja«.

Und sie schwiegen wieder und horchten in die Nacht.

Aber da, wie ihre Bedrängnis immer mehr wuchs, wer war es, der ihnen half? Niemand anders als der Herr Bäckermeister, der unverzagte Hochzeiter in eigener Person.

In das offene Fenster, durch das immer mehr 201 Frühling hereindrängte, stieg zitternd, leise, der Schall getragenen Männergesanges. Schmelzend herrschte in ihm ein hoher Tenor – wie sich nur einer in Stadt und Umkreis dessen rühmen durfte.

Ja – richtig – die Stunde des Ständchens war gekommen.

Nun schmachtete der runde Bäckermeister vorschriftsmäßig, sittsam, im Rahmen des Quartetts gehalten, vor dem Brautgemach.

Schweigend und sacht waren die beiden an das Turmfenster getreten. Mit verhaltenem Atem lauschten sie den Tönen des Werbenden. Bewegungslos, nichts ließen sie aufkommen von dem, was in ihnen sich regen wollte – als dürfte auch nicht die leiseste Störung die Kostbarkeit dieses Begegnisses antasten.

Und jetzt zum Schluß steigerte sich die Serenade zu einem dreisten: öffne mir die Tür! – das heißt, solche Dreistigkeit blieb natürlich, im Zeichen des Brautstandes, durchaus gebändigt und wohltemperiert; auch schon in Anbetracht des Viermänneraufgebots für dieses gesungene Verlangen konnte es nicht ganz wörtlich gemeint sein – öffne mir die Tür!

Der Tenor hatte ausgehaucht. Noch standen die beiden am Turmfenster wie verzaubert in des Lebens große Schalkhaftigkeit.

Nun aber in hellem Lachen aus einem Mund löste 202 sich der Bann – sie faßten sich an den Händen und lachten, lachten – nahmen sich und küßten sich das Lachen von den Lippen – und lachten und küßten und nahmen sich wieder.

So aber in dieser Nacht die zartmütigen Kunsthorcher und Horchkünstler an den Tönen des Turmwarts ihre Deutung üben wollten, sträubten sich ihnen die Haare und sie krochen mit beiden Ohren in die Kissen ob der erschrecklichen Fülle spukhaft tollen Übermuts, der die ganze Spintisiererei der Begriffe fortbrauste wie eine Sturmwelle.

Als die Sonne aufging, trat ein leuchtendes Paar aus dem Turmportal. Arm in Arm gingen sie geradewegs zum Vater Gerbermeister. Der glaubte nicht recht zu sehen und rieb sich die haarbuschigen Augen. Aber sie fackelten beide nicht lange, sie hatten den Mut und das gute Gewissen ihres Glücks.

Ein Donnerwetter gab es, nie erhört, und der Blitz sollte einschlagen. Indessen rechtzeitig packte der Bedrohte den Arm des Donnerers – und der mußte denn doch erst seinen Mann sich genauer betrachten. Aber der Donner rollte weiter, zum Hause hinaus schmiß der Gewalthaber die beiden.

 

Es ward eine böse Geschichte. Und was darüber geredet wurde, Dummes und Schlechtes – der alte 203 Turm, der doch auch daran beteiligt war, mußte mehr als einmal vernehmlich den Kopf darüber schütteln. Und wer weiß, wie die Sache geendet hätte, wäre nicht der alte mächtige Pastor-Primarius von Sankt Nikolai, der wie ein eisgrauer Recke war, zum Schluß kräftiglich eingesprungen.

Der hatte freilich zuerst auch über das Liebespaar in seinem Kirchturm weidlich gewettert. Dann aber tat er das Gute. Er ging zum Herrn Lohgerbermeister und redete dem ins Gewissen. Daß er ganz allein die Schuld habe. Daß es so etwas wie ein Gefühlsleben gebe. Und daß in Gefühlssachen selbst ein Bäckermeister nicht auf Vorrechte sich steifen dürfe.

Der Lohgerbermeister wollte nicht, er wurde laut und grob. Aber der Pastor konnte noch viel gröber und lauter werden. Und schließlich war er der Pastor. So behielt er denn das letzte Wort: Was die Kirche zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht trennen.

Die Beiden gründeten ihren ehelichen Hausstand. Ganz nahe dem Turm, unter seiner Hut. In einem einstöckigen Hause wohnten sie, Kletterrosen wirkten um die Fenster, über das rote Ziegeldach kletterte der Efeu.

Jedwede amtliche Fähigkeit war dem Musiker und Instrumentenmacher Fritz Micheels aberkannt, seine Anwartschaft auf die städtische Musikmeisterstelle war 204 ausgetilgt. Und die maßgebenden Geister der Stadt fuhren überhaupt nicht eben sänftiglich mit ihm. Dafür aber war ihm die Jugend zugeschworen, die ganz unmaßgebende, ganz unbekümmerte, die liebe und liebende Jugend.

Sie, die dem Zauber ergeben ist – und der Zauber war bei ihm und blieb bei ihm und lag auf allem, daran er rührte.

Fritz Micheels – Vater Micheels – Großvater Micheels – bei ihm, in seinem kleinen Laden kauften sie lange Geschlechter lang ihre Musikinstrumente. Die Zupfgeigen, die er ihnen vorgespielt, hatten ihren eigenen Klang, ihre sonderliche Macht. Wie sang und lachte und jubelte und weinte es von ihren Tönen, wenn die abendlichen Kahnfahrten den leuchtenden Fluß belebten. Wie wehte es hinein in die Mondnacht und überwältigte die Herzen.

Ein Hort der Liebenden war er. Bis an seinen Tod hielt ihm die Jugend die Treue. Und ich bin gewiß, sie haben sein Grab mit Rosen besteckt.

 


 


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