Artur Conan Doyle
Das Geheimnis von Cloomber-Hall
Artur Conan Doyle

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Fünftes Kapitel.

Es ist wohl kein Wunder, daß ich mich mehr und mehr mit General Heatherstone und dem Geheimnis, das ihn umgab, beschäftigte, als Wochen vergingen, ohne daß ich von den Bewohnern von Cloomber-Hall etwas sah oder hörte. Vergebens strebte ich durch Arbeiten aller Art und strenge Hingabe an meine Pflichten als Gutsverwalter meinen Gedanken wieder eine andere Richtung zu geben. Was ich auch tun mochte, zu Wasser oder zu Land, immer und immer wieder grübelte ich über das Rätsel nach, bis es mir endlich klar wurde, daß es vergebens sei, mich mit irgend etwas anderem zu beschäftigen, solange ich das Problem nicht gelöst haben würde. Nie konnte ich an der langen, düstern, fünf Fuß hohen Umzäunung und dem großen eisernen Tore mit seinem massiven Schlosse vorbeigehen, ohne stehen zu bleiben und mir über das Geheimnis, das hinter diesem unübersteigbaren Hindernis verborgen sein mußte, den Kopf zu zerbrechen.

Aber mit allen meinen Mutmaßungen konnte ich zu keiner Schlußfolgerung gelangen, die auch nur einen Augenblick als eine Erklärung der Tatsachen hätte gelten können. –

Meine Schwester war eines Abends ausgegangen, um einen kranken Bauern zu besuchen, oder sonst irgendeinen der vielen Liebesdienste zu verrichten, durch welche sie sich weit und breit im Lande bald beliebt gemacht hatte.

»John,« sagte sie, als sie heim kam, »hast du Cloomber-Hall heute abend beobachtet?«

»Nein,« erwiderte ich, das Buch, in welchem ich gerade las, niederlegend, »abends überhaupt nicht seit dem Abend, an welchem der General und Mc. Neil herüberkamen, um sich das Haus anzusehen.«

»Willst du dann, bitte, deinen Hut holen und einen kleinen Spaziergang mit mir machen?« entgegnete Esther.

Ich konnte ihr ansehen, daß sie irgend etwas aufgeregt und nervös gemacht haben mußte.

»Aber, gütiger Himmel,« rief ich, »was ist denn mit dir los? Das alte Schloß brennt doch wohl nicht? Du siehst ja aus, als ob ganz Wigtown in Flammen stände!«

»Ganz so schlimm ist es wohl nicht,« erwiderte sie lächelnd. »Aber, bitte komm, John. Du mußt es dir ansehen.«

Ich hatte, aus Furcht, sie zu beunruhigen, meiner Schwester nie etwas von dem fast krankhaften Interesse, das ich für unsere Nachbarn hatte, gesagt. Auf ihre Bitte nahm ich meinen Hut und folgte ihr in die Dunkelheit hinaus. Sie ging auf einem schmalen Fußpfade durch das Moor voran, bis wir auf eine kleine Anhöhe kamen, von welcher wir über die das Schloß umsäumenden Fichten hinweg auf dieses hinunterblicken konnten.

»Sieh doch nur!« sagte meine Schwester, während sie auf der Spitze des kleinen Hügels stehenblieb.

Cloomber lag wie in einem Lichtmeer gebadet vor uns. In der unteren Etage verdunkelten die Fensterläden den Schein, aber von den breiten Fenstern des zweiten Stockwerkes bis zu den engen Gucklöchern des Turmes war nicht ein Schlitz, nicht eine Spalte, die nicht einen Strom von Licht ausstrahlte.

So blendend war die Wirkung, daß ich zuerst überzeugt war, das Haus brenne; aber die ruhige und klare Helle enthob mich bald dieser Sorge. Es war augenscheinlich das Resultat einer systematischen Aufstellung von Lampen in dem ganzen Gebäude. Was aber die eigentümliche Wirkung noch erhöhte, war, daß alle diese glänzend erleuchteten Zimmer augenscheinlich unbewohnt und einige, soviel ich sehen konnte, nicht einmal möbliert waren. In dem ganzen großen Hause sah man kein Zeichen von Leben, nichts als die klare und stetige Flut gelben Lichtes.

