Artur Conan Doyle
Das Geheimnis von Cloomber-Hall
Artur Conan Doyle

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Neuntes Kapitel.

Nachdem ich die Aussage des Israel Stakes vollständig wiedergegeben habe, werde ich jetzt ein kurzes Memorandum Dr. Easterlings, des praktischen Arztes in Stanvaer, beifügen. Der Arzt war freilich nur einmal in Cloomber, während General Heatherstone dort wohnte, aber sein Besuch fand unter eigentümlichen Umständen statt, die eine Art Supplement zu den oben erzählten Vorgängen bilden. Dr. Easterling hat, trotz seiner anstrengenden Praxis, die Zeit gefunden, seine Erinnerungen niederzuschreiben, und es wird daher das beste sein, dieselben hier, wie sie sind, folgen zu lassen.

*

Es gereicht mir zum größten Vergnügen, Herrn Fothergill West einen Bericht über meinen einzigen Besuch in Cloomber-Hall zu geben, schon der Hochachtung wegen, die ich für ihn seit seiner Anwesenheit in Branksome gefühlt habe. Dann sind aber auch die Tatsachen in diesem Falle so eigentümlicher Natur, daß es von der höchsten Wichtigkeit ist, sie in glaubwürdiger Form bekannt zu machen.

Anfang September des vorhergehenden Jahres empfing ich eine Karte von Frau Heatherstone in Cloomber-Hall, in welcher sie mich bat, ihrem Mann einen ärztlichen Besuch zu machen, da seine Gesundheit seit einiger Zeit nichts weniger als zufriedenstellend wäre. Ich hatte schon von den Heatherstones gehört, auch von der seltsamen Abgeschlossenheit, in der sie lebten, so daß ich über die Gelegenheit, ihre nähere Bekanntschaft zu machen, sehr erfreut war und keine Zeit verlor, ihrer Aufforderung Folge zu leisten. Ich hatte das Schloß zur Zeit des ursprünglichen Eigentümers, Herrn Mc. Vitties, gekannt und war über die vorgenommenen Änderungen erstaunt, als ich am Tor anlangte.

Das Tor selbst, das früher so gastfreundlich auf die Straße hinaus gähnte, war verschlossen und verriegelt, und eine hohe, hölzerne, mit Nägeln besetzte Planke umgab das ganze Grundstück. Der Fahrweg selbst war blätterbestreut, und der ganze Platz hatte ein bedrückendes Aussehen von Vernachlässigung und Verwahrlosung.

Ich mußte wiederholt klopfen, ehe eine Magd mir öffnete und mich zum Hause und dann durch einen düstern Korridor nach einem kleinen Zimmer geleitete, in welchem eine ältliche, vergrämte Dame saß, die sich mir als Frau Heatherstone vorstellte. Ihr bleiches Gesicht und das graue Haar, ihre traurigen, glanzlosen Augen und ihr abgetragenes, seidenes Kleid waren in vollkommener Übereinstimmung mit ihrer schwermütigen Umgebung.

»Sie finden uns in großer Sorge, Herr Doktor,« sagte sie mit ihrer ruhigen, vornehmen Stimme. »Mein armer Mann hat in früherer Zeit viel Aufregendes durchzumachen gehabt, und sein Nervensystem ist schon seit längerer Zeit sehr geschwächt gewesen. Als wir hierher kamen, hofften wir, daß die stählende Luft und die Ruhe eine gute Wirkung haben würden. Anstatt sich aber zu erholen, wird er scheinbar immer schwächer, und seit heute morgen hat er starkes Fieber und ist zum Phantasieren geneigt. Die Kinder und ich waren so geängstigt, daß wir sofort zu Ihnen geschickt haben. Wenn Sie mir folgen wollen, werde ich Sie nach dem Schlafzimmer des Generals führen.«

Sie ging voran, eine Reihe von Korridoren entlang, bis sie nach dem Krankenzimmer kam, das im äußersten Flügel des Gebäudes gelegen war. Es war ein kahles Zimmer, ohne Teppich, und nur mit einem Feldbett, einem Stuhl und einem einfachen Eichentisch möbliert, auf dem zahlreiche Papiere umhergestreut lagen. In der Mitte des Tisches stand ein großer, regelmäßig geformter Gegenstand, der mit einem Leinentuche zugedeckt war. An den Wänden und in den Ecken war eine gewählte und reiche Sammlung von Waffen, hauptsächlich Schwertern, arrangiert, unter denen sich einige gerade Degen befanden, wie sie gewöhnlich in der britischen Armee gebraucht werden, während die übrigen Produkte orientalischer Kunstfertigkeit waren. Viele von diesen waren mit ziselierten Scheiden und edelsteinfunkelnden Griffen prächtig montiert, so daß ein merkwürdiger Gegensatz zwischen der Einfachheit des Gemaches und dem Reichtum bestand, der an den Wänden glänzte. Ich hatte jedoch wenig Zeit, mir die Sammlung des Generals anzusetzen, da er selbst auf seinem Bette lag und augenscheinlich meiner Dienste bedurfte.

