Fjodor Michailowitsch Dostojewski
Ein Werdender - Zweiter Band
Fjodor Michailowitsch Dostojewski

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Drittes Kapitel

1

Nach drei Tagen stand ich in der Frühe aus dem Bette auf und fühlte, als ich auf den Füßen war, plötzlich, daß ich mich nicht mehr hinlegen würde. Ich empfand mit Macht, daß die Genesung nahe war. Es wäre vielleicht nicht der Mühe wert, alle diese kleinen Einzelheiten aufzuzeichnen, aber mit diesem Morgen begannen ein paar Tage, an denen sich zwar nichts Besonderes ereignete, die mir aber alle als etwas Tröstliches, Ruhiges im Gedächtnis geblieben sind; und das ist eine Seltenheit in meinen Erinnerungen. Meinen Seelenzustand will ich fürs erste nicht formulieren; wenn der Leser erführe, wie er war, würde er es sicherlich nicht glauben. Das wird sich nachher alles besser aus den Tatsachen erklären. Und fürs erste will ich nur das eine sagen: der Leser soll die Spinnenseele nicht vergessen. Und die beherbergte der Mensch, der sich von ihnen allen und der ganzen Welt im Namen der »Vornehmheit« zurückziehen wollte! Der Durst nach Vornehmheit lebte natürlich im höchsten Grade in mir, und das ist ja ganz selbstverständlich, aber wie er es fertigbrachte, mit Gott weiß was für andern »Dürsten« in mir zusammen zu hausen – das bleibt ein Rätsel für mich. Und das ist mir auch immer ein Rätsel gewesen, und ich habe mich tausendmal über diese Fähigkeit des Menschen (und, ich glaube, des Russen im besondern) gewundert, daß er in seinem Herzen das höchste Ideal neben der tiefsten Gemeinheit zu hegen vermag, und das alles bei vollkommenster Ehrlichkeit. Ist dies nun eine besondre Vorurteilslosigkeit bei den Russen, die sie zu Hohem berufen erscheinen läßt, oder ist es nur ganz gewöhnliche Gemeinheit – das ist die Frage!

Aber genug davon! So oder so, jedenfalls trat eine Windstille ein. Ich hatte einfach eingesehen, daß ich um jeden Preis gesund werden müßte, und zwar so bald wie möglich, um so bald wie möglich handeln zu können, und deshalb beschloß ich, hygienisch und nach den Anordnungen des Doktors zu leben (mochte der sein, wer er wollte); und meine stürmischen Pläne verschob ich mit außerordentlicher Vernünftigkeit (einer Frucht jener Vorurteilslosigkeit) auf den Tag, wo ich zum erstenmal ausgehen würde, das heißt, auf meine Genesung. Auf welche Weise es meine friedlichen Eindrücke und Freuden vermochten, in dieser Windstille mit den qualvoll süßen, erregten Schlägen meines Herzens zusammen zu hausen, die von dem Vorgefühl meiner stürmischen Pläne geweckt wurden – das weiß ich nicht, ich schreibe das aber auch wieder der »Vorurteilslosigkeit« zu. Aber die Unruhe, die ich früher und noch vor kurzem empfunden hatte, war von mir gewichen; ich hatte alles auf einen gewissen Zeitpunkt verschoben, ich zitterte nicht mehr vor dem, was kommen mußte, wie noch vor kurzem, sondern hatte das Gefühl eines reichen Mannes, der seiner Mittel und seiner Kraft sicher ist. Meine Anmaßung und die herausfordernde Sicherheit gegenüber dem Schicksal, das mir bevorstand, wurde größer und größer, und ich denke mir: das kam teilweise schon von der wirklichen Genesung und den schnell wiederkehrenden Lebenskräften. Und eben dieser wenigen Tage der endgültigen und wirklichen Genesung gedenke ich heute noch mit großem Genusse.

Oh, sie hatten mir alles verziehen, ich meine, meinen Ausfall; und das hatten dieselben Leute getan, deren Anblick ich ihnen ins Gesicht für eine Scheußlichkeit erklärt hatte! Das liebe ich an den Menschen, das nenne ich den Verstand des Herzens; jedenfalls zog mich das gleich wieder zu ihnen hin, natürlich nur bis zu einem gewissen Grade. Wersilow und ich zum Beispiel sprachen auch weiterhin miteinander, als wären wir die intimsten Bekannten, aber nur bis zu einer gewissen Grenze: sobald die Mitteilsamkeit zu groß werden wollte (und sie wollte das manchmal), verschlossen wir uns alle beide sogleich wieder, als wenn wir uns ein klein wenig vor irgend etwas schämten. Es gibt Fälle, wo der Sieger sich vor dem Besiegten schämen muß, und eben deshalb, weil er die Oberhand behalten hat. Der Sieger war offenbar – ich; und ich schämte mich auch.

An jenem Morgen, als ich nach meinem Rückfall aus dem Bette aufstand, kam er zu mir herein, und da erfuhr ich aus seinem Munde zum erstenmal von der erwähnten Verabredung, die sie alle wegen Mama und Makar Iwanowitsch getroffen hatten; dabei sagte er mir auch, daß der Alte sich zwar wohler fühlte, daß der Doktor aber für nichts garantieren könne. Ich versprach ihm auch für mein Teil aus vollem Herzen, mich künftighin einer größeren Vorsicht zu befleißigen. Und als Wersilow mir damals das alles mitteilte, bemerkte ich ganz plötzlich zum erstenmal, daß auch er selber sich sehr aufrichtig für diesen alten Mann interessierte, ich meine, viel lebhafter, als man es bei einem Menschen von seiner Art hätte erwarten können. Ich merkte, daß er ihn als ein Wesen ansah, das auch ihm selber aus irgendeinem Grunde besonders teuer war, und nicht nur Mamas wegen. Mich interessierte das sogleich, ja, es setzte mich beinahe in Erstaunen, und ich bekenne offen: wenn Wersilow nicht gewesen wäre, ich hätte so mancher Eigenschaft dieses alten Mannes keine Aufmerksamkeit geschenkt oder sie nicht nach Gebühr gewürdigt. Und doch ist der Alte eine der dauerhaftesten und originellsten Erinnerungen meines Herzens geblieben.

Wersilow hatte eine gewisse Angst wegen meines Verkehrs mit Makar Iwanowitsch, das heißt also: er traute weder meinem Verstande noch meinem Taktgefühl besonders viel zu; und deshalb war er nachher sehr befriedigt, als er sah, daß auch ich manchmal imstande bin, zu begreifen, wie man sich gegenüber einem Menschen von ganz andern Begriffen und Anschauungen benehmen muß, kurz und gut, daß auch ich, wo es not tut, nachgiebig und vorurteilsfrei sein kann. Ich bekenne außerdem (und ich glaube mich dadurch nicht herunterzusetzen), daß ich in diesem Mann aus dem Volke in bezug auf manche Gefühle und Anschauungen etwas für mich ganz Neues entdeckt habe, etwas, was ich noch nicht gekannt hatte, etwas viel Klareres und Tröstlicheres, als meine eignen früheren Anschauungen über diese Dinge. Nichtsdestoweniger wäre es unmöglich gewesen, nicht manchmal außer sich zu geraten über manche reine Vorurteile bei ihm, an die er mit der empörendsten Ruhe und Sicherheit glaubte. Aber daran war natürlich bloß seine Unbildung schuld; sein Verstand war recht gut organisiert, so gut sogar, daß ich noch nie bei einem Menschen einen besser organisierten getroffen habe.

