Max Dreyer
Die Insel
Max Dreyer

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Die Insel

Von den kleinen, hügeligen Halbinseln, in die das Gestade wie aus Übermut sich zerklüftet, hat sich die kleinste und höchstragende am kecksten in die See hinausgewagt. Zum Lohn dafür heißt sie die Insel, und der Besitzer des kleinen Bauernhofes, den sie trägt, seit grauesten Tagen der Inselbauer.

Zu Zeiten hat sie auf ihren Namen vollwertigen Anspruch: wenn Hochwasser kommt, wird der Fahrweg, der auf schmalem, natürlichem Damm wie haltsuchend zu dem festen Lande hinüberfingert, ganz und gar überspült und bleibt, solange es hoch hergeht, für Fuß und Pferd unbenutzbar.

Für die Inselbauern hat das weiter keine Schrecken. Sie sind auf dem Wasser so gut zu Hause wie auf dem Land, sie führen das Boot nicht schlechter als den Wagen. Dem letzten Besitzer gar, dem Martin Oehlert, wird es erst so richtig pudelwohl, wenn eine gehörige Sturmflut über das Stückchen Erde herfällt, wenn Wellen und Wolken zusammenbrausen in Dampf und Gischt, wenn das Land zittert und taumelt und schwankt wie ein Fahrzeug in schwerer Not. Dann träumt sein Jungensinn, der in dem Männerkopf immer noch umgehen kann, sich auf einem Schiff in bösem Wetter, und steuert in seinem wackelnden, krachenden alten Haus hinaus in die Ozeanweite – es 68 sei denn, daß es ihn glücklich draußen trifft, daß er in seinem Boot seemännisch und auf Leben und Tod sich mit dem Sturm leibhaftig herumschlägt, was ihm als eigenes Unterfangen durchaus zuzutrauen ist, sintemal er wirkliche Freude der geträumten vorzieht.

Und seine Freude ist nun einmal das Seefahren, je wilder je besser, ist er doch Seemann von Beruf gewesen und zu dem Bauernhof nach seinen eigenen Worten gekommen wie der Schiffsjung zu der Ohrfeig', weiß selber nicht wieso und warum. Freilich hat in dem alten geduckten, strohgedeckten Kasten mit der breitmäuligen Tür und den schlitzäugigen Fenstern, der heute sein Herrensitz ist, einmal seine Wiege gestanden, aber als dritter der Bauernsöhne hat er niemals daran gedacht, hier einmal seßhaft zu werden.

Wie es sich dann doch so fügte? Sein ältester Bruder, der Erbe, war kinderlos gestorben, der zweite war ausgewandert, er selbst war von seiner Steuermannsfahrt nach Holländisch-Indien gerade zurückgekehrt, hatte noch die niederträchtige Malaria im Blut, und das mußte ihn wohl kleingekriegt haben und weich und heimatselig gestimmt. Das Weibliche kam – wie immer, wenn einer schon anfällig ist – dazu, und alles, was wahr ist, die Schwester seines Freundes Tom, der auf der Reede von Ternate beim Baden ertrank, Regine Eckart, die wohlhabende, dabei stille 69 und feindrähtige Bauerntochter aus dem pommerschen Binnenlande, konnte es einem schon antun.

So war er richtig hier sitzen geblieben, mit den Weltfahrten, mit den Weltenwundern hatte es ein Ende, das Leuchten der Tropen war für ihn ausgelöscht, ein Herr war er gewesen, dem das Meer gehorchte und alle Erdteile gehörten. Jetzt war er der Knecht von einem Stück Land! Heimatliche Scholle – eigener Besitz – schiet dorup! Mist streuen auf seinen Acker, das ist nun seines Lebens Losung. Und sein Leben ging einst mit dem Weltmeer um und mit den Sternen!

Es gehört schon was dazu, daß er nicht um sich schlägt, daß er nicht ausbricht, daß er nicht eines Tages nach der Hafenstadt hinübersegelt und sich anheuern läßt, sei es auch als Matrose – nur raus und fort – wieder sich tragen lassen von der schwarzblauen Gewalt der Ozeanwellen, hinein in die unbändige, frohmächtige Himmelsweite!

Es gehört schon ein kräftiges Stück Gelassenheit und Vernunft dazu – ein Glück, daß er sie hat und daß sie im Wachsen sind. Und wenn er neuerdings hören muß, daß er zur Bequemlichkeit neige – die, die ihm das vorhält, sollt' es ihm vielmehr danken und sich dazu gratulieren.

So viel ist gewiß, wär' hier das Wasser nicht um 70 ihn, in dem der Ozean atmet, das vom Ozean kommt und zum Ozean geht und das wohltuend Allgegenwärtige ist, das ihm die Hand reicht und seine Grüße für ihn hat und seine Gedanken sich anvertrauen läßt, wäre die See nicht bei ihm, es gäb' hier für ihn keine Ruhe.

Und dann sein Boot, auf das er sich verlassen kann, das ihn hinausträgt und frei macht, so oft er sich gefangen fühlt. Sein Boot – nur daß er bei hartem Wetter, und dahinter liegt erst die rechte Freiheit, noch einen Gehilfen zum Segelführen braucht. Solang er den Jungknecht, den Gottlieb, hat, kann er zufrieden sein. Gewiß, das ist ein gräßlicher Bengel, faul, gefräßig und tückisch mit den verqueren Schlitzaugen und dem blanken gierigen Maulwerk. Aber auf See nicht wiederzuerkennen und nicht zu bezahlen, anstellig und treu, flink wie ein Seehund, und immer vergnügt auf dem Posten, ob ihm das Wasser auch bis über die großen ausgefransten Ohren geht.

Wer hätte sonst sein Bootsmann sein sollen? Vielleicht Philipp, der alte Knecht, der eine Landratte war zum Gotterbarmen. Der schon, wenn der Pflug über das wellige Gelände ging, seekrank wurde und grimmig behauptete, »dit Waderland hier«, das wäre gar kein richtiges Land, und vom Pflügen: »Dat is all gor keen Plögen mihr, dat is de reine Navigatschon.« 71

Oder man hätte sich schon an die Frauensleute halten müssen, was in diesem Himmelsstrich sehr wohl in Frage kam. Fischte nicht Trude Strübing mit ihrem Vater wie der beste Fischerknecht? Und wenn der Nachbarbauer Sodmann Obst und Eier zur Stadt fuhr, half ihm da nicht seine Magd auf dem Boot? Freilich, von der Inselmagd, der dicken Male, war solches nicht zu erwarten. Wäre dies Ungetüm aufs Wasser gekommen, die Heringe hätten lauthals gelacht.

Blieb nur die Inselbäuerin selbst, der es sonst an Mut und fester Hand nicht fehlte. Nur daß auch sie mit der See ganz und gar nichts im Sinne hatte, und am wenigsten dann, wenn das Segeln am meisten lohnte. Einmal, bei etwas lebhafterer Sommerbrise, hatte er sie mit hinausgenommen. Sie klagte nicht, sie jammerte nicht, dazu war sie zu spröde und zu stolz, aber höllenschlecht war ihr zumute. Und in ihrem Auge stand die Feindschaft eines grausam Gequälten, daß er erschrak und sie niemals wieder mitzufahren zwang.

 

Es war überhaupt nicht so leicht, hier in diesem »Wasserland« mit ihr zu hausen.

Die starke und leidenschaftliche Liebe zu ihrem Manne hatte von je mit einem ebenso leidenschaftlichen Heimweh zu kämpfen. Dieser Landzipfel, der jederzeit zu 72 ersaufen drohte, blieb ihr unbehaglich und unheimlich. Auf die See hatte sie einen Haß, ganz gewiß aus Eifersucht, weil ihr Mann ohne das Wasser nicht leben konnte. Aber sie war hart gegen sich selbst, und niemals arteten ihre Schmerzen in Wehleidigkeit aus.

In der ersten Zeit der Ehe gerieten diese beiden Menschen, deren jeder sein Heimweh hatte, oft schwer aneinander, gerieten auch unterweilen auseinander, aber gerade danach fanden sie sich schmerzlich fester wieder zusammen. Sie brauchten sich, sie halfen und trösteten sich und gaben sich Halt. Und sie hatten gemeinsam zu schaffen, zu sorgen und sich zu mühen. Und die Liebe war doch da und der Liebesgenuß. Seine Zärtlichkeit war ihr Glück, wenn er sie in den Arm nahm, war sie gerettet aus der Wasserwüste, hatte ihre Heimat und war geborgen.

Dann allerdings, als sie das Kind von ihm trug, wurde die Schwermut wieder mächtiger über sie.

Ihre Gesundheit hatte in dem bösartig naßkalten Inselwinter gelitten. Ein Nervenrheumatismus machte sie zuzeiten bettlägerig. Sie war nie krank gewesen, nie untätig; es quälte sie zuschanden, daß sie ihrer Wirtschaft sich nicht gehörig annehmen konnte. Sie war nun einmal die Seele des Betriebes, und die harte Arbeit hatte von je ihre Seelennöte niedergezwungen. Jetzt, da sie lag oder ein halber Mensch mit Schmerzen 73 herumschlich, wurden die Gedanken allzu mächtig, und sie sank in grüblerische Qual.

Das Kind, das sie bekommen sollte, ängstigte sie. Wäre nur die Sonne öfter zu ihr gekommen, aber die Welt verkroch sich in Nebel.

Diese Winternebel! Die Stürme waren schlimm, wenn der ganze wutschnaubende Himmel auf dieses zappelnde verlorene Fleckchen Land sich stürzte, es von der Erde loszureißen und in dem tobsüchtigen Meer zu ertränken. Und dann die hohlen, heulenden Nächte! In denen all die Schrecken lebendig wurden, die das alte Haus erlebt hatte – wenn es in den Schornsteinen rasselte, wenn die Türen von selbst aufsprangen und es umging mit Wimmern und Stöhnen und Klagen. Schlimm waren die Stürme, aber die Nebel waren schlimmer. Dieses schleichende, lähmende, stickende Grau – erbarmungslos, tödlich – daß man gewürgt aufschrie und nach den Stürmen rief, den bösen, sie sollten doch kommen mit ihrer Furchtbarkeit und den Alp, den unerträglichen, zerreißen.

