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Sechstes Kapitel

Peter Stepanowitsch in geschäftiger Tätigkeit

 

I

Der Tag, an dem das Fest stattfinden sollte, war nun endgültig festgesetzt; aber Herr v. Lembke wurde immer trüber und nachdenklicher. Er war von seltsamen, schlimmen Ahnungen erfüllt, und Julija Michailowna beunruhigte sich über ihn sehr. Allerdings befand sich nicht alles im besten Zustande. Unser früherer milder Gouverneur hatte die Verwaltung nicht ganz in Ordnung hinterlassen; zur Zeit rückte die Cholera heran; an manchen Orten waren heftige Viehseuchen aufgetreten; den ganzen Sommer über hatten in den Städten und Dörfern Feuersbrünste gewütet, und im Volke gewann das törichte Gemurmel von Brandstiftungen immer mehr an Kraft. Das Räuberwesen war im Vergleich mit früher zu doppelten Dimensionen angewachsen. Aber all das wäre selbstverständlich noch nicht so schlimm gewesen, wenn nicht noch andere, schwerer wiegende Gründe hinzugekommen wären, die die Ruhe des bisher so glücklichen Andrei Antonowitsch störten.

Am meisten befremdete Julija Michailowna der Umstand, daß er mit jedem Tage schweigsamer und, was das Sonderbarste war, verschlossener wurde. Was hatte er denn überhaupt zu verbergen? fragte sie sich. Allerdings widersprach er ihr nur selten und ordnete sich ihr größtenteils völlig unter. Auf ihr Andringen waren z. B. zwei oder drei sehr gewagte und beinah gesetzwidrige Maßregeln getroffen worden, durch die die Amtsgewalt des Gouverneurs vergrößert wurde. Mehrmals war zu demselben Zwecke eine sehr bedenkliche Nachsicht geübt worden: es waren zum Beispiel Menschen, die verdient hätten vor Gericht gestellt und nach Sibirien geschickt zu werden, einzig und allein auf ihr Verlangen zu einer Auszeichnung vorgeschlagen. Auf manche Anfragen und Beschwerden war prinzipiell keine Antwort erteilt. All dies kam erst in der Folge an den Tag. Lembke unterschrieb nicht nur alles, sondern legte sich überhaupt nicht die Frage vor, in welchem Maße seine Gemahlin seine eigenen amtlichen Obliegenheiten versah. Dafür begann er auf einmal sich ab und zu bei »reinen Lappalien« zu sträuben und Julija Michailowna dadurch in Erstaunen zu versetzen. Er fühlte allerdings das Bedürfnis, sich für ganze Tage des Gehorsams durch kurze Augenblicke der Auflehnung zu belohnen. Unglücklicherweise vermochte Julija Michailowna trotz all ihres Scharfsinns diesen edlen Zug eines edlen Charakters nicht zu verstehen. Leider kümmerte sie sich darum nicht, und daraus entstanden viele Mißverständnisse.

Es schlägt nicht in mein Fach, und ich verstehe mich nicht darauf, gewisse Dinge zu berichten. Über Fehler in Verwaltungsangelegenheiten zu urteilen, ist nicht meine Sache, und so will ich denn dieses ganze administrative Gebiet völlig beiseite lassen. Als ich die Darstellung dieser Ereignisse begann, habe ich mir andere Aufgaben gestellt. Außerdem wird vieles durch die gerichtliche Untersuchung klargestellt werden, die jetzt in unserm Gouvernement in die Wege geleitet ist, und so braucht man nur noch ein wenig zu warten. Einige Auseinandersetzungen indessen werde ich doch nicht vermeiden können.

