Fjodor Michailowitsch Dostojewski
Ein Werdender - Zweiter Band
Fjodor Michailowitsch Dostojewski

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Neuntes Kapitel

1

Der Tag hatte also mit einer Katastrophe geendet, aber nun stand mir noch die Nacht bevor, und jetzt will ich erzählen, was ich von dieser Nacht im Gedächtnis behalten habe.

Ich denke mir, es wird so kurz nach eins gewesen sein, als ich auf die Straße trat. Es war eine klare, stille Frostnacht. Ich lief beinah und beeilte mich furchtbar, aber durchaus nicht – um nach Hause zu kommen. »Was brauche ich ein Zuhause? Kann es für mich jetzt ein Zuhause geben? Zu Hause leben die Menschen, da würde ich morgen aufwachen, um zu leben, – und ist das jetzt denn überhaupt noch möglich? Mein Leben ist zu Ende, leben kann ich jetzt um keinen Preis mehr.« Und so streifte ich denn durch die Straßen, ohne überhaupt darauf zu achten, wohin ich ging, und ich weiß überhaupt nicht, ob ich irgendein Ziel hatte. Mir war sehr heiß, und ich lüftete häufig meinen schweren Pelz. »Jetzt gibt es überhaupt keine Tätigkeit mehr, die irgendeinen Zweck hätte«, dachte ich damals. Und sonderbar: mir kam es so vor, als gehöre alles ringsum, selbst die Luft, die ich atmete, einem ganz andern Planeten an, ganz so, als wäre ich plötzlich auf den Mond versetzt. Alles, die Stadt, die Leute, die mir begegneten, das Trottoir, auf dem ich dahinlief – das alles gehörte schon nicht mehr mir. »Da ist der Schloßplatz, das da ist die Isaakskirche,« dämmerte es mir, »aber sie gehen mich jetzt nichts mehr an«; es hatte sich mir alles entfremdet, das alles gehörte auf einmal nicht mehr mir. »Ich habe Mama, ich habe Lisa – aber was können mir jetzt Lisa und Mama sein? Alles ist aus, alles ist mit einem Schlage aus, nur eins ist geblieben: das eine, daß ich jetzt für ewige Zeiten ein Dieb bin.«

»Wodurch soll ich beweisen, daß ich kein Dieb bin? Ist das denn jetzt überhaupt noch möglich? Nach Amerika gehen? Aber was wäre damit bewiesen? Wersilow wird der erste sein, der glaubt, ich hätte gestohlen! Die ›Idee‹? Was für eine ›Idee‹? Was ist die ›Idee‹ jetzt noch? Wenn ich nach fünfzig Jahren, nach hundert Jahren auf der Straße gehen würde, immer würde sich ein Mensch finden, der mit Fingern auf mich zeigen und sagen würde: ›Da geht ein Dieb. Er hat die Verwirklichung seiner Idee damit begonnen, daß er am Spieltisch Geld stahl‹ . . .«

War ich dabei erbost und zornig? Ich weiß es nicht, vielleicht war ich es. Sonderbar, ich habe von jeher, vielleicht von meiner frühesten Kindheit an, eine Eigentümlichkeit gehabt: wenn man mir Böses zufügte und das Maß schon ordentlich vollmachte, in der Kränkung bis zur äußersten Grenze ging, dann zeigte sich bei mir immer der unbezwingliche Wunsch, mich der Beleidigung duldend zu unterwerfen, ja, sogar den Wünschen des Beleidigers entgegenzukommen: »Nun also, Sie haben mich erniedrigt, ich erniedrige mich selber noch tiefer, sehen Sie her, erfreuen Sie sich daran!« Touchard schlug mich und wollte mir klarmachen, daß ich ein Bedienter wäre und kein Geheimratssohn, und sogleich nahm ich damals selber die Rolle des Bedienten auf mich. Ich reichte ihm nicht nur die Kleider, wenn er sich anzog, sondern nahm auch freiwillig die Bürste und bürstete ihm auch das letzte Stäubchen ab, ohne daß er mich im geringsten darum ersucht oder mich geheißen hätte; ich lief manchmal in meinem glühenden Bedienteneifer mit der Bürste hinter ihm her, um irgendein letztes Fäserchen von seinem Frack zu entfernen, so daß er selber mir manchmal Einhalt tat: »Schon gut, schon gut, Arkadij.« Oder er kommt, sagen wir, nach Hause und zieht seinen Überrock aus, – ich reinige ihn, lege ihn sorgfältig zusammen und hülle ihn in das karierte seidne Tuch. Ich weiß wohl, daß meine Kameraden sich darüber lustig machen und mich deswegen verachten, ich weiß das sehr genau, aber mir ist auch das sehr recht: »Wenn ihr gern wollt, daß ich ein Bedienter sein soll – schön, dann bin ich also ein Bedienter; ihr wünscht euch einen Lumpen – da ist der Lump.« Solch einen passiven Haß und so eine innerlich gärende Erbostheit konnte ich jahrelang mit mir herumtragen. Und schließlich? Bei Serstschikow hatte ich in hellster Wut durch den ganzen Saal geschrien: »Ich zeige alle an, das Hasardspiel ist polizeilich verboten!« Und ich kann es beschwören, daß auch darin etwas Ähnliches lag: man hatte mich erniedrigt, mich durchsucht, mich für einen Dieb erklärt, einen toten Mann aus mir gemacht. – »Na, dann sollt ihr auch wissen, daß ihr richtig geraten habt: ich bin nicht bloß ein Dieb, ich bin auch ein Denunziant!« Wenn ich jetzt zurückdenke, kombiniere ich so und lege es mir so zurecht; damals war mir gar nicht nach Analyse zumute; ich habe das damals ohne jede Absicht geschrien, ich wußte eine Sekunde vorher noch nicht einmal, daß ich das in den Saal schreien würde: es schrie aus mir, – dieser Zug lag eben in meinem Charakter.

Als ich so dahinlief, war sicher schon das Fieberdelirium in mir ausgebrochen, aber ich weiß noch sehr gut, daß ich bewußt handelte. Aber dabei kann ich mit Sicherheit behaupten, daß längere Reihen von Gedanken und Schlußfolgerungen mir schon damals unmöglich waren; selbst damals, in jenen Minuten, fühlte ich sehr wohl, daß ich »zu manchen Gedanken fähig war, zu andern aber wieder ganz und gar nicht«. Ebenso konnten auch gewisse Entschlüsse, die ich zwar bei vollem Bewußtsein faßte, nicht die geringste Logik besitzen. Mehr noch: ich weiß noch ganz genau, daß ich in manchen Augenblicken die Unsinnigkeit eines Entschlusses ganz klar erkennen und doch im gleichen Augenblick mit vollem Bewußtsein an die Ausführung desselben Entschlusses gehen konnte. Ja, das Verbrechen lag in jener Nacht in der Luft, es war nur ein Zufall, daß keines geschah.