 

2

Wie ich schon weiter oben bemerkt habe, war das anziehendste an ihm seine außerordentliche Offenherzigkeit und das vollkommne Fehlen jeder Eigenliebe; dahinter verspürte man ein Herz, das fast frei war von jeder Sünde. Er hatte die »Fröhlichkeit« des Herzens und deshalb auch die wahre Vornehmheit. Das Wort »Fröhlichkeit« liebte er sehr und wendete es häufig an. Allerdings überkam ihn manchmal eine Art krankhafte Verzücktheit, eine gewisse krankhafte Rührung, – zum Teil, glaube ich, auch infolge des Fiebers, das ihn, genau genommen, diese ganze Zeit nicht verließ; jedoch für die Vornehmheit war das kein Hindernis. Es waren aber auch Kontraste in ihm: neben einer erstaunlichen Einfalt, die manchmal die Ironie in den Worten eines andern durchaus nicht bemerken wollte (oft zu meinem Ärger), – neben dieser Einfalt zeigte er oft eine gewisse pfiffige Feinheit, die am häufigsten bei den polemischen Scharmützeln zutage trat. Und er war ein großer Freund von Polemiken, führte sie aber oft nur zu sehr auf seine eigne, besondre Art. Man merkte, daß er weit in Rußland herumgekommen war, daß er viel gehört hatte, aber, ich sage es noch einmal, am meisten liebte er die Rührung und daher auch alles, was zu ihr hinführte, und liebte es daher auch, selber rührsame Geschichten zu erzählen. Überhaupt liebte er es sehr, zu erzählen. Ich habe ihn viel erzählen hören, von seinen eignen Pilgerfahrten, und auch allerhand Legenden aus dem Leben der frühesten »Glaubensstreiter«. Ich weiß hierin nicht Bescheid, aber ich denke mir, er wird bei diesen Legenden viel aus eignem hinzugetan haben; kannte er sie doch größtenteils nur aus der mündlichen Wiedergabe einfacher Leute. Manche Dinge, die er erzählte, konnte man einfach nicht ruhig hinnehmen. Aber neben augenscheinlichen Verdrehungen oder aufgelegten Lügengeschichten tauchte immer wieder ein erstaunliches Rundes und Ganzes auf, das erfüllt war von volkstümlichem Gefühl und immer rührend war . . . Mir ist zum Beispiel von diesen Geschichten eine lange Geschichte im Gedächtnis geblieben – das »Leben Mariä in Ägyptenland«. Von dieser Legende, wie von fast allen ähnlichen Legenden, hatte ich bis dahin keine Ahnung gehabt. Ich sage es geradeheraus: man konnte das kaum ohne Tränen hören, und die Tränen kamen einem nicht vor Rührung, sondern aus einer Art seltsamer Begeisterung: man glaubte etwas Ungeheures, Glühendes vor sich zu sehen, eine versengte Sandwüste, bevölkert mit Löwen, in der die Heilige umherirrte. Übrigens war es nicht das, wovon ich sprechen wollte, und ich bin auch nicht kompetent dafür.

Außer dieser Rührung gefielen mir an ihm besonders allerlei manchmal außerordentlich originelle Ansichten über durchaus strittige Fragen aus dem Leben der Gegenwart. So zum Beispiel erzählte er einmal eine kürzlich erst passierte Geschichte von einem zur Reserve entlassenen Soldaten; er selber war beinahe Augenzeuge dieser Geschichte gewesen. Es war also ein Soldat nach beendeter Dienstzeit in die Heimat zurückgekehrt, und das Leben unter den Bauern hatte ihm nicht mehr gefallen wollen, und er selber wieder hatte den Bauern nicht gefallen. Der Mann kam vom rechten Wege ab, er fing an zu trinken und machte irgendwo einen Raubanfall auf jemand; sichre Beweise dafür waren nicht vorhanden, aber er wurde trotzdem festgenommen und vor Gericht gestellt. Vor Gericht war es seinem Advokaten schon beinahe gelungen, ihn frei zu bringen – es ließ sich eben gar nichts beweisen –, als der Soldat, der immer erstaunter zugehört hatte, plötzlich aufstand und seinen Anwalt unterbrach: »Nein, hör' jetzt auf mit deiner Rede«; und nun erzählte er alles, bis zum »letzten Stäubchen«; er bekannte alles, mit Tränen und Reue. Die Geschwornen zogen sich zur Beratung zurück, und dann auf einmal kommen sie wieder und verkünden: »Nein, er ist unschuldig.« Alle schreien auf und freuen sich, aber der Soldat bleibt stehen, wie er steht, und rührt sich nicht vom Fleck, als wäre er zur Salzsäule geworden und versteht kein Wort davon; er verstand auch kein Wort von der Ermahnung, die der Vorsitzende ihm mitgab, als er ihn wieder in die Freiheit entließ. Der Soldat ging in die Freiheit hinaus und wollte es sich selber nicht glauben. Er verfiel in Schwermut und Grübelei, aß nicht, trank nicht, sprach mit keinem Menschen, und am fünften Tage ging er hin und erhenkte sich. »So ist das, wenn man mit einer Sünde auf dem Gewissen leben muß!« schloß Makar Iwanowitsch. Diese Geschichte ist ja natürlich albern, und von der Art findet man heute übergenug in allen Zeitungen, aber mir gefiel dabei sein Ton, und vor allen Dingen gewisse feine Worte, die sicherlich einen neuen Gedanken bargen. Als er zum Beispiel davon sprach, wie der Soldat bei seiner Heimkehr ins Dorf den Bauern nicht mehr gefallen hatte, drückte sich Makar Iwanowitsch so aus: »Man weiß ja, was ein Soldat ist: ein Soldat ist ein verdorbener Bauer.« Und als er nachher von dem Anwalt sprach, der den Prozeß beinahe gewonnen hätte, sagte er wieder: »Man weiß ja, was ein Advokat ist: ein Advokat ist ein gemietetes Gewissen.« Diese beiden Ausdrücke brachte er ganz mühelos hervor und ohne selbst irgend etwas daran zu finden; und dabei lag doch in diesen beiden Ausdrücken eine ganz eigenartige Anschauung der beiden Gegenstände, die ja sicherlich wohl nicht die des gesamten Volkes, dafür aber jedenfalls Makar Iwanowitschs eigne, nirgend entlehnte Anschauung war! Diese volkstümlichen Anschauungen über manche Themen sind zuweilen wirklich wunderbar in ihrer Originalität.

»Und, Makar Iwanowitsch,« fragte ich ihn bei derselben Gelegenheit, »wie denken Sie über die Sünde des Selbstmordes?«

»Der Selbstmord ist die größte menschliche Sünde,« erwiderte er mit einem tiefen Seufzer, »aber Richter darüber ist der Herr allein, weil ihm allein alles bekannt ist, jegliches Ziel und jegliches Maß. Wir aber müssen natürlich für solch einen Sünder beten. Jedesmal, wenn du von so einer Sünde hörst, bete vor dem Schlafengehen innig für diesen Sünder; und wenn du auch nur einen Seufzer um ihn zu Gott emporschickst, selbst wenn du ihn überhaupt nicht gekannt hast, – um so wirksamer wird dein Gebet für ihn sein.«

»Aber kann ihm mein Gebet denn helfen, wenn er doch schon gerichtet ist?«

»Woher weißt du das? Viele Leute, ach, unzählige, sind ungläubig und führen dadurch unwissende Leute in die Irre; du aber höre nicht auf sie, denn sie wissen selber nicht, was sie denken. Das Gebet eines lebenden Menschen für einen Gerichteten ist in Wahrheit wirksam. Also, wie mag es dem ergehen, der niemand hat, der für ihn betet? Darum, wenn du vor dem Schlafengehen betest, so füge zum Schlusse die Worte hinzu: ›Erbarme dich, Herr Jesus, auch aller derer, die niemand haben, der für sie betet!‹ Sehr wirksam ist dieses Gebet und gottgefällig. Und auch für alle Sünder bete, die noch leben: ›Herr Gott, wäge ihnen du selber ihr Schicksal zu und errette alle Unbußfertigen‹, – auch das ist ein gutes Gebet.«