Aber ich fahre über Julija Michailowna fort. Die arme Dame (ich bedaure sie aufrichtig) hätte alles, was sie reizte und lockte (nämlich Ruhm und dergleichen), ganz wohl ohne die starke, exzentrische Tätigkeit erreichen können, die sie bei uns gleich vom ersten Tage an auszuüben begann. Aber ob nun infolge ihrer allzu poetischen Veranlagung oder infolge der langen, traurigen Mißerfolge in ihrer ersten Jugend: nach dem Umschwunge ihres Schicksals fühlte sie sich auf einmal als eine besonders Berufene, beinah als eine Gesalbte, über der ein feuriges Flämmchen aufzüngelte; aber gerade in diesem Flämmchen lag das Malheur: das ist eben kein Chignon, der jeden Frauenkopf bedecken kann. Aber von dieser Wahrheit eine Frau zu überzeugen, ist ganz besonders schwer; im Gegenteil, wer ihr nach dem Munde spricht, macht bei ihr Glück, und so sprachen ihr denn alle um die Wette nach dem Munde. Die Ärmste war mit einem Male ein Spielball der verschiedenartigsten Einflüsse geworden, während sie sich gleichzeitig einbildete, völlig selbständig zu sein. Viele geschickte. Menschen machten sich während der kurzen Zeit, wo sie bei uns die Frau Gouverneur war, ihre Harmlosigkeit zunutze und verstanden es, ihr Schäfchen zu scheren. Und was für ein Ragout kam bei ihr unter dem Scheine der Selbständigkeit heraus! Es gefiel ihr alles mögliche: der Großgrundbesitz, und das aristokratische Element, und die Vermehrung der Amtsgewalt des Gouverneurs, und das demokratische Element, und die neuen Einrichtungen, und die alte Ordnung, und die Freidenkerei, und die sozialistischen Ideen, und der strenge Ton des aristokratischen Salons, und die beinah wirtshausmäßige Ungeniertheit der jungen Leute in ihrer Umgebung. Sie schwärmte davon, »glücklich zu machen« und unversöhnliche Gegensätze miteinander zu versöhnen oder, richtiger gesagt, alle und alles in der Vergötterung ihrer eigenen Person zu vereinigen. Sie hatte auch ihre Lieblinge; so gefiel ihr ganz besonders Peter Stepanowitsch, der sich unter andern Mitteln auch der gröbsten Schmeichelei bediente. Aber er gefiel ihr auch noch aus einem andern sehr wunderlichen und für die arme Dame höchst charakteristischen Grunde: sie hoffte immer, er werde ihr eine ganze politische Verschwörung aufdecken! Wie schwer es auch sein mag, sich das vorzustellen, aber es war so. Sie hatte sich aus irgendwelchem Grunde die Meinung zurechtgemacht, daß sich in dem Gouvernement bestimmt eine politische Verschwörung verberge. Durch sein Schweigen in manchen Fällen und durch Andeutungen bei anderen Gelegenheiten trug Peter Stepanowitsch dazu bei, daß sich diese seltsame Idee immer mehr bei ihr festsetzte. Sie hatte die Vorstellung, er stehe mit allem, was es in Rußland an revolutionären Elementen gebe, in Verbindung, sei aber gleichzeitig ihr selbst bis zur Vergötterung ergeben. Die Aufdeckung der Verschwörung, der Dank aus Petersburg, die künftige Karriere, die Einwirkung auf die jungen Leute durch Freundlichkeit, um sie am Rande des Verderbens zurückzuhalten: all diese Gedanken erfüllten ihren phantasievollen Kopf. Sie hatte ja Peter Stepanowitsch gerettet und überwunden (davon war sie unerschütterlich überzeugt); da war zu erwarten, daß sie auch die übrigen retten werde. Sie sagte sich, es solle keiner, keiner von ihnen zugrunde gehen; sie werde sie alle retten; sie werde sie in verschiedene Klassen sortieren und so über sie berichten; sie werde im Geiste der höchsten Gerechtigkeit verfahren, und vielleicht werde sogar die Geschichte und der ganze russische Liberalismus ihren Namen segnen; aber dabei werde doch auch eine Verschwörung aufgedeckt sein. Alle möglichen Vorteile mit einemmal.

Aber doch war es erforderlich, daß wenigstens am Tage des Festes Andrei Antonowitsch ein vergnügteres Gesicht machte. Er mußte aufgeheitert und beruhigt werden. In dieser Absicht schickte sie Peter Stepanowitsch zu ihm; sie hoffte, daß dieser durch irgendein ihm bekanntes Beruhigungsmittel, vielleicht auch durch irgendwelche Mitteilungen, sozusagen Mitteilungen aus erster Hand, die Niedergeschlagenheit ihres Mannes beheben werde. Auf seine Geschicklichkeit setzte sie volles Vertrauen. Peter Stepanowitsch war schon lange nicht in Herrn v. Lembkes Arbeitszimmer gewesen. Er kam jetzt zu ihm gerade in einem Augenblicke hereingelaufen, wo der Patient sich in besonders übler Stimmung befand.

