Arthur Conan Doyle
Onkel Bernac
Arthur Conan Doyle

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Sechzehntes Kapitel.

Die Bibliothek auf Grobois.

Nun haben die Berichte über Napoleons Tun und Treiben meine eigene armselige Geschichte völlig in den Hintergrund gedrängt. Wie immer und überall hat der Glanz seiner machtvollen Persönlichkeit alles andere verdunkelt, der aufgehenden Sonne gleich, die das Licht der Sterne auslöscht. Fast hat es den Anschein, als hätte ich meine Erzählung nur als Verwand benutzt, um den ersten und zugleich lebhaftesten Eindruck zu schildern, den ich von Napoleon empfangen hatte. Nun will ich aber darangehen, den Abschluß meines nächtlichen Abenteuers im Sumpfland zu berichten, der immerhin auch an sich einiges Interesse verdient. Ich wenigstens werde diese wilde Hetzjagd nach Toussac nie im Leben vergessen.

Wieder waren zwei Tage verflossen seit dem Empfang bei der Kaiserin, und nur ein Tag war noch übrig von der Frist, die der Kaiser Sibylle bewilligt hatte, um Toussac zu ergreifen und den Geliebten zu retten. Offengestanden lag mir persönlich nicht übermäßig viel an der Befreiung dieser feigen Kreatur, dessen hübsches Gesicht mir wie eine Larve für seine niedrige Gesinnung vorkam. Dem tapferen, treuherzigen Mädchen jedoch, das ihn so innig liebte, war ich aufrichtig zugetan und gönnte ihr von Herzen die Erfüllung ihrer Wünsche. So waren es denn recht gemischte Gefühle, mit denen ich Sibylle begrüßte, als sie am späten Nachmittag in Begleitung General Savarys mein bescheidenes Wohnzimmer in Boulogne betrat. Ein Blick auf ihre geröteten Wangen und die triumphierenden Augen sagten mir, daß sie sich des Erfolges sicher fühlte.

»Nun, Cousin Louis, was sagte ich Ihnen? Ich habe ihn aufgespürt und komme schnurstracks zu Ihnen, um die versprochene Hilfe in Anspruch zu nehmen.«

»Mademoiselle Bernac besteht darauf, daß keine Soldaten zur Verwendung kommen,« sagte Savary achselzuckend.

»Nein, nein, auf keinen Fall,« schrie sie erregt, »Wir müssen vorsichtig und mit List vorgehen; Soldaten würde er von weitem erspähen und vor ihnen fliehen, um ein Versteck aufzusuchen, wohin ihm niemand folgen könnte. Auf das kann ich mich nicht einlassen, weil die Zeit zu sehr drängt.«

»Bei solch einer Gelegenheit sind vierzig Mann nicht mehr wert als drei,« sagte Savary. »Ich hätte auf keinen Fall mehr Leute mitgenommen. Es hat Ihnen ja noch jemand seine Unterstützung zugesagt, Leutnant . . .«

»Leutnant Gerald von den Bércheny-Husaren.«

»Sehr gut. Es gibt keinen tapferern Offizier in der ganzen Armee als Etienne Gerald. Wir drei, Monsieur de Laval, sind allen Anforderungen gewachsen.«

»Ich stehe zur Verfügung.«

»Nun sagen Sie uns, Mademoiselle, wo sich Toussac verborgen hält.«

»In der Roten Mühle ist er versteckt.«

»Das ist unmöglich, Mademoiselle, dort haben wir alles durchsucht.«

»Wann waren sie dort?«

»Vor zwei Tagen.«

»Dann ist er seitdem hingekommen. Ich kenne ein Mädchen, Namens Jeanne Portal, die seine Geliebte ist. Seit sechs Tagen beobachte ich sie. Gestern schlich sie mit einem Korb voll Wein und Früchten zur Roten Mühle. Heute hat sie den ganzen Vormittag die Gegend mit den Augen abgesucht und erschrak heftig, wenn irgendwo Bajonette aufblitzten. So sicher bin ich, daß Toussac in der Roten Mühle ist, als hätte ich ihn selbst dort gesehen.«

»Dann haben wir keinen Augenblick zu verlieren,« rief Savary. »Wenn irgendein Boot an der Küste liegt, macht er sich nach Einbruch der Dunkelheit nach England davon. Von der Roten Mühle überblickt man die ganze Umgegend; Mademoiselle Bernac hat also ganz recht mit ihrer Annahme, daß eine größere Menge von Soldaten ihm nicht entgehen und ihn zur Flucht veranlassen würde.«

»Was schlagen Sie also vor?« fragte ich.