Ich hatte mich von meinem Erstaunen noch nicht erholt, als ich ein kurzes, krampfhaftes Schluchzen neben mir hörte.

»Was fehlt dir denn, liebe Esther?« fragte ich besorgt.

»Ich fürchte mich so! O John, bringe mich nach Hause. Mir ist so bange!« klang die zitternde Antwort.

Sie hing sich an meinen Arm und zog in wahnsinniger Angst an meinem Rocke.

»Es ist ja alles ganz in Ordnung, Liebling,« sagte ich beschwichtigend. »Worüber regst du dich denn nur so auf?«

»Ich fürchte mich vor ihnen, John! Ich fürchte mich vor den Heatherstone! Weshalb ist ihr Haus jeden Abend so erleuchtet? Ich habe von anderen gehört, daß es immer so ist. Und weshalb läuft der Alte davon wie ein erschreckter Hase, wenn ihm unverhofft jemand begegnet? Es ist etwas nicht richtig mit ihnen, John, und das beängstigt mich.«

Ich beruhigte sie, so gut ich konnte, und nahm sie mit nach Hause, wo ich ihr, ehe sie zur Ruhe ging, etwas Glühwein bereitete. Aus Furcht, sie noch mehr aufzuregen, vermied ich es, von den Heatherstones zu sprechen, und sie kam selbst nicht darauf zurück. Ich war jedoch überzeugt, daß sie schon seit einiger Zeit ihre eigenen Beobachtungen angestellt hatte, und daß sie schließlich ängstlich geworden war. Ich konnte wohl sehen, daß die allnächtliche Beleuchtung des Schlosses an und für sich diese außerordentliche Aufregung nicht verschuldet haben konnte, und daß diese in ihren Augen nur dadurch Wichtigkeit erhielt, daß sie ein Glied in einer Kette von Ereignissen bildete, die alle einen mehr oder weniger unheimlichen und ängstlichen Eindruck auf sie gemacht hatten. Zu dieser Schlußfolgerung kam ich schon damals, und ich habe jetzt gute Gründe, zu glauben, daß meine Schwester noch mehr Ursache als ich zu der Annahme hatte, es sei mit den Bewohnern von Cloomber-Hall nicht ganz geheuer.

Unser Interesse mag zuerst bloß Neugierde gewesen sein, aber die jetzt folgenden Ereignisse sollten uns bald enger mit der Familie Heatherstone verbinden.

Mordaunt hatte sich meine Einladung, uns zu besuchen, zunutze gemacht und hatte verschiedene Male auch seine hübsche Schwester mitgebracht. Wir wanderten dann gewöhnlich zu vieren auf der Heide umher oder segelten, wenn das Wetter schön war, in unserem kleinen Boote auf die Irische See hinaus. Auf solchen kleinen Ausflügen waren dann die Geschwister so heiter und fröhlich wie zwei Kinder. Es war ihnen eine Erlösung, einmal aus ihrer langweiligen Festung herauszukommen und sich, wenn auch nur für einige Stunden, von freundlichen und sympathischen Gesichtern umgeben zu sehen.

Aber die Folgen dieses schönen, verbotenen Beisammenseins waren unausbleiblich. Aus der Bekanntschaft wurde Freundschaft, aus der Freundschaft innige Liebe. Gabriele sitzt gerade jetzt neben mir und sieht mir zu, wie ich schreibe, und sie stimmt mir bei, daß die Geschichte unserer Liebe zu persönlicher Natur ist, um in diesen Zeilen mehr als einfach erwähnt zu werden. Ich begnüge mich also mit der Bemerkung, daß einige Wochen nach unserem ersten Zusammentreffen Mordaunt Heatherstone Herz und Hand meiner geliebten Schwester gewonnen und Gabriele mir das Gelübde ewiger Treue gegeben hatte.

Ich habe hier nur kurz auf diese doppelte Verbindung angespielt, weil ich keine Liebesgeschichte schreiben will und auch den Faden meiner Erzählung, die von General Heatherstone, aber nicht von mir handelt, nicht darüber verlieren möchte.