 

II

Es hatte ein eigentümliches Zusammentreffen von Ereignissen stattgefunden, aus welchem v. Lembke absolut nicht klug werden konnte. In einer Kreisstadt (in ebenderjenigen, wo Peter Stepanowitsch unlängst an einem Trinkgelage teilgenommen hatte) hatte ein Unterleutnant von seinem Hauptmann einen mündlichen Verweis erhalten. Dies war in Gegenwart der ganzen Kompagnie geschehen. Der Unterleutnant, der erst vor kurzem aus Petersburg gekommen war, war ein noch junger Mensch, immer schweigsam und finster, mit selbstbewußter Miene, obwohl er klein, dick und rotbäckig war. Er ließ sich den Verweis nicht gefallen; mit einem unerwarteten Aufkreischen, über das die ganze Kompagnie erstaunt war, stürzte er sich plötzlich auf den Hauptmann, versetzte ihm mit dem grimmig gesenkten Kopfe einen heftigen Stoß und biß ihn aus aller Kraft in die Schulter; nur mit Mühe konnte man ihn losreißen. Es war kein Zweifel, daß er den Verstand verloren hatte; wenigstens stellte es sich heraus, daß in der letzten Zeit an ihm die unglaublichsten Sonderbarkeiten wahrgenommen worden waren. So hatte er zum Beispiel aus seinem Quartier zwei dem Wirte gehörige Heiligenbilder herausgeworfen und eines derselben mit dem Beil zerhackt; in seinem Zimmer hatte er auf drei Untergestellen, die mit kirchlichen Lesepulten Ähnlichkeit hatten, die Werke von Vogt, Moleschott und Büchner ausgelegt und bei jedem Lesepulte ein Paar wächserne Kirchenlichte angezündet. Aus der Menge der bei ihm gefundenen Bücher konnte man schließen, daß er ein sehr belesener Mann sei. Hätte er fünfzigtausend Franks gehabt, so wäre er vielleicht nach den Markesas-Inseln gefahren, wie jener »Kadett«, von welchem Herzen Politischer Schriftsteller, 1812–1870. Anmerkung des Übersetzers in einer seiner Schriften mit so heiterem Humor spricht. Als er festgenommen wurde, fand man in seinen Taschen und in seiner Wohnung eine ganze Menge der wildesten Proklamationen.

Diese Proklamationen waren an und für sich eine Lappalie und meines Erachtens in keiner Weise besorgniserregend. Dergleichen hatten wir schon wer weiß wie viele zu sehen bekommen. Zudem waren sie gar nicht einmal neu: ganz ebensolche waren, wie man bald darauf erfuhr, unlängst im Gouvernement Ch*** verbreitet worden, und Liputin, der vor anderthalb Monaten in den Kreis und in das benachbarte Gouvernement gereist war, versicherte, schon damals genau die gleichen Blätter gesehen zu haben. Aber was unsern Andrei Antonowitsch befremdete, war besonders der Umstand, daß der Direktor der Schpigulinschen Fabrik gerade zu derselben Zeit an die Polizei zwei oder drei Pakete genau solcher Blätter, wie sie der Unterleutnant besessen hatte, ablieferte, die zur Nachtzeit auf den Fabrikhof geworfen waren. Die Pakete waren noch nicht aufgemacht gewesen, und es hatte noch keiner der Arbeiter etwas von dem Inhalte lesen können. Die Tat war ziemlich einfältig; aber Andrei Antonowitsch dachte angestrengt darüber nach. Er war der Ansicht, daß hier eine sehr unangenehme Komplikation vorliege.