Ich versprach ihm, daß ich so beten wolle, denn ich fühlte, daß ich ihm mit diesem Versprechen eine unendliche Freude machen würde. Und wirklich erstrahlte sein ganzes Gesicht vor Freude; aber ich will gleich hinzusetzen, daß er mich bei solchen Gelegenheiten niemals von oben herab behandelte, ich meine, nicht wie ein alter Mann mit einem beliebigen Halbwüchsling spricht; im Gegenteil, er hörte auch mir gern und häufig zu, sogar mit großer Aufmerksamkeit, wenn ich über allerlei Themen sprach, wenn ich auch nur ein »junger Mensch« war, wie er sich auszudrücken pflegte; er begriff eben sehr wohl, daß dieser »junge Mensch« an Bildung hoch über ihm stand. Er liebte es zum Beispiel, sehr häufig über das Einsiedlerleben zu sprechen und stellte den »Einsiedler« weit höher als den »Pilger«. Ich widersprach ihm heftig, indem ich auf den Egoismus dieser Leute hinwies, die die Welt verließen und allen Nutzen, den sie der Menschheit leisten könnten, für nichts achteten, und das alles nur um der egoistischen Idee der Rettung ihrer eignen Seele willen. Er verstand mich anfangs nicht und vermutete sogar, ich hätte überhaupt nicht begriffen, was er meine; dabei verteidigte er die Einsiedler lebhaft: »Anfangs ist einem natürlich traurig zumute (das heißt, wenn einer Einsiedler wird), dann aber wird deine Freude mit jedem Tage größer, und schließlich wirst du Gott schauen.« – Daraufhin entwarf ich ihm ein ganzes Bild von der nützlichen Tätigkeit des Gelehrten, des Mediziners, oder überhaupt jedes Menschenfreundes in der Welt, und versetzte ihn dadurch in aufrichtige Begeisterung, weil ich selber eben auch mit Feuer sprach. Er stimmte mir in einem fort zu: »Jawohl, lieber Freund, ganz richtig, Gott segne dich, du hast wahre Gedanken«; aber als ich zu Ende war, erklärte er sich dennoch nicht ganz einverstanden mit mir: »Ja, so ist es wohl,« sagte er mit einem tiefen Seufzer, »aber gibt es viele, die standhalten und nicht vom rechten Wege gelockt werden? Das Geld ist zwar kein Gott, aber doch immerhin ein Halbgott – das ist eine große Versuchung; und dann ist da das weibliche Geschlecht, und da ist der Zweifel und der Neid. Siehst du, das Große vergessen sie und werfen sich auf das Kleine. Gibt es das bei einem Einsiedler? Nein, als Einsiedler wird ein Mensch vielmehr stark zu jeder Tat. Lieber Freund! Und was hat man in der Welt?« rief er mit begeistertem Gefühl, »ist es denn nicht nur ein Traum? ›Nimm ein Sandkorn und säe es auf einen Stein,‹ sagt man bei uns, ›wenn gelber Sand auf dem Steine aufgeht, dann wird sich dein Traum in der Welt erfüllen‹. Genau so heißt es bei Christus: ›Gehe hin und verteile deine Habe und werde jedermanns Knecht.‹ Und ob deine Habe sich unzählige Male vermehre: nicht durch Speise, nicht durch kostbare Kleider, nicht durch Stolz und Neid wirst du glücklich, sondern dadurch, daß deine Liebe sich unzählige Male vermehrt. Nicht kleinlichen Reichtum verdienst du dir, nicht hunderttausend, nicht eine Million, sondern die ganze Welt! Jetzt sammeln wir, ohne Sättigung zu finden, und verschwenden mit Unverstand, dann aber wird es keine Waisen mehr geben und keine Bettler, weil alle mein sein werden, alle verwandt mit mir, alle werde ich mir verdient haben, alle bis zum letzten erkauft haben! Heutzutage geschieht es nicht selten, daß auch der Reichste und Vornehmste gleichgültig ist gegen die Zahl seiner Tage und selbst nicht mehr weiß, welches Vergnügen er sich ausdenken soll; dann aber werden sich deine Tage und Stunden förmlich tausendfach vermehren, dieweil du nicht eine kleine Minute wirst verlieren wollen und jede in der Fröhlichkeit deines Herzens empfinden wirst. Dann wirst du auch die höchste Weisheit nicht bloß aus den Büchern allein gewinnen, sondern du wirst mit Gott selber reden von Angesicht zu Angesicht; und leuchten wird die Erde heller als die Sonne, und wird kein Traum sein und kein Seufzen, sondern überall nur ein herrliches Paradies . . .«

Und ebensolche begeisterten Ausbrüche liebte, glaube ich, Wersilow ganz besonders. Bei diesem war er gerade auch im Zimmer anwesend.

»Makar Iwanowitsch,« fiel ich ihm plötzlich ins Wort, selber ganz maßlos hingerissen (oh, ich gedenke jenes Abends), »Sie predigen also den Kommunismus, den vollkommensten Kommunismus!«

Und da er nicht das geringste von der kommunistischen Lehre wußte und selbst das Wort Kommunismus zum erstenmal hörte, begann ich, ihm auf der Stelle alles mitzuteilen, was ich über dieses Thema wußte. Ich muß gestehen, ich wußte darüber nur wenig und unklar Bescheid und bin heute noch nicht sehr kompetent in der Beziehung; aber was ich wußte, das erklärte ich ihm mit dem größten Feuer, ohne mich durch irgend etwas beirren zu lassen. Ich gedenke noch heute mit Freuden des gewaltigen Eindrucks, den ich damit auf den Alten machte. Das war überhaupt kein Eindruck mehr, sondern eine Erschütterung. Dabei interessierte er sich ungeheuer für historische Einzelheiten: »Wo? Wie? Wer hat das eingerichtet? Wer hat das gesagt?« Beiläufig, ich habe bemerkt, daß das überhaupt eine Eigentümlichkeit des einfachen Volkes ist: wenn es sich für etwas lebhaft interessiert, begnügt es sich nie mit der allgemeinen Idee, sondern verlangt unbedingt ganz sichere und genaue Einzelheiten. Ich für mein Teil verwirrte mich in den Einzelheiten; und da Wersilow dabei war, genierte ich mich ein bißchen vor ihm und geriet dadurch noch mehr in Hitze. Es lief schließlich darauf hinaus, daß Makar Iwanowitsch, sehr ergriffen, zu jedem meiner Worte: »Ja, ja!« sagte, sichtlich aber nichts mehr verstand und den Faden verloren hatte. Ich fing an mich darüber zu ärgern, aber Wersilow schnitt das Gespräch plötzlich dadurch ab, daß er aufstand und erklärte, es wäre Zeit zu Bett zu gehen. Wir waren damals alle versammelt, und es war schon spät. Als er nach ein paar Minuten in mein Zimmer schaute, fragte ich ihn gleich, wofür er Makar Iwanowitsch im allgemeinen ansehe, und wie er über ihn denke. Wersilow lächelte heiter (aber durchaus nicht über meine Irrtümer über den Kommunismus – durchaus nicht, er tat ihrer überhaupt keine Erwähnung). Ich sage es noch einmal: er hatte entschieden eine große Zuneigung für Makar Iwanowitsch gefaßt, und ich erhaschte auf seinem Gesicht häufig ein sehr sympathisches Lächeln, wenn er dem Alten zuhörte. Übrigens schloß dieses Lächeln die Kritik keineswegs aus.

»Makar Iwanowitsch ist vor allen Dingen kein Bauer, sondern ein Hofknecht,« sagte er mit einer großen Freude am Sprechen, »er ist ein ehemaliger Hofknecht und ein ehemaliger Diener, als Diener und Sohn eines Dieners geboren. In früheren Zeiten haben die Hofleute und die Dienerschaft sehr viele Interessen des privaten, des religiösen und des geistigen Lebens mit ihrer Herrschaft geteilt. Achte doch darauf, wie sich Makar Iwanowitsch auch heute noch am lebhaftesten für Ereignisse aus dem herrschaftlichen Leben, aus der bessern Gesellschaft interessiert. Du weißt noch nicht, in welchem Grade er sich für manche Ereignisse interessiert, die erst in letzter Zeit in Rußland vor sich gegangen sind. Weißt du auch, daß er ein großer Politiker ist? Lieber, als wenn du ihn mit Honig fütterst, ist es ihm, wenn du ihm erzählst, wo ein Krieg geführt wird, und ob wir einen Krieg bekommen werden. In früheren Zeiten konnte ich ihn mit solchen Gesprächen geradezu selig machen. Er hat großen Respekt vor der Wissenschaft, und vor allen andern Wissenschaften schwärmt er für die Astronomie. Dazu hat er sich eine gewisse innere Unabhängigkeit erworben, die man durch nichts zum Wanken bringen kann. Seine Überzeugungen sind fest und ziemlich klar . . . und richtig. Obgleich er vollkommen ungebildet ist, ist er doch fähig, einen plötzlich durch eine ganz unerwartete Vertrautheit mit manchen Begriffen zu überraschen, die man bei ihm durchaus nicht vermutet hätte. Er schwärmt vom Einsiedlerleben, aber er würde um keinen Preis Einsiedler werden oder ins Kloster gehen, weil er durch und durch ›Vagabund‹ ist, wie ihn Alexander Semionowitsch so nett bezeichnet hat. Auf den Doktor bist du übrigens, ganz beiläufig gesagt, ganz ohne Veranlassung so böse. Ja, und was soll man schließlich noch sagen? Der Alte ist auch ein Stück Künstler, er hat viel eigne Worte, er hat aber auch solche, die nicht sein eigen sind. Er ist ein wenig lahm in der logischen Entwicklung von Gedanken und hie und da sehr abstrakt; er hat Anfälle von Sentimentalität, aber einer ganz volkstümlichen Sentimentalität, oder besser gesagt, Anfälle jener volkstümlichen Rührsamkeit, die unser Volk in so breitem Strome in sein religiöses Gefühl einführt. Von seiner biedern Offenherzigkeit und seiner Gutmütigkeit schweige ich: es steht mir und dir nicht an, darüber zu sprechen . . .«

 

3

Um meine Charakteristik von Makar Iwartowitsch zum Abschlusse zu bringen, will ich eine seiner Erzählungen niederschreiben, und gerade eine aus dem Privatleben. Der Charakter dieser Erzählungen war sonderbar: richtiger ist wohl, daß sie überhaupt keinen gemeinsamen Charakter hatten; irgendeine Moral oder eine allgemeine Tendenz konnte man daraus nicht entnehmen, es sei denn, daß sie alle mehr oder weniger rührsam waren. Aber es gab auch solche, die nicht rührsam waren, es gab sogar ganz lustige Geschichten, es wurden sogar nichtsnutzige Mönche verspottet, so daß er mit mancher Erzählung seiner eigenen Idee Abbruch tat, – worauf ich ihn auch aufmerksam machte; aber er verstand gar nicht, was ich damit sagen wollte. Manchmal war es schwer, zu begreifen, was ihn eigentlich so sehr zum Erzählen anspornte, so daß ich mich hie und da geradezu über diesen Wortreichtum wunderte und ihn zum Teil seinem hohen Alter und seiner krankhaften Verfassung zuschrieb.