Schwer litt Frau Regine in diesen Wintermonden, und etwas Düsteres blieb davon in ihrem Gemüt. Wäre Martin in dieser Zeit nicht so gut zu ihr gewesen, sie hätte verzagen müssen. Es hatte ihn so oft erbost, daß sie bei ihm sich nicht ganz heimisch fühlen wollte, und ihn selber unhäuslich gemacht. Jetzt ließ 74 er die wilden Segelfahrten, beschränkte die Fischerei auf das nötigste und nahm der Arbeit in Haus und Hof mit größerer Liebe sich an. Ihr wirtschaftlicher Sinn wäre auch sonst verzweifelt.

Er freute sich von Herzen darauf, daß er Vater werden sollte, und baute schöne Zukunftspläne. Das hob und stärkte sie, aber ihr banges Gefühl ward damit doch nicht überwunden. Und mehr als einmal sprach sie so: »Ich weet nich – mi is, as ob wi dat Kind nich behollen.«

Dann lachte er sie aus und küßte sie, und sie ward froh, aber immer, bald ferner, bald näher, lauerten die Schatten.

Es zog ein früher Frühling in diese Breiten ein. Über Wasser und Land flimmerte ein strahlender Märzsonntag. Der alte Inselbauernhof kauerte wohlig in der warmen Luft. Male, »de Diern«, wusch hochgeschürzt draußen die Milcheimer aus und stellte sie zum Trocknen auf die Bank. Dazu summte sie sehr falsch und schmalzig:

»Ich suche die Blume Männertreu
Und kann sie nirgends finden« –

Gottlieb lümmelte sich, einen Strohhalm kauend – zum Kauen mußte der Mund was haben – auf einem Rasenstück, in dem das erste Leben sich regte. Er schielte zu der dicken Male hinüber, seine schiefen Blicke 75 umschlangen mit lustvollem Erstaunen das unermeßliche Rund dieser Waden.

Philipp allein, der Alte, lief kopfschüttelnd und unzufrieden herum. Einmal war er mit seiner Winterruhe noch nicht fertig. die so meuchlings früh unterbrochen wurde. Und dann traute er dem Frieden ganz und gar nicht. »De März hät keen Herz«, gab er zu wissen und verzog grämlich die verpriemten Mundwinkel. Und ehe die »Kronen«, die Kraniche, und die Wildgänse nicht kämen, wäre es nichts mit dem Frühling. Die allein da hoch oben in der Luft wüßten mit Wetter und Jahreszeiten Bescheid.

Die Dirn und der Jung wollten ihm das nicht glauben. Da stellte er sich zornig auf seine krummen Beine, durch die Sonne, Mond und Sterne hindurchschienen, und grunzte sie an: »Ji sied beid gliek dumm! Wenn man Juch beid in 'n Sack steckt un 'n Barg runnertrünnelt, ligt ümmer dat grötste Dusseltier baben!«

Regine war in der Sonne wie aufgelebt. Flink war sie auf den Beinen, wie schwer sie trug an dem gesegneten Leib. Am Nachmittag, da die Leute ausgegangen waren, saß das Ehepaar in dem jubilierenden Sonnenschein vor der Tür. Sie nähte an den Kindersachen, er hatte seine Handharmonika hervorgeholt und spielte alte Schifferlieder und Volksweisen. Seit 76 ihrer Brautzeit hatte es so schön nicht geklungen. Dazwischen spannen sie in die Zukunft die Gedanken, die Wünsche und Pläne.

Ein Junge würde es werden, so behauptete er steif und fest und unerschütterlich – Regines mildes wehrendes Lächeln machte ihn nur noch hartnäckiger. Und dem Jungen würde jetzt ein Erbe zubereitet – in beide Fäuste sollte er sich lachen. Dies alles müßte ihn natürlich aus andern Augen ansehen. Halber Kram wäre das bisher, die Fischerei wie die Landwirtschaft. Ein zweites größeres Fahrzeug wollte er anschaffen, für Hochseefischerei. Und dann, daß sie das, was hier gefangen wurde, nicht gleich losschlagen müßten und nicht dem Händler auf Gnade und Ungnade ausgeliefert wären, wollte er Bassins anlegen, für Steinbutten, die am meisten lohnten. Die sollten am Leben erhalten und gefüttert werden, dann hätte man Zeit, die Konjunktur abzuwarten. O – es sollte schon Leben ins Geschäft kommen!

Seinen Wasserplänen hörte sie mit geteilten Gefühlen zu. Aber sie wußte zu viel von seines Wesens gewachsener Behäbigkeit, und dieses edle Feuer ängstigte sie nicht sehr. Sie vermochte es dann geschickt nach ihrer Seite, der landwirtschaftlichen, hinüberzuleiten, wo es ihrer eigenen Regsamkeit immerhin zugute kommen konnte. 77

Hier fing die Personalfrage an brennend zu werden. Philipp, der Alte, war unentbehrlich und mußte bleiben. Aber einen andern Jungknecht oder ein anderes Mädchen mußten sie haben. Und um diese beiden gab es einen gelinden Kampf: Martin wollte Gottlieb, seinen bewährten Maat, nicht hergeben. Regine aber, der gerade bei dem Jungen die bootsmännische Fertigkeit gegen den Strich ging, weil sie des Bauern eigener Leidenschaft Vorspann leistete, die seine Faulheit auf dem Acker und seine Naschhaftigkeit – erst gestern hatte er wieder zwei frischgelegte Eier aus dem Hühnerstall gestohlen und an Ort und Stelle ausgesoffen – in kochende Wut brachte, wollte ihn je eher je lieber vom Hofe haben. Martin ging nicht recht heran an den Speck, da spielte sie als letzten Trumpf ihren jetzigen Zustand aus, der den ewigen Ärger nicht ertrüge. Jetzt endlich gab der Bauer klein bei, und es wurde beschlossen, dem Jungen zu kündigen.

Regine hat später öfters daran denken müssen, wie wohl alles gekommen wäre, hätte sie an diesem unvergeßlichen Frühlingsnachmittag ihren Wunsch nicht so siegreich durchgefochten, gerade mit bewußtem Einsatz dieses Mittels von innigster Wirkung, hätte der Bauer seinen seetüchtigen Gottlieb behalten und nicht jemand anders dessen Stelle eingenommen.

Aber heute ziehen gewiß keine Ahnungen verdüsternd 78 durch ihren Sinn, es bleibt ein Tag der sorglos fröhlichen Klänge. Die Harmonika lockt den Wettbewerb der ersten Frühlingssänger, das Rotkehlchen gibt seine hellen Glockentöne darein, die Drossel flötet, die Meisen zirpen, kullern und klingeln, in der Pappel pfeifen, schwatzen und schmatzen die Staare, dazwischen schnarrt der Zaunkönig ganz wie ein feines Herrchen. Zärtlich lockt der Brachvogel sein Weibchen. Und das Summen der Hummeln von den Weidenkätzchen und Espenblüten surrt zu ihnen herüber. Ein Zittern von dem neuen Geschehen schwingt durch Erde und Luft.

Sie lehnt den Kopf an seine Schulter. Der Abend schließt einen hellen, reinen Tag, einen klingenden, hoffenden. Und sie spricht es aus: wenn die Sonne bleibt, glaub' ich, wird doch alles gut!

 

Aber die Sonne blieb nicht. Der April wetterte all seine bitterbösen Launen aus, in Schneetreiben und Regenstürmen.

In einer Nacht, da es wie Sintflut aus tosenden Wolken herniederbrach, stürzte Martin auf den Hof, zog die Pferde aus dem Stall und jagte mit dem Wagen über den Damm, in den gierig die Wasser sich krallten, landeinwärts, nach dem Dorf, die Hebamme zu holen. Denn Regines Stunde war gekommen.

Die weise Frau, ein schwerer Koloß, vollführte 79 kein schlechtes Geschnaufe auf dem offenen Wagen, in dem Wetterbraus. Sie flößte den Pferden Schrecken ein, der Bauer brauchte die Peitsche nicht, sie flogen nur so zurück. Und die Helferin war rechtzeitig zur Stelle.

Regine war tapfer und stark, die körperlichen Schmerzen kriegten sie nicht unter, aber dieser wüste Wasserschwall quälte und ängstigte sie und peinigte sie mehr als die Wehen.

So geschlagen waren ihre Sinne, so verdüstert ihr Gemüt, bis zum Unwillen gegen das Leben – nicht mit Hingabe, in einer Art Widerstreben setzte sie das Kind in die Welt. Und es war ein Junge. Sie sagte sich gleich nachher: wie kann das gedeihen, was so geboren ist!

Kein Sonnenlicht kam zu dem Kinde. Wie ein Fluch lag es auf diesem Erdstrich und wie ein Hohn: zur Nacht war der Himmel reingefegt, die Sterne glitzerten und wollten einen hellen Tag heraufführen. Aber mit dem Morgengrau türmten die Wolken sich auf, es war, als hätten sie in der Nacht sich ausgeruht und aufs neue sich vollgesogen von all dem höllischen Zeug, das sie nun in Schloßenwettern, in Schneewogen und in Regenböen über die hilflos geduckte, verzweifelte Erde peitschten. So ging es Wochen und Wochen.

Regine hatte sich schwer und langsam erholt, nun 80 schrie sie nach Sonne. In ihrer großen Zärtlichkeit zu dem Kinde war so viel Angst eingeschlossen, und die Angst wuchs an der Zärtlichkeit.