In dieser Schpigulinschen Fabrik hatte damals soeben jene »Schpigulinsche Affäre« begonnen, die bei uns soviel Lärm hervorrief und mit mancherlei Varianten auch in die hauptstädtischen Zeitungen überging. Vor drei Wochen war dort ein Arbeiter an der asiatischen Cholera erkrankt und gestorben; daraus waren noch mehrere andere ebenfalls erkrankt. In der Stadt bekamen es alle mit der Angst, weil die Cholera aus dem Nachbargouvernement im Anrücken war. Ich bemerke, daß bei uns nach Möglichkeit geeignete sanitäre Maßregeln ergriffen waren, um dem ungebetenen Gaste entgegenzutreten. Aber die Schpigulinsche Fabrik, deren Besitzer Millionäre waren und vorzügliche Konnexionen besaßen, hatte man eigentümlicherweise übergangen. Nun erhob sich auf einmal ein allgemeines Geschrei, gerade dort sei ein geheimer Herd, eine Brutstätte der Krankheit; in der Fabrik selbst und ganz besonders in den Arbeiterwohnungen herrsche von jeher eine solche Unreinlichkeit, daß, wenn die Cholera nicht schon verbreitet wäre, sie dort von selbst entstehen müßte. Natürlich ergingen nun sofort die erforderlichen Anordnungen, und Andrei Antonowitsch bestand energisch auf ihrer unverzüglichen Ausführung. Die Fabrik wurde drei Wochen lang gereinigt; aber die Gebrüder Schpigulin schlossen dieselbe nun aus unbekanntem Grunde. Der eine von ihnen lebte beständig in Petersburg, und der andere reiste nach der behördlichen Verfügung über die Reinigung nach Moskau. Der Direktor schritt dazu, die Arbeiter abzulohnen, und betrog sie dabei, wie sich jetzt herausstellt, auf eine schamlose Weise. Die Arbeiter fingen an zu murren; sie verlangten eine gerechte Entlohnung und gingen in ihrer Dummheit zur Polizei, übrigens ohne viel Geschrei und noch ohne besondere Aufregung. Und gerade in dieser Zeit waren von dem Direktor die Proklamationen an Andrei Antonowitsch abgeliefert worden.

Peter Stepanowitsch kam in seiner Eigenschaft als guter Freund und als Angehöriger des Hauses und überdies als Julija Michailownas Beauftragter unangemeldet in das Arbeitszimmer hereingelaufen. Als v. Lembke ihn erblickte, runzelte er finster die Stirn und blieb unhöflich am Tische stehen. Bis dahin war er im Zimmer auf und ab gegangen und hatte über irgendwelchen Gegenstand eine intime Unterredung mit einem Beamten seiner Kanzlei, namens Blümer, gehabt, einem sehr unbeholfenen, mürrischen Deutschen, den er trotz heftigster Opposition von seiten Julija Michailownas aus Petersburg mitgebracht hatte. Der Beamte machte bei Peter Stepanowitschs Eintritt einige Schritte nach der Tür zu, ging aber nicht hinaus. Dem Eintretenden schien es sogar, als ob Blümer mit seinem Vorgesetzten einen bedeutsamen Blick wechselte.

»Oho! Da habe ich Sie einmal abgefaßt, Sie geheimnisvoller hoher Chef!« rief Peter Stepanowitsch lachend und legte die flache Hand auf eine Proklamation, die auf dem Tische lag. »Damit vergrößern Sie wohl Ihre Sammlung, wie?«

Andrei Antonowitsch wurde dunkelrot, und sein Gesicht verzerrte sich.

»Lassen Sie das liegen! Nehmen Sie sofort die Hand weg!« schrie er, vor Zorn zitternd. »Und unterstehen Sie sich nicht, mein Herr ...«

»Was haben Sie denn? Sie scheinen böse zu sein?«

»Ich muß Ihnen bemerken, mein Herr, daß ich durchaus nicht willens bin, Ihre Ungeniertheit künftighin zu dulden; ich bitte Sie, sich das zu merken ...«

»Pfui Teufel! Er ist ja wirklich ganz grimmig!«

»Schweigen Sie, schweigen Sie!« rief v. Lembke und stampfte mit den Füßen auf den Teppich. »Und erdreisten Sie sich nicht ...«

Gott weiß, wie weit die Sache noch gegangen wäre. Leider war da außer allem andern noch ein Umstand, von dem weder Peter Stepanowitsch noch auch Julija Michailowna Kenntnis hatten. Der unglückliche Andrei Antonowitsch war in seiner geistigen Zerrüttung in den letzten Tagen schon dahin gelangt, im stillen wegen seiner Frau auf Peter Stepanowitsch eifersüchtig zu sein. Wenn er allein war, namentlich nachts, hatte er Augenblicke, wo ihn eine sehr unangenehme Empfindung peinigte.