»Er ist nicht mehr der, der er früher war,« flüsterte mir Wersilow einmal zu, »er war früher doch nicht ganz so. Er stirbt bald, viel früher als wir glauben, wir müssen darauf gefaßt sein.«

Ich habe vergessen zu erwähnen, daß wir jetzt so etwas wie unsere »Abende« hatten. Außer Mama, die nicht von Makar Iwanowitschs Seite wich, kam Wersilow allabendlich in sein Stübchen; ich kam gleichfalls regelmäßig (und wo hätte ich auch sonst sein sollen?); in den letzten Tagen kam auch Lisa, wenn sie auch später kam als die andern und fast immer schweigend dasaß. Auch Tatjana Pawlowna kam hie und da, und manchmal, wenn auch selten, erschien der Doktor. Mit dem Doktor hatte es sich auf einmal so gemacht, daß wir uns vertrugen; das war zwar nicht sehr weit her, aber es gab wenigstens die früheren Ausfälle nicht mehr. Mir gefiel die gewisse Einfalt, die er besaß, und die mir endlich aufgegangen war, außerdem seine Anhänglichkeit an unser Haus, so daß ich mich endlich zu dem Entschlusse aufraffte, ihm seine medizinische Anmaßung zu verzeihen; auch hatte ich ihn dazu gebracht, sich die Hände zu waschen und die Nägel zu reinigen, wenn er doch schon nicht zu bewegen war, saubere Wäsche zu tragen. Ich hatte ihm einfach klargemacht, daß das durchaus keine Geckenhaftigkeit oder modische Narrheit ist, sondern daß Reinlichkeit ganz selbstverständlich zum Arzthandwerk gehört, und hatte ihm das bewiesen. – Schließlich war auch Lukeria häufig aus ihrer Küche an unsere Tür gekommen und hatte, hinter der Tür hervorschauend, zugehört, wie Makar Iwanowitsch erzählte. Wersilow hatte sie einmal hereingerufen und aufgefordert, bei uns Platz zu nehmen. Mir hatte das gut gefallen; aber sie war von dem Tage an nicht wieder an die Tür gekommen. Sie wußte eben auch, was sich schickt!

Ich füge hier eine von den Erzählungen ein, ohne Wahl, nur darum, weil ich gerade diese gut behalten habe. Es ist eine Geschichte von einem Kaufmann, und ich denke mir, in unsern Städten und Städtchen passieren solche Geschichten wohl zu tausenden, man muß nur zu sehen verstehen. Wer mag, kann diese Erzählung überschlagen, um so mehr, als ich sie genau mit seinen Worten erzähle.

 

4

»Jetzt will ich euch erzählen, was wir in der Stadt Afimjew für eine wunderbare Geschichte erlebt haben. Es lebte da ein Kaufmann, Maxim Iwanowitsch Skotobojnikow hieß er, und war kein reicherer als er im ganzen Bezirk. Er hatte eine Kattunfabrik erbaut, und Arbeiter hatte er ein paar hundert; und einbilden tat er sich eine Menge. Und man muß schon sagen, daß alles nach seinem Winke ging, und selbst die Obrigkeit war ihm in nichts im Wege, und der Abt dankte ihm für seinen Eifer: denn er hatte viel für das Kloster gestiftet, und wenn es einmal über ihn kam, seufzte er schwer um das Heil seiner Seele und bekümmerte sich nicht wenig um das Leben im Jenseits. Er war Witwer und hatte keine Kinder; von seiner Frau erzählte man sich, er wäre ihrer schon im ersten Jahre überdrüssig geworden und hätte von Jugend auf seinen Fäusten mehr Freiheit gegeben, als gerade nötig war: nur war das alles schon lange vor der Zeit gewesen; und sich durch eine zweite Heirat zu binden, hatte er keine Lust. Eine Schwäche von ihm war auch das Trinken, und wenn seine Zeit kam, dann lief er besoffen splitternackt durch die Stadt und machte ein Gebrüll; es ist ja keine vornehme Stadt, aber anständig war das doch nicht. Und wenn seine Zeit vorüber war, dann wurde er böse, und alles, was er sich ausdachte, war gut, und alles, was er befahl, war schön. Und mit seinen Leuten rechnete er ab, wie es ihm einfiel; er nimmt das Lohnbuch vor und setzt die Brille auf: ›Du, Foma, wieviel hast du zu kriegen?‹ – ›Von Weihnachten an habe ich nichts genommen, Maxim Iwanowitsch, neununddreißig Rubel hab' ich gut.‹ – ›Hu, solch Haufen Geld! Das ist zuviel für dich; du bist mit Haut und Haar nicht soviel Geld wert; das würde gar nicht zu dir passen: zehn Rubel ziehe ich dir ab, und neunundzwanzig kriegst du.‹ Und der Arbeiter hält den Mund; und kein Mensch traut sich, zu mucksen, alle halten den Mund.

›Ich weiß schon‹, sagte er, ›wieviel man geben kann. Mit dem Volk hier geht es nicht anders. Das Volk hier ist in Grund und Boden verdorben; ohne mich würden sie hier alle vor Hunger verrecken, soviel ihrer da sind. Und wenn man es genau besieht, das Volk hier ist Diebsgesindel: was es schaut, wird geklaut, keinen Anstand haben diese Leute. Und dann sind sie eine Säuferbagage; zahlt man einem seinen Lohn aus, schleppt er ihn in die Kneipe, und in der Kneipe sitzt er nackt, ohne einen Faden auf dem Leibe, splitternackt kommt er heraus. Und dann sind diese Leute traurige Lumpenkerle: so einer setzt sich vor der Kneipe auf einen Stein und sagt seine Litanei her: ›O du meine leibliche Mutter, warum hast du mich elenden Säufer in die Welt gesetzt? Besser wär's mir elendem Säufer, wenn du mich bei der Geburt erwürgt hättest!‹ Na also, ist das ein Mensch? Das ist eine Bestie, und kein Mensch; so einen muß man vor allen Dingen erst zum Menschen machen, und dann erst soll man ihm Geld geben. Ich weiß schon, wann man ihm was geben muß.‹

Seht ihr, so sprach Maxim Iwanowitsch von den Leuten in Afimjew; und wenn das auch schlecht von ihm war, so war es doch die Wahrheit: die Leute waren leichtsinnig und konnten sich nicht zusammennehmen.