Was soll aus uns werden? fragte sie. Ich werde verrückt in dieser brausenden, triefenden Düsternis. Und ich soll dich stillen! All meine Not schlürfst du mit in dich ein. Der Himmel will uns nichts Gutes.

Martin war froh und obenauf. Andere Männer trinken, wenn ihnen Glück widerfahren ist. Er ging aufs Wasser und feierte im Boot seinen Vaterstolz. Die Aprilstürme kamen ihm gerade recht. Und immer dachte er, wie es wohl sein würde, wenn sein Junge erst mit ihm führe. Das Boot sollte sein Kinderwagen sein!

Er wollte nicht glauben, daß das Kind schwächlich sei. Er lachte über die Vermutung, daß ihm die feuchte Luft schade, daß dies Klima ihm nicht tauge. Seinem Jungen! Und aus allen Himmeln fiel er, als der alte Landarzt kam, sich furchtbar die breite Nase schnob, was er immer in bedenklichen Fällen tat, und schlankweg erklärte, daß das kleine Lebenslicht nur kümmerlich glimme. Ob die Muttermilch hier nicht das Richtige sei? An der Ernährung liege es, sie sollten es einmal mit der Flasche versuchen.

Aber gerade die Flasche verdarb alles. Das Licht erlosch. Als die Sonne endlich wieder den Inselhof 81 suchte, fand sie todtraurige Mienen, und ihr Strahl traf durch die Gardinen der Wiege ein kaltes, wachsbleiches kleines Gesicht.

Die beiden betrübten und verlassenen Menschen helfen sich, halten sich, geben sich Trost. Aber im Schmerz ist Gift.

Regine, würgend und bohrend, vergraben und düster, stieß es hervor: »Ick wüßt' jo, dat he nich am Leben bleew!«

Und seine durch den Gram empfindlich gespannten Sinne spürten es heraus, daß in der Klage eine Anklage war.

Das sei das alte Lied, wandte er ein, der alte Jammerruf über Luft und Leben hier, über das Wasser, über die Insel.

Ja, das sei es wohl, gab sie zurück. Nie habe sie sich mit dem Eiland verstanden, immer habe es so was wie Feindschaft gegeben zwischen ihm und ihr, und jetzt habe es das Schlimmste ihr angetan!

Noch blieb er ruhig. Wie sie dem Land schuld geben könne!

Dem Land und dem Wasser, ja! Und heftiger sprudelte es heraus: Wie sie sich hier zurecht finden solle! Sie sei nicht mit Schwimmhäuten geboren und trage keinen Fischschwanz! Und ihr Kind, so geartet wie sie, habe deshalb hier auch keine Stätte gehabt. 82

»Häw ick denn Schwimmhüer? Un bün ick unnen 'n Fisch?« Und nun kam der schwere Vorwurf: sie fühle sich eben nicht hierhergehörig, weil ihr der echte tiefe Zusammenhang mit ihm, ihrem Manne, fehle.

Sie zuckte zusammen. Daß er sie nicht an sich nahm, sorglicher, inniger, daß er so von ihr abrückte. Dann schwebte sie ja jetzt ganz verloren in der Luft. Wie ein Schwindel faßte es sie, wie ein großer Schreck.

Sie hatte ihm weh getan – das wollte sie nicht. Aber sie konnte sich nicht verstellen und nicht verschweigen, weß ihr Herz voll war. Und so war es ihr nun einmal zumute!

Die Insel! Dies Land! »Du büst du – un büst doch nich dit Land hier!« sprach sie rauh, mit herber, trotziger Nachgiebigkeit, und preßte seine Faust in ihre beiden Hände und löste ihm die Finger.

Wohl streichelte er ihre Hand und sah in ihre gequälten Augen gütig und tief. Aber es blieb ein Nachhall in ihm von dieser Stunde.

 

Die Frühjahrsarbeit drängte. Auf der Insel war keine Zeit und kein Platz für Klagen, Jammern und Grübeln. Regine hielt sich gut auf den Füßen. Es war, als hätte das Unglück sie härter und widerstandsfähiger gemacht, sie gesteift und gefestigt. Sie hatte auch als Frau und Mutter etwas mädchenhaft Holdes 83 besessen. Von dieser weichen, träumenden Anmut blieb nun freilich nichts mehr zurück. Ein fast bitterer Zug war in ihr Gesicht gegraben, dafür aber hatte die Schönheit der großen. grauen, ernsten und mutvollen Augen sich nur vertieft.

Martin war ehrlich froh, daß sie den Schlag so tapfer überwand, und dankte es ihr mit Zärtlichkeit und Fürsorge. Aber er ward nicht immer seiner üblen Stimmung Herr, weil Gottlieb, sein Maat, ihm fehlte.

Dessen Nachfolger, der lange, schlaksige Ewald, war ein tüchtiger, wenn auch langsamer Landarbeiter, aber auf See wurde er mit seinen Knochen nicht fertig und Angst hatte er auch. Was sollte ihm dieses Jammergestell!

Und plötzlich geschah das mit der dicken Male. Sie lief aus dem Dienst. In diesem Frühling war es über sie gekommen, der Mannskoller hatte sie gepackt. Auf der Insel war nichts los für sie, der alte Philipp zu gries und Ewald zu grün – da zog sie hinaus in die Lande.

Statt ihrer kam die schlanke und ranke Line Heuer auf den Hof. Als Philipp sie daherschreiten sah mit ihrem seltsam federnden Tritt, verstaute er schmunzelnd seinen Priem von rechts nach links und gab sein Urteil dahin ab: »Frugenslued un Pierd moet man up de Been kieken – de Diern is good.« 84

Freilich, ihr leichtes Gepäck konnte ihm, dem Sparer und Heger, nicht imponieren.

»Veel häst du nich upladen,« sagte er zu ihr, und musterte geringschätzend ihren kleinen Korb.

»Oh,« entgegnete sie lachend, und ihr großer frischer Mund zeigte froh die schiefen aber blitzblanken Zähne, »ick häw alles duwwelt, twee Strümp un twee Schoh!«

Und das Eine muß wahr sein, sie hatte ihre paar Sachen in sauberster Ordnung. Reinlichkeit war überhaupt ihr Lebensbedürfnis. Es verging kaum ein Tag, an dem sie nicht des Abends nach getaner Arbeit, ob's warm war oder kühl, in der See badete.

Dieses tägliche Baden war nun allerdings hier nicht Mode. Und es diente nicht eben dazu, das Unbehagen und Mißtrauen zu zerstreuen, das Lines erstes Erscheinen in Regine geweckt hatte.

Gewiß war sie selber auf Sauberkeit und Körperpflege bedacht. Aber hier war ein Übertriebenes, bei Sturm und Regen gar ein Widersinniges, dagegen sie sich auflehnte.

Oder spielte auch der Neid hinein, weil sie selber das kalte Baden nicht gut vertrug, nur bei großer Hitze in die See durfte und im übrigen auf warmes Wasser im Waschtrog angewiesen war?

Noch eins kam dazu, was der ganzen Sache einen 85 unangenehmen und peinlichen Beigeschmack gab: das war der Anzug, in dem Line sich den Fluten überlieferte.

Sie stammte aus dem nahegelegenen Seebad, wo ihr Vater, Fischer von Beruf, in den Sommermonaten als Bademeister wirkte. Von da hatte sie sich ein Trikot mitgebracht, wie es dort gebräuchlich war, das aber nach Regines Anschauung durchaus gegen die guten Sitten verstieß.

Sie selbst kroch in ein sackartiges Hemd, wie es für gesittete Frauensleute sich gehörte. »Dien Antog is unanständig«, erklärte sie einmal aus ihrem ehrlichen Unmut dem Mädchen. Das blickte sie mit ihren grellen grüngrauen Augen ahnungslos an. Martin aber, der weltbefahrene, weitherzige, prustete los: »Mudding, laat di nich utlachen!«

Wie ein Stich fuhr es ihr durch die Brust. Was war das? Daß er so auf die Seite der Dirn sich schlug –! – Stand sie allein gegen die Beiden –? –

Sie hütete sich klug, noch ein Wort von dem Kostüm zu sprechen. Sie wußte, daß sie ihres Martins Gedanken, in dessen blauen Augen noch die ganze Unbefangenheit leuchtete, sonst leichtlich auf eine schiefe Bahn hätte leiten können.

Sie kuckte sich noch einmal genauer das ganze Mädchen an. In dem Gesicht fand sie nun keine Spur von 86 verführerischem Reiz. Häßlich geradezu war die sommersprossenbesäte Haut. Das rotblonde Haar darüber, sonst voll und weich, konnte kaum zutraulich stimmen –»rod Hoor keen god Hoor«. Und der große Mund mit den schiefen spitzen Raubtierzähnen wirkte gar wie ein Warnungszeichen. Nur die Augen halfen einigermaßen über das Abstoßende hinweg, sie waren lebendig und lustig, voll junger Schelmerei. Allerdings – ob man ihrem grünlichen Schimmer trauen durfte?

Soweit war Regine mit der Schönheitsprüfung ziemlich zufrieden. Bedenklicher war es und ärgerlicher, mit dem Wuchs des Mädchens sich zu befassen, mit den festen schlanken Gliedern, den knospenden Formen.

Sie wußte schon, weshalb sie in das vermaledeite Trikot sich steckte!

Die Bäuerin wäre sie lieber heute als morgen wieder losgeworden. Aber zur Entlassung gab es keinen Grund, eine flinkere und fleißigere Dirn hatte die Wirtschaft noch nicht gesehen.

Sollte sie Zank und Streit vom Zaun brechen? Was würde Martin dazu sagen? Würde er nicht gerade dann der zu Unrecht Gemaßregelten sich annehmen? Ihn vor allem nicht beirren, und alles Wispernde und Nagende im Innern ersticken! 87

Regine blieb auf den Beinen und tat ihre Arbeit. Sie war gestrafft und angespannt; wohl war sie auf der Wacht, doch auch auf der Hut vor sich selber.