Mir fiel auf einmal ein Wörtchen ein, daß Tatjana Pawlowna von Wersilow gesagt hatte: »Er sollte doch an die Nikolaibahn gehn und den Kopf auf die Schienen legen: da würde er ihm schon abgefahren werden.« Dieser Gedanke bemächtigte sich auf einmal meines ganzen Innern, aber ich verscheuchte ihn sogleich mit schmerzlichem Gefühl: »Den Kopf auf die Schienen legen und sterben; und morgen früh sagen die Leute: ›Das hat er getan, weil er gestohlen hatte, er hat es aus Schamgefühl getan‹, – nein, um keinen Preis!« Und eben in diesem Augenblick, das weiß ich noch, erfüllte mich plötzlich eine ungeheure momentane Wut. »Also,« dachte ich bei mir, »rechtfertigen kann ich mich auf keine Weise, ein neues Leben anzufangen ist auch unmöglich, deshalb will ich mich drein schicken, ein Bedienter will ich werden, ein Hund, eine Laus, ein Denunziant, jawohl, ein richtiger Denunziant, und dabei ganz heimlich alle Vorbereitungen treffen und eines schönen Tages auf einmal alles in die Luft sprengen, alles vernichten, alle, Schuldige und Unschuldige, und dann werden auf einmal alle es erfahren, daß das derselbe war, den sie einen Dieb geheißen hatten . . . Und dann mit mir selber ein Ende machen!«

Ich weiß nicht mehr, auf welche Weise ich in eine Querstraße in der Nähe des Boulevards der Garde zu Pferde geraten war. Diese Querstraße entlang zogen sich zu beiden Seiten auf einer Strecke von fast hundert Schritten hohe Steinmauern, – die Mauern von Hinterhöfen. Hinter einer dieser Mauern zur linken Hand erblickte ich einen riesigen Holzstapel, einen langen Stapel, genau wie man sie auf Holzhöfen sieht; er war um einen guten Faden höher als die Mauer. Ich blieb plötzlich stehen und begann mir etwas zu überlegen. In der Tasche hatte ich einen kleinen silbernen Behälter mit Wachszündhölzern. Ich wiederhole noch einmal, ich gab mir ganz bewußt Rechenschaft darüber, was ich mir da überlegte und was ich tun wollte und erinnere mich noch heute ganz genau daran; warum ich das aber tun wollte, das weiß ich nicht, davon habe ich keine Ahnung. Ich weiß nur, daß mir die Lust dazu sehr plötzlich kam. »Auf die Mauer steigen kann man ganz leicht«, überlegte ich mir; gerade nur zwei Schritte von mir befand sich ein großes Tor in der Mauer, das wahrscheinlich oft monatelang fest verschlossen blieb. »Ich muß unten auf den Vorsprung steigen,« dachte ich mir weiter, »dann kann ich mich oben am Tore halten und auf die Mauer klettern – und niemand wird es bemerken, kein Mensch in der Nähe, es ist ganz still! Und oben setze ich mich ganz bequem auf die Mauer und kann den Stapel mit Leichtigkeit anzünden; ich brauche auf der innern Seite gar nicht einmal hinunterzusteigen, weil der Holzstapel ja beinahe an die Mauer stößt. Bei der Kälte wird es noch besser brennen, ich brauche nur mit der Hand ein Birkenscheit herauszuziehen . . . ja, und ich brauche überhaupt gar kein Scheit herauszuziehen: ich brauche nur ganz einfach, ohne mich von der Mauer zu rühren, ein Stück Rinde von einem Birkenscheit abzureißen, es mit einem Zündholz anzuzünden – es anzuzünden und in den Stapel hineinzuschieben, dann ist der Feuerschaden fertig. Und ich springe wieder herunter und mache mich davon; ich brauche nicht einmal zu laufen, weil man es lange nicht bemerken wird . . .« So überlegte ich mir das alles und – entschloß mich plötzlich ganz fest dazu. Ich verspürte eine außerordentliche Befriedigung, einen großen Genuß dabei und begann zu klettern. Klettern konnte ich ausgezeichnet: Turnen war schon auf dem Gymnasium meine Stärke gewesen, aber ich hatte Galoschen an, und das machte die Sache schwieriger. Aber es gelang mir doch, mich mit einer Hand an einem kaum zu spürenden Vorsprung oben festzuhalten, ich reckte mich und holte mit der andern Hand aus, um jetzt den Mauerrand zu fassen, aber da rutschte ich auf einmal aus und flog rücklings hinunter. Ich denke mir, ich werde mit dem Hinterkopf auf den Boden aufgeschlagen sein und habe wohl eine Minute oder zwei bewußtlos gelegen. Als ich zu mir kam, zog ich mechanisch den Pelz um mich zusammen, denn ich fand es auf einmal fürchterlich kalt; und nur noch mit halbem Bewußtsein von dem, was ich tat, schleppte ich mich in den Winkel des Tores und setzte mich dort hin, in mich zusammengekrochen und ganz klein in die Vertiefung zwischen Tor und Mauervorsprung gekauert. Meine Gedanken verwirrten sich, und ich muß wohl sehr schnell eingeschlafen sein. Ich erinnre mich, wie dann auf einmal durch den Schlaf ein tiefer, schwerer Glockenklang an mein Ohr schlug und wie ich beglückt darauf zu horchen begann.