»Und ich hatte gedacht, wenn einer einem andern zwei Tage hintereinander bis nach Mitternacht im Tete-à-Tete seinen Roman vorliest und besten Urteil zu hören verlangt, dann hat er doch wenigstens für seine Person sich von diesen äußeren Förmlichkeiten freigemacht. Julija Michailowna empfängt mich ohne alle Umstände; wie soll man sich da Ihr eigenes Verhalten erklären?« sagte Peter Stepanowitsch mit einer Art von würdigem Ernst. »Apropos, hier ist auch Ihr Roman,« fuhr er fort und legte ein großes, schweres, zusammengerolltes, fest in blaues Papier gewickeltes Heft auf den Tisch.

Lembke wurde rot und fing an zu stottern.

»Wo haben Sie ihn denn gefunden?« fragte er vorsichtig, wobei aber doch seine Freude zum Durchbruch kam. Er suchte dieses Gefühl mit aller Macht zu verbergen; aber es gelang ihm nicht.

»Denken Sie sich nur: so zusammengerollt, wie das Heft war, ist es hinter die Kommode gefallen. Ich muß es damals, als ich hereinkam, ungeschickt auf die Kommode geworfen haben. Erst vorgestern wurde es beim Scheuern des Zimmers gefunden. Aber Sie haben mir eine gehörige Arbeit gemacht!«

Lembke schlug ernst die Augen nieder.

»Um Ihretwillen habe ich zwei Nächte hintereinander nicht geschlafen. Vorgestern wurde es gefunden; da habe ich es nun noch behalten und ganz durchgelesen; bei Tage hatte ich keine Zeit, so habe ich die Nächte darauf verwandt. Na, aber ... ich bin nicht damit zufrieden: es ist nicht meine Anschauungsweise. Aber Sie brauchen sich um mein Urteil nicht zu scheren; ich bin nie ein Kritiker gewesen; indessen, mein Bester, losreißen konnte ich mich doch nicht davon, obwohl ich unzufrieden war! Das vierte und fünfte Kapitel, die ... die ... die sind ja ganz eigenartig, hol's der Teufel! Und wieviel Humor Sie hineingestopft haben; ich habe so gelacht! Wie vorzüglich Sie es verstehen, jemand lächerlich zu machen sans que cela paraisse! Na, da im neunten Kapitel, da ist nur von Liebe die Rede; das ist nichts für mich; aber es ist sehr wirkungsvoll; nach Igrenjews Briefe habe ich beinah losgeheult, obgleich Sie den jungen Mann so fein dargestellt haben ... Wissen Sie, das ist ja sehr gefühlvoll; aber gleichzeitig wollen Sie doch durchblicken lassen, daß sein Wesen nicht das richtige ist, nicht wahr? Habe ich das erraten? Na, aber für den Schluß möchte ich Sie einfach prügeln! Was empfehlen Sie denn da? Das ist ja die frühere Vergötterung des Familienglücks, der Kindererzeugung, der Erwerbung von Kapitalien; das Ideal Ihrer Personen ist, ein behäbiges Leben zu führen, ich bitte Sie! Sie bezaubern den Leser, wie denn selbst ich mich gar nicht davon losreißen konnte; aber um so tadelnswerter ist dann doch diese Tendenz. Der Leser bleibt so dumm, wie er vorher war; Sie hätten ihn doch durch den Mund verständiger Menschen aufklären lassen sollen; aber statt dessen ... Na, aber genug; leben Sie wohl! Seien Sie ein andermal nicht so grimmig; ich war nur hergekommen, um Ihnen ein paar Worte zu sagen, die allerdings notwendig sind; aber wenn Sie in einer solchen Laune sind ...«

Andrei Antonowitsch hatte unterdessen seinen Roman genommen und ihn in seinen eichenen Bücherschrank eingeschlossen; zugleich hatte er auch Blümer mit den Augen einen Wink gegeben, daß er verschwinden möchte. Dieser entfernte sich mit einem langen, betrübten Gesichte.

»Ich bin nicht in einer solchen Laune; ich bin nur ... immerzu Unannehmlichkeiten,« murmelte er mit finsterem Gesichte, aber nicht mehr zornig, und setzte sich an den Tisch. »Setzen Sie sich, und sagen Sie Ihre paar Worte. Ich habe Sie lange nicht gesehen, Peter Stepanowitsch; kommen Sie nur künftig nicht wieder in dieser Manier hereingestürmt ... manchmal, wenn man bei der Arbeit ist, dann ist das ...«

»Meine Manieren sind nur ...«

»Ich weiß; ich glaube, daß Sie es ohne Absicht tun; aber man hat manchmal den Kopf voll Sorgen ... Setzen Sie sich!«

Peter Stepanowitsch rekelte sich auf das Sofa hin und schlug sofort die Beine unter.