Wäre nur Martin zufrieden gewesen. Aber mit dem langgestielten Ewald hatte er sein Kreuz.

»Dat du mit den Bengel wat upstellen kannst!« sagte er zu Philipp. Der Junge schlenderte über den Hof. »Kiek Eener sich blot dat Gangwark an.«

»Ja. Ja« – der Alte hatte seinen Verschmitzten und wollte scherzhaft versöhnend wirken –»he hät 'n Knaken in'n Been!«

Aber der Bauer war auf Scherze nicht gestimmt. Regine kam hinzu. Da schoß ein Gedanke in ihm auf. »Du,« sagte er, »laß doch den Ewald, die Transuse, heute Kartoffeln schälen und gib mir die Line.«

»Die Line? Wozu?«

»Sie soll mit 'raus zu den Netzen.«

Regine starrte ihn an. Blitzschnell kamen ihr die Einwände, blitzschnell wurden sie verworfen. Sie faßte sich gleich und sagte gelassen: »Wenn du willst –!–«

Er hatte seinen Blick für Menschen. Line hatte dies Gewandte, dies Fixe in Auge und Hand. Als Fischerkind war sie öfter auf See gewesen. Was sie noch nicht konnte, würde sie lernen. Er fühlte es, die bändige ich mir an. 88

Und sie war mit Freuden dabei. Legte munter mit Hand an, das Boot ins Wasser zu bringen. Wußte, wie die Segel aufzuziehen und zu befestigen waren, begriff, worauf es beim Steuern ankam.

Wie eine Eidechse schlüpfte sie von Heck zu Bug.

Das war denn doch noch ein anderer Kram als früher mit dem Gottlieb, dem schlitzäugigen, lecknäsigen Lümmel!

Auf dem Hofe aber, was niemals geschehen, läßt Regine ihre Arbeit im Stich. Geht übers Feld, zur Höhe, von der man die See überblickt, und kauert sich auf den Abhang unter einen Ginsterbusch. Sie achtet nicht auf die strahlende Pracht seines Blühens, nicht der schwirrenden Libellen, der beflügelten Edelsteinagraffen, nicht des trunkenen Farbenspiels der taumelnden Falter, sie hört nicht die reinen Jubeltöne der Lerche über sich, nicht im nahen Gehölz den schalkhaften Neckruf des Kuckucks – all ihre Sinne sind auf das Eine gespannt. Immer nur späht sie auf die glitzernde See. Nach dem gelbroten, glückselig leuchtenden Segel, das in die Sonne fährt.

Ihn und sie trägt das Boot – ihn und sie. Bei seiner liebsten Arbeit hilft sie ihm und wird ihm nahe, vertraut und unentbehrlich.

Und sie selbst muß hier liegen und lauern. Sie denkt dumpf und weh: ich möchte wohl die Line Heuer sein. 89

Denn schlägt es sie wie Feuer. Ich will es nicht – will es nicht – es soll nicht sein! Und sie reißt mit den Händen in den flammenden Ginsterbusch, daß die Finger ihr brennen und bluten.

Jetzt packt sie die Scham. Was ist aus ihr geworden! Daß sie auf Schleichwegen sich wiederfindet! Wieviel hat sie immer auf ihren Stolz sich zugute getan, auf ihr frankes, offenes Wesen!

Sie springt auf, geht frei über die Höhe, geht hart an ihre Arbeit. Und als die Beiden nach Hause kommen, finden sie ein gleichmäßiges, ernstfreundliches Gesicht. Das nicht Maske ist, weil ein ehrlicher Wille darin wirkt.

 

Wie zum Lohn widerfährt ihr dann eine große Freude. Ihr junger Bruder kommt zu Besuch. Sie hängt sich an seinen Hals, jubelnd, schluchzend. Und findet der Liebkosungen kein Ende. Die Heimat ist bei ihr.

Albert ist ein bildhübscher Kerl, ein Schürzenjäger und Mädchenfänger. Er äugt nach der Line.

Erst sieht Regine das mit leisem wahrhaftigem Unmut. Sie liebt so etwas nicht in ihrem Hause. Dann aber fängt in ihr etwas zu glimmen an, etwas Unheimliches, Böses –

Sie will es zerdrücken – es quält sie selbst – aber es schwelt und frißt sich weiter – 90

Wenn Line in ihren Albertbruder sich verliebte! Der Gedanke stellt sich erst ganz harmlos an. Das braucht ja nichts Schlimmes zu sein. In allen Ehren kann das geschehn. Und Albert braucht ja auch nicht der Windhund zu bleiben, der er ist. Oder sein soll – vielleicht übertreiben die Leute nur!

Ein leises Schäkern und Scharwenzeln – wird es nicht schon genügen, sie bei Martin in Mißkredit zu bringen? Der so große Stücke auf sie hält –

Albernheit schalt sie dann solches Flausengemache, und Heuchelei. Was dachte, was wollte sie im Grunde? Martins Eifersucht erregen? Dann war doch schon alles bis zum Äußersten gekommen. Dann halfen doch nur noch die kräftigsten Mittel. Dann hieß es eben die Dirn unschädlich machen.

Nur nicht ängstlich und zag und zimperlich sein! Ging es nicht um ihr eigenes Schicksal?

Durfte sie das Mädchen nicht fortjagen, so sollte es gehn aus eigenem Antriebe. Sollte dem Albert nachlaufen – warum nicht! Oder Martin mußte ihr den Laufpaß geben.

Geschehen – es mußte etwas geschehen! Und mußte Albert ihr nicht helfen in ihrer Not, der ihr Fleisch und Blut war!

Und wieder schlägt ihr das Gewissen. Ist seine Liederlichkeit ihr nicht immer ein Abscheu gewesen? 91 Jetzt soll sie mit seinem Laster sich verbinden – und gegen die, die der Obhut ihres Hauses anvertraut ist und gegen die sie Pflichten hat.

Des Hauses Obhut – ist die Dirn nicht dabei, sich den Schutz dieses Hauses zu verscherzen? Daß sie den Albert links liegen läßt und gar nicht beachtet – Scheu und Bescheidenheit ist es gewiß nicht! Wie selbstverständlich dreist ist sie in ihrem Verkehr mit dem Hausherrn! Geht das nicht ganz auf gleich und gleich?

Geradezu vertraulich ist sie mit Martin. Daß sie ein Auge auf ihn wirft, frech genug ist sie dazu. Und nur so, daß sie es mit ihm nicht verderben will, nur so erklärt sich ihre Ablehnung gegen Alberts Werbungen.

Das mußte man ja sagen, er ging behutsam mit ihr um. War das zu zart für sie? Mußte sie anders angepackt werden? War es Rücksicht auf die Schwester und ihr Haus, was ihm Zurückhaltung auferlegte?

Sollte sie selbst ihm Mut machen? Und eines Abends, als sie beide zusammen saßen, brachte sie das Gespräch auf Line. »Dat is ne dulle Diern,« sagte sie, »de moetst du di mal ansehn, wenn se badt.«

Peitschte sie ihn nicht an mit vollem Bedacht? Leistete sie seiner Ruchlosigkeit nicht Vorschub? Wurde sie nicht zur Kupplerin? 92

Es faßte sie wie ein Ekel vor sich selbst. Aber giftig gärte es ihr im Blut, und ein Fieber trieb sie um.

Am Abend schlich Albert dem Mädchen nach. Er kam nach Hause erregt, mit unmutig-höhnendem Gesicht. Da wußte sie, er hatte eine Enttäuschung erlebt.

Martin trat hinzu. Er legte die Hand schwer und zwingend auf des Schwagers Schulter. »Line hät mi vetellt, dat du ehr nahlöppst. Ick rad di, laat de Finger dorvon.« Und weiteren Belästigungen am einfachsten zu wehren, fügte er hinzu: »Morgen gah ick mit ehr schwemmen.«

Regine war geschlagen, betäubt. Feuerringe kreisten ihr vor den Augen. Hatten seine Blicke nicht auf ihr gelegen? Wußte er, wer hinter jenen Listen und Lüsten stak? Daß sie, sie die Schuldige war?

Und wie rächte sich nun die Schuld! Flocht gerade dies die Beiden nicht noch inniger zusammen?

Dann wieder brach es in ihr auf, ein lachender Hohn, wild und zornig.

Ist nicht die Welt auf den Kopf gestellt? Haben die Beiden nicht ihre Heimlichkeiten? Schreiten sie nicht auf ehebrecherischer Bahn? Und sie, die Ehefrau, soll sich abseits ducken, als die Übeltäterin, mit schlechtem Gewissen? So sollen die Beiden wohl gar gerechtfertigt sein in ihrem Tun, sollen zusammen erhöht werden und zusammen ihren Segen haben! 93

Muß sie ihnen nicht abbitten, denen sie ein Leid zugefügt! Muß sie nicht zerknirscht vor ihnen hinknieen – vor dem Paar – dem Paar –

Eisige Nadeln stechen ihr durchs Hirn. Wenn ich nur nicht den Verstand verlier – ! –

Am andern Tage schnürte Albert sein Bündel. Auch in diesen Abschied kam ein Fremdes, Gedrücktes, ein Schwärendes und Böses.

Was verdarb ihr die Insel nicht alles! Nun schlich deren Fluch sich auch in ihren treuesten Besitz, in ihre heimatliche Habe!

Und am Abend ging sie den Schleichweg. Die Beiden wollten zusammen baden. Harmlos geberdete sich das unlautere Treiben. Aber sie ließ sich nicht täuschen.

Als Beschützer gar vor den Werbungen eines andern hatte er sich in die Brust geworfen. So hatte er die Dirn begleiten wollen. Bedurfte es jetzt noch dieses Schutzes, da der andere fortgefahren war?