Es lebte aber in derselben Stadt noch ein anderer Kaufmann, und der starb; es war ein junger, leichtsinniger Mensch, der machte Bankerott und verlor sein ganzes Vermögen. Er zappelte das letzte Jahr wie ein Fisch auf dem Trocknen, und dann kam sein letztes Stündlein heran. Mit Maxim Iwanowitsch hatte er sich die ganze Zeit nicht gut gestanden und steckte über und über in Schulden bei ihm. In seiner letzten Stunde verfluchte er noch Maxim Iwanowitsch. Und er hinterließ eine Witwe in jungen Jahren, und dazu noch fünf Kinder. Und eine Witwe, die nach dem Tode ihres Mannes allein zurückbleibt, die ist wie eine Schwalbe ohne Nest, – keine kleine Heimsuchung ist es, und nun gar erst mit fünf Kindern, für die man nichts zu essen hat: ihr letztes Hab und Gut, ein Holzhaus, hatte ihr Maxim Iwanowitsch für eine Schuld weggenommen. Und sie stellte sie alle in einer Reihe an der Kirchentür auf; der älteste Junge war acht Jahre, und die andern lauter Mädel hintereinander weg, eine kleiner als die andre; die älteste war vier Jahre, und die jüngste trug sie noch auf dem Arm und ließ sie an der Brust trinken. Die Messe war zu Ende, Maxim Iwanowitsch kam heraus, und alle die Kinderchen, die ganze Reihe, fielen vor ihm auf die Knie wie ein Mann und legten die Handflächen bittend zusammen, und sie selber stand hinter ihnen, das fünfte Kind auf dem Arm, und verneigte sich vor allen Leuten bis zur Erde vor ihm, ›Väterchen, Maxim Iwanowitsch, erbarm' dich der Waisen, nimm ihnen nicht ihr letztes Stückchen Brot weg, wirf sie nicht aus dem heimatlichen Nest!‹ Und alle, so viele dabeistanden, brachen in Tränen aus, – so gut hatte sie die Kinder das gelehrt. Sie dachte: ›So vor allen Leuten wird es ihm an den Stolz greifen, und er wird Nachsicht üben und den Waisen das Haus wiedergeben.‹ Es kam aber anders, als sie gedacht hatte. Maxim Iwanowitsch blieb stehen: ›Du junge Witwe‹, sagte er, ›willst bloß einen Mann und weinst gar nicht um die Waisen. Dein Mann hat mich noch auf dem Totenbette verflucht.‹ Und damit ging er vorbei und gab das Haus nicht heraus. ›Warum soll man dem Narrenvolk etwas durch die Finger sehen? Erweise solchen Leuten eine Wohltat, dann maulen sie nur noch mehr; das alles führt zu nichts, und es entsteht nur noch mehr Gerede.‹ Und es ging wirklich das Gerede, er hätte vor zehn Jahren, als diese Witwe noch ein Mädchen war, nach ihr geschickt und ihr einen Haufen Geld geboten (hübsch war sie nämlich sehr), und nicht daran gedacht, daß das eine Sünde ist, genau so groß, als wenn einer ein Gotteshaus zerstört; aber er hatte damals nichts erreicht. Und solche Schlechtigkeiten trieb er genug, in der Stadt und im ganzen Gouvernement, und bei solchen Sachen kannte er gar keine Grenzen mehr.

Da heulte die Mutter mit ihren Kleinen laut; er jagte die Waisen aus dem Hause, und nicht nur so aus bloßer Schlechtigkeit; der Mensch weiß ja manchmal selber nicht, was ihn bewegt, so fest auf seinem harten Kopf zu bestehen. Ja, anfangs halfen ihr andre Leute, und dann ging sie auf Arbeit. Aber was gibt es denn da bei uns für Verdienst, außer in der Fabrik; hier scheuerte sie die Dielen, dort jätete sie im Garten, dort heizte sie die Badestube, immer mit ihrem weinenden Kindchen auf den Armen; und die vier andern laufen derweil in ihren Hemdchen auf der Straße herum. Als sie sie an der Kirchentür hatte niederknien lassen, da hatten sie wenigstens noch Schuhchen gehabt, so schlecht sie auch waren, und Kittelchen, so schlecht sie auch waren, und es waren doch Kaufmannskinder; aber jetzt liefen sie schon barfuß herum: Kinder vertragen ihre Sachen schnell, das weiß man ja. Na, aber was fehlt den Kinderchen: wenn die Sonne scheint, freuen sie sich, sie fühlen das Elend nicht, sie sind wie Vögelchen, ihre Stimmchen gehen wie Glöckchen. Und da denkt sich die Witwe: ›Der Winter wird kommen, wo lasse ich euch dann; wenn euch nur Gott zu der Zeit zu sich nähme!‹ Sie brauchte nicht mehr auf den Winter zu warten. An jenem Ort kommt bei Kindern ein Husten vor, Keuchhusten heißt er, der überträgt sich von einem auf das andre. Zuerst starb der Säugling, und dann wurden auch die andern krank, und in dem einen Herbste trug sie alle die vier kleinen Mädchen auf den Friedhof hinaus. Das eine wurde übrigens auf der Straße überfahren. Ja, und was denkt ihr? Sie begrub sie und weinte; erst hatte sie sie verwünscht, aber wie Gott sie zu sich genommen hatte, tat es ihr doch leid. Das ist das Mutterherz!

Am Leben blieb ihr nur der älteste Junge, und über den seufzte sie schon nicht mehr, sondern zitterte für ihn. Schwächlich war er und zart und von Gesicht niedlich wie ein Mädchen. Und sie brachte ihn in die Fabrik, zu seinem Taufvater, der dort Aufseher war, und sie selbst verdingte sich als Kinderfrau bei einem Beamten. Und nun läuft der Junge eines schönen Tages auf dem Hofe herum, und da kommt auf einmal Maxim Iwanowitsch zweispännig angefahren, und er hat gerade wieder einmal was im Kopfe; und der Junge läuft die Treppe hinunter, gerade auf ihn zu, ganz unversehens, das heißt, er war gestolpert, und rennt gerade an ihn an, wie er aus dem Wagen steigt, und rennt ihm mit beiden Händen direkt in den Bauch. Na, der packte ihn denn bei den Haaren und brüllte: ›Was ist denn das für einer? Ruten her! Sofort durchhauen, hier vor meinen Augen!‹ sagte er. Der Junge wurde totenblaß! Sie fingen an, ihn zu prügeln, er schrie. ›So, du schreist noch? Haut ihn, bis er aufhört zu schreien!‹ Na, sie schlugen ihn viel oder wenig, er hörte nicht auf zu schreien, bis er ganz wie tot dalag. Da hörten sie mit dem Prügeln auf, sie hatten einen Schrecken gekriegt: der Junge atmet nicht mehr, er liegt bewußtlos. Es hieß nachher auch, daß sie ihn nicht sehr arg geprügelt hätten: er war eben sehr empfindlich. Da erschrak auch Maxim Iwanowitsch: ›Wem gehört er?‹ fragte er. Sie sagten es ihm. ›Sieh mal, sieh! Bringt ihn zu seiner Mutter; was braucht er sich hier in der Fabrik herumzutreiben!‹ Zwei Tage lang sagte er nichts, und dann fragte er wieder: ›Wie ist's mit dem Jungen?‹ Aber dem Jungen ging's schlecht: er wurde krank und lag bei seiner Mutter in der Ecke, und die hatte deswegen auch die Stelle bei dem Beamten aufgeben müssen, und er bekam eine Lungenentzündung. ›Sieh mal, sieh!‹ sagte er, ›und von was, möcht ich wissen? Als ob man ihn wunder wie gehauen hätte: sie haben sich wirklich keine große Mühe damit gegeben. Ich hab' alle andern genau so durchhauen lassen; es hat noch keiner deswegen solche Geschichten gemacht.‹ Er erwartete, daß die Mutter ihn verklagen würde, und schwieg nur aus Hochmut; – aber woher denn! – die Mutter getraute sich nicht, zu klagen. Und dann schickte er ihr von sich aus fünfzehn Rubel und den Arzt; und nicht so, als ob er irgend Angst gehabt hätte, sondern er war nur in sich gegangen. Und dann kam auch bald seine Zeit und er soff drei Wochen lang.

Der Winter ging vorüber, und gerade am hohen Feiertag, zu Ostern, fragt Maxim Iwanowitsch wieder: ›Und was ist eigentlich mit dem Jungen geworden?‹ Den ganzen Winter hatte er geschwiegen und nicht danach gefragt. Und sie sagen zu ihm: ›Er ist wieder gesund, er ist bei seiner Mutter, und die arbeitet noch immer im Tagelohn.‹ Und Maxim Iwanowitsch fährt selbigen Tags zu der Witwe; ins Haus ging er nicht hinein, sondern ließ sie an die Tür rufen; er selbst sitzt in seinem Wagen: ›Na,‹ sagt er, ›ehrbare Witwe, ich will deinem Sohn ein wirklicher Wohltäter sein und ihm eine grenzenlose Gnade erweisen: ich nehme ihn zu mir, in mein eigenes Haus. Und wenn er mir nur einigermaßen gefällt, so verschreibe ich ihm ein ausreichendes Kapital; und wenn er mir gut gefällt, kann ich ihn auch nach meinem Tode zum Erben meines ganzen Vermögens einsetzen, wie einen leiblichen Sohn; meine Bedingung ist nur, daß du, Verehrteste, ausgenommen die hohen Feiertage, mein Haus nicht betrittst. Wenn die Sache euch scheint, dann bringst du mir den Knaben morgen früh, er braucht nicht immer bloß Murmel zu spielen.‹ Das sagte er und fuhr ab und ließ sie in einem ganz sinnlosen Zustand zurück. Die Leute hörten davon und sagten zu ihr: ›Wenn der Junge groß wird, wird er dir selber Vorwürfe machen, daß du so ein Glück für ihn zurückgestoßen hast.‹ Die ganze Nacht weinte sie über dem Kinde, und am Morgen brachte sie es ihm hin. Der Junge war nicht lebendig, nicht tot.

