Fjodor Michailowitsch Dostojewski
Ein Werdender - Zweiter Band
Fjodor Michailowitsch Dostojewski

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Viertes Kapitel

1

Jetzt komme ich zur Schlußkatastrophe, in die meine Aufzeichnungen auslaufen. Aber um weiter erzählen zu können, muß ich zunächst vorgreifen und etwas erklären, wovon ich zu jener Zeit noch nicht das geringste wußte, und was ich erst sehr viel später, erfuhr und mir auch erst dann ganz klar machen konnte, das heißt, als das alles schon vorüber war. Ich muß das tun, weil meine Erzählung sonst unverständlich würde und ich sonst die ganze Zeit in lauter Rätseln schreiben müßte. Deshalb erkläre ich das gerade und schlicht im voraus und opfere die sogenannte künstlerische Komposition und tue, als ob gar nicht ich das schriebe, und schreibe es ganz ohne eigene seelische Anteilnahme, auf die Art, wie die sogenannten Entrefilets in den Zeitungen geschrieben sind.

Es handelt sich darum, daß mein Schulfreund Lambert mit einigem Recht oder, richtiger gesagt, ganz mit Recht zu den gemeinen Banden von kleinen Halunken gezählt werden mußte, die sich zusammentun, um das zu treiben, was man heutzutage Erpressung nennt, und wofür man jetzt für das Strafgesetzbuch nach Definitionen und Strafen sucht. Die Bande, bei der Lambert beteiligt war, hatte sich in Moskau zusammengetan und dort schon eine ziemliche Menge von Streichen ausgeführt (das ist später zum Teil an den Tag gekommen). Ich hörte nachher, daß sie in Moskau eine Zeitlang zum Anführer einen sehr erfahrenen und durchaus nicht dummen, schon bejahrten Mann gehabt hätten. An ihren Unternehmungen beteiligte sich entweder die ganze Bande gemeinsam oder auch nur ein Teil davon. Sie führten außer den schmutzigsten, zensurwidrigsten Streichen (über die übrigens die Zeitungen auch schon berichtet haben) – unter der Anleitung ihres Chefs auch ziemlich komplizierte und schlaue Unternehmungen aus. Einige davon sind mir später bekannt geworden, aber ich will mich in Einzelheiten darüber nicht einlassen. Ich will nur erwähnen, daß der allgemeine Charakter ihrer Unternehmungen der war, daß sie irgendwelche Geheimnisse über Leute auszukundschaften suchten, die oft durchaus anständig und ziemlich hochgestellt waren; dann gingen sie zu diesen Leuten hin und drohten mit der Veröffentlichung von Dokumenten (die sie manchmal in Wirklichkeit gar nicht in Händen hatten) und forderten für ihr Schweigen eine bestimmte Summe. Es gibt Dinge, die durchaus keine Sünde und durchaus kein Verbrechen sind, vor deren Veröffentlichung aber selbst ein anständiger und charaktervoller Mensch zurückschrickt. Sie sahen es meistens auf Familiengeheimnisse ab. Um zu zeigen, wie geschickt ihr Chef manchmal zu operieren verstand, will ich, ohne alle Einzelheiten und nur in drei Zeilen, eins von ihren Stückchen erzählen. In einer durchaus anständigen Familie passierte eine Sache, die in der Tat eine Sünde und ein Verbrechen war; nämlich, die Frau eines bekannten und angesehenen Mannes fing ein heimliches Liebesverhältnis mit einem jungen, reichen Offizier an. Davon bekamen sie Wind und machten die Sache nun folgendermaßen: sie teilten dem jungen Mann einfach mit, daß sie den Ehemann davon unterrichten würden. Beweise hatten sie nicht die geringsten, und der junge Mann wußte das ganz genau, sie selber machten ihm auch gar kein Geheimnis daraus; aber die ganze Gewandtheit ihres Kniffes und die ganze Schlauheit ihrer Berechnung lag einzig und allein in der Erwägung, daß der Ehemann, wenn er die Nachricht bekäme, auch ohne jeden Beweis genau so handeln und genau dieselben Schritte unternehmen würde, wie wenn er die mathematisch exaktesten Beweise in der Hand hätte. Sie spekulierten eben auf ihre Kenntnis des Charakters dieses Menschen und auf ihre Kenntnis seiner Familienverhältnisse. Sehr wichtig war, daß bei der Bande ein junger Mensch aus den allerbesten Kreisen beteiligt war, und daß es dem leicht glückte, sich zum voraus die nötigen Auskünfte zu verschaffen. Sie nahmen dem Liebhaber eine sehr respektable Summe ab und setzten sich dadurch nicht der geringsten Gefahr aus, weil ihrem Opfer selber alles daran gelegen war, daß die Sache geheim bliebe.

Lambert hatte sich wohl an den Streichen der Moskauer Bande beteiligt, so recht eigentlich aber nicht dazu gehört; als er erst auf den Geschmack gekommen war, begann er langsam und zur Probe selbsttätig zu wirken. Eins will ich gleich sagen: er war nicht sonderlich befähigt dazu. Er war ganz schlau und auch ziemlich gerissen, aber er war doch zu hitzig, und außerdem zu bieder oder, richtiger gesagt, zu naiv, das heißt, er kannte weder die Menschen noch die Gebräuche der Gesellschaft. Zum Beispiel glaube ich, daß er die Bedeutung jenes Moskauer Bandenchefs durchaus nicht begriff und sich einbildete, es sei sehr leicht, derartige Anschläge ins Werk zu setzen und zu organisieren. Und schließlich hielt er jedermann für genau so einen Schuft, wie er selber einer war. Oder wenn er es sich zum Beispiel einmal in den Kopf gesetzt hatte, der oder jener fürchte sich aus dem oder jenem Grunde vor etwas, oder müsse sich davor fürchten, dann zweifelte er auch nicht mehr im geringsten daran, daß der Betreffende sich in der Tat fürchte, als wäre das ein Axiom. Ich verstehe das nicht richtig auszudrücken; ich werde es im weiteren Verlaufe meiner Erzählung durch Tatsachen besser erläutern können; aber meine Ansicht ist, daß er recht mangelhaft gebildet war; und was manche guten, edeln Empfindungen betrifft, so glaubte er nicht nur nicht an sie, sondern hatte vielleicht überhaupt keinen Begriff davon.

Nach Petersburg war er gekommen, weil er an Petersburg schon lange als ein im Verhältnis zu Moskau breiteres Betätigungsfeld gedacht hatte, und außerdem, weil er in Moskau irgendwo und irgendwie in die Klemme geraten war und dort jemand ihm selber mit den allerbösesten Absichten nachstellte. Sobald er nach Petersburg gekommen war, war er sofort zu einem Kollegen von früher her in Beziehungen getreten, aber er hatte nur ein mageres Betätigungsfeld und bloß kleine Affären gefunden. Sein Bekanntenkreis vergrößerte sich dann, aber es kam nichts zustande: »Das ist hier ein Dreckvolk, bloß lauter dumme Jungen«, hat er später einmal selber zu mir gesagt. Und da auf einmal, eines schönen Morgens in der Dämmerung, findet er mich halberfroren an einer Hofmauer und gerät damit auf die Spur einer nach seiner Meinung »hochrentabeln Sache«.

Und diese Sache entnahm er meinem Gefasel damals, während ich in seiner Wohnung auftaute. O freilich, ich war damals so gut wie im Fieberdelirium! Aber aus meinen Worten war doch ganz klar hervorgegangen, daß von allen Kränkungen jenes verhängnisvollen Tages die Beleidigung, die Bjoring und sie mir zugefügt hatten, am festesten in meinem Gedächtnis und in meinem Herzen haftengeblieben war: sonst hätte ich bei Lambert nicht nur darüber phantasiert; ich hätte zum Beispiel auch von Serstschikow phantasiert; statt dessen beschäftigte mich nur das erstere, wie ich nachher von Lambert selber erfuhr. Und zu dem allen war ich begeistert und sah an dem schrecklichen Morgen Lambert und Alphonsine als Befreier und Retter an. Wenn ich mir nachher, während meiner Genesung, als ich noch im Bette lag, vorzustellen suchte, wieviel Lambert wohl von meinem Gefasel mochte verstanden haben und wieweit ich mich ihm gegenüber wohl verplappert hätte, – dann kam mir kein einziges Mal auch nur die Ahnung, daß er damals soviel hätte erfahren können! Oh, selbstverständlich, wenn ich die Gewissensbisse in Betracht zog, die ich fühlte, so ahnte ich selbst damals schon, daß ich ihm wohl recht viel gesagt hatte, was er nicht zu wissen brauchte; aber, ich sage es noch einmal, ich hätte mir durchaus nicht gedacht, daß das so weit gegangen war! Ich hoffte auch und rechnete damit, daß ich es damals bei ihm wohl nicht vermocht haben würde, die Worte deutlich hervorzubringen, ich erinnerte mich sogar mit Sicherheit daran; aber dabei zeigte es sich nachher in Wirklichkeit, daß ich damals viel deutlicher gesprochen hatte, als ich nachher geglaubt und gehofft hatte. Aber die Hauptsache war, daß sich das alles erst nachträglich und viel später herausstellte, und das eben war mein Unglück.