Nur an dem Zusammensein lag ihm – an diesem ungezwungenen schamlosen Beieinander in halber Nacktheit, in Augenlust und Sinnengier –

Voll liegt das Mondlicht auf der Halde. Aber ein geschützter Hohlweg führt zum Hügel. Und da oben decken Felsblöcke und Ginstersträuche die Gestalt.

Wieder kauert sie sich unter ihren brennenden Busch. 94 Sie späht und späht. Da – am Strande regt es sich und blinkt. Zwei Menschen, zum Baden entkleidet, nackte Schultern und Beine leuchten auf.

Sie gehen ins Wasser, er hier, sie dort – so viel Scham, daß sie entfernt voneinander sich auszogen, haben sie doch noch gehabt. Im Wasser finden sie sich zusammen – wie die Kinder begrüßen sie sich mit Spritzwellen.

Und dann schwimmen sie, nebeneinander, beieinander, in dem langen Mondstreifen, der über die stille schlafende Wasserfläche sich spannt. Eine Lichtstraße. Die ziehen sie, und sie verlassen sie nicht.

Weiter, immer weiter trägt es sie fort. Scharf heben sich die runden Köpfe aus dem Schein, um die Körper sprüht ein Glitzern der bewegten Flut. Worte klingen verloren herüber, ein Lachen, frohlockend, silberhell schwingt durch die Lichtwellen.

Glücklich sind die Beiden, glücklich miteinander. Und die einsame Frau spricht still vor sich hin: ich kann nicht schwimmen, ich kann auch nicht lachen und fröhlich sein.

Die beiden Schwimmenden ziehen immer weiter ihre helle Bahn. Er, der Kräftigere, hält sich zurück, er schwimmt nicht mit voller Macht, treu bleibt er ihr zur Seite, daß er ihr helfen kann und sie stützen, wenn ihr etwas zustoßen sollte. So liebevoll sorgt er für sie. 95

Regine wirft sich stöhnend zurück und birgt in dem Arm die zuckenden Augen. Das Licht tut ihr weh, die Welt tut ihr weh, das Leben.

Wohin wollen die Beiden – so weit sind sie schon – wollen sie fliehen – wollen sie in den Mond schwimmen – sie verlassen seine Lichtbahn nicht.

So schwimmt in den Mond! Fort mit Euch von der Erde! Wohl wird mir erst, wenn ich Euch nicht mehr sehe, wenn ich nichts mehr von Euch weiß!

Ist es nicht gefährlich, so weit wie sie da draußen sind? Und eine Angst packt sie – um Martin – nicht um das Frauenzimmer, weiß Gott nicht – mit keiner Wimper würde sie zucken, wenn ein Strudel sie herabzöge, wenn ein Schlag sie träfe und sie kraftlos versänke!

Ja, sie wünscht es ihr – wünscht es sich – mit gärenden, mordlustigen Gedanken sehnt sie ihren Untergang herbei –

Nur daß Martin ihr helfen würde – und könnte selber dabei versinken –

Oder er schaffte die Ertrunkene glücklich an Land – er selbst wohlbehalten – ja auch so könnte es sein – und es werden die Wiederbelebungsversuche gemacht – und sie, Regine, hilft dabei – aber so hilft sie, daß die Versuche nicht gelingen – ersticken würde sie die Leblose vollends, sowie er sich wendet! 96

In solchen Bildern toben ihre Sinne – und dann schlägt der elende Gram alles nieder in müde Dumpfheit.

Sie erhebt sich mühsam, sie kehrt den Blick nicht mehr zu der leuchtenden See; langsam, taumelnd schleicht sie nach Hause.

Nach Hause – hat sie noch ein Zuhause hier? Ist sie nicht entbehrlich, überflüssig oder lästig gar! Ist sie den beiden Glücklichen nicht im Wege? Schon ist sie so gut wie abgehalftert, so gut wie verstoßen.

Ein Sterben ist es, was sie in sich fühlt.

Die beiden Schwimmer, die lebensstarken, glücklichen kommen zurück. Sie empfängt sie ruhig und bringt eine freundliche Unbefangenheit zuwege. Sie findet sogar Worte wie: ich habe Euch nachgesehn – so weit habt Ihr Euch hinausgewagt!

Martin aber stutzt über etwas Fremdes, Unbekanntes in ihren Blicken, ein kalter, blasser, toter Schein wie Schneelicht ist darin.

Da fühlt er, daß Einsamkeit und Verlassenheit sie umlagert. Hat der Abschied vom Bruder sie so mitgenommen? Spukt ihr altes Heimweh mit neuer Macht?

Es treibt ihn, gut mit ihr zu sein und ihr Liebes zu erweisen. Sie hat den Ehrgeiz gehabt, eine neue Milchkuh sich aufzuziehn, die beste der Starken wollte 97 sie behalten. Seine wirtschaftlichen Bedenken gibt er jetzt hin, er will ihr die Freude machen, er sagt ihr, sie solle es und könne es. Und fügt arglos hinzu, die Fischerei habe in der letzten Zeit so viel abgeworfen –

Bei diesem Hinweis zuckt es in ihren überspannten Nerven. Und der Gedanke zittert durch sie hin: er schenkt aus schlechtem Gewissen.

Noch ist er unbeirrt. Ihre herbe Art, die mit Geschenken nicht recht was im Sinn hat, kennt er zur Genüge. Er will sie an sich ziehn, sie einfach auf den Schoß nehmen und liebkosen –

Da starrt aus weiten schmerzvoll ungläubigen Augen ein erschrecktes Mißtrauen ihn an.

Erst will er leicht darüber hinweg. »Mutting, du kriegst 'ne niege Koh – nu sie doch vergnögt!«

Nun drängt sie ihn von sich und wendet sich heftig zur Seite.

Dagegen entflammt sich sein Zorn. Und wie ein Blitz leuchtet es in ihm auf, das ist es also! Ganz gemeine Eifersucht ist es! Damit soll sie ihm kommen!

Will sie ihn schuldig machen? Er ist nicht schuldig. Und sein Trotz wettert darein: aber er kann es werden, wenn sie es so weitertreibt mit diesem geradezu feindseligen Sichverkriechen, das er auf den Tod nicht leiden kann! Und dann mit dieser Miene der gekränkten Unschuld, mit diesem Anklägergesicht! 98

Er gehört nicht auf die Anklagebank! Er hat nichts verbrochen! Er ist kein Liederjahn! Da sollte sie mal an einen andern Mann geraten sein, so wie die Meisten schon sind!

Und nun das Gehabe und Getue, als müsse er gestraft werden. Verschmäht! Zurückgestoßen! Sie versagt sich ihm!

Er ballt die Fäuste und knirscht und verkrampft sich in höhnende Bitterkeit.

Dann wetterleuchtet die Frage durch ihn hin: was bist du so wild? Warum lachst du nicht – lachst du sie nicht aus?

Was tut das reine Gewissen anders als lachen? Wer grimmt und schäumt und kollert, bei dem ist immer was Trübes auf dem Grund.

Auch bei ihm? Hat er seine Heimlichkeit? Ist das gefährlich, sein Zusammensein mit der Line, und verdächtig? Hat Regine Anlaß zu ihrem Argwohn?

Und wenn – so ist niemand anders schuld daran als sie selbst.

Warum quält sie ihn mit ihrem Zweifel und Mißtrauen? Warum will sie Erlaubtes verbieten? Herrgott – so kann man in etwas hineingequält werden, was einem fernliegt – woran man selber nicht gedacht hat – ! – 99

Sein Zorn mehrt sich in dem Wirrsal. So liegt er in bitterbösen Gedanken. Und spät schläft er ein.

Regine hat wie in einer Betäubung hingedämmert. Nun ist sie erwacht. Sie liegt und sinnt und wartet.

Krank bin ich. Das Wasser hat mich krank gemacht. Ein totes Kind habe ich geboren und kann selbst hier nicht leben, nicht sterben.

Aus großer Liebe bin ich dir hierher gefolgt. Und nur Liebe kann mich hier wahren, daß ich nicht zu Grunde geh'.

Deine Liebe, sie war der Preis, um den ich alles verlassen habe, Heimat und Glück. Nun habe ich sie nicht – habe sie nicht mehr – und darum bin ich hier verraten und verkauft.

Deine Liebe – wie herrlich hat sie sich jetzt eben gezeigt! Darin, daß ich eine Kuh mehr halten darf! Du siehst meine Not, du fühlst meinen Gram – und denkst an den Kuhstall.

Soll ich nur noch deine Wirtschafterin und Haushälterin sein? Ich kann es ja gar nicht mal, meine Kraft ist hin – ohne deine Liebe bin ich ohne Kraft.

Wie könntest du mich sonst so warten lassen – auf ein Wort, auf ein liebes, gutes, treues Wort.

Du fühlst doch meinen Gram, du siehst doch meine Not!

Wär' ich dir lieb, hättest du es gelitten, daß dies 100 Wasserweib kommt und mit dir davonschwimmt? Hättest du nicht längst sie schwimmen lassen und mich und dich von ihr befreit?

Sie greift nach ihrer Stirn. Darin dreht jemand einen Bohrer, unaufhörlich, dreht und dreht.

Wer ist dieser Quälgeist? Was hat sie ihm getan?

Anlehnen den Kopf – an seine, seine Brust ihn lehnen. Wenn er sie riefe – warum ruft er sie nicht?

Bewegen sich nicht seine Lippen? Er träumt – und ob auch im Traum – »Regine« würd' er sprechen.

Nun murmelt er wirklich etwas. Und jetzt klingt es vernehmlich: »Den Klüver dahl! Good, mien lütt Diern!«

Da ist es – im Leben und im Traum die andere – hat sie nun die Wahrheit oder nicht?