 

III

»Was haben Sie denn für Sorgen? Doch nicht etwa diese Bagatellen?« fragte er, mit dem Kopfe nach der Proklamation hindeutend. »Ich kann Ihnen solcher Blättchen so viele herbringen, wie Ihnen nur beliebt; ich habe sie schon im Gouvernement Ch*** kennen gelernt.«

»Das heißt, in der Zeit, als Sie dort wohnten?«

»Nun, natürlich nicht in meiner Abwesenheit. Das Ding hatte noch eine Vignette; es war darüber ein Beil gezeichnet. Erlauben Sie,« (er nahm die Proklamation in die Hand) »na ja, da ist ja auch das Beil; es ist dieselbe Proklamation, genau dieselbe.«

»Ja, ein Beil! Sehen Sie, ein Beil!«

»Nun ja; haben Sie vor dem Beile Angst?«

»Nein, vor dem Beile nicht ... und ich habe überhaupt keine Angst; aber diese Sache ... die Sache ist die, es sind da noch gewisse Umstände ...«

»Was denn für Umstände? Was man Ihnen aus der Fabrik gebracht hat? He-he! Wissen Sie, in dieser Fabrik werden die Arbeiter selbst bald Proklamationen schreiben.«

»Wieso?« fragte v. Lembke erstaunt in strengem Tone.

»Nun, ganz einfach. Sehen Sie sich nur einmal diese Leute an! Sie sind zu milde, Andrei Antonowitsch; Sie schreiben Romane. Aber hier müßte nach alter Sitte verfahren werden.«

»Was soll das heißen: ›nach alter Sitte‹? Was sind das für Ratschläge? Die Fabrik ist gereinigt; ich habe es befohlen, und sie ist gereinigt worden.«

»Aber unter den Arbeitern ist eine Rebellion ausgebrochen. Man müßte sie durch die Bank auspeitschen; dann wäre die Sache erledigt.«

»Eine Rebellion? Das ist Unsinn; ich habe es befohlen, und die Fabrik ist gereinigt worden.«

»Ach, Andrei Antonowitsch, Sie sind zu milde!«

»Erstens bin ich überhaupt nicht so milde, und zweitens ...« Herr v. Lembke fühlte sich wieder verletzt. Es kostete ihn große Überwindung, dieses Gespräch mit dem jungen Menschen zu führen; aber er tat es aus Neugier, um zu sehen, ob dieser ihm nicht vielleicht etwas Neues sagen werde.

»Ah, ah, wieder eine alte Bekannte!« unterbrach ihn Peter Stepanowitsch und wies auf ein anderes Blatt, das unter einem Briefbeschwerer lag, ebenfalls wie eine Proklamation aussah und augenscheinlich im Auslande gedruckt war, aber in Versen. »Na, diese kann ich auswendig: ›Eine glänzende Persönlichkeit!‹ Wollen mal sehen; na ja, es stimmt: ›Eine glänzende Persönlichkeit,‹ ganz richtig. Ich habe dieses Blatt schon kennen gelernt, als ich noch im Auslande war. Wo haben Sie es denn aufgegabelt?«

»Sie sagen, Sie haben es im Auslande gesehen?« fragte v. Lembke auffahrend.

»Gewiß! Vor vier Monaten; es können auch fünf sein.«

»Was Sie aber doch alles im Auslande gesehen haben!« bemerkte v. Lembke fein und blickte sein Gegenüber an.

Ohne auf ihn zu hören schlug Peter Stepanowitsch das Blatt auseinander und las laut das folgende Gedicht:

» Eine glänzende Persönlichkeit.

Stammend aus der niedern Masse,
Nicht aus stolzer Adelsklasse,
Hart verfolgt vom Zorn des Zaren
Und vom Hasse der Bojaren,
Litt er willig; doch sein Mund
Tat dem armen Volke kund:
Alle müssen wir auf Erden
Frei und gleich und Brüder werden.