 

2

Die Glocke schlug fest und sicher an, nur alle zwei oder gar drei Sekunden ein Schlag, das war aber kein Feuerläuten, sondern ein lieblicher, schwimmender Klang, und ich erkannte auf einmal, daß dies ein bekanntes Läuten war, das Läuten der Nikolaiglocke in der roten Kirche gegenüber dem Hause Touchards, – der altertümlichen Moskauer Kirche, die, soviel ich weiß, schon zur Zeit des Zaren Alexej Michajlowitsch erbaut ist und im Schmucke bunter russischer Ornamente und vieler Kuppeln und Säulen prangt, – und ich wußte auf einmal, daß die Karwoche eben vorüber war und daß auf den kümmerlichen Birken in Touchards Gärtchen schon neue grüne Blättchen zittern. Die grelle Spätnachmittagssonne schickte ihre schrägen Strahlen in unser Klassenzimmer, und bei mir, in meinem kleinen Stübchen zur linken Hand, wo mich Touchard schon seit einem Jahre von den »Grafen- und Geheimratskindern« abgesondert hatte, sitzt ein Gast. Ja, ich elternloses Kind hatte auf einmal einen Gast bei mir – zum erstenmal, seit ich bei Touchard war. Ich hatte diesen Gast sofort erkannt, sobald er in mein Zimmer getreten war: es war Mama; und ich hatte sie doch kein einziges Mal mehr gesehen seit damals, als sie mich in der Dorfkirche hatte kommunizieren lassen, und als die Taube durch die Kuppel geflogen war. Wir saßen selbander, und ich starrte sie sonderbar an. Später, erst viele Jahre nachher, erfuhr ich, daß sie damals – sie war allein zurückgeblieben, weil Wersilow plötzlich ins Ausland gereist war – daß sie damals ganz aus freien Stücken nach Moskau gekommen war, auf eigene Kosten, trotz ihrer so beschränkten Mittel, daß sie den Leuten, deren Obhut sie anvertraut war, fast heimlich durchgegangen war, und das alles nur, um mich wiederzusehen. Merkwürdig war auch, daß sie gekommen war und mit Touchard gesprochen, dabei aber mir selbst kein Wort davon gesagt hatte, daß sie meine Mutter war. Sie saß neben mir, und ich weiß noch, daß ich mich direkt darüber wunderte, daß sie so wenig sagte. Sie hatte ein Bündelchen mit und knüpfte es auf: darin waren sechs Orangen, ein paar Lebkuchen und zwei gewöhnliche Franzbrote. Ich fühlte mich durch die Franzbrote beleidigt und sagte mit gekniffnem Gesicht, die »Kost« wäre hier sehr gut, und wir bekämen jeder ein ganzes Franzbrot zum Tee.

»Na, schadet ja nichts, Jungchen; ich hab' mir halt so in meiner Einfalt gedacht: am Ende kriegen sie da in ihrer Schule nicht gut zu essen. Nimm's nicht übel, Jungchen.«

»Antonina Wasiljewna (Touchards Frau) wird es auch übelnehmen. Und dann werden mich auch die Mitschüler auslachen . . .«

»Willst du sie nicht vielleicht doch behalten? Du ißt sie vielleicht doch?«

»Na ja, lassen Sie sie nur da . . .«

Aber ich rührte die Geschenke mit keinem Finger an; die Orangen und Lebkuchen lagen vor mir auf dem Tischchen, und ich saß da und schlug die Augen nieder, trug aber große persönliche Würde zur Schau. Wer weiß, vielleicht wollte ich es durchaus nicht vor ihr verbergen, daß ich mich ihres Besuches vor den Mitschülern schämte, es ihr wenigstens ganz leise andeuten, damit sie es verstünde: »Siehst du, du blamierst mich und fühlst es dabei selber gar nicht.« Oh, ich lief schon zu jener Zeit hinter Touchard her, um ihm die Stäubchen abzubürsten! Ich stellte mir auch vor, wieviel Hohn und Spott ich von den andern Jungen auszustehen haben würde, wenn sie wieder fort wäre, und vielleicht auch von Touchard selber, – und so war nicht die Spur eines freundlichen Gefühles für sie in meinem Herzen. Nur mit verstohlenen Blicken musterte ich ihr dunkles, altes, dürftiges Kleid, ihre groben Hände, die beinahe Arbeiterhänden glichen, ihre ganz ordinären Schuhe und ihr stark verhärmtes Gesicht; ihre Stirn zeigte schon scharfe Falten, wenn auch Antonina Wasiljewna später, am Abend, als sie wieder fort war, zu mir sagte: »Ihre maman muß einmal sehr hübsch gewesen sein.«

So saßen wir, und auf einmal kam Agafja herein und brachte ein Teebrett, worauf eine Tasse Kaffee stand. Es war um die Zeit, wo die Touchards in ihrem Wohnzimmer den Nachmittagskaffee zu trinken pflegten. Aber Mama dankte und nahm die Tasse nicht: wie ich später erfuhr, trank sie zu der Zeit überhaupt keinen Kaffee, weil er ihr Herzklopfen machte. Nun war aber die Sache die, daß die Touchards die Erteilung der Erlaubnis zu dem Besuch und dem Wiedersehen mit mir als eine große Gnade von ihrer Seite auffaßten, so daß der Kaffee, den sie ihr hereingeschickt hatten, schon sozusagen, vergleichsweise gesprochen, eine Tat der Humanität darstellte, die ihren zivilisierten Gefühlen und ihrer europäischen Aufgeklärtheit ungeheure Ehre mache. Und ausgerechnet diese Tasse Kaffee mußte Mama ablehnen.

Ich wurde zu Touchard gerufen, und er sagte mir, ich solle alle meine Hefte und Bücher nehmen und sie Mama zeigen: »Damit sie sieht, wieviel Sie in meiner Anstalt profitiert haben.« Und Antonina Wasiljewna für ihr Teil zog die Lippen kraus und wisperte empfindlich und spöttisch:

»Ihrer maman scheint unser Kaffee nicht gut genug zu sein.«

Ich sammelte die Hefte und brachte sie Mama, die auf mich wartete, mitten durch die Schar der »Grafen- und Geheimratskinder«, die sich im Klassenzimmer drängten und mich und Mama anstarrten. Und es war mir sogar ein Genuß, Touchards Befehl mit buchstäblicher Genauigkeit auszuführen. »Das sind Lektionen aus der französischen Grammatik, das Diktatübungen, das ist die Konjugation der Hilfszeitwörter avoir und être, das sind Geographieextemporalien, die Beschreibung der Hauptstädte Europas und der andern Weltteile . . .« So trug ich mein Wissen vor, eine halbe Stunde lang oder länger, mit einem eintönigen dünnen Stimmchen, die Augen sittsam gesenkt. Ich wußte, daß Mama in den Wissenschaften gar nicht beschlagen war, daß sie vielleicht nicht einmal schreiben konnte, aber gerade deshalb gefiel mir meine Rolle so gut. Doch ich vermochte es nicht, sie zu ermüden: sie hörte mir die ganze Zeit zu, ohne mich zu unterbrechen, riesig aufmerksam, ja sogar ehrfürchtig, so daß die Sache schließlich mir selber langweilig wurde und ich aufhörte; der Blick, mit dem sie mich ansah, war übrigens bekümmert, und etwas wie Traurigkeit lag auf ihrem Gesicht.