Es friert ihr Blut – wie Eis werden ihre Glieder. In dumpfer Starrheit liegt sie bis zum Morgen. Als sie aufstehn will, kann sie sich nicht bewegen.

 

Martin holt den Arzt. Der schnaubt in sein lakengroßes Taschentuch. Eine Art Nervenlähmung – hoffentlich vorübergehend – feines Gewebe, was man so zarte Seele nennt, Gemütsleiden, offenbar seit dem Tode des Kindes – von der richtigen Einwirkung auf den Willen ist Heilung zu erwarten – das Nächste größtmögliche Ruhe und Fernhalten jeder Erregung – 101

Es mußte eine Pflegerin bestellt werden. Regines Gedanken mündeten in die Heimat. Eine Verwandte sollte herkommen, ein älteres Mädchen, Tante Emma. Sie trug an schwerem Lebensleid – vom Manne kommt des Weibes Unglück – aber sie trug es mit gottergebenem Sinn. Das brachte sie Regine nahe, die selbst das Bedürfnis nach geistlichem Trost empfand.

Geistlichen Trost nun freilich gewann die Kranke nicht von ihr. Dazu war das alte Fräulein zu ausgebrannt von seiner Himmelssehnsucht, der Welt zu sehr abgestorben und kaum noch im Zusammenhang mit diesem Leben. Aber diese kleine vertrocknete Person hatte feste Sehnenstränge, sie konnte arbeiten und die Hände rühren. Und treu wie Keine war sie in der Erfüllung übernommener Pflichten. Doch mechanisch wie ein Uhrwerk ging ihr äußeres Schaffen, wie eine aufgezogene Maschine war sie selbst. Nur, wenn sie sich dann allein überlassen war, löste sie sich ganz in die große, trunkene Schwärmerei ihrer Seele.

Aber dazu brauchte sie ihre Einsamkeit, anderen gab sie nichts von dieser Verzückung und Weihe, Bekehrungsversuche machte sie nicht. Jeder kann nur durch sich selbst den Weg zum Heile finden!

So gab sie Regine nichts ab von ihrem inneren Leben. Nur kurze, kalte, leblose Gedankensplitter flogen der Fragenden zu. Alles Irdische ist eitel – tötet das 102 Fleisch – im Jenseits ist Eure Heimat – auf mehr als diese frostigen Allgemeinheiten ließ sich Tante Emma nicht ein.

So blieb Regine die Verlassene – in ihrer erstarrten Not.

Auf dem Hof arbeiteten sie, daß die Schwarten knackten. Sie fuhren Heu ein, die Sonne brannte vom Himmel. »Hüet is Schweet Trumpf in de Welt,« sagte stöhnend der alte Philipp. Auch das lange Gebein, der Ewald, der seinen eigenen Schweiß nicht riechen mochte, mußte gehörig dran glauben. Line schaffte für zwei.

Durch das offene Fenster mit dem wallenden Sonnenlicht flutete der laute frohe Atemzug der Arbeit zu der Bettlägerigen. Sie brauchen mich nicht, sie brauchen mich nicht, so schlug ihre Qual den Takt. Es ging alles ohne sie und dies ohne sie war ein gegen sie – feindlich stand das alles ihr entgegen – sie war die Ausgestoßene, die Verfehmte.

An das eine wagte ihre Vorstellung sich nicht heran – ihr Selbsterhaltungstrieb mied das Furchtbare – die Frage, wie es mit Martin und Line stand – es war nur ein loser schwebender Schatten, kein scharfes, hartes, erbarmungsloses Bild.

Kannst du gesund werden? Das war es, was in 103 ihr schwang – so viel Lebendiges und Lebensuchendes hielt sie noch in sich.

Der Arzt kam. »Nur den Willen haben, wieder auf die Beine zu kommen – nur den Willen haben, die Glieder zu rühren und aufzustehen – nur wollen – wollen – wollen.« Dabei trompetete seine Nase den Alarmruf und die Fanfare zur Lebensattacke.

Von der andern Seite hört sie das mechanisch tote und tötende: Töte das Fleisch! Eine bloße Hülle ist der Leib! Was liegt an der Hülle.

Zwei Kräfte, die sich aufheben, und in der Mitte bleibt sie selber kraftlos, unbeweglich, mit tauben Gliedern.

Sie schläft viel und oft dämmert sie hin in Wunschlosigkeit. Wenn sie so aufgehen könnte – ins Nichts, in ein neues Leben?

Ja, ja! Sich lösen aus diesem Dasein –

Und dann wieder fürchtet sie sich davor. Und klammert sich an die Erdenschwere und an ihren Lebensschmerz. Und nährt eine Flamme, die sinkt und erlöschen will und schon unter der Asche stickt und dann wieder hervorsticht. Sie nährt den Haß.

Den Haß gegen den Eindringling, gegen Line, die Magd. Die ihr das Leben verwüstet und ihre Kraft zerstört hat. Nein, nein – sie will ihr das Feld nicht räumen. In diesem Haß ist der Lebenswille. Und 104 darum hütet sie ihn wohl – das einzige Herdfeuer ihres Hauses und Rechtes, das einzige, das ihr bleibt.

Eins ist ja das Schlimme, daß an diesem Haß ihr Zweifel sich nährt, ihr Mißtrauen gegen Martin, daß er ihr dadurch verleidet wird und ein Fremder!

Sitzt er nicht oft genug bei ihr am Bett? Ist er nicht gut und voll Sorge? Läßt er sie nicht an dem Wirtschaftlichen teilnehmen, bespricht er nicht alles mit ihr und holt ihren Rat?

Findet er sich nicht sogar menschenfreundlich mit Tante Emma ab, die nur noch so wenig Menschliches hat? Ist er nicht vielleicht der Einzige, der mit der Weltfremden was anzufangen weiß? Und doch nur wohl, weil sie immerhin ein Stück von Regines eigener Heimat ist –? –

Dennoch – dennoch – wo ist das geblieben, was sonst sie beide umschlang?

Dann kommt es ihr: ist er nicht selbst zu bedauern, hat er nicht selbst seine Not? Eine kranke Frau haben – er, der blühende Mann. Der das Fleisch nicht getötet hat wie Tante Emma.

Warum nimmt sie nicht seine Hand und spricht so zu ihm: Sieh, Martin, du hast heißes Blut – und ich bin krank – ich will es dir erlauben, daß du eine andere hast –

Opfern – sich opfern – alles, alles hingeben – 105

Wie ein Rausch braust es in ihren Ohren, über den Rücken läuft es ihr und die Augen gehen ihr über. So mag wohl Tante Emmas Glücksgefühl sein in ihrer Weltentsagung.

Sie will zu ihm sprechen, mehr als einmal, aber sie bringt es nicht über die Lippen.

Und dann regt sich ihr erdfester Hohn.

Es dir erlauben – wird er die Erlaubnis abwarten? Wird er nicht selber tun, wozu es ihn treibt?

Und weiter stößt ihr Argwohn ihn von sich.

Sie fühlt es, sie weiß es: so kann ich dich nicht halten. Und weiß es wohl: häßlich macht der Haß, und ich werd' dir mehr zuwider von Tag zu Tage.

Halten könnt' ich dich mit meinem Glauben, mit meinem Vertrauen. Der Glaube versetzt Berge, der Glaube hat die große Macht – –

Aber ich glaube dir nicht – glaube dir nicht – ich zweifle an dir und verzweifle am Leben.

Dann wieder kommen stille Tage mit gedankenlosen Stunden. Dann liest Tante Emma ihr vor – nicht aus der Bibel, die behält sie für sich. Reiseschilderungen hört die Liegende mit Vorliebe. Wer selbst gefangen ist, fliegt gern in die weite Welt. Vieles davon hat Martin mit eigenen Augen gesehn, und er hat ihr davon erzählt in glücklichen Tagen.

Draußen geht die Arbeit weiter. Es ist ein gutes 106 Erntejahr. Martin muß jetzt, da Regines Leitung in der Landwirtschaft fehlt, Wasser und Fischerei links liegen lassen.

Das kommt ihn zuweilen schwer an, und man spürt es an seinem Wesen. Niemals aber spricht er sich zu Regine darüber aus, und nie erwähnt er Line vor ihren Ohren.

Gerade das aber macht ihr wieder zu schaffen. Wenn er dann des Abends ihr Gute Nacht wünscht und von ihr geht – Tante Emma teilt mit ihr die Schlafstube, er hat eine Kammer bezogen – so folgen ihm ihre Gedanken. Wohin geht er? Und bleibt er allein?

Und dabei geistert es durch sie hin – gespenstisch – durch ihre krankhaft verflüchtigten Sinne – ihre Gedanken sind bei ihm – sie umschweben ihn und sprechen mit ihm – und flüstern ihm was ins Ohr – und raten ihm an, was er tun soll – und sie sind es erst, die ihn verführen – ihre Gedanken – ihre bösen Gedanken –

Nicht denken – nicht denken –

Das Grübeln ist das Schlimme und Kranke. Gesund will sie werden. Sie will – und am Wollen ist es gelegen – –

Es geht auf den Herbst zu, die Stürme setzen ein. Martin ist wieder mehr auf dem Wasser.

Nun stehen ihnen die dunklen Tage bevor und die 107 langen Nächte, Regine weiß. von denen hat sie nichts für sich zu hoffen.

Eine Freundschaft hat sie geschlossen: mit Philipp, dem alten. Auch der fühlt sich auf der Insel nicht zu Hause, auch er hat mit dem vielen Wasser nichts im Sinn. Er sagt es selbst: »Ick bün leewer mit 'n ollen Wagen up Land, as mit 'nie Schip up See.«

Öfters sitzt er jetzt an ihrem Lager, muß ihr erzählen und darf auch seine Pfeife dabei rauchen.