Aus meinen Phantasien, meinem Gefasel, meinem Gestammel, meinen Begeisterungsanfällen erfuhr er vor allen Dingen erstens fast alle Namen, und sogar ein paar Adressen. Zweitens konnte er sich einen einigermaßen annähernden Begriff von der Bedeutung aller dieser Personen machen (ich meine den alten Fürsten, sie, Bjoring, Anna Andrejewna und selbst Wersilow); drittens: er erfuhr, daß ich beleidigt war und mit Rache drohte, und schließlich, viertens, das Wichtigste: er erfuhr, daß ein wohlverborgenes, geheimes Dokument existierte, ein Brief, den man nur dem halbverrückten alten Fürsten zu zeigen brauche, und aus dessen Lektüre der nur zu erfahren brauche, daß seine eigene Tochter ihn für verrückt halte und schon »mit Juristen konferiert« habe, wie man ihn einsperren könne, – kurz, ein Brief, auf den hin er entweder total verrückt werden, oder seine Tochter aus dem Hause jagen und enterben, oder aber auch ein Fräulein Wersilowa heiraten würde, das er schon sowieso heiraten wollte, was ihm aber nicht erlaubt werde. Kurz, Lambert hatte sehr viel von der ganzen Sache begriffen; zweifellos blieb ja auch noch furchtbar viel dunkel, aber der Erpressungskünstler war jedenfalls auf die richtige Fährte geleitet. Als ich dann der Alphonsine davongelaufen war, hatte er sich ungesäumt meine Adresse verschafft (auf die einfachste Art – durch das Adreßbureau) und hatte dann sofort die nötigen Erkundigungen eingezogen, durch die er erfuhr, daß alle die Personen, von denen ich ihm vorgefaselt hatte, wirklich existierten. Und dann hatte er ohne weiteres den ersten Schritt getan.

Die Hauptsache war, daß ein Dokument existierte, und daß ich sein Besitzer war, und daß dieses Dokument einen hohen Wert besaß: hieran zweifelte Lambert nicht. Ich übergehe hier einen Umstand, von dem besser später und an seinem Orte die Rede sein wird; hier will ich nur erwähnen, daß hauptsächlich dieser Umstand Lamberts Überzeugung von der Existenz und, was die Hauptsache war, von dem Werte dieses Dokumentes bestärkte. (Es war ein verhängnisvoller Umstand, das möchte ich gleich bemerken, und so etwas konnte ich nicht nur damals auf keine Weise vermuten, sondern überhaupt bis zum Ende der ganzen Geschichte nicht, als plötzlich alles zusammenstürzte und sich von selbst erklärte). Und da er sich so in der Hauptsache sicher fühlte, war sein erster Schritt, zu Anna Andrejewna zu gehen.

Und dabei ist es für mich heute noch ein Rätsel, wie er, Lambert, es fertiggebracht haben mag, sich an eine so unzugängliche und vornehme Dame, wie Anna Andrejewna, heranzumachen und bei ihr einzunisten. Es ist ja richtig, er hatte Erkundigungen eingezogen; aber was besagt das? Es ist ja richtig, er war wundervoll angezogen, er sprach wie ein Pariser und trug einen französischen Namen; aber sollte Anna Andrejewna denn nicht doch gleich den Spitzbuben in ihm durchschaut haben? Oder soll man annehmen, daß sie eben damals gerade einen Spitzbuben gut brauchen konnte? Aber sollte das wirklich so sein?

Ich habe die Einzelheiten ihrer ersten Begegnung nie erfahren können, aber ich habe mir nachher in der Phantasie diese Szene oft vorzustellen versucht. Das Wahrscheinlichste ist wohl, daß Lambert vom ersten Wort und der ersten Gebärde an meinen Jugendfreund gespielt hat, der für seinen lieben Freund und Kameraden zitterte. Aber selbstverständlich hat er es auch schon bei dieser ersten Begegnung verstanden, sehr deutlich darauf anzuspielen, daß ich ein »Dokument« besäße, daß dies ein Geheimnis wäre, und daß nur er, Lambert, über dies Geheimnis Bescheid wüßte, und daß ich im Begriff wäre, mich mit Hilfe dieses Dokumentes an der Generalin Achmakowa zu rächen. Die Hauptsache war: er konnte ihr so genau wie irgend möglich die Bedeutung und den Wert dieses Dokumentes klarmachen. Und was Anna Andrejewna betrifft, so war sie eben einmal in der Situation, daß sie sich einfach an eine derartige Nachricht klammern mußte, sie mußte das alles mit der äußersten Aufmerksamkeit anhören und . . . mußte auf diesen Köder anbeißen, einfach »aus Selbsterhaltungstrieb«. Ihr hatte man nämlich, genau zu derselben Zeit, ihren Bräutigam entzogen, ihn nach Zarskoje-Selo entführt und unter Vormundschaft gestellt, ja, sie sogar selber unter Vormundschaft gestellt. Und nun auf einmal so ein Fund: hier stand gegen Ohrenbläsereien von Frauenzimmern, gegen tränenreiche Klagen, Geschwätz und Geklatsch ein Brief, eine Handschrift, also ein mathematischer Beweis für die habsüchtigen Pläne seiner Tochter und aller derer, die ihn ihr wegnehmen wollten; das bewies ihm doch klar, daß er sich retten mußte: wenn's nicht anders ginge, durch die Flucht, und zwar eben durch die Flucht zu ihr, zu Anna Andrejewna, die er dann heiraten müßte, wenn es nicht anders ginge, binnen vierundzwanzig Stunden; weil man ihn sonst eben in eine Irrenanstalt stecken würde.

Möglich ist es aber auch, daß Lambert sich diesem jungen Mädchen gegenüber überhaupt nicht verstellt hat, nicht einmal in der ersten Minute, sondern ihr sofort ins Gesicht geblickt hat: »Mademoiselle, entweder werden Sie eine alte Jungfer oder Sie werden Fürstin und Millionärin: da steckt das Dokument, und ich stehle es diesem dummen Jungen und liefere es Ihnen aus . . . gegen einen Wechsel über dreißigtausend Rubel.« Ich glaube sogar, daß es so gewesen sein wird. Oh, er hielt alle Menschen für ebensolche Schurken, wie er selber einer war; ich betone noch einmal, daß er eine gewisse Schurkeneinfalt, eine gewisse Schurkenunschuld besaß . . . Mag es nun so oder so gewesen sein, es ist sehr wohl möglich, daß Anna Andrejewna selbst bei so einem Überfall keine Minute gestutzt hat, sondern es ausgezeichnet verstanden hat, sich zusammenzunehmen und den Erpresser, der im Stil seines Gewerbes sprach, zu Ende anzuhören, – und das alles bloß aus »Vorurteilslosigkeit«. Nun natürlich, anfangs ist sie ein wenig errötet, aber dann hat sie sich zusammengenommen und ihn zu Ende angehört. Und wenn ich mir dieses unzugängliche stolze Mädchen, das so viel echte Würde und so viel Verstand besitzt, Hand in Hand mit Lambert vorstelle, so . . . ja, das ist's ja eben: der Verstand! Der russische Verstand, wenn er so groß ist, neigt leicht zu laxer Vorurteilslosigkeit, – zumal, wenn es ein weiblicher Verstand ist, und wenn die Umstände so liegen, wie in diesem Falle!

Jetzt resümiere ich: am Tag und zur Stunde meines ersten Ausganges nach der Krankheit hatte Lambert zwei Eisen im Feuer (das weiß ich heute ganz genau): sein erster Plan war, Anna Andrejewna für das Dokument einen Wechsel über wenigstens dreißigtausend Rubel abzunehmen und ihr dann zu helfen, dem Fürsten einen Schrecken einzujagen, ihn zu entführen und ihn mit ihr trauen zu lassen – kurz, etwas von der Art. Sie hatten sich sogar schon einen ganzen Plan zurechtgelegt; sie warteten nur auf meine Hilfe, das heißt, auf das Dokument.

Sein zweites Projekt war, Anna Andrejewna übers Ohr zu hauen, sie fallen zu lassen und das Papier der Generalin Achmakowa zu verkaufen, wenn das einträglicher wäre. Dabei rechnete er auch auf Bjoring. Aber bei der Generalin war Lambert noch nicht gewesen, er hatte ihr nur nachgespürt. Auch wegen dieser Sache wartete er auf mich.