»Daß wir uns in einer Stunde an der Südseite des Lagers treffen. Sie bleiben so wie Sie sind; so hält man Sie für einen harmlosen Reisenden. Ich werde Gerald aufsuchen und ihn veranlassen, sich ebenso wie ich in irgendeiner Weise zu verkleiden. Vergessen Sie Ihre Pistolen nicht, denn Toussac wird sich wehren wie ein Löwe. Ein Pferd für Sie werden wir mitbringen,«

Eine Stunde später begab ich mich an die von Savary bezeichnete Stelle. Trüb leuchtete die untergehende Sonne am westlichen Horizont und tauchte die weißen Kreidefelsen der französischen Küste in rosenrotes Licht. Von meinen Kameraden konnte ich keine Spur entdecken. Niemand anderes als ein großer, bäurisch aussehender Mann in blauem Rocke mit Metallknöpfen und ein junger, schlanker Knecht waren in der Nähe. Der Bauer hatte sich soeben gebückt, um seinem prächtigen Rappen den Sattelgurt fester anzuziehen, während der Bursche etwas abseits stehend zwei andere Rosse an den Zügeln hielt. Daß eines von diesen dem Pferde, das mich von Grobois ins Lager trug, aufs Haar glich, fiel mir zuerst auf; dann erst erkannte ich die hübschen Züge des verschmitzt lächelnden Stallknechtes und das dunkle Gesicht Savarys unter dem breitkrempigen Farmerhute.

»So fallen wir gewiß nicht auf,« sagte er. »Halten Sie sich nicht so gerade, Gerard, als Bauer müssen Sie einen runden Rücken haben. Nun vorwärts, ehe es zu spät ist.«

Ich habe aufregende Abenteuer genug in meinem Leben bestanden; mit diesem Ritt aber hält keines von ihnen den Vergleich aus. Dort, jenseits des Kanals, schimmerte die verschwommene Linie der englischen Küste und rief mir die Erinnerung wach an ihre einsam gelegenen träumerischen Dörfer, an das Summen der schwärmenden Bienen und das Läuten der Sonntagsglocken. Ich gedachte der langgestreckten weißleuchtenden Hauptstraßen in Ashford, der roten Backsteinbauten, die sie begrenzten, und des Gasthauses mit dem im Winde schwingenden Zeichen aus Weinlaub. Mein ganzes Leben hatte ich in dieser friedlichen Umgebung zugebracht, und nun saß ich hier auf einem feurigen Pferde, zwei Pistolen im Sattel, um an der Ergreifung des gefährlichsten Verschwörers Frankreichs teilzunehmen. Es ging auf Tod und Leben, und meine ganze Zukunft hing von dem Erfolge unserer Unternehmung ab; kein Wunder daher, daß mir von allen Gefahren und Strapazen meines Lebens jener Ritt über den hügeligen Torfgrund am treuesten im Gedächtnis haftet. Später wird man gleichgültig gegen alles in der Welt bis auf die Leiden und Freuden des eigenen bescheidenen Heims; nur die Jugend kann die gruselige Wonne eines wagehalsigen Abenteuers voll und ganz genießen.

Bald hatten wir das Hochland Boulognes hinter uns und zogen an dem Saume des großen Moorlandes weiter, dessen Schrecken ich vor kurzem so gründlich durchkostet hatte. Dann bogen wir landeinwärts ab und ritten über farnkraut- und brombeerverwachsene Ebenen weiter, bis wir zur Linken Schloß Grobois erblickten. Jetzt wandten wir uns unter Savarys Führung nach rechts, stießen dort auf die Reste einer einstigen Straße, überquerten eine Hügellehne und hatten die alte Windmühle vor uns. Schwarz hob sie sich gegen den Abendhimmel ab, nur die oberen Fenster leuchteten, rot wie frische Blutflecke, in den Strahlen der untergehenden Sonne. Nahe dem Eingangstore stand ein mit Kornsäcken beladener, unbespannter Karren; einige Schritte davon graste das dazu gehörige Pferd. Auf einem der Hügel erblickten wir ein weibliches Wesen, das angestrengt nach allen Seiten auslugte.