Es versteht sich von selbst, daß wir nach unserer Verlobung noch häufiger als zuvor mit den jungen Heatherstones verkehrten. Zuweilen, wenn der General durch Geschäfte nach Wigtown gerufen oder durch die Gicht an sein Zimmer gefesselt war, brachten sie ganze Tage bei uns zu. Unser guter Vater war immer da, um sie mit seinen kleinen, gut angebrachten Späßen zu begrüßen; wir hatten keine Geheimnisse vor ihm, und er betrachtete sie jetzt schon als seine Kinder.

Es gab aber auch Zeiten, in denen ein besonders aufregender und unheimlicher Anfall des Generals es wochenlang für Gabriele und Mordaunt unmöglich machte, auch nur den Park zu verlassen. Er pflegte dann auf Posten vor dem Tore zu stehen, oder den Fahrweg auf und ab zu marschieren, als ob er fürchtete, daß jemand den Versuch machen könnte, in seine Verborgenheit einzudringen. Als ich eines Abends vorbeiging, konnte ich seine dunkle, drohende Gestalt im Schatten der Bäume umherhuschen sehen, wie er mich mit seinem strengen, viereckigen Gesicht durch das Gitter hindurch beobachtete. Es war ein trauriger Anblick, diese nervösen Bewegungen, die ängstlich spähenden Augen und verstörten Züge. Wer hätte geglaubt, daß dieses gebückte, schleichende Geschöpf einst ein schneidiger Offizier gewesen sei, der sein Leben fürs Vaterland eingesetzt hatte und unter Hunderten von tapferen Männern seines Mutes wegen ausgezeichnet worden war?

Trotz der Wachsamkeit des alten Soldaten brachten wir es doch fertig, uns mit unseren Freunden in Verbindung zu setzen. Gleich hinter dem Schlosse war eine Stelle, wo das Staket so nachlässig errichten worden war, daß zwei der Latten ohne Mühe entfernt werden konnten. Diese breite Lücke gab uns die Gelegenheit für manch ein verstohlenes Stelldichein. Freilich waren diese notwendigerweise sehr kurz, da der General in seinen Wanderungen unberechenbar und keine Stelle des Parkes vor seinem Besuche sicher war.

Wie lebhaft steht die Erinnerung an eines dieser eiligen Rendezvous vor mir! Klar und friedlich hebt es sich von den wilden und geheimnisvollen Ereignissen ab, die schließlich zu einer schrecklichen Katastrophe führten und den Schatten über unser ganzes Leben warfen.

Ich erinnere mich, wie ich eines Morgens durch das Feld ging; das Gras war noch feucht vom Morgentau und die Luft schwer von dem Dufte frischgepflügter Erde. Gabriele wartete auf mich unter dem Hagedorn vor der Lücke, und wir standen bald Hand in Hand, auf das weite Moor sowie auf den breiten, blauen Streifen Wasser hinabblickend, welcher jenes wie mit einem Gürtel von weißem Schaum umspannte. Im fernen Nordwesten erglänzte der Gipfel vom Mount Throoter in den Strahlen der Morgensonne, und von der großen, nach Belfast führenden Wasserstraße her sah man den Rauch von eilenden Dampfern aufsteigen.

»Ist das Bild nicht wundervoll?« fragte Gabriele, mit ihren Händen meinen Arm umfassend. »O John, weshalb können wir nicht frei über die Wellen davonsegeln und alle unsere Sorgen hier am Ufer zurücklassen?«

»Was für Sorgen sind es denn, die du so gern zurücklassen möchtest, mein Lieb?« fragte ich. »Darf ich sie nicht kennen, damit ich dir helfen kann, sie zu tragen?«

»Ich habe keine Geheimnisse vor dir, John,« antwortete sie. »Unsere Hauptsorge ist, wie du dir leicht denken kannst, das sonderbare Wesen meines armen Vaters. Ist es nicht traurig, daß ein Mann, der sich so vor aller Welt ausgezeichnet hat, von einem abgelegenen Winkel des Landes zum anderen fliehen muß wie ein gemeiner Dieb? Und wir sind außerstande, sein Geschick in irgendeiner Weise zu er leichtern!«

»Aber weshalb tut er es denn, Gabriele?« fragte ich.