Oh, er hatte mich sehr nötig, das heißt, nicht mich, sondern das Dokument! In bezug auf mich hatte er gleichfalls schon zwei Pläne. Der erste bestand darin, wenn es durchaus nicht anders ginge, mit mir gemeinsam vorzugehen und Halbpart mit mir zu machen, nachdem er sich meiner zuvor moralisch und physisch bemächtigt hätte. Aber der zweite Plan erschien ihm viel verlockender; er bestand darin, mich zu düpieren wie einen kleinen Jungen und mir das Dokument zu entwenden, oder es mir sogar einfach mit Gewalt zu entreißen. Diesen Plan hegte und hätschelte er in seinen Träumen mit Vorliebe. Ich wiederhole noch einmal: es war da ein Umstand, der an dem Gelingen des zweiten Planes so gut wie gar nicht zweifeln ließ; aber ich habe bereits gesagt, daß ich darauf später zu sprechen kommen werde. Jedenfalls wartete er mit zitternder Ungeduld auf mich: alles hing für ihn von mir ab, alle seine künftigen Schritte und Entschließungen.

Und in einer Beziehung muß ich ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen: bis dahin hatte er sehr an sich gehalten, trotz aller seiner Hitzigkeit. Er lief mir während meiner Krankheit nicht das Haus ein – er war ein einziges Mal gekommen und hatte mit Wersilow gesprochen; er regte mich nicht auf und schüchterte mich nicht ein, er bewahrte mir gegenüber bis zum Tage und zur Stunde meines ersten Ausganges den Schein vollkommenster Unabhängigkeit. Und was die Gefahr betraf, daß ich das Dokument weitergeben oder einem andern davon Mitteilung machen oder es vernichten könnte, so machte er sich hierüber keine Sorgen. Aus meinen eigenen Worten damals bei ihm hatte er den Schluß ziehen können, welchen Wert ich selber auf dieses Geheimnis legte, und welche Angst ich hatte, daß am Ende jemand von dem Dokument erführe. Und daß ich am allerersten Tage nach meiner Genesung zuerst zu ihm kommen würde und zu keinem andern, das bezweifelte er gleichfalls nicht im geringsten; Darja Onisimowna war teilweise auch in seinem Auftrage zu mir gekommen, und er wußte, daß meine Neugier und meine Furcht nun einmal erregt waren, und daß ich nicht würde widerstehen können . . . Und außerdem hatte er alle Maßregeln getroffen, er konnte sogar den Tag meines ersten Ausganges erfahren, so daß ich ihm gar nicht hätte entgehen können, selbst wenn ich gewollt hätte.

Aber wenn Lambert auf mich wartete, so wartete vielleicht Anna Andrejewna noch viel ungeduldiger auf mich. Ich sage es geradeheraus: Lambert war am Ende auch teilweise im Recht, wenn er sich mit dem Gedanken trug, sie übers Ohr zu hauen, und die Schuld war auf ihrer Seite. Trotzdem sie ohne Zweifel im Einverständnis waren (ich weiß nicht, in welcher Form sie sich geeinigt hatten, aber an der Tatsache zweifle ich nicht), war Anna Andrejewna bis zum letzten Augenblick nicht ganz ehrlich gegen ihn. Sie hatte ihn nicht ganz in ihre Karten sehen lassen. Sie hatte ihm wohl angedeutet, daß sie ganz einig mit ihm wäre und ihm alles verspräche, was er verlangte, – aber sie hatte es ihm eben bloß angedeutet; sie hatte seinen Plan vielleicht bis zu den letzten Einzelheiten angehört, ihm aber nur durch Schweigen zugestimmt. Ich habe die sichersten Unterlagen für diese Annahme, und der Grund für das alles war, daß sie – auf mich wartete. Sie wollte es lieber mit mir zu tun haben als mit dem Gauner Lambert – das ist für mich eine Tatsache, die über jeden Zweifel erhaben ist! Das verstehe ich sehr wohl; ihr Fehler lag nur darin, daß auch Lambert das schließlich durchschaute. Und für ihn wäre es doch gar zu unvorteilhaft gewesen, wenn sie mir das Dokument mit Umgehung seiner Person herausgelockt hätte und mit mir ins Einverständnis getreten wäre. Zudem war er damals schon von der Sicherheit des »Geschäftes« überzeugt. Ein anderer an seiner Stelle hätte Angst gehabt und immer noch gezweifelt; Lambert aber war jung, kühn und von einem ungeheuern Durst nach Gewinn erfüllt, er kannte die Menschen wenig und hielt sie ohne Zweifel alle für Halunken. So einem Menschen konnten keine Bedenken aufsteigen; um so mehr, als er Anna Andrejewna bereits die wichtigsten Bestätigungen herausgelockt hatte.

Nun das letzte und wichtigste Wort: wußte auch Wersilow schon an jenem Tage irgend etwas, und hatte er auch damals schon Anteil an irgendeinem wenn auch noch so unbestimmten Plane Lamberts? Nein, nein und abermals nein, damals noch nicht, wenn auch damals schon vielleicht ein verhängnisvolles Wörtchen gesprochen war . . . Aber genug jetzt davon, genug, ich greife zu weit vor.

Nun, und wie stand es mit mir? Wußte ich schon irgend etwas, und was wußte ich vor dem Tage meines ersten Ausganges? Im Beginn dieses Entrefilets habe ich behauptet, ich hätte bis zu dem Tage nichts gewußt, ich hätte von dem allen erst viel später erfahren, erst dann, als alles schon zu Ende gewesen. Das ist die Wahrheit; ist es aber auch die Wahrheit im vollsten Sinne? Nein, das ist es nicht; ich wußte ohne Zweifel schon mancherlei, ich wußte sogar sehr viel; aber wie wußte ich es? Der Leser soll sich an jenen Traum erinnern! Wenn ich schon so einen Traum haben konnte, wenn er meinem Herzen entspringen und sich so gestalten konnte, so heißt das: ich wußte nicht gerade, aber ich ahnte sehr viel von dem, was ich soeben erzählt habe; wirklich erfahren habe ich es aber erst, als »alles zu Ende war«. Von Wissen war keine Rede, aber mein Herz pochte von Ahnungen, und die bösen Geister beherrschten schon meine Träume. Und zu so einem Menschen zog es mich hin, obschon ich genau wußte, was das für ein Mensch war, und sogar die genauesten Einzelheiten vorausahnte! Und warum zog es mich zu ihm? Man denke sich: jetzt, in der Minute, da ich das niederschreibe, ist es mir, als hätte ich schon damals bis in alle Einzelheiten gewußt, weshalb es mich zu ihm hinzog, während ich doch auf der andern Seite wieder gar nichts wußte. Vielleicht wird der Leser mich verstehen. Jetzt aber zur Sache, und ein Faktum nach dem andern!

 

2

Es fing damit an, daß Lisa noch zwei Tage vor meinem ersten Ausgang eines Abends in höchster Aufregung heimkam. Sie war tief gekränkt; und in der Tat war ihr etwas Unerträgliches widerfahren.

Ich habe ihre Beziehungen zu Wasin schon erwähnt. Sie besuchte ihn nicht nur, um uns zu zeigen, daß sie uns nicht brauchte, sondern auch, weil sie Wasin in der Tat schätzte. Sie hatten einander noch in Luga kennengelernt, und ich hatte immer den Eindruck gehabt, daß sie Wasin nicht gleichgültig wäre. In dem Unglück, das sie getroffen hatte, konnte sie natürlich den Wunsch hegen, sich Rats zu holen bei einem so sichern, ruhigen, immer überlegenen Kopfe, wie Wasin es nach ihrer Meinung war. Zudem sind ja die Frauen keine großen Künstlerinnen in der Beurteilung eines männlichen Verstandes, wenn ihnen der Mann gefällt, und sie nehmen gern Paradoxe als streng logische Folgerungen an, wenn sie nur mit ihren eigenen Wünschen im Einklänge sind. An Wasin schätzte Lisa besonders seine Sympathie für ihre Lage und – wie es sie anfangs deuchte – auch seine Sympathie für den Fürsten. Da sie zudem eine Ahnung von seinen Gefühlen für sie hatte, konnte sie nicht umhin, seine Sympathien für den Rivalen besonders hoch anzuschlagen. Der Fürst für sein Teil, dem sie es selber gesagt hatte, daß sie manchmal Wasin besuche, um ihn um seinen Rat zu fragen, nahm diese Mitteilung vom ersten Male an mit äußerster Unruhe auf; er begann sie mit seiner Eifersucht zu quälen. Das kränkte Lisa, und so brach sie denn ihre Beziehungen zu Wasin schon aus Trotz nicht ab. Der Fürst sagte nichts mehr, aber er war verstimmt. Lisa selber hat mir nachher gestanden (sehr lange nachher), Wasin habe ihr schon sehr bald nicht mehr gefallen; er war ruhig, aber eben diese ewig gleichmäßige Ruhe, die ihr im Anfange so gut gefallen hatte, deuchte sie nachher recht unleidlich. Auf den ersten Blick schien er in Rechtsgeschäften erfahren zu sein, und er hatte in der Tat einige dem Anscheine nach gute Ratschläge gegeben, aber alle diese Ratschläge erwiesen sich als unausführbar, genau, als ob er es darauf angelegt hätte. Er gab seine Meinung oft sehr von oben herunter, und ohne sich ihr gegenüber im geringsten zu genieren; – je länger es dauerte, desto weniger genierte er sich, – und das schrieb sie wachsender unwillkürlicher Verachtung gegenüber ihrer Lage zu. Einmal dankte sie ihm dafür, daß er sich gegen mich immer so wohlwollend zeige und, während er mir doch an Verstand weit überlegen wäre, mit mir genau so spräche wie mit seinesgleichen (das heißt: sie übermittelte ihm, was ich selber gesagt hatte). Er erwiderte ihr darauf:

»Das ist nicht so und nicht deswegen. Ich sehe gar keinen Unterschied zwischen ihm und andern. Ich halte ihn nicht für dümmer als die Klugen, nicht für schlechter als die Guten. Ich bin gegen alle Menschen gleich, weil in meinen Augen alle Menschen gleich sind.«

»Wie, und Sie sehen wirklich gar keine Unterschiede?«

»Oh, selbstverständlich, jeder unterscheidet sich in gewissem Sinne von den andern, aber in meinen Augen existieren diese Unterschiede nicht, weil mich die Unterschiede zwischen den Leuten nicht berühren: für mich sind alle gleich und ist alles gleich, und darum bin ich gegen alle in gleicher Weise gut.«

»Und langweilt Sie das denn nicht?«

»Nein, ich bin immer zufrieden mit mir selbst.«

»Und Sie wünschen sich nichts?«

»Wünschen, das natürlich! Aber meine Wünsche sind nicht sehr heftig. Ich brauche fast nichts, keinen Rubel mehr als ich habe. Ob ich in einem goldnen Gewande daherkomme oder so wie ich bin, – das ist ganz einerlei; das goldne Gewand kann Wasin nichts dazugeben. Fette Bissen verlocken mich nicht: kann irgendeine Stellung oder eine äußerliche Ehrung den Standpunkt aufwägen, auf dem ich stehe?«

Lisa hat mir auf Ehrenwort versichert, daß er ihr einmal buchstäblich das gesagt hatte. Übrigens darf man darüber nicht so ohne weiteres aburteilen, sondern man muß die näheren Umstände kennen, unter denen das gesagt wurde.

Allmählich kam Lisa zu dem Eindrucke, daß er auch vom Fürsten sehr von oben herab spräche, vielleicht auch nur deshalb, weil für ihn alle gleich waren und »keine Unterschiede bestanden«, aber durchaus nicht aus Sympathie für sie; aber schließlich begann er, sichtlich seinen Gleichmut einzubüßen und begann vom Fürsten nicht nur aburteilend, sondern auch mit ironischer Verachtung zu sprechen. Das erbitterte Lisa, aber Wasin stand davon nicht ab. Und die Hauptsache war, daß er sich immer so weich ausdrückte, daß selbst sein Aburteilen ohne Entrüstung war, daß er vielmehr die ganze Kläglichkeit ihres Helden einfach logisch vor ihr entwickelte; aber eben in dieser Logik lag ja die Ironie. Schließlich suchte er ihr beinahe direkt die ganze »Unvernunft« ihrer Liebe, die ganze eigensinnige Verranntheit dieser Liebe zu beweisen. »Sie haben sich mit Ihren Gefühlen verirrt, und wenn man seine Verirrungen einmal erkannt hat, muß man sie unter allen Umständen wieder gutmachen.«

Das war gerade an jenem Tage geschehen; Lisa hatte sich voll Unwillen erhoben, um fort zu gehen, aber was tat und wie weit ging dieser »vernünftige« Mensch? Er trug ihr mit der edelsten Miene, ja mit Gefühl, seine Hand an. Lisa hieß ihn auf der Stelle ins Gesicht hinein einen Narren und verließ seine Wohnung.

Einer Frau vorzuschlagen, einem Unglücklichen deshalb untreu zu werden, weil dieser Unglückliche ihrer »nicht wert« wäre, und, was die Hauptsache ist, das einer Frau vorzuschlagen, die von diesem Unglücklichen schwanger ist, – ja, das ist nun der Verstand solcher Leute! Ich nenne das ein Herumreiten auf grauen Theorien und eine vollkommene Unkenntnis des Lebens, entsprungen aus maßloser Eigenliebe. Und zu dem allen durchschaute Lisa dabei noch aufs klarste, daß er sich noch etwas auf seine Handlungsweise einbildete, und mochte es auch nur sein, weil er zum Beispiel bereits Kenntnis von ihrer Schwangerschaft hatte. Mit Tränen der Entrüstung war sie zum Fürsten geeilt, und der – der brachte es fertig, Wasin noch zu übertrumpfen: nach diesem Bericht hätte er doch, scheint mir, überzeugt davon sein können, daß er hier keinen Grund mehr zur Eifersucht hatte; aber eben daraufhin verlor er den Verstand. Übrigens ist das die Art aller Eifersüchtigen! Er machte ihr eine furchtbare Szene und kränkte sie so tief, daß sie schon entschlossen war, sogleich alle Beziehungen zu ihm abzubrechen.

Sie kam trotzdem noch halbwegs gefaßt nach Hause, konnte es aber vor Mama doch nicht verheimlichen. Oh, an dem Abend traten sie sich wieder so nahe wie früher; das Eis war gebrochen; sie weinten sich selbstverständlich zusammen aus und lagen sich in den Armen, und Lisa beruhigte sich scheinbar, wenn sie auch noch sehr verstimmt blieb. Den ganzen Abend saß sie bei Makar Iwanowitsch, ohne ein Wort zu sagen, aber auch ohne das Zimmer zu verlassen. Sie hörte mit großer Aufmerksamkeit an, was er sagte. Seit der Geschichte damals mit der Fußbank begegnete sie ihm mit außerordentlicher und gleichsam schüchterner Ehrerbietung, obgleich sie immer noch schweigsam blieb.

An diesem Abend aber gab Makar Iwanowitsch dem Gespräch eine unerwartete und überraschende Wendung. Ich muß dazu bemerken, daß Wersilow und der Doktor am Morgen mit sehr sorgenvollen Gesichtern von seinem Zustande gesprochen hatten. Ich muß außerdem noch bemerken, daß im Hause seit ein paar Tagen Vorbereitungen zur Feier von Mamas Geburtstag getroffen wurden, der in fünf Tagen bevorstand, und daß häufig davon gesprochen wurde. Makar Iwanowitsch verlor sich bei Erwähnung dieses Tages auf einmal in Erinnerungen und gedachte der Kindheit Mamas und der Zeit, wo sie noch nicht hatte »auf den Füßchen stehen« können. »Sie ging mir nicht vom Arm,« erzählte der Alte, »ich weiß noch, wie ich sie gehen lehrte, ich stellte sie drei Schritte von mir in die Ecke und rief sie, und sie stolperte durchs Zimmer auf mich los und lachte und kam bis zu mir gelaufen und legte die Ärmchen um meinen Hals. Und Märchen hab' ich dir nachher erzählt, Sophia Andrejewna; meine Märchen hattest du sehr gern; gleich zwei Stunden konntest du auf meinem Schoße sitzen und zuhören. Und die Leute in der Hütte wunderten sich alle: Sieh mal, ›wie sie an Makar hängt!‹ Und dann nahm ich dich auch in den Wald mit und suchte uns einen Himbeerstrauch und setzte dich neben die Himbeeren, und ich schnitzte dir ein Pfeifchen aus Holz. So streiften wir herum, bis wir müde waren, und dann trug ich dich auf meinen Armen nach Hause, – und mein Kindchen schlief. Und einmal hast du dich so vor dem Wolf erschreckt: du kamst zu mir gelaufen und zittertest am ganzen Leibe, aber dabei war gar kein Wolf da.«

»Das weiß ich noch«, sagte Mama.

»Weißt du das wirklich noch?«

»Ich weiß noch viel. Sowie ich im Leben zum Bewußtsein gekommen bin, solange habe ich nur Liebe und Freundlichkeit von Ihnen erfahren«, sagte Mama mit ergriffner Stimme und wurde plötzlich über und über rot.

Makar Iwanowitsch schwieg eine Weile.

»Lebt wohl, Kinder, ich gehe jetzt von euch. Nun ist die Stunde gekommen, da ich vom Leben scheiden muß. In meinen alten Tagen habe ich Trost für alle meine Bitternisse gefunden; habt Dank, ihr Lieben!«

»Hören Sie doch auf, Makar Iwanowitsch, Lieber,« rief Wersilow, einigermaßen beunruhigt, »der Doktor hat mir vorhin erst gesagt, es ginge Ihnen unvergleichlich viel besser« . . .