Maxim Iwanowitsch kleidete ihn wie ein Herrschaftskind und nahm ihm einen Lehrer und setzte ihn von Stund' an hinter die Bücher; und es kam so weit, daß er ihn nicht aus den Augen ließ, daß er immer bei ihm war. Kaum, daß der Junge nur ein bißchen in die Luft guckt, schreit er auch schon: ›Schau ins Buch! Lerne: ich will einen Menschen aus dir machen.‹ Aber der Junge war kränklich, seit er die Schläge bekommen hatte, hustete er. ›Ist das vielleicht kein gutes Leben, was er bei mir hat?‹ wundert sich Maxim Iwanowitsch, ›bei seiner Mutter ist er barfuß gelaufen und hat Brotkrusten gelutscht; warum ist er denn jetzt kränklicher als zuvor?‹ Und der Lehrer sagt denn auch: ›Jeder Junge,‹ sagt er, ›muß auch mal tollen, und nicht immer nur lernen; er braucht notwendig Motion‹, und das bewies er ihm mit Gründen. Maxim Iwanowitsch dachte bei sich: ›Da hat er ganz recht.‹ Und dieser Lehrer war ein gewisser Piotr Stepanowitsch, Gott schenk' ihm die ewige Ruh, er war so eine Art Narr, er trank schon heftig, man kann wirklich sagen: zuviel, und deshalb hatte er schon lange überhaupt keine Stelle mehr und lebte in der Stadt sozusagen von Almosen, aber er hatte einen ausgezeichneten Kopf und war in den Wissenschaften beschlagen. ›Ich sollte bloß nicht hier sitzen,‹ pflegte er von sich selber zu sagen, ›ich sollte bloß Professor an der Universität sein! Aber hier bin ich im Dreck versunken, und meine eigenen Kleider ekeln sich vor mir.‹ – Da setzte sich Maxim Iwanowitsch hin und schrie den Jungen an: ›Tolle doch!‹ Aber der wagt ja in seiner Gegenwart kaum zu atmen. Und es kam so weit, daß das Kind nicht einmal seine Stimme hören konnte, ohne schon zu zittern. Und Maxim Iwanowitsch wundert sich immer mehr: ›Er ist nicht dies und ist nicht das; ich habe ihn aus dem Dreck geholt und in Drap des dames gekleidet; er hat Lastinghalbstiefel an und ein gesticktes Hemd, wie einen Generalssohn halte ich ihn; warum ist er also nicht anhänglich an mich? Warum schweigt er immer wie ein kleines Tier?‹ Und wenn alle Leute auch schon längst aufgehört hatten, sich über Maxim Iwanowitsch zu wundern, da fingen sie sich wieder über ihn zu wundern an: er war ein ganz anderer Mensch geworden; er saß diesem kleinen Jungen auf dem Leibe und konnte nicht loskommen von ihm. ›Ich will nicht lebendig sein, wenn ich nicht den Charakter in ihm ausrotte. Sein Vater hat mich auf dem Totenbette verflucht, nachdem er schon die heiligen Sterbesakramente erhalten hatte; er hat den Charakter seines Vaters.‹ Und er gebrauchte sogar nicht ein einziges Mal die Rute (er hatte noch Angst von damals her). Aber er schreckte ihn ein, das war die Sache. Er schreckte ihn ein ohne Rute.

Und dann passierte eine Sache. Er war einmal gerade aus dem Zimmer gegangen, da sprang der Knabe hinter seinem Buche auf und stieg auf einen Stuhl: sein Ball war ihm vorher auf ein Schränkchen geflogen, und er wollte sich den Ball wiederholen; und da hakte er sich mit dem Ärmel an eine porzellanene Lampe und riß die Lampe herunter; die Lampe krachte auf den Boden und ging in Splitter, man hörte den Knall im ganzen Hause; und es war ein kostbares Stück – sächsisches Porzellan. Maxim Iwanowitsch hörte das aus einem andern Zimmer und brüllte vor Wut. Der Junge lief davon, ganz blind vor Angst, ohne zu wissen, wohin. Er lief auf die Terrasse hinaus und durch den Garten und das Hinterpförtchen direkt ans Flußufer. Aber am Ufer führt da ein Boulevard entlang, mit alten Goldregenbäumen; es ist ein lustiger Ort. Er lief zum Wasser hinunter, die Leute sahen es, und da schlug er die Hände zusammen und erschrak wohl vor dem Wasser und blieb wie angewurzelt stehen, gerade an der Stelle, wo die Fähre anlegt. Und der Fluß ist hier breit und reißend, Lastkähne kommen vorüber, am andern Ufer sind Läden, ein freier Platz, eine Kirche mit leuchtenden goldenen Kuppeln. Und da näherte sich gerade eilig die Oberstin Fersing mit ihrer kleinen Tochter, weil sie übersetzen wollte, – es stand ein Infanterieregiment in der Stadt. Die Tochter, auch ein Mädel von acht Jahren, kommt in ihrem weißen Kleidchen heran, sieht den Jungen an und lacht, und in der Hand hat sie so ein kleines Bauernkörbchen aus Birkenrinde, und in dem Körbchen sitzt ein junger Igel. ›Schau mal, Mutti,‹ sagt sie, ›wie der Junge meinen Igel anschaut.‹ – ›Nein,‹ sagt die Oberstin, ›er hat sich vor irgend etwas erschreckt. Wovor hast du dich denn so erschreckt, hübscher Junge?‹ (So haben sie das alles später erzählt.) ›Und was für ein hübscher Junge das ist,‹ sagt sie, ›und wie gut angezogen; wem gehörst du denn, Jungchen?‹ sagt sie. Und er hatte noch nie einen Igel gesehen, er geht näher heran und schaut, und er hat schon alles vergessen – wie nun Kinder einmal sind! ›Was haben Sie denn da eigentlich?‹ fragt er. ›Das‹, sagt die Dame, ›ist ein Igel, wir haben ihn gerade von einem Bauern gekauft, der hat ihn im Walde gefangen.‹ – ›Wie sieht denn so ein Igel aus?‹ sagt er und lacht jetzt schon, und rührt ihn mit dem Finger an, und der Igel sträubt seine Stacheln, und das kleine Mädchen freut sich über den Jungen. ›Wir wollen ihn mit nach Hause nehmen‹, sagt sie, ›und ihn abrichten.‹ – ›Ach‹, sagt er, ›schenken Sie mir Ihren Igel!‹ – Und darum bittet er sie so flehentlich und hat das gerade gesagt, da hört er auf einmal über sich Maxim Iwanowitschs Stimme: ›Ah! Da bist du? Haltet ihn!‹ (Er war so wütend, daß er ihm selber ohne Mütze aus dem Hause nachgelaufen war.) Als dem Jungen wieder alles einfiel, schrie er auf, stürzte zum Wasser hinunter, drückte seine beiden kleinen Fäuste an seine Brust, sah zum Himmel hinauf (die Leute haben es gesehen!) – und warf sich, plumps, ins Wasser! Na, die Leute schrien, stürzten sich ihm von der Fähre nach und versuchten ihn herauszuziehen; aber das Wasser trug ihn fort; der Fluß ist reißend; und als sie ihn endlich herauszogen, hatte er schon zuviel Wasser geschluckt – und war tot. Er war ja so schwach auf der Brust, darum hielt er das Wasser nicht aus; wieviel braucht so einer denn? Und es konnte sich keiner von den Leuten erinnern, daß so ein kleines Kind selber seinem Leben ein Ende gemacht hätte! So eine Sünde! Und was kann diese kleine Seele Gott dem Herrn in jenem Leben sagen, wenn er sie fragt.