»Da sehen Sie hin,« sagte Savary lebhaft. »Dies ist seine Wache. Er ist also unbedingt hier. Halten wir uns an den Fahrweg, der hinter dem Hügel herumführt; so bleiben wir unbemerkt, bis wir hart am Tore sind.«

»Täten wir nicht besser, direkt auf das Haus zuzusprengen?« warf ich fragend ein.

»Das Terrain ist zu ungünstig. Nichts als Hügel und Gräben; der andere Weg ist weiter, aber sicherer. Solange wir uns an der Straße halten, sind wir von gewöhnlichen Reisenden nicht zu unterscheiden.«

Wir ritten langsam den Fahrweg entlang und bemühten uns, so unbefangen als möglich auszusehen, als plötzlich ein lauter Ausruf unsere Aufmerksamkeit erregte. Auf einem der Hügel längs der Straße stand ein Weib und starrte uns an. Wir schienen ihr verdächtig. Die militärische Haltung meiner Kameraden ließ sie nicht lange im Zweifel darüber, wen sie vor sich habe. Sie riß den Schal von ihren Schultern und schwang ihn wie rasend über ihrem Kopf. Savary gab seinem Pferde die Sporen und sprengte der Mühle zu; wir folgten ihm dicht auf den Fersen.

Es war höchste Zeit. Noch waren wir etwa hundert Schritte von der Mühle entfernt, als ein Mann aus dem Tore sprang und aufgeregt nach allen Seiten ausblickte. Der riesige struppige Bart, die breite Brust und die runden Schultern – kein Zweifel, es war Toussac. An ein Entrinnen konnte er nicht mehr denken; mit einem Satz war er wieder im Hause und warf das schwere Tor krachend hinter sich zu.

»Das Fenster, Gerald, das Fenster,« schrie Savary. Der junge Husar stieg rasch vom Pferde und sprang durch das geschlossene Fenster in das ebenerdige Zimmer des Gebäudes, wie ein Zirkusclown durch die vorgehaltenen Reifen. Im nächsten Augenblick öffnete er das Tor; das Blut strömte ihm von Gesicht und Händen.

»Er ist die Treppe hinaufgeflohen,« sagte er.

»Dann haben wir Zeit; er kann uns nicht entkommen,« entgegnete Savary, während wir aus dem Sattel sprangen. »Sie haben das Hindernis brillant genommen, Gerard. Hoffentlich sind Sie nicht schwer verletzt?«

»Ein Paar Kratzer, General, sonst nichts.«

»Dann nehmen Sie die Pistolen zur Hand. Wo ist der Müller?«

»Hier bin ich,« schrie unwirsch ein kleiner, untersetzter Mensch, der im Hausflur stand. »Wie könnt ihr wagen, ihr Straßenräuber, in meine Mühle einzubrechen? Ich sitze ganz ruhig, lese die Zeitung und rauche meine Pfeife, wie ich es abends immer tue, und auf einmal fliegt ein Mann durchs Fenster herein, überschüttet mich mit Glassplittern und öffnet seinen Spießgesellen das Tor. Ich habe Ungelegenheiten genug mit meinem Mieter und brauche wahrhaftig nicht drei andere dazu.«

»Der Mann, den Ihr beherbergt, ist der berüchtigte Verschwörer Toussac.«

»Toussac,« schrie der Müller. »Gar keine Rede; er heißt Maurice und ist Seidenhändler.«

»Er ist der Mann, den wir suchen. Wir kommen im Namen des Kaisers.«

Der Müller ließ den Mut sinken.

»Ich weiß wirklich nicht, wer er ist. Er bot mir eine hohe Miete für das Bett an, und weiter habe ich ihn nicht ausgefragt. Heutzutage kann man nicht von jedem Mieter Dokumente verlangen. Natürlich habe ich nichts dreinzureden, wenn es sich um staatliche Angelegenheiten handelt. Das eine aber kann ich bezeugen, daß er sich bis vor kurzem ganz ruhig verhalten hat; vor wenigen Augenblicken jedoch bekam er einen Brief; seitdem ist er wie verrückt.«

»Was für einen Brief? Geben Sie acht, Sie Spitzbube; es könnte auch Ihnen den Kopf kosten.«