Endlich stand sie auf, um zu gehen; da trat auf einmal Touchard selber ein und fragte sie mit dumm-wichtiger Miene, ob sie »mit den Erfolgen ihres Sohnes zufrieden« wäre. Mama begann ein zusammenhangloses Gemurmel und bedankte sich bei ihm; dann kam auch Antonina Wasiljewna dazu. Mama fing sie nun alle beide zu bitten an, sie sollten mich »arme Waise« nicht verlassen: »Er ist doch jetzt nichts anders als eine Waise, entziehen Sie ihm Ihr Wohlwollen nicht . . .« Und mit Tränen in den Augen verneigte sie sich vor ihnen beiden, vor jedem besonders, und vor beiden mit einer tiefen Verbeugung, so, wie sich »einfache Leute« verneigen, wenn sie als Bittsteller zu hohen Herrschaften kommen. Selbst den Touchards kam das ganz unerwartet, und Antonina Wasiljewna wurde sichtlich weicher und korrigierte natürlich den Schluß, den sie aus der Ablehnung der Tasse Kaffee gezogen hatte. Touchard antwortete mit noch verstärkter Wichtigkeit, daß er zwischen den Kindern »keinen Unterschied« mache, hier wären alle »seine Kinder« und er ihr Vater, ich stünde hier »fast auf der gleichen Stufe mit den Geheimrats- und Grafenkindern«, und das müsse man ihm hoch anschlagen. Mama verneigte sich nur, stammelte verwirrt etwas Unverständliches, wendete sich dann an mich und sagte, während Tränen in ihren Augen blitzten: »Leb' wohl, Jungchen!«

Und sie küßte mich, das heißt, ich gestattete ihr, mich zu küssen. Sie hatte sichtlich den Drang, mich wieder und wieder zu küssen, mich zu umarmen, mich an sich zu drücken, aber es war ihr wohl selbst peinlich vor den fremden Leuten, oder sie hatte aus andern Gründen ein bittres Gefühl, oder sie hatte erraten, daß ich mich ihrer schämte, jedenfalls ging sie, nachdem sie sich noch einmal vor den Touchards verneigt hatte, schnell auf die Tür zu. Ich blieb steif stehen.

»Mais suivez donc votre mère,« sagte Antonina Wasiljewna, »il n'a pas de coeur, cet enfant!«

Touchard antwortete ihr mit einem Achselzucken, das natürlich sagen sollte: »Ich behandle ihn ja auch nicht ohne Grund wie einen Bedienten.«

Ich folgte Mama gehorsam; wir kamen auf die Treppe hinaus. Ich wußte, daß sie alle uns durchs Flurfenster nachschauten. Mama wendete sich zur Kirche hinüber und bekreuzte sich dreimal unter tiefen Verneigungen, ihre Lippen zitterten, die tiefe Stimme einer Glocke dröhnte melodisch und gemessen vom Glockenturm. Sie wendete sich zu mir um und konnte sich nicht mehr bezwingen, legte beide Hände auf meinen Kopf und begann über meinem Haupte zu schluchzen.

»Mamachen, hören Sie doch auf . . . Die andern . . . Sie können das alles durchs Fenster sehen . . .«

Sie fuhr auf und sagte hastig:

»Gott der Herr . . . Gott der Herr sei mit dir . . . mögen dich die himmlischen Engel behüten und die heilige Mutter Gottes und der heilige Nikolaus, der Knecht Gottes . . . Lieber Gott, lieber Gott!« sagte sie hastig murmelnd mehrere Male hintereinander und schlug Kreuz um Kreuz über mich, um mich so oft wie möglich mit dem heiligen Zeichen zu segnen. »Du, mein Jungchen, du mein Lieber! – Warte einmal, Jungchen . . .«

Sie griff hastig mit der Hand in die Tasche und holte ein kleines, blaugewürfeltes Tüchlein hervor, das hatte in einer Ecke einen festgebundenen Knoten; sie wollte den Knoten aufmachen . . . aber er ging nicht auf . . .

»Na, einerlei, nimm das Tuch denn auch: es ist sauber, du kannst es vielleicht brauchen, es sind vier Zwanziger drin, du wirst sie vielleicht brauchen können, verzeih mir nur; Jungchen, mehr habe ich eben selber nicht . . . Verzeih mir nur, Jungchen.«

Ich nahm das Tuch und wollte schon sagen, wir würden »von Herrn Touchard und Antonina Wasiljewna sehr gut gehalten und hätten weiter nichts nötig«, aber ich unterdrückte diese Bemerkung und nahm das Tuch.

Sie schlug noch einmal das Kreuz über mich, murmelte schnell noch ein Gebet, und dann auf einmal – und dann auf einmal verneigte sie sich vor mir genau so wie vorhin oben vor den Touchards – mit einer tiefen, langsamen, langen Verneigung – ich werde das nie vergessen! Ich erzitterte nur so und wußte selbst nicht, wovor. Was wollte sie wohl mit dieser Verneigung sagen? »Hat sie damit ihre Schuld gegen mich bekennen wollen?« habe ich mich lange nachher einmal gefragt, – ich weiß es nicht. Damals aber genierte ich mich deswegen nur noch mehr, ich dachte mir: »Das sehen die nun von oben, und Lambert wird mich natürlich durchhauen.«

Endlich ging sie. Die Orangen und die Lebkuchen hatten die Geheimrats- und Grafenkinder schon verspeist, als ich wieder hinaufkam, und die vier Zwanziger nahm mir Lambert kurzerhand weg; dafür kauften sie sich in der Konditorei Kuchen und Schokolade und luden mich nicht einmal dazu ein.