Mama horchte erschrocken auf.

»Ach, was weiß denn der, dein Alexander Semionowitsch,« lächelte Makar Iwanowitsch, »er ist ein lieber Mensch, aber weiter nichts. Laßt das nur, liebe Freunde; oder meint ihr, ich fürchtete mich vor dem Sterben? Heute früh nach dem Morgengebet hatte ich so ein Vorgefühl im Herzen, daß ich dieses Zimmer nicht mehr verlassen werde; es ist mir gesagt worden. Nun, und was ist denn dabei? Der Name des Herrn sei gelobt! Nur an euch allen will sich mein Auge noch satt sehen. Auch Hiob, der Vielgeprüfte, gewann Trost, als er seine neuen Kinderchen ansah; aber vergaß er darum die früheren, und konnte er ihrer vergessen? Unmöglich ist dieses! Nur daß sich mit den Jahren die Trauer gleichsam mit der Freude zu einem vermischt, sich in ein freudiges Seufzen verwandelt. So ist es auf Erden: jede Seele wird geprüft und wird auch getröstet. Ich habe mir vorgenommen, euch, liebe Kinder, noch ein Wörtchen zu sagen, ein kurzes Wörtchen«, fuhr er mit einem stillen, schönen Lächeln fort, das ich nie vergessen werde, und wendete sich plötzlich zu mir: »Lieber Freund, du eifre für die heilige Kirche, und wenn die Zeit kommt und du berufen wirst, – geh auch in den Tod für sie; aber sei ruhig, erschrick nicht, es muß nicht gleich sein«, lächelte er. »Heute denkst du vielleicht nicht daran, später wirst du vielleicht daran denken. Und dann noch eines: was du Gutes zu tun gedenkest, das tue um Gottes willen, und nicht aus Mißgunst. An deinem Werke halte fest, und laß dich nicht von Kleinmut übermannen; vollbringe es allmählich, ohne Hast und ohne Rast; das ist dann auch alles, was du brauchst. Nur eins noch: gewöhne dich daran, täglich zu beten und ohne Unterlaß. Ich sage dir das nur so, vielleicht gedenkst du dessen einmal. – Auch Ihnen, Andrej Petrowitsch, wollte ich etwas sagen, Herr, aber Gott wird auch ohne mich Ihr Herz zu finden wissen. Seit lange haben wir nicht mehr davon gesprochen, seit damals, als dieses Schwert durch mein Herz ging. Jetzt aber, da ich Abschied nehme, will ich Sie nur daran erinnern . . . was Sie mir damals versprochen haben . . .«

Die letzten Worte flüsterte er beinahe, mit gesenkten Lidern.

»Makar Iwanowitsch!« stieß Wersilow verlegen hervor und erhob sich von seinem Stuhle.

»Nein, nein, Herr, quälen Sie sich nicht, ich wollte Sie nur daran erinnern . . . Schuldig aber vor Gott bin in dieser Sache vor allen andern ich; denn wenn Sie auch mein Herr waren, so hätte ich doch dieser Schwachheit nicht nachgeben dürfen. Und darum, Sophia, quäle auch du dein Herz nicht zu sehr, weil deine ganze Sünde auf mich fällt; und du, denke ich mir, hast damals schwerlich genug Verstand gehabt, und Sie, Herr, vielleicht nicht mehr als sie,« lächelte er, und seine Lippen erzitterten unter einer Art von Schmerz, »und wenn ich dich damals auch hätte unterweisen können als mein Weib, und sogar mit dem Stock, und wenn ich das auch hätte tun müssen, so tatest du mir doch leid, wie du in Tränen vor mir niederfielst und mir nichts verhehltest . . . die Füße küßtest du mir. Nicht dir zum Vorwurf spreche ich davon, Geliebte, sondern nur, um Andrej Petrowitsch daran zu erinnern . . . denn, Herr, Sie selber erinnern sich ja noch Ihres Edelmannswortes, und die Brautkrone deckt alles zu . . . Vor Ihren Kindern sage ich das, Herr und Freund . . .«

Er war außerordentlich erregt und sah Wersilow an, als erwarte er ein Wort der Bestätigung von ihm. Ich sage es noch einmal: das alles kam so überraschend, daß ich dasaß, ohne mich zu rühren. Wersilow war wirklich nicht weniger erregt als er: er ging schweigend zu Mama hinüber und umarmte sie herzlich; und dann ging Mama, gleichfalls schweigend, zu Makar Iwanowitsch hinüber und verneigte sich vor ihm bis zur Erde.

Kurz, es war eine erschütternde Szene; es war diesmal nur die Familie im Zimmer, selbst Tatjana Pawlowna war nicht da. Lisa hatte sich auf ihrem Stuhle so eigentümlich gerade aufgerichtet und schweigend zugehört; auf einmal stand sie auf und sagte mit fester Stimme:

»Segnen Sie auch mich, Makar Iwanowitsch, für einen schweren Leidensgang. Morgen entscheidet sich mein ganzes Schicksal . . . und heute beten Sie für mich!«

Und damit ging sie aus dem Zimmer. Ich weiß, daß Makar Iwanowitsch schon ihre ganze Geschichte von Mama erfahren hatte. Aber ich sah an diesem Abend zum ersten Male Wersilow und Mama zusammen, vorher hatte ich neben ihm immer nur seine Dienerin gesehen. Ich hatte schrecklich viel an diesem Menschen noch nicht gesehen und nicht bemerkt, und hatte doch schon über ihn abgeurteilt. Deshalb kehrte ich in großer Verwirrung in mein Zimmer zurück. Und ich muß sagen: eben um diese Zeit verdichteten sich alle meine Zweifel über ihn; noch nie war er mir so geheimnisvoll und rätselhaft erschienen, wie eben zu dieser Zeit; aber davon handelt ja die ganze Geschichte, die ich hier niederschreibe; also alles zu seiner Zeit.

»Aber,« dachte ich damals bei mir, als ich zu Bett ging, »er hat also Makar Iwanowitsch sein ›Edelmanswort‹ gegeben, daß er Mama heiraten wolle, wenn sie Witwe würde. Das hat er mir verschwiegen, wenn er mir früher von Makar Iwanowitsch erzählte.«

Am nächsten Tage war Lisa den ganzen Tag nicht daheim, und als sie dann ziemlich spät nach Hause kam, ging sie direkt zu Makar Iwanowitsch hinein. Ich wollte zuerst nicht hinübergehen, um sie nicht zu stören, bemerkte aber bald, daß auch Mama und Wersilow schon drinnen waren, und ging hinüber. Lisa saß neben dem Alten und weinte, den Kopf an seine Schulter gelehnt, und er machte ein trauriges Gesicht und streichelte ihr den Kopf.

Wersilow erklärte mir (nachher, als ich wieder in meinem Zimmer war), daß der Fürst auf seinem Kopfe bestand und sich mit Lisa bei der ersten möglichen Gelegenheit trauen lassen wollte, noch vor dem Urteilsspruch des Gerichtes. Lisa fiel es schwer, sich dazu zu entschließen, obgleich sie kaum noch das Recht hatte, sich nicht dazu zu entschließen. Und auch Makar Iwanowitsch hatte ihr »befohlen«, sich trauen zu lassen. Selbstverständlich wäre das alles später ganz von selbst gekommen, und sie hätte sich sicherlich selber trauen lassen, auch ohne Befehle und ohne Schwanken, aber in diesem Augenblick war sie von dem Manne, den sie liebte, so tief gekränkt und durch diese Liebe selbst in ihren eigenen Augen so erniedrigt, daß ihr der Entschluß schwerfiel. Aber außer dieser Kränkung spielte hier noch ein neuer Umstand mit, von dem ich nichts ahnen konnte.

»Hast du gehört, daß alle diese jungen Leute von der Petersburger Seite gestern verhaftet worden sind?« fragte mich Wersilow plötzlich.

»Was? Dergatschow?« schrie ich auf.

»Ja; und Wasin auch.«

Ich war höchst verblüfft, besonders durch die Nachricht von Wasins Verhaftung.