Er lag mit abgewandtem Gesicht, schwer atmend und offenbar nichts von unserer Anwesenheit ahnend da. Seine glänzenden, stierenden Augen und die hektische Röte auf seinen Wangen zeigten, daß das Fieber seinen Höhepunkt erreicht hatte. Ich trat an die Bettstätte heran und fühlte, mich über ihn beugend, seinen Puls, als er plötzlich emporschnellte und wie von Sinnen mit geballten Fäusten nach mir schlug. Ich habe nie einen ähnlichen Ausdruck wahnsinniger Furcht und Angst auf einem Menschenantlitz gesehen.

»Bluthund!« kreischte er. »Lassen Sie mich los, hören Sie? In es nicht genug, daß mein Leben ruiniert ist? Wann wird das alles enden? Wie lange soll ich es noch aushalten?«

»Pst, pst, mein Lieber,« sagte seine Frau beschwichtigend und streichelte seine erhitzte Stirn mit ihrer kühlen Hand. »Das ist Dr. Easterling aus Stanvaer. Er ist nicht gekommen, dir etwas zuleide zu tun, sondern um dir zu helfen!«

Der General fiel matt auf seine Kissen zurück, und ich konnte aus dem veränderten Ausdruck in seinem Gesicht sehen, daß das Delirium ihn verlassen hatte, und daß er verstand, was man zu ihm sagte. Ich steckte mein Thermometer in seine Achselhöhle und zählte seinen Puls. Es waren bis 120 Schläge in der Minute, und seine Temperatur betrug vierzig Grad. Es war offenbar ein Fall von Wechselfieber, wie es bei Leuten vorkommt, die einen großen Teil ihres Lebens in den Tropen zugebracht haben.

»Es ist keine Gefahr vorhanden,« bemerkte ich. »Mit ein wenig Chinin und Arsenik werden wir sehr bald den Anfall überwinden und seine Gesundheit wiederherstellen.«

»Keine Gefahr, he?« sagte er. »Für mich gibt es überhaupt keine Gefahr. Ich bin so schwer umzubringen wie der ewige Jude. Ich bin jetzt ganz klar im Kopfe, Mary. Du kannst mich mit dem Herrn Doktor allein lassen.«

Frau Heatherstone verließ das Zimmer – sehr widerwillig, schien es mir – und ich setzte mich neben sein Bett, um zu hören, was er mir etwa mitzuteilen hätte.

»Ich wünsche, meine Leber untersucht zu haben,« sagte er, als seine Frau die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Ich hatte da früher ein Geschwür, und Brodie, der Stabsarzt, sagte, es wäre zehn gegen eins zu wetten, daß ich daran krepieren würde. Ich habe es nicht viel gespürt, seit ich aus dem Orient zurückgekehrt bin. Hier war es früher, gerade unter dem Winkel der Rippen.«

»Ich kann die Stelle finden,« sagte ich nach einer sorgfältigen Untersuchung, »aber es freut mich, Ihnen mitteilen zu können, daß das Geschwür entweder vollständig absorbiert oder kalkarzös geworden ist, wie das bei solch einzelnen Geschwüren öfter der Fall ist. Sie haben jetzt nichts mehr davon zu befürchten.«

Er schien über diese Eröffnung durchaus nicht erfreut zu sein.

»So geht's mir immer,« sagte er mürrisch. »Wenn sonst jemand im Fieber phantasiert, würde er sicher in Gefahr sein, und doch sagen Sie mir, daß das bei mir nicht der Fall ist. Sehen Sie her!« Er entblößte seine Brust und zeigte mir eine narbige Wunde über der Herzgegend. »Dort wurde ich von der Kugel eines Afghanen getroffen. Man sollte meinen, daß es der richtige Fleck wäre, um einem den Garaus zu machen. Aber was tat die Kugel? Abgelenkt wurde sie durch eine Rippe, glitschte herum und kam hinten wieder heraus, ohne auch nur das, was Sie Medici die Pleura heißen, zu durchdringen. Haben Sie je so etwas gehört?«

»Sie wurden sicher unter einem Glücksstern geboren,« bemerkte ich lächelnd.