Ein halbes Jahr war vergangen, und der windige, unfreundliche Oktober war gekommen. Ich dachte gar nicht mehr an Mama. Oh, damals war der Haß, der dumpfe Haß gegen alles schon in mein Herz gedrungen und hatte es ganz durchtränkt; wohl bürstete ich Touchard nach wie vor ab, aber ich haßte ihn schon aus aller Kraft, und dieser Haß wuchs mit jedem Tage. Aber eines Abends, zur melancholischen Dämmerstunde, begann ich, ich weiß nicht weshalb, in meiner Schublade zu kramen, und auf einmal erblickte ich in einer Ecke das blaue Batisttüchlein; es hatte die ganze Zeit da gelegen, sowie ich es damals hineingeworfen hatte. Ich nahm es heraus und musterte es mit einer gewissen Neugier; der eine Zipfel des Tüchleins trug noch deutlich die Spuren des Knotens von damals und sogar ein scharfes rundes Mal, das die Geldstücke hinterlassen hatten; übrigens legte ich das Tuch gleich wieder an seinen alten Platz und schob die Lade zu. Es war am Vorabend eines Feiertages, und die Glocke rief dröhnend zur Messe. Die Schüler waren schon nach dem Mittagessen nach Hause gefahren, Lambert aber blieb diesmal über Sonntag da, ich weiß nicht, warum er nicht geholt worden war. Wenn er mich damals auch noch immer prügelte wie zuvor, so vertraute er mir doch sehr viel an und hatte mich nötig. Wir sprachen den ganzen Abend von Pistolen von Lepage, von denen weder er noch ich je eine gesehen hatten, von Tscherkessensäbeln, und wie man damit zuhauen könne, wir malten uns aus, wie schön es wäre, eine Räuberbande zu gründen, und schließlich kam Lambert auf sein Lieblingsthema, die üblichen schmutzigen Geschichten, die ich sehr gern anhörte, wenn ich mich auch im stillen darüber verwunderte. Aber heute konnte ich das plötzlich nicht mehr hören, und ich sagte ihm, ich hätte Kopfweh. Um zehn Uhr gingen wir zu Bett; ich steckte meinen Kopf unter die Decke und holte unter dem Kopfkissen das blaue Tüchlein hervor: ich hatte es, ohne selbst zu wissen warum, vor einer Stunde wieder aus der Schublade geholt und es, sobald unsre Betten aufgedeckt waren, unterm Kopfkissen versteckt. Ich drückte es gegen mein Gesicht und begann es plötzlich mit Küssen zu bedecken: »Mama, Mama«, flüsterte ich, von der Erinnerung überwältigt, und es zog mir die Brust zusammen wie im Krampfe. Ich schloß die Augen und sah ihr Gesicht mit den zitternden Lippen, wie sie sich vor der Kirche bekreuzt und nachher das Kreuz über mich geschlagen hatte, und wie ich zu ihr gesagt hatte: »Die andern sehen es ja.« – »Liebe, liebe Mama, einmal im ganzen Leben bist du bei mir gewesen . . . Liebe Mama, wo bist du jetzt, du mein Gast aus der Ferne? Denkst du jetzt wohl an deinen armen Jungen, zu dem du gekommen warst? Zeig' dich mir jetzt bloß noch ein einziges kleines Mal, erscheine mir wenigstens im Traume, damit ich dir sagen kann, wie ich dich liebe, daß ich dich umarmen kann und deine blauen Augen küssen und dir sagen, daß ich mich deiner jetzt gar nicht mehr schäme, und daß ich dich auch damals geliebt habe, und daß mir mein Herz weh tat und ich bloß so dasaß wie ein Bedienter. Liebe Mama, du wirst nie erfahren, wie lieb ich dich damals hatte! Liebe Mama, wo bist du jetzt? Hörst du mich? Liebe, liebe Mama, und denkst du noch an die Taube damals, in der Dorfkirche? . . .«

»Na, zum Teufel . . . Was ist mit ihm los?« knurrt Lambert aus seinem Bette herüber, »wart' nur, ich will dich . . .! Läßt der Kerl einen nicht schlafen . . .« Er springt schließlich aus dem Bette, kommt zu mir herübergelaufen und will mir die Bettdecke wegreißen, aber ich klammre mich fest an die Decke, unter die ich mich mit dem Kopfe verkrochen habe.

»Er heult! Was heulst du, Schafskopf, Esel? Da hast du was dafür!« Und er drischt auf mich los, auf meinen Rücken, in meine Seite, die Schläge tun immer weher, und . . . und auf einmal schlage ich die Augen auf . . .

Es wird schon ziemlich hell, Eisnadeln blitzen auf dem Schnee, an der Mauer . . . Ich sitze zusammengekauert, kaum noch am Leben, erstarrt in meinem Pelze, und vor mir steht jemand, weckt mich mit lautem Schimpfen und stößt mich dabei mit seiner rechten Fußspitze in die Seite, daß es heftig weh tut. Ich richte mich auf und sehe ihn an: es ist ein Herr in einem kostbaren Bärenpelz, eine Zobelmütze auf dem Kopfe, er hat schwarze Augen, pechschwarze, stutzerhafte Bartkoteletten, weiße Zähne, die er auf mich herunterfletscht, einen Teint wie Milch und Blut, der sein Gesicht einer Larve ähnlich macht . . . Er steht sehr tief über mich gebeugt, und der Frosthauch dampft bei jedem Atemzug aus seinem Munde:

»Ganz erfroren; besoffnes Affengesicht, Schafskopf! Du erfrierst wie ein Hund, steh auf, steh auf!«

»Lambert!« schreie ich.

»Ja, wer bist du denn?«

»Dolgorukij!«

»Was für ein Dolgorukij, zum Teufel?«

»Einfach Dolgorukij! . . . Touchard . . . Weißt du, der, dem du damals in der Wirtschaft die Gabel in die Seite gerannt hast! . . .«

»A–a–ah!« ruft er und lächelt ein langes Lächeln erwachender Erinnerung (ja, konnte er mich denn wirklich vergessen haben?). »Ah! du bist es also, du!«

Er richtet mich auf und stellt mich auf die Füße; ich kann kaum stehen, mich kaum rühren, er führt mich und stützt mich mit seinem Arm. Er schaut mir in die Augen, wie um die Erinnerung wachzurufen, hört mir aufmerksam zu, und ich stammle hastig, ununterbrochen, ohne einen Augenblick innezuhalten, und bin so froh, so froh, daß ich spreche, und daß dies Lambert ist. War es, daß er mir als mein Retter erschien, oder warf ich mich ihm in jenem Augenblick deshalb an den Hals, weil ich ihn für einen Menschen aus einer ganz andern Welt hielt, – ich weiß es nicht, – ich konnte mir damals über nichts Rechenschaft geben, – aber ich warf mich ihm an den Hals, ohne mir Rechenschaft zu geben. Was ich damals gesagt habe, davon habe ich keine Ahnung mehr, und ich habe wohl auch schwerlich irgend etwas Zusammenhängendes vorgebracht, schwerlich auch nur ein deutliches Wort; aber er hörte mir mit gespitzten Ohren zu. Er rief die erste Droschke an, die uns in den Weg kam, und ein paar Minuten darauf saß ich schon bei ihm im warmen Zimmer.