»O, ich kann es nicht sagen,« antwortete sie freimütig. »Ich weiß nur, daß er irgendeine drohende Gefahr über seinem Haupte schweben fühlt und daß die Ursache hierfür in seinem Aufenthalt in Ostindien zu suchen ist. Aber welcher Art diese Gefahr ist, weiß ich ebensowenig wie du.«

»Dann weiß es aber dein Bruder!« antwortete ich. »Nach der Art wie er sich mir gegenüber ausließ, bin ich überzeugt, daß er weiß, worin die Gefahr besteht, und daß er sie als wirklich vorhanden ansieht.«

»Ja, er weiß es und ebenso auch meine Mutter,« antwortete Esther, »aber sie haben es immer vor mir geheim gehalten. Mein armer Vater ist gerade jetzt wieder furchtbar aufgeregt. Tag und Nacht befindet er sich in der schrecklichsten Angst; aber bald ist ja der fünfte Oktober, und dann wird wieder Frieden herrschen.«

»Woher weißt du das?« fragte ich überrascht.

»Aus Erfahrung,« erwiderte sie ernst. Am fünften Oktober kommen alle diese Befürchtungen zu einer Krisis. Jahrelang schon pflegt er Mordaunt und mich an dem Tage in unsere Zimmer einzuschließen, so daß wir keine Ahnung haben von dem, was vorgeht! Nachher aber ist es, als ob ihm ein Stein vom Herzen gefallen wäre, und er ist auch verhältnismäßig ruhig, bis der kritische Tag wieder herannaht.«

»Dann habt ihr ja nur noch ungefähr zehn Tage zu warten,« sagte ich, denn es war jetzt Ende September. »Apropos, Liebste, weshalb sind eigentlich alle eure Zimmer des Nachts erleuchtet?«

»Hast du das bemerkt?« entgegnete sie. »Das rührt auch von meines Vaters Befürchtungen her. Er kann keine dunkle Ecke in seinem Hause leiden. Er geht nachts viel im Hause umher und sieht alles nach, von den obersten Dachstübchen bis hinunter zu den Kellern. Er hat in jedem Zimmer und in jedem Korridor, auch in den leerstehenden, große Lampen aufstellen lassen, und die Bedienten müssen sie alle anstecken, sobald es dunkelt.«

»Es nimmt mich wunder, daß ihr eure Bedienten behalten könnt,« sagte ich lachend, »die Mägde in dieser Gegend sind sehr abergläubisch, und alles, was sie nicht verstehen, erregt leicht ihre Einbildungskraft.«

»Die Köchin und beide Hausmägde sind aus London und an unsere Eigentümlichkeiten gewöhnt. Wir bezahlen außerordentlich gut, um sie für alle etwaigen Unannehmlichkeiten zu entschädigen. Israel Stakes, der Kutscher, ist der einzige, der aus dieser Gegend stammt, und er scheint ein phlegmatischer, ehrlicher Kerl zu sein, der sich nicht ins Bockshorn jagen läßt.«

»Armes Mädchen!« rief ich aus, auf die schlanke Gestalt neben mir blickend. »Das ist doch kein Leben für dich! Weshalb erlaubst du mir nicht, dich davon zu erlösen? Soll ich zum General gehen und ihn einfach um deine Hand bitten? Schlimmstenfalls könnte er sie mir doch nur abschlagen!«

Sie erbleichte bei dem bloßen Gedanken an eine solche Möglichkeit.

»Um des Himmels willen, John,« rief sie aus. »Tue das nur nicht! Er würde uns alle sofort bei Nacht fortschleppen, und binnen acht Tagen würden wir uns in irgendeiner Wildnis ansiedeln, wo wir nie wieder Gelegenheit hätten, einander zu sehen oder auch nur voneinander zu hören. Außerdem würde er uns nie verzeihen, daß wir uns aus dem Park hinausgewagt haben.«

»Ich glaube nicht, daß er ein hartherziger Mann ist,« bemerkte ich. »Ich habe wiederholt, trotz seines finsteren Aussehens, einen freundlichen Blick in seinen Augen bemerkt.«

»Er kann der allergütigste Vater sein,« entgegnete sie, »aber er ist schrecklich, wenn man sich ihm widersetzt. Du hast ihn noch nie so gesehen, und hoffentlich wirst du auch nie Gelegenheit dazu haben. Diese eiserne Willenskraft und diese unbeugsame Energie waren es eben, die ihn zu einem schneidigen Offizier machten. Glaube mir, in Ostindien stand er in höchstem Ansehen. Die Soldaten fürchteten ihn. würden ihm aber überallhin gefolgt sein.«

»Und hatte er damals schon diese nervösen Anfälle?«

»Gelegentlich, aber bei weitem nicht so heftig. Er scheint zu glauben, daß die Gefahr – worin sie auch immer bestehen mag – mit jedem Jahre drohender wird. Ach, John, es ist schrecklich, so mit dem Damoklesschwert über unseren Häuptern dahinleben zu müssen – und noch schrecklicher für mich, weil ich keine Ahnung habe, woher der Streich kommen kann!«

Ich ergriff ihre Hand und zog sie an mich.