»Ja, ist er denn wirklich in irgend etwas verwickelt? Du lieber Gott, wie wird es ihnen jetzt ergehen? Und ausgerechnet in demselben Augenblick, da Lisa solche Anklagen gegen Wasin erhebt! . . . Was meinen Sie, wie es ihnen jetzt ergehen wird? Dabei hat Stebelkow die Hand im Spiele! Ich möchte darauf schwören, daß Stebelkow damit zu tun hat!«

»Lassen wir das!« sagte Wersilow und sah mich mit einem sonderbaren Blick an (wie man einen Menschen ansieht, der nichts begreift und nichts errät), »wer weiß denn, was sie eigentlich haben, und wer kann wissen, wie es ihnen ergehen wird? Darüber wollte ich auch gar nicht mit dir sprechen: ich höre, du willst morgen ausgehen! Willst du nicht einmal Fürst Sergej Petrowitsch einen Besuch machen?«

»Das ist mein erster Weg; freilich, ich gestehe offen: mir fällt das ziemlich schwer. – Und . . . soll ich ihm etwas ausrichten von Ihnen?«

»Nein. Ich werde ihn selber sehen. Mir tut nur Lisa leid. Und was für Ratschläge kann ihr Makar Iwanowitsch geben? Er hat ja selber gar keinen Begriff von den Menschen und vom Leben. Und dann wollte ich dir noch eins sagen, lieber Freund (er hatte schon lange nicht mehr ›lieber Freund‹ zu mir gesagt), da sind noch so . . . ein paar junge Leute . . . einer davon ist dein früherer Schulkamerad Lambert . . . Ich glaube, das sind alles – große Halunken . . . Ich sage das nur, um dich zu warnen . . . Übrigens ist das natürlich durchaus deine Sache, und ich sehe vollkommen ein, daß ich nicht das Recht habe . . .«

»Andrej Petrowitsch!« – ich ergriff seine Hand, ohne Überlegung und fast hingerissen, was mir so oft passiert (es war fast dunkel im Zimmer), »Andrej Petrowitsch, ich habe geschwiegen, – Sie haben es ja doch bemerkt, daß ich die ganze Zeit bis jetzt geschwiegen habe: und wissen Sie, warum? Um Ihren Geheimnissen aus dem Wege zu gehen. Ich habe geradezu beschlossen, sie niemals kennenzulernen. Ich bin feige, ich fürchte mich davor, daß Ihre Geheimnisse Sie ganz aus meinem Herzen reißen könnten, und das will ich nicht. Und wenn das so ist, wozu wollen Sie meine Geheimnisse wissen? Es kann Ihnen doch auch ganz gleich sein, wohin ich gehe! Nicht wahr?«

»Du hast ganz recht; aber jetzt kein Wort mehr davon, ich bitte dich!« sagte er und verließ das Zimmer. Auf diese Weise hatten wir uns ganz unverhofft doch ein klein wenig ausgesprochen. Aber er hatte meine Erregung vor meinem neuen Schritt ins Leben, den ich morgen tun wollte, nur noch verstärkt, so daß ich die ganze Nacht fortwährend aus dem Schlafe auffuhr; aber mir war wohl zumute.

 

3

Am nächsten Tage verließ ich das Haus, und obgleich das um zehn Uhr vormittags geschah, bemühte ich mich nach Kräften, leise zu gehen, ohne Abschied zu nehmen oder es jemand mitzuteilen: ich brannte sozusagen heimlich durch. Warum ich das tat, weiß ich nicht; aber selbst wenn Mama gesehen hätte, daß ich ausging, und mich angeredet hätte, so hätte ich ihr mit irgendeiner Bosheit geantwortet. Als ich mich auf der Straße befand und im Freien die kalte Luft einatmete, da erzitterte ich nur so von einer ganz starken Empfindung, die fast tierisch war, und die ich fleischhungrig nennen möchte. Warum ging ich da, und wohin ging ich? Das war ganz unbestimmt und zugleich fleischhungrig. Und mir grauste, und ich freute mich zu gleicher Zeit.

»Werde ich mich heute beschmutzen oder werde ich mich nicht beschmutzen?« fragte ich mich unternehmend, obschon ich nur zu gut wußte, daß der heutige Schritt, wenn er einmal getan war, entscheidend und mein Leben lang nicht wieder gutzumachen sein würde. Aber es hat nicht den geringsten Zweck, hier in Rätseln zu sprechen.

Ich ging direkt ins Gefängnis zum Fürsten. Ich hatte schon seit drei Tagen einen Brief von Tatjana Pawlowna an den Aufseher, und der empfing mich mit größter Liebenswürdigkeit. Ich weiß nicht, ob er ein guter Mensch ist, und das kommt hier, glaube ich, auch nicht in Betracht; jedenfalls gestattete er die Zusammenkunft zwischen mir und dem Fürsten und räumte uns dazu freundlich sein Zimmer ein. Das Zimmer war an sich ein ganz gewöhnliches Zimmer, wie es in der Amtswohnung eines Beamten von dieser Rangstufe ist, – ich finde, auch das brauche ich hier nicht näher zu beschreiben. Also, ich blieb mit dem Fürsten allein.

Er trug eine Art halbmilitärisches Hauskostüm, dabei aber tadellos saubere Wäsche und eine stutzerhafte Krawatte, er war gewaschen und wohlfrisiert, aber gleichzeitig war er furchtbar mager geworden und hatte eine ganz gelbe Hautfarbe! Diese gelbe Farbe fand ich sogar in seinen Augen! Kurz, er hatte sich äußerlich so verändert, daß ich stehenblieb und beinah zweifelte, ob er es wirklich wäre.

»Wie Sie sich verändert haben!« rief ich.

»Macht nichts! Setzen Sie sich, lieber Freund«, sagte er und wies mit affektierter Handbewegung auf einen Stuhl; er selber setzte sich mir gegenüber. »Kommen wir zur Hauptsache: sehen Sie, mein lieber Alexej Makarowitsch . . .«

»Arkadij«, korrigierte ich ihn.

»Was? Ach so; na ja, das ist doch ganz gleich. Ach so,« sagte er plötzlich, »entschuldigen Sie, lieber Freund, kommen wir zur Hauptsache . . .«

Kurz, er hatte es fürchterlich eilig, das Gespräch auf etwas zu bringen. Er war ganz von irgend etwas erfüllt, vom Kopf bis zu den Füßen, von irgendeinem beherrschenden Gedanken, den er durchaus formulieren und mir mitteilen wollte. Er sprach schrecklich viel und schrecklich schnell und suchte mir angestrengt und ungeduldig etwas klarzumachen, wobei er heftig gestikulierte; aber in den ersten Minuten verstand ich einfach kein Wort davon.

»Um es kurz zu fassen –« (er hatte vorher schon mindestens zehnmal die Phrase »um es kurz zu fassen« gebraucht) – »um es kurz zu fassen,« sagte er schließlich, »wenn ich Sie, Arkadij Makarowitsch, bemüht habe und Sie gestern durch Lisa so dringend habe herbitten lassen, so sieht das vielleicht gar zu alarmierend aus, aber da dieser Entschluß in Wahrheit außerordentlich wichtig ist und endgültig sein muß, so müssen wir . . .«

»Gestatten Sie, Fürst,« unterbrach ich ihn, »Sie haben mich gestern herbitten lassen? Lisa hat mir kein Wort davon gesagt.«

»Was?« schrie er und war ganz starr, ja beinahe erschrocken.

»Sie hat mir kein Wort davon gesagt. Sie kam gestern abend so tief in Gedanken nach Hause, daß sie überhaupt kein Wort mit mir gesprochen hat.«

Der Fürst sprang von seinem Stuhle auf.

»Ist das wirklich wahr, Arkadij Makarowitsch? Ja, dann ist . . . dann ist ja . . .«

»Ja, was finden Sie denn daran so auffällig? Warum beunruhigt Sie das so? Sie hat es einfach vergessen, oder aber . . .«

Er setzte sich, aber er war wie zur Salzsäule geworden. Die Nachricht, daß Lisa mir nichts mitgeteilt hatte, schien ihn einfach zerschmettert zu haben. Er fing plötzlich wieder hastig zu sprechen an und gestikulierte wieder mit den Händen, war aber auch jetzt nur sehr schwer zu verstehen.

»Halt!« sagte er auf einmal, verstummte einen Augenblick und hob einen Finger in die Höhe. »Halt . . . das . . . das . . . wenn ich mich nicht irre . . . ist das ein Winkelzug!« murmelte er mit dem Lächeln eines Verrückten, – »und das soll also heißen . . .«

»Das heißt einfach gar nichts!« fiel ich ihm ins Wort, »ich begreife überhaupt nicht, wie ein so ganz gleichgültiger Umstand Sie so quälen kann . . . Ach, Fürst, seit damals, seit jener Nacht, – wissen Sie noch?«

»Was, und seit was für einer Nacht?« rief er eigensinnig, sichtlich wütend, daß ich ihn unterbrochen hatte.