Und über diese Sache, von Stund' an, ging Maxim Iwanowitsch nun in sich. Und der Mann veränderte sich, daß man ihn nicht wiedererkannte. Gar sehr ging ihm das damals zu Herzen. Er fing an zu trinken, er trank viel, ließ es aber wieder – es half nichts. Er hörte auch auf, nach der Fabrik zu fahren, er hörte überhaupt nicht zu, wenn einer zu ihm was sagte. Wenn einer ihm was sagt, sagt er kein Wort oder macht nur so mit der Hand. So ging das zwei Monate, und dann fing er mit sich selber zu sprechen an. Das Dörfchen Waskowa in der Nähe der Stadt brannte ab, neun Häuser brannten nieder; Maxim Iwanowitsch fuhr hinaus, um es sich anzusehen. Die Abgebrannten umringten ihn und jammerten, – er versprach, ihnen zu helfen, und ordnete das an, dann aber rief er seinen Aufseher und nahm alles zurück: ›Nein,‹ sagte er, ›du gibst ihnen nichts,‹ und er sagt gar nicht, weshalb auf einmal. ›Zur Geißel,‹ sagt er, ›hat mich Gott allen Menschen gegeben; wenn ich schon ein Auswurf bin, so soll es denn schon sein. Wie der Wind‹, sagt er, ›ist mein Ruf über das Land gegangen.‹ Es kam der Abt selber zu ihm gefahren, er war ein strenger alter Mann und hatte im Kloster das gemeinsame Leben eingeführt. – ›Was ist mit dir?‹ fragt er, so recht streng. – ›Das ist mit mir,‹ sagt Maxim Iwanowitsch und schlägt die Heilige Schrift auf und zeigt ihm die Stelle:

›Wer aber ärgert dieser Geringsten einen, die an mich glauben, dem wäre besser, daß ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ersäuft würde im Meer, da es am tiefsten ist.‹ (Matth. 18, 6.)

›Ja,‹ sagte der Abt, ›wenn das auch nicht gerade darüber gesagt ist, so hat es doch einen Bezug darauf. Es ist ein Unglück, wenn der Mensch das Maß für sich verliert – der Mensch gehet zugrunde. Aber du bereuest.‹

Aber Maxim Iwanowitsch sitzt, als wäre er zur Salzsäule geworden. Der Abt sah ihn lange an.

›Hör' mir zu‹, sagt er, ›und merke dir wohl. Es stehet geschrieben: Die Worte des Verzweifelten verwehet der Wind. Und bedenke noch das eine: auch Gottes Engel sind unvollkommen und ohne Sünde ist nur der alleinige Gott, unser Herr Jesus Christus, und Ihm dienen die Engel. Du hast ja den Tod dieses Knaben nicht gewollt, und hast nur unbedacht gehandelt. Und das eine‹, sagt er, ›scheint mir sogar verwunderlich: hast du denn so wenig häßliche Schlechtigkeiten begangen, hast du so wenig Leute in die Welt hinausgejagt, hast du so wenige zugrunde gerichtet, hast du so wenige vernichtet – daß man sagen kann, Mord wäre auch nicht schlimmer gewesen? Und sind seine eignen Schwestern nicht schon zuvor dahingegangen, vier unschuldige Kindlein, und so gut wie unter deinen Augen? Warum verstört dich gerade dieser eine so? Siehe, um die andern alle hast du dich nicht nur nicht bekümmert, du hast nicht einmal an sie gedacht? Warum verstört dich gerade dieser Knabe so, an dessen Tode du doch nicht einmal die volle Schuld trägst?‹

›Er erscheint mir im Traume‹, stammelte Maxim Iwanowitsch.

›Wie denn das?‹

Aber er sagte ihm weiter nichts, er sitzt nur da und schweigt. Da verwunderte sich der Abt, und so fuhr er denn auch wieder davon; da war weiter nichts zu machen.

Und Maxim Iwanowitsch schickte nach dem Lehrer, eben nach jenem Piotr Stepanowitsch; seitdem das geschehen war, hatten sie sich nicht mehr gesehen. ›Weißt du noch?‹ fragt er.

›Jawohl‹, sagt der andere.

›Du,‹ sagt er, ›du hast hier für die Kneipe Bilder mit Ölfarbe gepinselt und hast auch eine Kopie von dem Bilde des Bischofs gemacht. Kannst du mir mit Farbe ein Bild malen?‹

›Ich,‹ sagt er, ›ich kann alles. Ich‹, sagt er, ›habe alle Talente und kann alles.‹

›Mal du mir ein ganz furchtbar großes Bild, so groß wie die Wand, und mal drauf vor allen Dingen den Fluß auf, und den Hang und die Fähre, und daß auch alle Leute, die dabei waren, drauf sind. Und daß die Oberstin und ihre Tochter drauf ist, und der Igel auch, du weißt schon. Und das andre Ufer mal mir auch auf, daß man es sehen kann, wie es ist: und die Kirche und den Platz, und die Läden, und wo die Droschken stehen, – alles mal mir auf, wie es ist. Und dort bei der Fähre malst du mir den Jungen, dicht am Flusse, genau auf der Stelle, und vergiß ja nicht, daß er beide Fäuste sich so an die Brust drückt, auf die beiden Brustwarzen. Das mußt du unbedingt so machen. Und auf dem andern Ufer, gerade über der Kirche, machst du vor ihm den Himmel auf, und alle Engel im himmlischen Reiche müssen ihm entgegenkommen und ihn empfangen. Kannst du das treffen oder nicht?‹

›Ich kann alles.‹

›Ich brauch' gar nicht so einen Michel wie dich, ich kann mir auch den ersten Maler aus Moskau verschreiben, und wenn ich will, sogar aus London selber; aber du weißt, wie er ausgesehen hat. Wenn es unähnlich herauskommt oder nur ein bißchen ähnlich, kriegst du nicht mehr als fünfzig Rubel, aber wenn es richtig ähnlich herauskommt, dann geb' ich dir zweihundert Rubel. Vergiß nicht, die Augen sind blau . . . Und daß es mir ein ganz, ganz großes Bild wird!‹

Sie wurden handelseins; Piotr Stepanowitsch fing zu malen an, aber auf einmal kommt er wieder:

›Nein,‹ sagt er, ›auf die Art kann man das nicht malen.‹

›Warum?‹

›Weil diese Sünde, der Selbstmord, die größte von allen Sünden ist. Wie werden ihn denn die Engel empfangen nach so einer Sünde?‹

›Er ist doch ein Kind, er braucht noch nicht Rechenschaft abzulegen.‹

›Nein, er ist kein Kind mehr; er ist schon ein Knabe: acht Jahre war er, als das geschehen ist. Immerhin wird er doch eine kleine Rechenschaft ablegen müssen.‹

Da entsetzte sich Maxim Iwanowitsch noch mehr.

›Ich will dir sagen, was ich mir ausgedacht habe,‹ sagt Piotr Stepanowitsch, ›wir öffnen den Himmel nicht, und die Engel aufzumalen, hat keinen Zweck; aber ich lasse vom Himmel einen Lichtstrahl herauskommen, ihm zur Begegnung, bloß einen hellen Lichtstrahl: es ist ja ganz egal, wenn nur irgendwas herauskommt.‹

Und so ließen sie den Strahl herauskommen. Und ich selber habe, in späteren Zeiten, dieses Bild gesehen, und auch den Strahl und den Fluß – über die ganze Wand zog er sich hin, ganz blau, und auch der liebe Knabe war da und drückte beide Händchen auf die Brust, und das kleine Fräulein und der Igel – alles hatte er richtig getroffen. Nur zeigte Maxim Iwanowitsch damals keinem Menschen das Bild, sondern verschloß es fest in seinem Zimmer vor aller Augen. Und sie rissen sich in der Stadt nur so darum, es zu sehen: er ließ aber alle fortjagen. Das gab ein großes Gerede. Und Piotr Stepanowitsch kam damals ganz um seinen Verstand: ›Ich,‹ sagt er, ›ich kann jetzt überhaupt schon alles; ich‹, sagte er, ›passe bloß noch nach Petersburg hin, an den Hof.‹ Er war ein sehr lieber Mensch, aber er liebte es ungeheuer, sich zu überheben. Und so erreichte ihn sein Schicksal: als er die ganzen zweihundert Rubel bekommen hatte, fing er gleich an zu saufen und zeigte allen das Geld und prahlte so recht; und in der Nacht, als er besoffen war, schlug ihn ein Kleinbürger aus der Stadt tot und raubte ihm das Geld; das alles kam am nächsten Morgen an den Tag.

Und die Sache nahm ein Ende, daß die Leute da noch heute davon reden. Plötzlich kommt Maxim Iwanowitsch wieder bei derselben Witwe angefahren: sie hatte sich ganz draußen vor der Stadt bei einer Kleinbürgerin in einer Hütte eingemietet. Dieses Mal aber ging er in den Hof hinein, er trat vor sie hin und verneigte sich bis zur Erde. Und sie war seit allen den Vorfällen krank und konnte sich kaum rühren. ›Mütterchen,‹ flehte er, ›ehrbare Witwe: heirate mich, den Auswurf der Menschheit, schenke mir wieder das Leben auf Erden!‹ Sie sieht ihn an und ist nicht tot und nicht lebendig. ›Ich will‹, sagt er, ›daß uns noch einmal ein Knabe geboren wird, und wenn uns einer geboren wird, so heißt das, daß der andere Knabe uns beiden verziehen hat: dir und mir. Mir hat der Knabe das befohlen.‹ Sie sieht, daß der Mensch nicht bei Verstande ist, sondern daß er rast, aber sie konnte doch nicht an sich halten.