»Ein Frauenzimmer brachte ihn. Mehr, als ich weiß, kann ich nicht sagen. Seitdem führt er Selbstgespräche und gebärdet sich wie ein Rasender. Der Schrecken fuhr mir in alle Glieder. Irgend jemand hat er den Tod geschworen; ich werde herzlich froh sein, ihn aus dem Hause zu haben.«

»Nun, meine Herren,« sagte Savary, den Säbel ziehend. »Die Pferde lassen wir hier; das obere Fenster ist vierzig Fuß über dem Erdboden; da kann er nicht hinaus. Unsere Pistolen werden ihn bald zur Vernunft bringen.«

Die schmale hölzerne Wendeltreppe führte zu einer kleinen Kammer, die nur durch eine Ritze in der Mauer ihr Licht erhielt. Die Reste eines Holzfeuers und ein Strohlager gaben Zeugnis davon, daß Toussac hier gehaust hatte. Von ihm selbst war nichts zu sehen: er mußte also noch eine Treppe höher geflohen sein. Wir kletterten ihm nach und kamen an eine verschlossene, massive Tür.

»Ergeben Sie sich, Toussac,« rief Savary. »Jeder Versuch zu entkommen wäre nutzlos.«

Ein heiseres Lachen antwortete ihm.

»Ich bin nicht der Mann, der sich ergibt. Aber einen Handel abzuschließen, bin ich bereit. Ich habe heute nacht noch eine Kleinigkeit zu tun. Wenn Sie mir bis dahin meine Freiheit lassen, so gebe ich Ihnen das feierliche Versprechen, mich Ihnen morgen im Lager selbst zu stellen. Es handelt sich um eine kleine Schuld, die ich noch abzutragen habe. Erst heute brachte ich in Erfahrung, wessen Schuldner ich bin.«

»Das können wir Ihnen nicht zugestehen.«

»Sie würden sich dadurch viele Unannehmlichkeiten ersparen.«

»Es geht nicht, ergeben Sie sich, Toussac.«

»Das wird Ihnen noch einige Mühe kosten.«

»Sie können uns nicht entkommen. Also drauflos, Kameraden, sprengen wir die Tür!«

Da krachte ein Schuß; die Flamme schlug durch das Schlüsselloch, und in der gegenüberliegenden Wand saß die Kugel. Sie war mitten zwischen uns hindurchgegangen. Wir warfen uns mit aller Kraft gegen die massive Tür. Zum Glück war sie morsch. Sie hielt dem Anprall nicht stand und ging in Trümmer. Die schußbereiten Waffen in der Hand stürmten wir in die Kammer – Toussac war verschwunden.

»Wohin, zum Teufel, kann er denn gekommen sein?« schrie Savary wild. »Das ist der höchstgelegene Raum im Hause, und er hat doch nur den einen Ausgang.«

Die viereckige Bodenkammer, in der wir uns befanden, war leer bis auf einige umherliegende Getreidesäcke. Das einzige, der Tür gegenüber befindliche Fenster stand offen; daneben lag die noch rauchende Pistole. Wir steckten die Köpfe zum Fenster hinaus und schrien vor Erstaunen auf: tief unten auf dem beladenen Karren lag Toussac und schnappte nach Luft. Die aufgeschichteten Getreidesäcke hatten die enorme Höhe des Sturzes vermindert und die Wucht des Anpralles abgeschwächt; so war der kühne Springer unverletzt geblieben, nur den Atem hatte ihm die Erschütterung geraubt. Als er unsere Stimmen hörte, schaute er herauf, drohte uns trotzig mit der Faust, wälzte sich vom Karren herab und schwang sich auf Savarys Pferd. Im scharfen Galopp sprengte er querfeldein. Wir sandten ihm einige Kugeln nach, ohne zu treffen, dann war er außer Schußweite.

Wir flogen die Treppe hinab und stürmten ins Freie. Noch ehe wir im Sattel saßen, hatte er die Lehne des gegenüberliegenden Hügels erreicht, und die Entfernung, die zwischen uns lag, war schon so groß geworden, daß uns der Riesenmann und das mächtige Pferd ganz klein erschienen. Alle Umstände waren ihm günstig. Es begann zu dunkeln, und das ausgedehnte Moor, wohin wir ihm kaum hätten folgen können, lag ganz nahe zu seiner Linken. Jeden Augenblick konnte er seitwärts in den Sumpf einbiegen und unseren Augen entschwinden. Statt dessen ritt er in gerader Linie, weiter und entfernte sich immer mehr und mehr von der See. Was mochte er vorhaben? Unaufhaltsam, wie ein Mann, der ein sicheres Ziel im Auge hat, raste er dahin.