»Damals bei Serstschikow, wo wir zum letztenmal beisammen waren, damals, bevor Sie mir den Brief schrieben. Sie waren auch damals furchtbar aufgeregt, aber damals und jetzt, – das ist solch Unterschied, daß ich ordentlich Angst für Sie bekomme . . . Oder wissen Sie es nicht mehr?«

»Ach ja«, sagte er im Tone des Weltmannes, und als ob es ihm plötzlich wieder einfiele. »Ach ja! Der Abend . . . Ich hab' davon gehört . . . Na, und wie geht's Ihnen denn jetzt, und wie befinden Sie selber sich denn jetzt nach dem allen, Arkadij Makarowitsch? . . . Aber kommen wir zur Hauptsache! Ich, müssen Sie wissen, habe eigentlich drei Dinge im Auge; ich sehe drei Aufgaben vor mir, und ich . . .«

Er begann wieder hastig von seiner »Hauptsache« zu sprechen. Ich begriff schließlich, daß ich einen Menschen vor mir hatte, dem man zum wenigsten sofort ein mit Essig getränktes Handtuch hätte um den Kopf legen müssen, wenn nicht ein Aderlaß eher am Platze gewesen wäre. Sein ganzes unzusammenhängendes Gerede drehte sich selbstverständlich um seinen Prozeß, und wie der wohl ausgehen würde; er erzählte auch etwas davon, daß sein Regimentskommandeur ihn persönlich aufgesucht und ihm lange von etwas abgeraten hätte, aber er hätte nicht darauf gehört, – es handelte sich um ein Schreiben, das er irgend jemand eben erst eingereicht hatte, – und das irgendwie mit dem Staatsanwalt zusammenhing; er sprach auch davon, daß er wahrscheinlich unter Verlust der Ehrenrechte irgendwohin nach den nördlichsten Gegenden Rußlands verschickt werden würde; er sprach von der Möglichkeit, Kolonist in Taschkent zu werden und sich dort heraufzuarbeiten, und davon, wie er seinem Sohne (dem künftigen Sohne von Lisa) allerlei Lehren geben und ihm dies und das auf den Lebensweg mitgeben würde, »da, in der Einsamkeit, in Archangelsk, in Cholmogory«. – »Wenn ich Sie nach Ihrer Meinung fragen wollte, Arkadij Makarowitsch, so seien Sie versichert, ich lege so viel Wert auf dieses Gefühl . . . Wenn Sie wüßten, wenn Sie wüßten, Arkadij Makarowitsch, lieber Freund, lieber Bruder, was Lisa für mich bedeutet, was sie mir hier, jetzt, die ganze Zeit bedeutet hat!« rief er auf einmal und griff sich mit beiden Händen an seinen Kopf.

»Sergej Petrowitsch, wollen Sie sie denn wirklich zugrunde richten und sie dahin mitnehmen? . . . Nach Cholmogory!« fuhr es mir heraus, ich konnte es nicht zurückhalten. – Lisas Schicksal – ihr Leben lang Seite an Seite mit diesem Wahnsinnigen – kam mir auf einmal klar und gewissermaßen zum erstenmal zu Bewußtsein. Er sah mich an, stand abermals auf, machte ein paar Schritte, kehrte um und setzte sich wieder, den Kopf die ganze Zeit zwischen die Hände gepreßt.

»Mir träumt immer von Spinnen!« sagte er plötzlich.

»Sie sind schrecklich aufgeregt, Fürst; ich würde Ihnen raten, sich gleich ins Bett zu legen und den Doktor holen zu lassen.«

»Nein, erlauben Sie mal, das kommt später. Ich habe Sie hauptsächlich deshalb zu mir gebeten, um mich mit Ihnen über die Trauung auszusprechen. Die Trauung, müssen Sie wissen, findet hier in der Gefängniskirche statt, ich habe alles schon besprochen. Die Erlaubnis ist schon erteilt, und man redet mir sogar zu . . . Und was Lisa angeht, so . . .«

»Fürst,« rief ich, »haben Sie doch Mitleid mit Lisa, lieber Freund; quälen Sie sie doch nicht, wenigstens jetzt nicht, plagen Sie sie nicht mit Ihrer Eifersucht!«

»Was!« schrie er auf, sah mich mit Augen an, die beinahe herausspringen wollten und verzerrte das ganze Gesicht zu einem breiten, sinnlos fragenden Lächeln. Ich sah, daß das Wort »Eifersucht« ihn aus irgendeinem Grunde ungeheuer überrascht hatte.

»Entschuldigen Sie, Fürst, das fuhr mir nur so heraus. Oh, Fürst, ich habe in der letzten Zeit einen alten Mann kennengelernt, meinen nominellen Vater . . . Oh, wenn Sie ihn sehen könnten, Sie würden ruhiger werden . . . Lisa hält auch so große Stücke auf ihn.«

»Ach ja, Lisa . . . ach ja, das ist Ihr Vater? Oder . . . pardon, mon cher, so etwas in der Art . . . Ich weiß wohl . . . sie hat es mir erzählt . . . ein alter Mann . . . Ich bin überzeugt davon, ich bin überzeugt davon. Ich hab' auch einen alten Mann gekannt . . . Mais passons; um sich das innere Wesen des Augenblicks klarzumachen, ist es die Hauptsache, daß man . . .«

Ich stand auf, um zu gehen. Mir tat es weh, ihn so zu sehen.

»Ich verstehe nicht!« sagte er vorwurfsvoll und mit wichtiger Miene, als er sah, daß ich aufbrechen wollte.

»Es tut mir weh, Sie zu sehen«, sagte ich.

»Arkadij Makarowitsch, ein Wort! Nur noch ein Wort!« Er ergriff mich plötzlich bei den Schultern, mit einem ganz andern Gesicht und andern Bewegungen und drückte mich auf den Stuhl nieder. Dann beugte er sich zu mir herunter. »Haben Sie schon die Sache von jenen Leuten gehört? Sie wissen schon?«

»Ach ja: Dergatschow! Da ist wahrscheinlich Stebelkow im Spiel!« rief ich unbesonnen.

»Ja, Stebelkow und . . . Sie wissen noch nichts?«

Er brach ab und starrte mich wieder mit Augen an, die ihm beinah aus dem Kopf sprangen, und mit demselben breiten, zitternden, sinnlos fragenden Lächeln, das langsam breiter und breiter wurde. Sein Gesicht wurde von Minute zu Minute bleicher. Auf einmal schüttelte er mich gleichsam: mir fiel der eigentümliche Blick ein, mit dem Wersilow mich gestern angesehen hatte, als er mir Wasins Verhaftung mitteilte.

»Ist es denn möglich?« schrie ich erschrocken auf.

»Sehen Sie, Arkadij Makarowitsch, eben deshalb habe ich Sie herbitten lassen, um Ihnen das zu erklären . . . ich wollte . . .« flüsterte er hastig.

»Sie haben Wasin denunziert«, schrie ich auf.

»Nein; sehen Sie, da war ein Manuskript. Wasin hatte es Lisa gerade vor jenem letzten Tage übergeben . . . zur Aufbewahrung. Und sie hat es mir hier gelassen, weil ich es durchsehen wollte, und dann kam die Sache, daß sie sich am nächsten Tage verzankten . . .«

»Sie haben das Manuskript der Staatsanwaltschaft ausgeliefert!«

»Arkadij Makarowitsch! Arkadij Makarowitsch!«

»Also, das haben Sie getan,« schrie ich, jede Silbe einzeln betonend, und sprang auf, »das haben Sie getan, ohne irgendeinen andern Beweggrund, ohne irgendeinen andern Zweck, einzig und allein darum, weil der unglückliche Wasin Ihr Nebenbuhler ist; lediglich aus Eifersucht haben Sie das Manuskript, das Lisa anvertraut war, ausgeliefert . . . und wem ausgeliefert? Wem? Dem Staatsanwalt?«

Aber er hatte keine Zeit, darauf zu erwidern, und er hätte mir auch schwerlich etwas erwidert, denn er stand vor mir wie ein Götzenbild, immer noch mit demselben krankhaften Lächeln und demselben starren Blick; aber plötzlich ging die Tür auf, und Lisa trat ein. Sie wäre fast in Ohnmacht gefallen, als sie uns beisammen sah.

»Du bist hier? Du bist also hier?« schrie sie mit plötzlich verzerrtem Gesicht und ergriff mich an den Armen, – »also . . . weißt du?«

Aber sie hatte es schon in meinem Gesicht gelesen, daß ich »wußte«. Ich umarmte sie schnell, ich konnte nicht anders, und hielt sie fest, fest! Und erst jetzt zum ersten Male durchdrang es mich mit ganzer Gewalt, was für ein unentrinnbarer, unendlicher, hoffnungsloser Kummer für ewig über dem Lose dieser . . . freiwilligen Märtyrerin lag.

»Ja, kann man denn jetzt überhaupt mit ihm reden?« rief sie und riß sich plötzlich aus meinen Armen los. »Kann man ihn denn besuchen? Warum bist du hier? Sieh ihn doch nur an, nur ansehn sollst du ihn! Und kann man ihn, kann man ihn verurteilen?«

Unendliches Leid und unendliches Mitleid sprachen aus ihrem Gesichte, als sie das ausrief und dabei auf den Unglücklichen deutete. Er saß in seinem Stuhle, die Hände vors Gesicht geschlagen. Und sie hatte recht; das war ein Mensch im Delirium, der für nichts verantwortlich zu machen war. Er wurde noch an demselben Morgen ins Lazarett gebracht, und am Abend hatte er schon eine Gehirnentzündung.