»Liebe Gabriele,« sagte ich, »sieh dir nur diese reizende Landschaft und das weite, blaue Meer an. Ist nicht alles friedlich und schön? In allen diesen Hütten, die mit ihren roten Ziegeldächern aus dem grauen Moore hervorlugen, leben einfache, gottesfürchtige Menschen, die schwer um ihr tägliches Brot arbeiten und niemand übel wollen. Nur sieben Meilen von hier liegt eine große Stadt, wo alle modernen Schutzmaßregeln für Erhaltung der Ordnung getroffen sind. Zehn Meilen davon ist eine Garnison einquartiert, und ein Telegramm könnte jederzeit eine Kompagnie Soldaten herbeirufen. Jetzt frage ich dich, Schatz, was für eine Gefahr kann euch in dieser Gegend drohen, wo doch Hilfe nahe zur Hand ist? Du sagtest doch, daß die Gefahr in keinem Zusammenhange mit deines Vaters Gesundheit steht?«

»Nein, davon bin ich überzeugt. Es ist ja wahr, daß Dr. Easterling ihn ein- oder zweimal besucht hat, aber das war nur einer kleinen Unpäßlichkeit wegen. Du kannst versichert sein, daß in dieser Beziehung keine Gefahr vorhanden ist.«

»Dann kannst du versichert sein,« sagte ich lachend, »daß überhaupt keine Gefahr vorhanden ist. Es muß irgendeine Monomanie oder eine sonderbare Idee sein. Keine andere Hypothese verträgt sich mit den Tatsachen.«

»Würde eine solche Monomanie meines Vaters die Tatsache erklären, daß meines Bruders Haare ergrauen und meine Mutter zu einem bloßen Schatten dahinschwindet?«

»Unzweifelhaft!« erwiderte ich. »Die fortwährende Aufregung wie auch die Unruhe und Reizbarkeit des Generals müssen einen solchen Einfluß auf empfindsame Naturen ausüben!«

»Nein, nein,« sagte sie, traurig den Kopf schüttelnd, »ich bin selbst dieser Unruhe und Reizbarkeit meines Vaters ausgesetzt, aber ich habe nie eine solche Wirkung bei mir beobachtet. Der Unterschied besteht darin, daß sie dieses furchtbare Geheimnis kennen und ich nicht!«

»Meine Liebste,« sagte ich, »die Zeiten der Familiengespenster und dergleichen sind vorüber. Es spukt heutzutage nicht mehr, und diese Annahme ist deshalb ganz außer Frage. Was bleibt uns dann aber übrig? Es gibt keine andere Theorie, an die man auch nur denken könnte. Glaube mir, das ganze Geheimnis wird sein, daß die Hitze in Ostindien das Gemüt deines armen Vaters angegriffen hat.«

Was sie mir geantwortet haben würde, das kann ich nicht sagen, denn sie fuhr plötzlich zusammen, als ob sie ein Geräusch gehört hätte. Als sie sich furchtsam umschaute, sah ich, wie ihre Züge starr wurden und ihre Augen sich weit öffneten. Ich folgte der Richtung ihres Blickes, und eine Gänsehaut überlief mich, als ich ein Gesicht gewahrte, das uns, halbversteckt hinter einem Baumstamm, beobachtete – verzerrt und entstellt durch die wildeste Wut.

Sobald der Mann, dem dieses Gesicht gehörte, sich bemerkt sah, kam er hervor und auf uns zu, und ich erkannte, daß es niemand anderes war als der General selbst. Seine Hände ballten sich förmlich vor Erregung, und seine tiefliegenden Augen glühten unter ihren blau-geaderten Lidern mit einem unheimlichen, geradezu teuflischen Glanze.


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