Zu entzünden klug den Brand,
Ging er in ein fremdes Land;
Fern vom Henker und der Knute
Wirkte still der Edle, Gute.
Und das Volk, im Joche stöhnend,
Harrte schon, den Kampf ersehnend,
Von Smolensk bis nach Taschkent:
›Gib das Zeichen uns, Student!‹

Und dann wollten alle eilen,
Um mit Äxten und mit Beilen
Zu zerschlagen der Bojaren
Herrschaft und des bösen Zaren,
Acker, Vieh und alle Sachen
Zum Gemeinbesitz zu machen,
Kirch' und Ehe aufzuheben
Und in Freud und Glück zu leben.«

»Gewiß ist das bei jenem Offizier gefunden worden, ja?« fragte Stepan Trofimowitsch.

»Sie kennen auch jenen Offizier?«

»Gewiß doch! Ich habe da mit ihm zwei Tage lang gekneipt. Es war vorauszusehen, daß er einmal verrückt werden würde.«

»Vielleicht ist er gar nicht verrückt geworden.«

»Sie glauben, daß er einen gebissen hat, zeugt von Verstand?«

»Aber erlauben Sie: wenn Sie diese Verse im Auslande gesehen haben und sich dann bei diesem Offizier herausstellt ...«

»Was meinen Sie? Sehr scharfsinnig! Sie wollen mich, wie ich sehe, examinieren, Andrei Antonowitsch? Sehen Sie mal,« begann er auf einmal mit ungewöhnlichem Ernste, »über das, was ich im Auslande gesehen habe, habe ich nach meiner Rückkehr schon an geeigneter Stelle Auskunft gegeben, und die von mir gegebene Auskunft ist für befriedigend erachtet worden; sonst würde ich die hiesige Stadt nicht mit meiner Gegenwart beglücken. Ich bin der Ansicht, daß meine Angelegenheiten auf diesem Gebiete erledigt sind und ich niemandem mehr zur Rechenschaft verpflichtet bin. Und erledigt sind sie nicht etwa, weil ich ein Denunziant wäre, sondern weil ich nicht anders handeln konnte. Diejenigen Personen, die aus ihrer Kenntnis der Sache heraus an Julija Michailowna Empfehlungsbriefe für mich geschrieben haben, haben mich darin als einen ehrenhaften Menschen bezeichnet ... Na, aber lassen wir das alles beiseite; ich bin zu Ihnen gekommen, um etwas sehr Ernstes mit Ihnen zu besprechen, und es ist recht gut, daß Sie diesen Ihren Schornsteinfeger hinausgeschickt haben. Die Sache ist mir von großer Wichtigkeit, Andrei Antonowitsch; ich habe eine außerordentliche Bitte an Sie.«

»Eine Bitte? Hm ... Nun, sprechen Sie sie aus; ich warte darauf und bin, wie ich bekenne, einigermaßen gespannt. Und ich muß hinzufügen, daß Sie mich überhaupt in große Verwunderung versetzen, Peter Stepanowitsch.«

Herr v. Lembke befand sich in ziemlicher Aufregung. Peter Stepanowitsch schlug ein Bein über das andere.

»In Petersburg«, begann er, »bin ich in vielen Punkten offenherzig gewesen; aber über manches, so zum Beispiel inbezug auf dies hier« (er tippte mit dem Finger auf die »Glänzende Persönlichkeit«) »habe ich geschwiegen, erstens weil es nicht der Mühe wert war, darüber zu reden, und zweitens, weil ich mich nur über das aussprach, wonach ich gefragt wurde. Ich liebe es nicht, bei solchen Dingen von selbst mehr zu tun, als nötig ist; darin finde ich den Unterschied zwischen einem Schurken und einem anständigen Menschen, den die Verhältnisse einfach überrumpelt haben ... Na, aber das nur nebenbei. Aber jetzt ... jetzt, wo diese Dummköpfe ... na, da das nun einmal herausgekommen ist und Sie es bereits in Händen haben und vor Ihnen, wie ich sehe, nichts verborgen bleibt (denn Sie sind ein Mann, der Augen im Kopfe hat, und man kann Sie nie vorausberechnen), und da diese Narren doch ihr Beginnen fortsetzen, da wollte ich ... da wollte ich ... nun ja, mit einem Worte, ich bin hergekommen, um Sie zu bitten, einen gewissen Menschen zu retten, der ebenfalls ein Narr, vielleicht ein Verrückter ist, ihn zu retten in Anbetracht seiner Jugend und des vielen Unglücks, das er gehabt hat, und ich vertraue dabei auf Ihre Humanität ... Sie werden ja doch wohl nicht bloß in Ihren selbstverfaßten Romanen human sein!« fügte er mit plumpem Spaß hinzu und brach dann ungeduldig ab.