»Das kommt auf den Geschmack an,« antwortete er kopfschüttelnd. »Der Tod hat für mich keine Schrecken, wenn er nur in irgendeiner bekannten Form kommen will, aber ich muß gestehen, daß die Vorahnung einer seltsamen, übernatürlichen Todesart etwas Schreckliches, Entnervendes für mich hat.«

»Sie wollen damit sagen,« sagte ich, ungewiß, worauf er zielte, »daß Sie einen natürlichen Tod einem gewaltsamen vorziehen?«

»Nicht ganz!« sagte er. »Ich bin zu sehr mit dem kalten Stahl und Blei vertraut, um mich davor zu fürchten. Wissen Sie etwas von odyllischer Kraft, Herr Doktor?«

»Nein,« erwiderte ich.

Ich beobachtete ihn scharf, um zu sehen, ob ich Zeichen von wiederkehrendem Delirium entdecken könne; aber sein Gesichtsausdruck war vernünftig, und die fieberische Röte war aus seinen Wangen gewichen.

»O, die europäischen Gelehrten sind in manchen Dingen noch weit zurück,« bemerkte er. »In allem Materiellen und allem, was zur persönlichen Bequemlichkeit beiträgt, leisten sie etwas, aber in der Kenntnis der geheimen Naturkräfte und der schlummernden Wacht des menschlichen Geistes sind die meisten von ihnen noch weit hinter den niedrigsten indischen Kulis zurück. Zahllose Generationen rindfleischfressender, bequemlichkeitsüchtiger Vorfahren haben unseren tierischen Instinkten die Oberhand über unsere seelischen gegeben. Der Körper, der eigentlich nur das Werkzeug der Seele sein soll, ist jetzt zu einem schmachvollen Kerker geworden, in welchem sie gefangen gehalten wird. Bei den Orientalen sind Körper und Seele nicht so ineinander verschmolzen wie bei uns, und es gibt deshalb weniger Ruck ab, wenn sie im Tode voneinander scheiden.«

»Sie scheinen aus dieser Eigentümlichkeit ihrer Organisation keinen großen Vorteil zu ziehen,« bemerkte ich ungläubig.

»Nur den Vorteil größerer Kenntnisse,« antwortete der General. »Wenn Sie nach Ostindien gingen, würden Sie wahrscheinlich als allererstes das sogenannte ›Mangokunststück‹ von einem Eingeborenen ausgeführt sehen. Sie haben selbstverständlich schon davon gehört oder gelesen. Der Kerl pflanzt etwas Mangosamen und macht allerhand Gesten und Zeichen darüber, bis es sproßt und Blätter und Früchte hervorbringt – alles im Zeitraume einer halben Stunde. Es ist eigentlich kein Kunststück, es ist eine Kraft. Diese Leute verstehen mehr von den Vorgängen der Natur, als Ihre Tyndalls und Hunleys, und sie vermögen auf Grund geheimer Mittel, von denen wir keine Vorstellung haben, dieselben zu beschleunigen oder zu verlangsamen. Diese plebejischen Conjurros, wie man sie nennt, sind nur gemeine Pfuscher, aber die Männer, die den höheren Pfad betreten haben, die Brüder des Ragi-zog, sind uns an Kenntnissen mehr überlegen, als wir den Hottentotten oder Patagoniern.«

»Sie sprechen, als ob Sie gut mir ihnen bekannt wären,« bemerklich.

»Ja, und zu meinem Schaden,« erwiderte er. »Ich bin mit ihnen in einer Weise in Berührung gekommen, wie es hoffentlich kein anderer armer Teufel jemals wieder tun wird. Aber wirklich, was diese ›odyllische Kraft‹ anbelangt, so sollten Sie sich genauer darüber orientieren, denn sie hat in Ihrem Berufe eine große Zukunft vor sich. Sie sollten Reichenbachs Nachforschungen über Magnetismus lesen. Diese Schriften, zusammen mit Mesmers siebenundzwanzig Aphorismen und den Werken Dr. Justinus Kerners in Weinsberg würden Ihren Ideenkreis erweitern.«

Es behagte mir wenig, mir einen Studiengang über einen meinen eigenen Beruf betreffenden Gegenstand vorgeschrieben zu sehen; ich machte deshalb keinerlei Bemerkung, sondern erhob mich, um mich zu verabschieden. Ehe ich dies tat, fühlte ich seinen Puls noch einmal und fand, daß das Fieber ihn in der plötzlichen unerklärlichen Weise verlassen hatte, wie es häufig bei malarischen Krankheiten vorkommt. Ich wandte mich ihm zu, um ihm zu seiner Besserung Glück zu wünschen, und streckte zur selben Zeit meine Hand aus, um meine Handschuhe vom Tische zu nehmen, mit dem Resultat, daß ich nicht nur mein Eigentum aufhob, sondern auch das Leinentuch, das über einen Gegenstand in der Mitte des Tisches ausgebreitet lag.