Er weiß Bescheid mit dem Leben, und allerhand schnurrig Geheimnisvolles von Menschen und Tieren ist ihm bekannt. Wie der Volksmund redet er, für jedes Ding hat er einen weisheitslustigen Spruch bereit.

Heut erzählt er aus der Nachbarschaft. Der junge Bauer Schoof hat sich reich verheiratet. »He denkt in sienen Sinn: 'ne Arme kann mi ebenso veel argern as ne Rieke – dor nimmt he sich 'ne rieke Fru.« Von der alten verwitweten Bäuerin in Samten weiß er, daß sie ihren Knecht freien wird. »Old un Jung kinnert good, sagt de Ollsch – un friegt sik 'n jungen Kierl!«

Regine kommt wohl manches Mal in Versuchung, das Gespräch auf Line zu bringen. Vielleicht, daß er etwas bemerkt hat. Er ist klug, hat die Augen überall und läßt sich nichts vormachen. Aber schon vor dem ersten Wort scheut sie zurück. 108 Und in ihm ist etwas von der alten Mannentreue. Über den Dienstherrn spricht er nicht ohne Not. So kommt hier nichts zutage.

Dieser Winter ist heller als die früheren. Klarer, stiller Frost hat das Regiment, die Sonne bändigt den Nebel. Die Stürme ruhn. Regine wird es leichter ums Herz.

Es geht auf Weihnachten zu, die Kindheitserinnerungen kommen, der Kinderglaube tönt aus der Tiefe. Eine stille Andacht zieht durch Regines Sinn und der Wunsch, Freude zu bereiten.

Schon mit diesen Regungen kommt ein leises Leben in ihre erstarrten Glieder.

An ihrem Bett soll der Tannenbaum brennen. Hier soll die Bescherung sein. Sie treten dann alle herein, und alle bekommen ihre Gaben.

Alle – auch sie – auch Line – auch Line.

Es tut weh – der Stachel bohrt sich tiefer in sie ein und brennt und sticht – sie zieht und zerrt an ihm, sie will ihn herausbringen, es mehren sich die Schmerzen, sie kämpft gegen die Qual – und dann befreit sie sich von der Marter und atmet tief.

Ja, auch Line soll ihr Geschenk haben, so gut wie die Andern, am Baum des Friedens.

Liebet eure Feinde – so umbraust es sie mit Allmacht, und sie neigt ihr Haupt. 109

Ist nicht eine belebende Kraft in diesem Brausen, dem sie sich beugt? Widerfährt ihr nicht ein Heil, da sie sich so selbst überwindet?

Was ist es, da sie den Kopf wieder aufrichtet, das sie so hebt, als ob sie fliegen könnte? Als ob Fittiche sie tragen wollten? Was rührt sich in ihrem armen geschlagenen Körper?

Zieht das Leben wieder in ihn ein? Sie kann die Hände bewegen, kann die Arme regen – leise nur und mühsam – aber der Bann ist von ihr genommen, die Fesseln sind gelöst. Feucht werden ihre Augen, und sie schluchzt ein Gebet.

Tiefbewegt ist Martin, da er sie so findet. Sie sitzen lange Hand in Hand. Es zucken seine Lippen – er möchte ihr etwas sagen. Doch die Worte finden sich nicht ein – sind sie ihm zu arm und zu schwach für das, was er fühlt?

Und jetzt kommt der Heiligabend. Sie hat Vorkehrungen treffen können mit eigener Hand. Sie ist glücklich, sie glaubt an ihre Genesung.

Nun soll sie – seit langen Wochen – zum ersten Male wieder mit Line zusammensein. Sie hat in dieser verklärten Stunde keine Angst davor.

Die Lichter sind angezündet. Martin und Regine haben sich beschenkt und sich still in den Armen gehalten. 110 Jetzt nimmt auch Tante Emma ihre Gaben in Empfang.

Dann werden die Leute gerufen. Die Tante soll das Evangelium lesen – danach erhalten sie ihre Bescherung.

Sie treten ein: Philipp, Line, Ewald.

Line steht ohne Scheu in dem vollen Schein des heiligen Baumes. Sie ist seit vielen Tagen Regine nicht vor Augen gekommen. Regine sieht auf den ersten Blick, daß sie nichts Mädchenhaftes mehr hat, daß sie Weib geworden ist.

Tante Emma liest das Weihnachtsevangelium.

Regine hat kein Ohr dafür. Nichts von der himmlischen Offenbarung dringt an ihre Seele. Eine irdische Offenbarung ist über sie hereingebrochen und hat sie geschlagen. Ein Schmerz und eine Bitternis, nie gefühlt, werfen sie nieder.

Aber das Herz schlägt und es pulst das Blut. Und sein Pulsschlag ist Haß. Und jeder Atemzug ein Fluch. So weht es hinein in den Segen der heiligen Worte.

Dann liegt sie betäubt. Als sie wirr erwacht, sind die Leute an ihr Bett getreten, ihr zu danken. Aber sie kann die Hand nicht ausstrecken, den Dank zu empfangen. Und liegt in alter Starrheit.

 

Es kam eine düstere Zeit. Die Winternebel zogen. Und die Stürme wachten auf. Die Insel, der 111 armselige, verlorene Fetzen Land, zuckte und schrie in Nöten.

Durch die Sintflut scheint ein Licht: Liebet eure Feinde! Regine sieht es, die Nerven zittern nach ihm hin und wollen sich beleben – und es kommt ihr entgegen – das Heil bin ich und die Heilung – aber Haß und Fluch und Rache stürmen auf – sie verfinstern ihr Seele und Auge – es flieht das Licht und erlischt – und die Glieder bleiben tot.

Einmal, als Martin bei ihr saß, stieg sie auf aus ihrer dunklen Not und gewann eine milde Ruhe. »Ich werd' nun wohl nicht mehr gesund,« sagte sie still. »Ich werde wohl bald von euch gehen. Da soll man sich alles anvertrauen, was man auf dem Herzen hat. Hast du mir nichts zu sagen?«

Und es war ihr, wenn er ihr alles beichtete, sie könnte wohl Verzeihung für ihn finden.

Wenn die Heimlichkeit nicht mehr zwischen ihnen stünde, wenn sie sich ganz nahe wären, wenn er bedürftig den Kopf an sie lehnte, dann würde sie etwas fühlen, darin wäre eine Kraft, die ihr selber hülfe – dann würde sie imstande sein, die Hand zu heben und ihm den Kopf zu streicheln. Und sie könnte zu ihm sprechen, mütterlich fast: Du armer Junge, du bist voller Lebenslust – und deine Frau ist krank. Aber sie wird wieder gesund werden, wenn wir uns 112 nur nicht aufgeben und wenn wir wahrhaftig miteinander sind. Oder hast du die andere lieb gewonnen? Ist sie dir mehr als ich? Für mich wäre das sehr schlimm. Aber wenn du nicht anders kannst – auch damit müssen wir fertig werden. Nur müssen wir wahrhaftig miteinander sein!

Was antwortete er ihr jetzt auf ihre Frage: hast du mir nichts zu sagen? Er sprang unruhig auf, fast heftig und lief durchs Zimmer. »Du sollst nicht davon reden, daß du nicht wieder gesund wirst! De Dokder hät noch gistern to mi segt, wie tofreden he mit di is. Ja, ja! Und wenn man erst der Frühling kommt, dann würd' alles gut!«

Das war die Antwort, das war alles.

Von sich selber hatte er nichts zu sagen. Und seine Heftigkeit drückte ein besonderes Siegel auf sein Schweigen.

 

Schwerer noch und wilder als sonst in diesen Breiten kämpfte der Frühling sich durch. Im Herbst und Winter hatten sie kein Hochwasser gehabt – jetzt kam es. Kam plötzlich und verlief sich plötzlich. In jähen Zuckungen bebte die Welt.

Ein strahlender Sonntag stellte sich ein. Die Aprilsonne brannte – ihre Wärme war Tücke.

Der Weg zum Lande war frei. Tante Emma 113 wanderte ins Kirchdorf zum Gottesdienst. Aber die Rückkunft wurde ihr verwehrt.

Ein Aprilgewitter zog auf und schlug mit Hagelböen drein. Dann eine Windstille, stundenlang, brütend und dumpf, in der es lauerte zum Sprung. Und jetzt brach die Sturmflut los.

Gegen Abend legte sich der Wind, aber das Hochwasser hatten sie, und es ließ sie nicht los. Eine steife Brise wehte immer noch, indes aufs Wasser konnte man zur Not. Nur daß Martin seinen Maat jetzt nicht zur Hand hatte.

Line hatte sich gelegt. Was war mit ihr? Er wußte es nicht. Aber sie wußte, daß sie Mutter werden sollte.

Äußerlich hielt sie sich so, daß Männeraugen ihr nichts ansahen. Martin war wie betäubt, als sie jetzt ihn rufen ließ und in ihren Schmerzen ihm verriet, was ihr bevorstand. Sie hätte nicht glauben können, daß es schon so weit sei. Aber es wäre nun doch wohl ihre Stunde.

Hier gibt es kein Grübeln und Kopfhängenlassen. Hilfe muß herbei, die weise Frau muß geholt werden. Wieder in Sturm und Regen. Nur daß der Weg diesmal überschwemmt ist.

Also das Boot ins Wasser! Ewald muß mit. Er will nicht recht, er hat Angst. Nützt ihm nichts, wird 114 am Nacken genommen und ist nun wohl oder übel dabei.

Schwierig die Fahrt. Viel müssen sie kreuzen, und der Wind wird böig. Mühselig ist das Landen.

Ewald bleibt bei dem Fahrzeug. Martin rennt die Ufer hinauf und stürzt ins Dorf und fällt der Hebamme ins Haus. Die macht sich schon fertig, da hört sie, der Damm ist überschwemmt, sie muß mit dem Boot fahren.