 

3

Jeder Mensch, ganz gleich wer es ist, wird sicher in sich die Erinnerung an irgendein Erlebnis bewahren, das er als etwas ganz Phantastisches ansieht oder anzusehen geneigt ist, als etwas Seltsames, aus dem gewöhnlichen Gange der Dinge Herausspringendes, fast als ein Wunder, – mag das nun ein Traum sein, eine Begegnung, eine Weissagung, eine Vorahnung oder sonst etwas in der Art. Ich bin bis zum heutigen Tage geneigt, dieses Zusammentreffen mit Lambert als ein geradezu prophetisches Ereignis anzusehen . . . wenigstens was die Umstände und die späteren Folgen dieser Begegnung angeht. Dabei ging das alles, wenigstens von einer Seite, im höchsten Grade natürlich zu: er kam ganz einfach halb betrunken von einem seiner nächtlichen Geschäftsgänge zurück (was für Geschäfte er machte, davon wird später die Rede sein), in dieser Querstraße hatte er einen Augenblick an dem Tore haltgemacht, und da erblickte er mich eben. In Petersburg war er überhaupt erst seit ein paar Tagen.

Der Raum, in dem ich mich befand, war ein kleines, höchst dürftig möbliertes Zimmer in einem gewöhnlichen Petersburger Chambre garnie dritten Ranges. Lambert selber trug aber elegante und teure Kleider. Auf dem Fußboden standen zwei Handkoffer, die erst zur Hälfte ausgepackt waren. Eine Ecke des Zimmers war durch eine spanische Wand abgeteilt, hinter der das Bett stand.

»Alphonsine!« schrie Lambert.

»Présente!« ertönte hinter dem Wandschirm eine dröhnende Frauenstimme mit Pariser Akzent. Es dauerte nicht länger als zwei Minuten, und hinter dem Schirm hervor hüpfte Mademoiselle Alphonsine, die schnell ihre Kleider übergeworfen, aber noch nicht zugeknöpft hatte, und direkt aus dem Bette kam, – sie war ein ganz sonderbares Frauenzimmer, lang und klapperdürr, brünett, mit langer Taille, langem Gesicht, flackernden Augen und eingefallenen Backen, – ein scheußlich verlebtes Weibsbild!

»Flink!« (Ich übersetze seine Worte: er sprach Französisch mit ihr.) »Die haben da doch einen Samowar; schnell heißes Wasser, Rotwein und Zucker, und bring' ein Glas her, flink, er ist halb erfroren, er ist ein Freund von mir . . . Er hat im Schnee übernachtet.«

»Malheureux!« schrie sie auf und schlug mit einer theatralischen Gebärde die Hände zusammen.

»Kusch' dich!« rief ihr Lambert zu, genau, als spräche er mit einem Hunde, und drohte ihr mit dem Finger; sie hörte sofort mit ihrem Getue auf und lief, den Auftrag auszuführen.

Er sah mich an und betastete mich; er fühlte mir den Puls, legte die Hand an meine Stirn und meine Schläfen.

»Komisch,« brummte er, »daß du nicht erfroren bist . . . Übrigens, du warst ganz zugedeckt mit dem Pelz, bis über den Kopf; wie in einer Pelzhöhle hast du gesessen . . .«

Das Glas mit dem heißen Getränk erschien, ich schlürfte es gierig, und es machte mich sofort munter, und ich begann wieder zu stammeln; ich saß in halb liegender Stellung auf dem Diwan und redete immerzu, – ich verschluckte mich fast an meinen Worten, – aber was ich erzählt habe, und wie ich es erzählt habe, davon habe ich wiederum kaum noch eine schwache Ahnung, und von ganzen großen Teilen dazwischen weiß ich überhaupt nichts mehr. Ich muß noch einmal sagen: ich weiß nicht, ob er damals ein Wort von meinen Reden verstand; aber eins ist mir später vollkommen klar geworden: er begriff gerade genug davon, daß er den Schluß daraus zog, er dürfe dieser Begegnung mit mir durchaus keine zu geringe Bedeutung beilegen . . . Ich werde später an geeigneter Stelle klarmachen, worauf er dabei spekulieren zu können meinte.

Ich war nicht nur schrecklich munter geworden, sondern wurde, glaube ich, zeitweise sogar direkt lustig. Ich weiß noch, wie sich auf einmal das ganze Zimmer mit Sonnenschein füllte, als die Vorhänge hochgezogen wurden, ich weiß, wie der Ofen prasselte, den jemand geheizt hatte, – wer und wann, weiß ich nicht. Ich sehe auch noch das winzige schwarze Bologneserhündchen, das Mademoiselle Alphonsine auf dem Arme trug und kokett an ihr Herz drückte. Ich weiß nicht, warum dieser kleine Bologneser mich ganz besonders interessierte, so daß ich sogar meine Erzählung unterbrach und zweimal zu ihm hinüberging; aber Lambert winkte mit der Hand, und Alphonsina verkroch sich mit ihrem Bologneser hinter der spanischen Wand.

Er selber war sehr schweigsam; er saß mir gegenüber, hatte sich weit vorgebeugt und hörte mir zu, ohne ein Auge von mir zu verwenden; manchmal lächelte er ein lange währendes Lächeln, fletschte die Zähne und kniff die Augen zusammen, als dächte er angestrengt nach und wollte etwas kombinieren. Ganz klar erinnre ich mich nur noch daran, daß ich, als ich vom »Dokument« erzählte, auf keine Weise imstande war, mich verständlich auszudrücken und einen fortlaufenden Faden in meine Erzählung zu bringen; ich sah ganz deutlich an seinem Gesicht, daß er kein Wort davon verstand, es aber doch furchtbar gern verstanden hätte, so daß er es sogar riskierte, mich durch eine Frage zu unterbrechen, was deshalb seine Gefahr hatte, weil ich bei jeder Unterbrechung sogleich selber mein Thema abbrach und vergaß, wovon ich gesprochen hatte. Auf einmal stand er auf und rief Alphonsina.

»Er muß Ruhe haben; vielleicht müssen wir auch den Doktor holen. Was er verlangt, das tust du einfach, das heißt . . . vous comprenez, ma fille? Vous avez l'argent, nein? Da!« Und er reichte ihr einen Zehnrubelschein. Dann begann er mit ihr zu flüstern: »Vous comprenez! Vous comprenez!« sagte er wiederholt, drohte ihr mit dem Finger und runzelte drohend die Brauen. Ich sah, daß sie fürchterliche Angst vor ihm hatte.

»Ich komme gleich wieder; und für dich ist es das gescheiteste, du schläfst dich erst mal aus«, lächelte er mir zu und nahm seine Mütze.

»Mais vous n'avez pas dormi du tout, Maurice!« rief Alphonsina pathetisch.