Ich würde nicht bemerkt haben, was ich getan, wenn ich nicht einen gereizten Ausdruck auf dem Gesicht meines Patienten gesehen und gehört hätte, wie er einen ungeduldigen Ausruf ausstieß.

Ich wandte mich sofort um und legte das Tuch so schnell zurück, daß ich nicht hätte sagen können, was darunter war, außer daß es auf mich den Eindruck eines Hochzeitskuchens machte.

»Schon gut, Herr Doktor,« sagte der General gutmütig, da er sah, wie rein zufällig der Zwischenfall gewesen war. »Ich wüßte keinen Grund, weshalb Sie es nicht sehen sollten.«

Er streckte seine Hand aus und zog die leinene Decke zum zweitenmal fort. Es wurde mir jetzt klar, daß das, was ich für einen Hochzeitskuchen gehalten hatte, in Wirklichkeit eine mit bewunderungswürdiger Kunst ausgearbeitete Nachbildung einer hohen Bergkette war, deren schneebedeckte Gipfel ich für die wohlbekannten Zuckertürmchen und Kuppeln eines Kuchens gehalten halte.

»Dies sind die Himalajas oder wenigstens das Surinam-Zweiggebirge,« erklärte er, und zeigte mir dabei die Hauptpässe zwischen Ostindien und Afghanistan. »Es ist ein prachtvolles Modell. Die Gegend hat ein besonderes Interesse für mich, da es die Szene meines ersten Feldzuges ist. Dort ist der Paß, Kalabagh und dem Thul-Tale gegenüber, wo ich im Sommer 1841 tätig war, um den Train zu decken und die Afridis in Ordnung zu halten. Es war keine Kleinigkeit, das können Sie mir glauben.«

»Und dies,« sagte ich, indem ich auf einen blutroten Fleck hinwies, der auf einer Seite des erwähnten Passes markiert war, »dies ist wohl die Szene einer Schlacht, an der Sie beteiligt gewesen sind?«

»Ja, wir hatten dort ein Scharmützel,« antwortete er, wobei er sich vornüberbeugte und den roten Fleck betrachtete. »Wir wurden angegriffen –«

In demselben Augenblick fiel er auf sein Kissen zurück, als ob er geschossen worden wäre, und derselbe schaudernde Ausdruck, den ich beim Betreten des Zimmers bemerkt hatte, ward in seinen Zügen wieder sichtbar. Zu gleicher Zeit hörte ich, scheinbar aus der Luft, über seinem Bette, einen scharftönenden, klingenden Laut, den ich nur mit dem durch eine Zweiradalarmglocke verursachten Geräusch vergleichen kann. Ich habe aber niemals, weder vorher noch nachher, einen Ton gehört, der damit verwechselt werden könnte.

Ich sah mich überrascht um und wunderte mich, woher das Geräusch wohl käme, bemerkte aber nichts.

»Das ist ganz in der Ordnung, Herr Doktor,« sagte der General, gezwungen lächelnd. – »Es ist meine Privatklingel. Wäre es aber nicht besser, Sie gingen jetzt nach unten und schrieben mein Rezept im Speisezimmer?«

Er wollte mich augenscheinlich gern los sein. Ich verabschiedete mich deshalb, obwohl ich gern länger verweilt hätte, um etwas über die Natur des geheimnisvollen Tones zu erfahren. Ich verließ Cloomber-Hall mit dem festen Entschluß, meinen interessanten Patienten wieder zu besuchen, und hoffte dann weitere Einzelheiten über sein früheres Leben und seine gegenwärtigen Verhältnisse zu erfahren. Ich sollte mich aber in meiner Hoffnung getäuscht sehen, denn am selben Abend erhielt ich einen Brief von dem General selbst, in welchem er mir eine reichliche Vergütung für meinen Besuch schickte und mir mitteilte, meine Behandlung habe ihm so wohlgetan, daß er sich als wiederhergestellt betrachten könne und mich nicht weiter bemühen werde. Dies war das einzige und letzte Lebenszeichen, das ich nach meinem Besuche noch von dem Schloßherrn von Cloomber erhielt.

Nachbarn und andere, die sich für die Sache interessierten, haben mich oft gefragt, ob er den Eindruck eines Irrsinnigen auf mich gemacht habe. Hierauf muß ich mit einem entschiedenen Nein antworten. Im Gegenteil, seine Bemerkungen machten mir den Eindruck eines Mannes, der viel gelesen und ernst nachgedacht hat. Ich beobachtete indessen während meines einzigen Besuches in Cloomber, daß sein Puls schwach, der Arcus Senilis stark markiert und seine Arterien atheromatös waren – alles Anzeichen, daß seine Konstitution wenig zufriedenstellend und eine Krisis jederzeit zu erwarten war.


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