Leutnant Gerard und ich wogen leichter als er, und unsere Pferde waren nicht schlechter als das seine. Wir begannen ihm näher zu rücken. Wenn wir ihn nicht aus den Augen verloren, so mußten wir ihn bald einholen; nur die eine Gefahr bestand, daß er seine Ortskenntnis dazu benutzen werde, uns von seiner Fährte abzubringen. So oft sich der Weg senkte und uns ein Hügel die Aussicht benahm, sank auch meine Hoffnung, um wieder frisch aufzuleben, wenn wir ihn neuerdings vor uns auftauchen sahen.

Endlich geschah, was ich längst befürchtete: wir hatten seine Spur verloren. Ein paar hundert Schritte noch war er vor uns, als er einen mit Geröll bedeckten Hügel hinansprengte und hinter demselben verschwand. In wenigen Sekunden hatten auch wir die Höhe erreicht. Dichtes Brombeergebüsch verrammelte uns den Weg; unser Flüchtling war nirgends zu sehen. »Hier links ist eine Straße,« schrie Gerard, dessen heißes Gascognerblut vor Erregung kochte. »Wir müssen uns also links halten.«

»Warten Sie ein wenig,« rief ich. »Hier rechts läuft ein Saumweg. Er könnte ebensogut diesen gewählt haben.«

»Dann nehmen Sie einen Weg und ich den anderen.«

»Einen Augenblick noch – ich höre Hufschläge.«

»Das ist sein Pferd.«

Savarys mächtiger Rappe war aus den Brombeeren hervorgebrochen.

»Dann steckt er irgendwo im Gebüsch.«

Wir sprangen aus dem Sattel und drangen, die Pferde am Zügel führend, in das Gesträuch ein. Nach kurzer Zeit kamen wir auf einen Fußweg, der in Schlangenlinien abwärts ging und in eine tiefe, von Kreidewänden begrenzte Grube führte.

»Keine Spur von ihm,« rief Gerard verzweifelt. »Er ist uns entwischt.«

Mir aber ging ein Licht auf. Der Müller hatte uns von dem furchtbaren Zorn erzählt, der Toussac beim Empfang eines Briefes befallen hatte. Offenbar hatte er durch dieses Schreiben Kunde erhalten, wem er die Entdeckung der nächtlichen Zusammenkunft im öden Sumpf verdankte. Seine Geliebte war in irgendeiner Weise dahintergekommen und hatte ihm alles berichtet. So erklärte sich auch sein Wunsch, diese Nacht noch frei zu sein, und sein Versprechen, sich nach Abtragung einer Schuld im Lager selbst zu stellen. Er wollte an meinem Onkel Rache nehmen. Nur diesen einen Gedanken hatte er im Kopfe, als er schnurstracks hierher galoppierte. Zweifellos war das hier der Kreideschurf, in den der geheime Gang von Grobois mündete, der Gang, den er von seinen Zusammenkünften mit Charles Bernac her kannte. Längere Zeit suchte ich vergebens nach dem versteckten Einschlupf; endlich erkannte ich die richtige Wand und zwängte mich zwischen den Büschen hindurch zu dem dunklen Loche, das ich in der herrschenden Finsternis kaum mehr wahrnehmen konnte. Inzwischen hatte uns Savary zu Fuß eingeholt. Wir banden unsere Pferde an den Sträuchern fest, und ich führte meine Kameraden durch den engen Schlauch in den breiteren, alten Gang. Lichter hatten wir keine, und es war stockfinster. Über die herumliegenden Steine stolpernd tastete ich mich an den Wänden weiter. Damals, unter Führung meines Onkels, war mir der Weg nicht allzu weit vorgekommen. Das Licht, das er trug, erleichterte das Gehen, und seine Ortskenntnis gab mir ein gewisses Gefühl der Sicherheit. Heute aber, in dieser Finsternis, schien unsere Wanderung kein Ende nehmen zu wollen. Savary begann zu murren und fragte, wie viel Meilen wir wohl noch so weiterzukriechen hätten. Als unsere Spannung schon aufs höchste gestiegen war, blieb Gerard plötzlich stehen.