Jetzt weigert sie sich. Bei dem Wetter – sie begebe sich nicht in Lebensgefahr. Das habe sie nicht nötig, das könne keiner von ihr verlangen. Sie sei eine alte Frau, auch sei ihr Herz nicht in Ordnung. Für Seefahren habe sie sowieso nichts übrig, und schon die Angst würde sie umbringen – bei dem Wetter.

Je mehr er sie beschwört, desto mehr redet sie dagegen. Er tobt bis kurz vorm Handgreiflichwerden – nützt ihm alles nichts, sie geht nicht.

Da stürzt er mit einem Fluch aus dem Haus, zurück zum Boot. Dann muß der Arzt geholt werden. Der wohnt eine Halbinsel weiter, mit dem Fahrzeug geht es am schnellsten.

Sie fahren wieder. Martin ist wie im Fieber. Seine Gedanken irren. Sein Auge, seine Hand ist nicht mehr sicher.

Als sie eben heraus sind aus dem Schutz der 115 Uferhöhe, fällt eine Bö über sie her. Das Boot kentert, sie liegen im Wasser. Ewald kann nicht schwimmen, er brüllt und schluckt Wasser. Mit Müh und Not zieht ihn Martin zu dem treibenden Segel. Bitterschwer ist das Rettungswerk, und es dauert lange.

Auf der Insel hat Philipp, der alte, zwei Kranke zu betreuen. Hilflos ist er bei dem Mädchen, hilflos auch bei der Frau.

Regine fragt so viel, was er nicht beantworten kann und darf. Aus der dunklen Vergrabenheit der letzten Tage ist sie erwacht. Auf ihren Backenknochen brennen Flecke. Die Finger zucken und trommeln auf dem Bett. Was wirkt ihr im Blut?

Wohin Martin gefahren sei? Ob er bloß zum Vergnügen segle, aus Waghalsigkeit? Und Ewald sei mit ihm im Boot? Nicht Line? Krank sei die Dirn? Ernstlich krank? Was denn mit ihr los sei?

Dann wolle Martin wohl gar den Arzt holen? Warum sei er gefahren ohne ihr Lebewohl zu sagen! Und der Wind mache sich wieder mehr auf! Setze er nicht sein Leben aufs Spiel? Und sei das für das Mädchen? Oder habe er sonst was zu besorgen?

Philipp druckst und sucht Ausflüchte. Er kommt schlecht damit zustande und mehrt ihre Unruhe. Allzulange schon verweilt er bei Regine. Ob die Andere 116 ihn nicht nötiger braucht? Als er sie verließ, wand sie sich und wimmerte –

Unter einem Vorwand macht er sich los und geht ins Mädchenzimmer. Bald kommt er schlotternd zurück, seine Kinnlade hängt wie gelähmt, dann wackelt sie und schnappt und die Worte stolpern: »De Dirn kalkwitt as de Wand – und ieskolt – un 'n Kind is ankamen« –

Regine stiert und schluckt – dann schreit sie heiser auf und reckt sich empor – erschreckt fährt der Alte zurück – daß die Starre plötzlich sich bewegt – sie sitzt im Bett und hält sich aufrecht –

Und sie winkt mit der schwachen, unbeholfenen Hand – das kann nur das eine bedeuten – das Kind – an der Mutter ist keine Hilfe mehr – für das Kind muß was geschehn –

Er trottet zurück, befühlt die Stirn der Toten und nimmt dann des kleinen zitternden, miefenden Wesens sich an. Oft genug hat er beim Vieh geholfen. So ganz verloren ist er nicht.

Er löst das Kleine von der toten Mutter. Dann ist Waschen sein erster natürlicher Gedanke. Er hüllt es ein und trägt es in die Küche, wo warmes Wasser zur Hand ist.

Und jetzt, so sagt ihm weiter sein natürliches 117 Empfinden, weiß die Frau Bescheid, was zu tun ist, und sie hat dafür zu sorgen.

So bringt er das Würmchen – es ist ein unglaublich winziges Ding – zu Regine und sagt nichts weiter als: »Da!«

Regine hält sich noch immer sitzend aufrecht. Ihre Finger tasten nach dem kleinen Geschöpf, aber in ihren Augen ist etwas, wovor der alte Knecht zurückschrickt, daß er unwillkürlich die großen Hände rund um das bebende Häufchen legt und es schützend an sich zieht.

Nun sagt Regine still, und der Klang ihrer Stimme macht alles gut: »Laat mi dat Kind hier.« Dann fragt sie: »Un – Line?«

Er zuckt die Achseln. »Dod,« kaut er mit heiserer Stimme.

Sie schließt die Augen. Und liegt selbst wie eine Gestorbene.

Wie sie die Blicke wieder hebt, brennt und kreist es darin von Bösem und Gutem. Und wieder spricht sie leise: »Giw mi dat Kind.«

Philipp legt es ihr aufs Bett. Dann schickt sie ihn hinaus in die Küche, daß er nach dem Feuer sich umsieht.

Sie ist allein mit dem Geschöpf. Und ihr Zorn ist da, es zu beschimpfen. »Hurenkind!« knirscht sie durch die Zähne. Und Zorn und Haß strecken sie hin. 118

Wieder hebt sie den Kopf und faßt das Kleine ins Auge. Ein Mädchen. Bist zu früh gekommen. Kannst nicht leben und sterben. So stirb. Geh deiner Mutter nach. Was sollst du ohne Mutter?

Mein Junge hat auch sterben müssen! Und war ein ausgetragenes Kind, was anders als du. Und nicht in Sünde gezeugt!

Es krampft sie zusammen, und ihre Hände zucken.

Jetzt tasten ihre Finger sich leise hin nach dem armseligen Menschlein. Du frierst. Du brauchst hier nur noch eine Weile so zu liegen, und du erstarrst. Und der Tod ist der Sünde Sold.

Ich brauche keinen Finger darum zu rühren. Bin ich nicht auch selbst erstarrt – so gut wie tot? Und wer ist schuld daran? Du – du – und was in dir ist!

Der Haß schwillt in ihr an und will sie überwältigen – der tödliche Haß. So sterb ich daran und nehm dich mit, du – du Kind der Sünde.

Das nicht leben kann, wenn ich ihm nicht helfe – wenn ich ihm nicht Wärme gebe – und gleich – gleich muß es sein – sonst erfriert es und stirbt – das armselige kleine Ding – das arme – jammervoll winzige –

Kann ich denn helfen? Kann ich mich rühren – ich kann ja nicht –

Ihre Hände – schon beleben sie sich – schon nähern 119 sie sich dem kleinen Wesen, das schnüffelt und sucht und so elend bedürftig ist – helfen – helfen –

Es zerspringt etwas in ihr. Sie atmet Licht, und das Licht trägt sie leicht empor. Die Arme beflügeln sich, sie kann die Hände bewegen, sie kann das Kleine fassen und hineinziehen in ihre warmen Kissen.

Als Philipp in die Stube zurückkehrt, fallen ihm die Augen aus den Höhlen. Ein Wunder ist vom Himmel herniedergestiegen. Die gelähmten Arme regen sich und sind geschäftig. In den kranken gequälten Augen ist ein Glanz entzündet.

Erst wird ihm unheimlich zumut, da er das Kind sucht und nicht gleich findet. Dann sieht er, sie hält es geborgen an ihrem eigenen Leib.

Und nun befiehlt sie. Er soll Zuckerwasser bereiten – sein dummes Gesicht stört sie nicht. Und erst soll er ihr einmal ihren Schlüsselkorb herüberreichen.

Sie nimmt einen Schlüssel heraus. »Schlut in de swarte Kommod de unnerste Schuflad up. Un bring mi de ganze Schuflad her.«

So trägt er ihr die Schublade ans Bett. Niemand als sie darf an diese Heiligtümer rühren, es sind die Kindersachen, die ihr eigener Junge getragen. Jetzt sind die Tücher und Windel ihr gerade recht für das fremde Geschöpf – das Kind – der Andern – doch ein Kind, ein hilfloses – arm und verlassen. 120

 

Martin, der Schiffbrüchige, war über die Haide gerast, dem Dorfe zu, in dem der Doktor hauste. Er fand ihn daheim und bereit, mit ihm zu fahren. Der Wind war abgeflaut, in fremdem Boot landeten sie frühmorgens auf der Insel.

Philipp kam ihnen entgegen. Sein Gesicht trug ein Zeichen von dieser Nacht. Da wußten sie, der Tod war auf der Insel gewesen.

Sie gingen in die Mädchenkammer. Der treue Alte hatte einigermaßen Ordnung geschafft. Friedlich lag die Entschlafene da. Martin stand und legte den Kopf in den Nacken, frierend, und schloß die Augen. Das Leben stockte ihm. Dann fuhr er auf. »Un dat Kind?« fragte er Philipp.

»Is bi de Fru.«

Der Arzt hatte eine nähere Untersuchung zu machen. Martin ging hinaus. Der feige Schmerz wollte mit ihm in die Einsamkeit. Aber der Mut und Stolz des Gewissens deuteten auf den einen Weg. Die schweren Füße trugen ihn zu Regines Schlafstube.

Er trat ein – da sah er Regine aufrecht im Bette sitzen, mit tätigen, liebevollen Händen um ein Kind bemüht – um Lines Kind.

Es schwamm ihm in den Augen – er gewahrte einen Schein um Regines Haupt.

Zu ihrem Lager tastete er sich, er kniete zu ihr hin 121 und legte den Kopf auf ihr Bett. Da strich ihre Hand ihm übers Haar. »Martin, min Jung,« sagte sie still. Und dann blieben sie in dem großen, hohen Schweigen. Nur daß ihre Hände sich suchten und sich verflochten. Und sie wurden wie ein Wesen – eine Kraft, eine Schuld, ein Schicksal, ein Glück – ein Leben.

Und es geschah, daß Regine nach acht Tagen aufstand, wie von eigenem Kindbett genesen.

 


 


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