»Taisez-vous, je dormirai après.« Damit ging er.

»Sauvée!« wisperte sie mir pathetisch zu und deutete mit der Hand hinter ihm her.

»Monsieur, monsieur!« begann sie dann sofort zu deklamieren und stellte sich mitten im Zimmer in Positur. »Jamais homme ne fut si cruel, si Bismarck que cet être, qui regarde une femme comme une saleté de hazard. Une femme, qu'est-ce que ça dans notre époque? ›Tue-la!‹ voilà le dernier mot de l'Académie française! . . .«

Ich sah sie mit großen Augen an; vor meinen Augen verdoppelte sich alles, mir dämmerten da schon zwei Alphonsinen . . . Auf einmal sehe ich, daß sie weint, ich fahre zusammen und begreife, daß sie wohl schon lange auf mich einredet, und daß ich inzwischen wahrscheinlich geschlafen haben oder bewußtlos gewesen sein muß.

»Hélas! de quoi m'aurait servi de la découvrir plutôt,« rief sie, »et n'aurais-je pas autant gagné à tenir ma honte cachée toute ma vie? Peut-être, n'est-il pas honnête à une demoiselle de s'expliquer si librement devant monsieur, mais enfin je vous avoue que s'il m'était permis de vouloir quelque chose, oh, ce serait de lui plonger au cœur mon couteau, mais en détournant les yeux, de peur que son regard exécrable ne fit trembler mon bras et ne glaçât mon courage! II a assassiné ce pope russe, monsieur, il lui arracha sa barbe rousse pour la vendre à un artiste en cheveux au pont des Maréchaux, tout près de la Maison de monsieur Andrieux – hautes nouveautés, articles de Paris, linge, chemises, vous savez, n'est-ce pas? . . . Oh, monsieur, quand l'amitié rassemble à table épouse, enfants, sœurs, amis, quand une vive allégresse enflamme mon cœur, je vous le demande, monsieur: est-il bonheur préférable à celui dont tout jouit? Mais il rit, monsieur, ce monstre exécrable et inconcevable, et si ce n'était pas par l'entremise de monsieur Andrieux, jamais, oh, jamais je ne serais . . . Mais quoi, monsieur, qu'avez-vous, monsieur?«

Sie stürzte auf mich zu: ich hatte, glaube ich, einen Fieberanfall, vielleicht auch eine Ohnmacht. Ich kann nicht beschreiben, was für einen unheimlichen, krankhaften Eindruck dieses halbverrückte Frauenzimmer auf mich machte. Sie glaubte vielleicht, sie müsse mich zerstreuen: wenigstens ging sie mir nicht einen Augenblick von der Seite. Vielleicht war sie einmal beim Theater gewesen; sie deklamierte schauerlich, wand sich, schwatzte ohne Unterbrechung; ich für mein Teil war schon lange verstummt. Soviel ich aus ihrem Geschwätz entnehmen konnte, mußte sie enge Verbindung haben mit einer »Maison de monsieur Andrieux – hautes nouveautés, articles des Paris etc.« und vielleicht stammte sie sogar aus dieser »Maison de monsieur Andrieux«; aber sie war für ewig von monsieur Andrieux getrennt worden par ce monstre furieux et inconcevable, und das war eben die Tragödie . . . Sie heulte, aber mich deuchte, sie täte das nur so, anstandshalber, und hätte eigentlich gar kein Bedürfnis zu weinen; manchmal hatte ich ein Gefühl, als müßte sie einfach auseinanderfallen wie ein Gerippe; sie sprach mit einer sonderbar gequetschten, dröhnenden Stimme; das Wort préférable sprach sie zum Beispiel aus, daß es wie prefer-a-able klang und blökte den Vokal a buchstäblich wie ein Schaf heraus. Als ich einmal gerade wieder zur Besinnung kam, sah ich, daß sie mitten im Zimmer eine Pirouette machte, sie tanzte aber nicht etwa, sondern diese Pirouette gehörte auch irgendwie zu ihrer Erzählung und sollte eine pantomimische Illustration dazu sein. Plötzlich stürzte sie sich auf das kleine, alte, verstimmte Pianoforte, das sich im Zimmer befand, paukte drauflos und fing an zu singen. Ich glaube, ich war wohl zehn Minuten ganz abwesend, oder ich war eingeschlafen, aber da winselte das Bologneserhündchen, und ich erwachte: das Bewußtsein kehrte mir für einen Augenblick mit voller Klarheit zurück und erleuchtete mich mit seiner ganzen Helle; ich sprang erschrocken auf:

»Lambert, ich bin bei Lambert!« dachte ich und nahm meine Mütze und stürzte mich auf meinen Pelz.

»Où allez-vous, monsieur?« rief die wachsame Alphonsina.

»Ich will fort, ich muß hinaus! Lassen Sie mich, halten Sie mich nicht!«

»Oui, monsieur!« stimmte mir Alphonsina sehr überzeugt bei und lief selbst, mir die Tür zum Korridor zu öffnen. »Mais ce n'est pas loin, monsieur, c'est pas loin du tout, ça ne vaut pas la peine de mettre votre Pelz, c'est ici près, monsieur!« schrie sie über den ganzen Korridor hin. Ich wendete mich nach rechts, als ich zur Tür hinaus war.

»Par ici, monsieur, c'est par ici!« rief sie mit ungeheurem Eifer und krallte sich mit ihren langen, knochigen Fingern in meinen Pelz, mit der andern Hand wies sie links den Korridor hinunter, nach einem Orte, wo ich durchaus nicht hinwollte. Ich riß mich los und lief durch die Gangtür auf die Treppe hinaus.

»Il s'en va, il s'en va!« schrie Alphonsina mit ihrer zerbrochnen Stimme und stürzte mir nach. »Mais il me tuera, monsieur, il me tuera!« Aber ich war schon auf der Treppe und es gelang mir, obgleich sie mir auch ins Treppenhaus nachjagte, die Haustür zu öffnen, auf die Straße zu entfliehen und in die erste beste Droschke zu springen. Ich gab dem Kutscher Mamas Adresse an.