»Pst,« wisperte er. »Ich höre jemand vor uns.«

Wir hielten den Atem an und lauschten. Ich hörte in weiter Ferne ein Geräusch, als ob sich eine Tür in den Angeln drehte.

»Vorwärts, vorwärts,« drängte Savary. »Das ist zweifellos er. Wir werden ihn gleich haben.«

Ich meinesteils war meiner Sache nicht so sicher. Ich wußte, daß mein Onkel das Tor mit Hilfe eines Kunstgriffes geöffnet hatte. Toussac kannte das Geheimnis offenbar auch. Es war aber anzunehmen, daß er die Tür hinter sich wieder zuschlagen werde. Das massive Holz und die eisernen Klammern, die es zusammenhielten, hatte ich nur allzugut im Gedächtnis. So war es denn recht wahrscheinlich, daß wir noch im letzten Augenblick einem unüberwindlichen Hindernis gegenüberstehen würden. Ungeduldig strebten wir vorwärts. Wir mochten noch eine Strecke von ein paar hundert Schritten in tiefster Finsternis zurückgelegt haben, als mir plötzlich ein matter gelblicher Lichtschein aus weiter Ferne ins Auge fiel. Ich hätte aufschreien mögen vor Freude. Das Tor stand offen. In seinem wilden Rachedurst hatte Toussac an seine Verfolger nicht einmal gedacht.

Nun brauchten wir uns nicht länger an den Wänden fortzutasten. Ein Wettrennen begann durch den Gang und die Treppe hinauf. Weiter ging es in rasender Eile durch das zweite Tor in die steingepflasterte Vorhalle des Schlosses, wo das Öllämpchen friedlich brannte, wie bei meinem ersten Besuch. Ein markerschütternder Schrei – dann ein langgezogenes Wimmern . . .

»Zu Hilfe! Er tötet ihn! Zu Hilfe!« schrie wie wahnsinnig ein herbeieilendes Dienstmädchen, »er tötet Monsieur Bernac!«

»Wo ist er?« brüllte Savary.

»Dort hinter der Tür! In der Bibliothek!«

Nochmals erscholl der entsetzliche Schrei und verklang in heiseres Röcheln. Dann ein lauter Knacks . . .

Ich wußte, was dieses schreckliche Geräusch bedeutete. Wir drangen in die Bibliothek ein und prallten zurück vor dem grauenhaften Anblick, der sich uns bot; wir alle, selbst Savary und der tollkühne junge Husar.

Mein Onkel mußte mit dem Rücken gegen die Tür an seinem Schreibtisch gesessen haben, als Toussac ins Zimmer stürmte. Auf den Lärm hin hatte er vermutlich den Kopf gewendet und das zornsprühende Gesicht des bärtigen Riesen erblickt; aus Entsetzen darüber und aus Todesangst mag er jenen gellenden Schrei ausgestoßen haben, der uns beim Eintritt in die Halle entgegenscholl; und jenes klägliche Wimmern, das diesem Aufschrei folgte, mag ihm der eiserne Griff Toussacs erpreßt haben, mit dem seine Löwenpranken das Haupt seines Opfers ergriffen und unbarmherzig zur Seite drehten. Schon der Anblick des furchtbaren Rächers mußte Bernac die Glieder gelähmt haben. Denn – was das Grauenhafteste an dem Bilde vor uns war – er saß auch jetzt noch mit dem Rücken gegen die Tür vor dem Schreibtisch, während sein völlig um die eigene Achse gedrehter Kopf uns das furchtbar entstellte, blaurote Antlitz zuwandte, jenes hagere Gesicht mit dem gebrochenen Auge und dem offenstehenden Mund, das mir noch heute manchmal im Traum erscheint, um die Ruhe meiner Nächte zu stören. An seiner Seite stand Toussac mit verschränkten Armen und triumphierte.

»Meine Schuld,« sagte er, »habe ich nun abgetragen.«

»Ergeben Sie sich,« donnerte Savary, ihm die Pistole entgegenhaltend.