 

4

Vom Fürsten, den ich in Lisas Gesellschaft zurückließ, fuhr ich – es war gegen ein Uhr nachmittags – in meine frühere Wohnung. Ich habe zu erwähnen vergessen, daß es ein feuchter, trüber Tag war: beginnendes Tauwetter und ein warmer Wind, der selbst einen Elefanten hätte nervös machen können. Mein Wirt empfing mich mit lebhaften Freudenbezeigungen, mit einem Schwall von Worten und Gebärden, was ich gerade in solchen Augenblicken für den Tod nicht ausstehen kann. Ich begrüßte ihn trocken und ging direkt in mein Zimmer, aber er folgte mir, und wenn er mich auch nicht auszufragen wagte, so waren doch seine Augen ganz blank vor Neugier; und dazu machte er noch ein Gesicht wie einer, der überhaupt schon ein gewisses Recht darauf hatte, neugierig zu sein. Ich mußte schon in meinem eignen wohlverstandenen Interesse höflich gegen ihn sein: aber obgleich ich ganz unbedingt etwas von ihm erfahren mußte (und ich wußte, was ich erfahren würde), ging es mir doch gegen die Natur, ihn auszufragen. Ich erkundigte mich nach dem Befinden seiner Frau, und wir gingen zu ihr hinüber. Sie empfing mich zwar höflich, tat aber doch außerordentlich beschäftigt und wortkarg; das versöhnte mich einigermaßen. Um es kurz zu machen, ich erfuhr bei diesem Besuche die wunderlichsten Dinge.

Selbstverständlich war Lambert dagewesen, aber nachher war er noch zweimal gekommen und hatte »sich alle Zimmer angesehen«, unter dem Vorgeben, daß er vielleicht eins mieten wolle. Darja Onisimowna war ein paarmal dagewesen; was die gewollt hatte, mochte wahrhaftig der liebe Gott wissen. »Sie war auch sehr neugierig,« fügte mein Wirt hinzu; – aber ich machte ihm nicht die Freude, ihn zu fragen, worauf sich ihre Neugier bezogen hätte. Überhaupt fragte ich ihn nicht aus, sondern er sprach ganz von selber, und ich tat derweile, als kramte ich in meinem Handkoffer (in dem auch richtig fast nichts mehr war). Das ärgerlichste aber war, daß er gleichfalls den Geheimnisvollen zu spielen versuchte: als er bemerkte, daß ich mich aller Fragen enthielt, fühlte er sich verpflichtet, immer lakonischer und fast in Rätseln zu sprechen.

»Das Fräulein war auch da«, sagte er und sah mich mit einem sonderbaren Blick an.

»Welches Fräulein?«

»Anna Andrejewna; zweimal war sie da; sie hat Bekanntschaft mit meiner Frau gemacht. Sie ist eine reizende Dame, sehr nett. Auf so eine Bekanntschaft darf man sich etwas einbilden, Arkadij Makarowitsch . . .« Und als er das gesagt hatte, machte er sogar einen Schritt auf mich zu: es lag ihm eben sehr viel daran, daß ich ihn verstünde.

»Wirklich zweimal?«, fragte ich verwundert.

»Das zweitemal war sie mit ihrem Bruder da.«

»Also mit Lambert«, dachte ich unwillkürlich.

»Nein, nicht mit Herrn Lambert«, sagte er und erriet sofort, was ich meinte, als könne er mit seinen Augen in meinem Innern lesen. »Nein, mit ihrem richtigen Bruder, mit dem jungen Herrn Wersilow. Er ist Kammerjunker, glaube ich?«

Ich war sehr verblüfft; er sah mich an und lächelte furchtbar freundlich.

»Ach ja, und wissen Sie, wer noch da war und nach Ihnen gefragt hat – dieses Fräulein, die Französin, Mamsell Alphonsina de Verdaigne. Nein, wie schön die singt; und Verse deklamieren kann sie auch wundervoll. Sie ist damals ganz im stillen zu Fürst Nikolaj Iwanowitsch hinausgefahren, nach Zarskoje, sie sagte, sie wollte ihm einen seltenen kleinen Hund verkaufen, so einen schwarzen, bloß so groß wie meine Faust.«

Ich bat ihn, mich allein zu lassen, und schützte Kopfweh vor. Er erfüllte meinen Wunsch sofort und sprach sogar seinen Satz nicht zu Ende; dabei war er nicht im geringsten empfindlich, sondern er ging sogar mit Vergnügen und machte dazu eine geheimnisvolle Handbewegung, als wolle er sagen:

»Ich versteh' schon, ich versteh' schon!« Und wenn er das auch nicht sagte, so machte er sich doch das Vergnügen, das Zimmer auf Zehenspitzen zu verlassen. Es gibt schon Leute auf dieser Welt, über die man sich recht ärgern kann.

So saß ich anderthalb Stunden allein und dachte nach; das heißt, eigentlich dachte ich wohl nicht nach, sondern war nur in Gedanken. Wenn ich auch erregt war, so war ich dafür nicht im geringsten verwundert. Ich hatte sogar noch mehr erwartet, noch größere Wunder. »Na, vielleicht haben sie die jetzt auch schon zustande gebracht«, dachte ich in meinem Sinn. Ich war, und zwar seit lange, schon als ich noch zu Hause gewesen war, fest davon überzeugt, daß ihre Maschine in Gang gesetzt und jetzt schon im vollen Laufe wäre. »Nur ich fehle ihnen noch«, dachte ich mir abermals und verspürte dabei das Gefühl einer aufregenden und wollüstigen Selbstzufriedenheit. Daß sie mich mit der größten Sehnsucht erwarteten, und daß sie in meiner Wohnung irgend etwas anzetteln wollten, das war so klar wie die Sonne. »Ob es nicht am Ende gar die Trauung des alten Fürsten ist? Um ihn dreht sich ja die ganze Treibjagd. Es ist nur die Frage, ob ich das zugebe, meine Herrschaften!« sagte ich zuletzt wieder mit wollüstigem Selbstbewußtsein zu mir.

»Aber wenn ich erst anfange, werde ich sofort wieder in den Wirbel gerissen wie ein Strohhalm. Bin ich denn jetzt, in diesem Augenblick, noch frei, oder bin ich nicht mehr frei? Kann ich, wenn ich heute abend zu Mama heimkomme, noch zu mir sagen, was ich alle diese Tage gesagt habe: ›Ich bin ganz für mich‹?«

Das ist der Extrakt meiner bangen Fragen oder, besser gesagt, meines Herzklopfens, während ich so anderthalb Stunden in der Ecke auf meinem Bette saß, die Ellbogen auf die Knie gestützt, den Kopf in den Händen. Aber ich wußte es ja doch, ich wußte auch damals schon, daß alle diese Fragen das dümmste Zeug waren, und daß nur sie mich zog, – sie, und sie ganz allein! Endlich einmal habe ich das geradeheraus gesagt und mit der Feder auf dieses Blatt Papier geschrieben; denn selbst heute noch, wo ich dieses niederschreibe, ein Jahr später, weiß ich nicht, welchen Namen ich meinem damaligen Gefühle geben soll!

O gewiß, Lisa tat mir leid, und in meinem Herzen lebte ein ungeheuchelter Schmerz um sie! Und eben dieses Schmerzgefühl um sie war das einzige, glaube ich, was die Kraft hatte, wenigstens zeitweise den Fleischhunger (ich wähle wieder dieses Wort) in mir zu beruhigen oder wegzuwischen. Aber mich riß eine maßlose Neugier und eine Art Grauen fort und noch ein gewisses Gefühl, – ich weiß nicht, was für eins; aber ich weiß, und das wußte ich auch damals schon, daß es kein gutes Gefühl war. Vielleicht lechzte ich danach, ihr zu Füßen zu fallen, aber vielleicht wollte ich sie auch allen Qualen überliefern und ihr »sofort, sofort« irgend etwas beweisen. Kein Schmerz um Lisa, kein Mitleid mit Lisa konnte mich mehr aufhalten. Nun, hätte ich da wohl aufstehen und heimgehen können . . . zu Makar Iwanowitsch?

»Aber kann ich denn nicht einfach zu ihnen hingehen und alles erkunden und dann auf einmal für immer von ihnen gehen, an allen Wundern und Ungeheuern unbeschädigt vorbeigehen?«

Um drei Uhr raffte ich mich auf und sagte mir, daß ich mich schon beinahe verspätet hätte; ich ging hastig hinaus, nahm eine Droschke und fuhr zu Anna Andrejewna.

 


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