 

4

Aber das Bewußtsein, das für einen Augenblick hell geworden war, erlosch sehr schnell wieder. Ich habe nur noch eine ganz, ganz dunkle Erinnerung daran, wie ich heimgefahren und zu Mama gebracht wurde, aber dann verfiel ich auch gleich in vollkommene Bewußtlosigkeit. Am Tage darauf, wurde mir später erzählt (übrigens erinnerte ich mich auch selber daran), kam ich wieder auf einen Augenblick zum Bewußtsein. Ich fand mich in Wersilows Zimmer, auf seinem Diwan; ich erinnere mich, daß ich um mich die Gesichter von Wersilow, Mama, Lisa sah, ich erinnere mich ganz genau daran, daß Wersilow mir etwas von Serstschikow und vom Fürsten erzählte, mir einen Brief zeigte, mir beruhigend zuredete. Sie haben mir später erzählt, ich hätte immer voll Angst nach einem gewissen Lambert gefragt und immer ein Bologneserhündchen bellen hören. Aber das schwache Licht des Bewußtseins erlosch gleich wieder: am Abend dieses zweiten Tages lag ich schon in den hitzigsten Fieberdelirien. Aber ich will den Ereignissen vorgreifen und gleich folgendes erzählen:

Als ich an jenem Abend aus Serstschikows Spielzirkel davongelaufen war und sich dort alles so einigermaßen beruhigt hatte, hatte Serstschikow bei Wiederbeginn des Spiels auf einmal mit lauter Stimme erklärt, es wäre ein bedauerliches Versehen vorgekommen: das abhanden gekommene Geld, vierhundert Rubel, hätte sich in einem andern Geldhaufen gefunden, und die Rechnung der Bank stimme genau. Da war der Fürst, der im Saale geblieben war, auf Serstschikow zugetreten und hatte sehr bestimmt verlangt, jener solle meine Unschuld öffentlich bekanntmachen und mir außerdem eine schriftliche Entschuldigung zukommen lassen. Serstschikow, für sein Teil, fand dies Verlangen gerechtfertigt und verpflichtete sich im Beisein aller, mir morgen einen Brief zu schicken, der mir alles erklären und mich um Entschuldigung bitten sollte. Der Fürst gab ihm Wersilows Adresse, und in der Tat erhielt Wersilow am andern Tage von Serstschikow einen an mich adressierten Brief und über dreizehnhundert Rubel, die mir gehörten und von mir am Roulettetisch vergessen worden waren. Auf diese Weise war die Geschichte bei Serstschikow erledigt; diese freudige Nachricht trug sehr viel zu meiner Genesung bei, als ich mein Bewußtsein erst einmal wiedererlangt hatte.

Der Fürst hatte, nachdem er vom Spieltisch heimgekehrt war, noch in derselben Nacht zwei Briefe geschrieben: einen an mich, den andern an sein ehemaliges Regiment, wo er die Geschichte mit dem Kornett Stepanow gehabt hatte. Beide Briefe hatte er am nächsten Morgen abgeschickt. Dann hatte er einen Rapport an seine vorgesetzte Stelle abgefaßt, war mit diesem Rapport in der Hand persönlich in aller Frühe zu seinem Regimentskommandeur gegangen und hatte ihm gemeldet, er sei ein Kriminalverbrecher, sei an der Fälschung der und der Aktien beteiligt, übergebe sich hiermit in die Hände des Gerichts und bitte um sein Urteil. Gleichzeitig überreichte er auch den Rapport, worin das alles schriftlich niedergelegt war. Er wurde verhaftet.

Hier ist der Brief, den er in jener Nacht an mich geschrieben hat, Wort für Wort:

»Teuerster Arkadij Makarowitsch!

Dadurch, daß ich es mit dem bedientenhaften ›Ausweg‹ versucht habe, habe ich mir das Recht verscherzt, mein Herz auch nur halbwegs mit dem Gedanken zu trösten, daß auch ich mich schließlich zu einer ehrenhaften Tat hätte aufraffen können. Ich trage schwere Schuld gegenüber meinem Vaterlande und meinem Namen, und dafür will ich, als der Letzte meines Namens, mir selbst das Urteil sprechen. Ich verstehe nicht mehr, wie ich mich an den niedrigen Gedanken der Selbsterhaltung klammern und eine Zeitlang die Absicht hegen konnte, mich mit Geld von diesen Leuten loszukaufen. Ich wäre ja trotzdem, vor meinem eignen Gewissen, mein Lebtag der Verbrecher geblieben. Und wenn diese Leute mir auch die kompromittierenden Schriftstücke zurückgegeben hätten, sie hätten mich doch mein Leben lang um keinen Preis mehr aus den Händen gelassen! Was wäre mir andres übriggeblieben: ich hätte mit ihnen leben, mit ihnen unter einer Decke stecken müssen mein Leben lang – das war das Schicksal, das mich erwartete! Ich konnte es nicht auf mich nehmen und habe schließlich genügend Kraft in mir gefunden, vielleicht auch nur genügend Verzweiflung, um so zu handeln, wie ich jetzt handle.

Ich habe einen Brief an die Kameraden von meinem ehemaligen Regiment geschrieben und darin Stepanow rehabilitiert. In dieser Handlungsweise liegt durchaus keine sühnende Tat und kann auch keine solche liegen: das alles ist nur der letzte Wille eines Menschen, der morgen ein toter Mann sein wird. So ist das anzusehen.

Verzeihen Sie mir, daß ich Ihnen gestern im Spielzirkel den Rücken gedreht habe; das geschah, weil ich in dem Augenblick nicht von Ihrer Unschuld überzeugt war. Jetzt, wo ich schon ein toter Mann bin, kann ich sogar das eingestehen . . . Es kommt ja wie aus einer andern Welt.

Die arme Lisa! Sie hat nichts von diesem Entschluß gewußt; sie soll mich nicht verfluchen, ihr eignes Urteil wird ihr das Richtige sagen. Ich kann mich nicht rechtfertigen und finde nicht einmal Worte, um es ihr auch nur zum kleinen Teil zu erklären. Ich will Ihnen noch sagen, Arkadij Makarowitsch, daß ich ihr, als sie gestern früh zum letztenmal bei mir war, – daß ich ihr da meinen Betrug gestanden und ihr offen bekannt habe, daß ich in Wirklichkeit zu Anna Andrejewna gefahren bin, um ihr einen Antrag zu machen. Wie ich so wieder ihre Liebe sah, konnte ich diese Schuld nicht auf dem Gewissen behalten; jetzt vor diesem letzten Schritte, der damals schon beschlossene Sache war, gestand ich es ihr. Sie hat es mir verziehen, sie hat mir alles verziehen, aber ich habe es ihr nicht geglaubt; das ist keine echte Verzeihung; ich an ihrer Stelle könnte so etwas nicht verzeihen.

Vergessen Sie mich nicht ganz.

Ihr unglücklicher letzter Fürst Sokolskij.«

*

Ich lag genau neun Tage bewußtlos.

 


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