»Drücken Sie nur los,« schrie der andere und schlug sich auf die mächtige Brust. »Glaubt ihr, ich fürchte mich vor euren elenden Kugeln, oder glaubt ihr gar, ihr bekommt mich lebend in die Hände? Diese Hoffnung werde ich euch gleich benehmen.«

Er ergriff einen der schweren Eichenstühle, schwang ihn über dem Kopf und drang auf uns ein. Wir gaben Feuer und schossen ihm drei Kugeln in den Leib. Er aber achtete nicht des rinnenden Blutes, holte zum Schlage aus und ließ den mächtigen Stuhl in weitem Bogen durch die Luft sausen. Zum Glück täuschte ihn sein Augenmaß. Mit donnerähnlichem Getöse traf der wuchtige Schlag den Tisch an meiner Seite, der krachend in Trümmer ging. Dann warf sich der Rasende auf Savary, drückte ihn zu Boden und packte ihn am Kinn. Nun stürzten wir anderen auf den Wüterich los und ergriffen ihn an den Armen. Toussac aber war stärker als wir alle zusammen und schüttelte uns rasch ab. Unzähligemal faßten wir an, und immer wieder schleuderte er uns zur Seite. Endlich begann seine Kraft nachzulassen; er hatte zu viel Blut verloren und blutete in Strömen weiter. Mit übermenschlicher Anstrengung richtete er sich noch einmal empor und stellte sich auf die Füße. Wie Hetzrüden an einem Bären hingen wir an ihm. Noch ein Schrei voll Wut und Verzweiflung, daß das Schloß erdröhnte; dann brach er zusammen und blieb liegen. Keuchend standen wir herum und beobachteten ihn aufmerksam, um uns bei der leisesten Bewegung auf ihn zu stürzen; er aber rührte sich nicht mehr. Toussac war tot.

Totenblaß lehnte Savary an den Trümmern des zusammengebrochenen Tisches und hielt die Hand an die schmerzenden Rippen.

»Mir ist zumute, als hätte ich mit einem Bären gerungen,« sagte er. »Nun ist der Kaiser wenigstens einen Feind und Frankreich einen gefährlichen Menschen los. Und doch war er zugleich ein tapferer Mann.«

»Welch ein Soldat wäre er geworden!« sagte Gerard nachdenklich. »Welch ein Quartiermacher für die Bércheny-Husaren! Es war recht unsinnig von ihm, nicht in die Dienste des Kaisers zu treten.«

Unterdessen hatte ich mich in einen Fauteuil niedergelassen. Kein Wunder, daß ich mich erschöpft und beinahe krank vor Aufregung fühlte; selbst an Gerard und Savary waren die blutigen Szenen des heutigen Abends nicht spurlos vorübergegangen, und ich war doch ein Neuling in derlei Dingen. Savary gab uns beiden einen Schluck Kognak aus seiner Feldflasche; dann nahm er einen der Türvorhänge herunter und breitete ihn über den Leichnam meines Onkels.

»Hier ist nichts mehr zu machen,« sagte er. »Ich muß dem Kaiser sobald als möglich Bericht erstatten. Aber die Papiere Bernacs müssen wir mitnehmen, da viele derselben auf diese oder jene Verschwörung Bezug haben und manchen Aufschluß geben könnten.« Mit diesen Worten raffte Savary eine Anzahl von Papieren zusammen, die auf dem Schreibtisch lagen; darunter einen Brief, den mein Onkel offenbar eben beendet hatte, als Toussac hereinstürmte.

»Halt, was ist das hier?« sagte Savary, nachdem er die ersten Worte des Schreibens gelesen hatte. »Freund Bernac scheint auch kein ungefährlicher Mann gewesen zu sein. ›Lieber Catulle, senden Sie mir mit nächster Post eine Phiole jener geschmack- und geruchlosen Essenz, die Sie mir vor drei Jahren schickten. Ich meine den Mandelabsud, der keine Spuren zurückläßt. Ich brauche denselben dringend im Laufe der nächsten Woche und bitte Sie daher um möglichst rasche Zusendung. Wenn Sie einmal irgendein Anliegen an den Kaiser haben, so stehe ich Ihnen mit meinem Einfluß zu Diensten.‹

»Adressiert an einen Drogisten in Amiens,« sagte Savary, den Brief umwendend. »Also auch Giftmischer zu allen seinen anderen Tugenden. Ich möchte übrigens wissen, wem dieser Mandelabsud zugedacht war.«

»Das möchte auch ich wissen,« sagte ich.

Was hätte ich anderes sagen sollen? Er war ja doch mein Onkel, und . . . überdies war er tot.


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