›Das ist alles dummes Zeug‹, antwortet sie, ›und nichts als Kleinmut. Durch denselben Kleinmut habe ich alle meine Kinderchen verloren. Ich kann Sie nicht einmal vor Augen sehen, geschweige denn, daß ich so eine ewige Qual auf mich nehmen möchte.‹

Maxim Iwanowitsch fuhr davon, stand aber nicht von seinem Plane ab. Die ganze Stadt hallte von diesem Wunder wider. Und Maxim Iwanowitsch schickte Brautwerber zu ihr. Er ließ aus der Provinz zwei Tanten von sich kommen, zwei Kleinbürgerinnen. Ob es nun richtige Tanten waren, weiß ich nicht, aber verwandt waren sie jedenfalls mit ihm, es war also eine Ehre für sie; und die fingen nun an ihr zuzureden, sie lagen ihr in den Ohren und gingen nicht aus der Hütte. Er schickte auch Frauen aus der Stadt hin, Kaufmannsfrauen, und die Dompfarrerin, und Beamtenfrauen; die ganze Stadt redete ihr zu, aber sie wurde sogar böse: ›Wenn ich‹, sagt sie, ›dadurch meine armen Waisen wieder lebendig machen könnte . . . Aber was soll mir das so? Und was für eine Versündigung wäre das gegen meine armen Waisen!‹ Er brachte auch den Abt auf seine Seite, und auch der blies ihr ins Ohr: ›Du,‹ sagt er, ›du kannst in ihm einen neuen Menschen erwecken.‹ Sie entsetzte sich. Aber die Leute verwunderten sich: ›Wie kann das nur möglich sein, daß sie solch ein Glück zurückstößt!‹ Und nun hört, wodurch er sie schließlich herumkriegte: ›Immerhin ist er doch‹, sagt er, ›ein Selbstmörder, und er war doch kein Kind, sondern schon ein Knabe, und nach seinen Jahren könnte man ihn nach einer solchen Sünde auf keine Weise zum Heiligen Abendmahl zulassen, und darum muß er drüben auch ganz bestimmt wenigstens zu einem Teil die Verantwortung tragen. Wenn du aber die Ehe mit mir eingehst, so leiste ich ein großes Gelübde: ich baue eine neue Kirche, einzig und allein zum ewigen Gedächtnis seiner Seele.‹ Dem konnte sie nicht widerstehen, und so willigte sie ein. Und so wurden sie getraut.

Und es kam so, daß alle darüber staunten. Sie lebten vom ersten Tage an in großer und ungeheuchelter Eintracht und waren ängstlich auf treueste Ehegemeinschaft bedacht, und gleichwie eine Seele in zwei Leibern. Und sie empfing noch in demselben Winter, und sie begannen die Gotteshäuser aufzusuchen und vor dem Zorn des Herrn zu zittern. In drei Klöstern waren sie und ließen sich wahrsagen. Er ließ die gelobte Kirche errichten und erbaute in der Stadt ein Spital und ein Armenhaus. Er setzte ein Kapital für die Witwen und Waisen aus. Und er gedachte aller, die er benachteiligt hatte, und wollte es ihnen wiedererstatten; und Geld begann er ohne Maß auszugeben, so daß schließlich seine Frau und der Abt seine Hände festhielten und sagten: ›Es ist auch damit schon genug getan.‹ Maxim Iwanowitsch gehorchte ihnen. ›Aber‹, sagte er, ›Foma hab ich damals auch übers Ohr gehauen.‹ Nun, Foma bekam sein Geld. Und Foma fing an zu weinen: ›Ich hätte auch so . . .‹ sagt er, ›ich bin auch ohne das reichlich zufrieden und werde ewig für Sie zu Gott beten.‹ Das durchdrang also alle und, die Wahrheit zu sagen, das Leben eines Menschen ist ein gutes Beispiel. Und die Leute dort sind von Herzen gut.

Die Fabrik begann die Frau selber zu verwalten, und so, daß die Leute noch heute davon sprechen. Das Trinken hatte er nicht gelassen, aber die Frau begann in eben dieser Zeit auf ihn aufzupassen und ihn dann zu kurieren. Seine Rede wurde gemessen, und sogar seine Stimme verwandelte sich. Er wurde sehr mitleidig, selbst gegen das Vieh: wenn er aus dem Fenster sah, wie ein Bauer sein Pferd gemein auf den Kopf schlug, dann schickte er gleich hinaus und kaufte ihm das Pferd um den zwiefachen Wert ab. Und ihm wurde die Gabe der Tränen verliehen: wer mit ihm sprach, mußte in Tränen ausbrechen. Und als ihre Zeit gekommen war, da hörte der Herr endlich auf ihre Gebete und schenkte ihnen einen Sohn, und da wurde Maxim Iwanowitsch heiter, zum ersten Male seit jener Zeit; er verteilte viele Almosen, erließ viele Schulden und lud zur Taufe die ganze Stadt ein. Also, er lud die ganze Stadt ein, aber am nächsten Morgen kam er aus seinem Zimmer, finster wie die Nacht. Die Frau sieht, daß ihm irgend etwas geschehen ist, und da brachte sie ihm den Neugeborenen. ›Der Junge‹, sagt sie, ›hat uns verziehen, er hat unsere Tränen und Gebete um ihn vernommen.‹ Aber hiervon, das muß ich sagen, hatten sie beide das ganze Jahr hindurch kein Wort gesagt, sondern es nur in ihrem Herzen bewegt. Und Maxim Iwanowitsch sah sie an, finster wie die Nacht: ›Warte,‹ sagt er, ›er ist doch das ganze Jahr nicht gekommen, aber heute nacht ist er mir wieder im Traum erschienen.‹ – ›Und da stach auch mir zum erstenmal der Schrecken ins Herz, nach diesen schrecklichen Worten‹, hat sie später erzählt.

Und der Knabe war ihm nicht umsonst im Traum erschienen. Kaum hatte Maxim Iwanowitsch das ausgesprochen, da, in derselben Minute, ging etwas mit dem Neugeborenen vor sich: er erkrankte auf einmal. Und das Kind lag acht Tage krank; sie beteten ohne Unterlaß und ließen die Doktoren kommen, und verschrieben sogar aus Moskau den allerersten Doktor mit der Eisenbahn. Der Doktor kam an und wurde sehr böse: ›Ich,‹ sagt er, ›ich bin der allererste Doktor, ganz Moskau wartet auf mich.‹ Er verschrieb dem Kinde Tropfen und fuhr schleunigst wieder ab. Achthundert Rubel nahm er mit. Das Kind aber starb am gleichen Abend.

Und was geschah danach? Maxim Iwanowitsch verschrieb all sein Hab und Gut seiner liebwerten Gattin, er übergab ihr alle Kapitalien und Dokumente, er erledigte alles richtig und nach der gesetzlichen Ordnung, und dann trat er vor sie hin und verneigte sich bis zur Erde: ›Entlasse mich, du meine teuerste Gattin, auf daß ich meine Seele errette, dieweil es noch Zeit ist. Und wenn ich meine Zeit hinbringe, ohne das Heil meiner Seele zu gewinnen, so kehre ich nimmer wieder. Ich bin hart und grausam gewesen und habe vielen gar Schweres angetan, aber ich meine, der Herr wird mich für das Leid und die Pilgerfahrten, die mir bevorstehen, nicht ohne Lohn lassen, dieweil dieses alles kein kleines Kreuz ist und kein kleines Leid.‹ Und seine Frau legte ihre Arme mit vielen Tränen um ihn: ›Du bist jetzt mein Einziges in der Welt; für wen soll ich leben, wenn du fortgehst? Ich habe in diesem Jahre‹, sagt sie, ›viel Liebe für dich in meinem Herzen gewonnen.‹ Und die ganze Stadt redete ihm einen Monat lang zu, und sie baten ihn und sagten, er solle nicht tun, was über seine Kraft sei. Aber er hörte nicht auf sie und ging eines Nachts heimlich auf und davon und kam nicht mehr wieder. Und man hört von ihm, daß er noch heute kämpft auf Pilgerfahrten und in Geduld, und seiner liebwerten Gattin schickt er einmal in jedem Jahre Botschaft . . .«

 


 << zurück weiter >>