Kurz, man sah, er war ein aufrichtiger Mensch, der sich aber infolge eines Übermaßes von menschenfreundlichen Gefühlen und vielleicht infolge allzu großen Zartgefühls ungeschickt und linkisch benahm, und vor allen Dingen ein Mensch, mit dessen geistigen Fähigkeiten es nicht weit her war, wie v. Lembke ihn gleich von vornherein mit großem Scharfsinn taxiert und längst über ihn geurteilt hatte, besonders während er in der letzten Woche, allein in seinem Arbeitszimmer, namentlich nachts, aus Leibeskräften im stillen über die unerklärlichen Fortschritte geschimpft hatte, die dieser in Julija Michailownas Gunst gemacht hatte.

»Für wen bitten Sie denn, und was bedeutet das alles?« erkundigte er sich mit vornehmer Würde, wobei er sich bemühte, seine Neugier zu verbergen.

»Das ... das ... zum Teufel ... Ich kann doch nichts dafür, daß ich zu Ihnen Vertrauen habe! Was kann ich dafür, daß ich Sie für einen höchst anständig denkenden Menschen halte, und namentlich für einen vernünftigen Menschen, das heißt für einen, der imstande ist zu begreifen, daß ... hol's der Kuckuck! ...«

Der arme Kerl wußte augenscheinlich nicht, wie er das, was er sagen wollte, herausbringen sollte.

»Sie sehen jedenfalls ein,« fuhr er fort, »Sie sehen jedenfalls ein, daß, wenn ich Ihnen seinen Namen nenne, ich Ihnen den Menschen auf Gnade und Ungnade preisgebe; ich gebe ihn Ihnen auf Gnade und Ungnade preis, nicht wahr? Nicht wahr?«

»Aber wie kann ich denn erraten, um wen es sich handelt, wenn Sie sich nicht entschließen können, seinen Namen auszusprechen?«

»Das ist es ja eben; Sie zwingen einen immer auf die Knie mit dieser Ihrer Logik, hol's der Henker ... na, hol's der Henker ... diese ›Glänzende Persönlichkeit‹, dieser ›Student‹, das ist Schatow ... nun wissen Sie alles!«

»Schatow? Was meinen Sie damit: ›Das ist Schatow‹?«

»Schatow ist der ›Student‹, von dem in diesem Gedichte die Rede ist. Er wohnt hier; ein früherer Leibeigener; na, der, welcher die Ohrfeige gegeben hat.«

»Ich weiß, ich weiß!« erwiderte Lembke stirnrunzelnd. »Aber, erlauben Sie, was wird ihm denn eigentlich schuldgegeben, und, was die Hauptsache ist, in welcher Hinsicht legen Sie für ihn Fürsprache ein?«

»Ich bitte Sie, ihn zu retten, verstehen Sie wohl! Ich habe ihn ja schon vor acht Jahren gekannt; ich war sogar sein Freund, kann man vielleicht sagen,« erwiderte Peter Stepanowitsch, der in lebhafte Erregung geriet. »Na, ich bin Ihnen ja keine Rechenschaft über mein früheres Leben schuldig,« fuhr er mit einer wegwerfenden Handbewegung fort; »das Ganze ist von gar keiner Bedeutung; es sind nur drei bis vier Menschen, und mit denen im Auslande kommen noch nicht zehn heraus; aber, was die Hauptsache ist, ich hatte auf Ihre Humanität und auf Ihren Verstand gehofft. Sie werden die Sache in ihrer wahren Gestalt erkennen und Ihrerseits darstellen und nicht als Gott weiß was, sondern als die törichte Schwärmerei eines durch Unglück, beachten Sie das wohl, durch langes Unglück verrückt gewordenen Menschen und nicht als wer weiß was für eine unerhörte politische Verschwörung ...«

Er war ordentlich außer Atem gekommen.

»Hm ... Ich sehe, daß er an den Proklamationen mit dem Beil Schuld trägt,« sagte Lembke, das Resultat ziehend, in beinah majestätischem Tone. »Erlauben Sie aber: wenn er alleinsteht, wie konnte er sie dann sowohl hier als auch in den Provinzen und sogar im Gouvernement Ch*** verbreiten, und endlich ... vor allen Dingen: wo hat er sie herbekommen?«

»Ich sage Ihnen ja, es sind ihrer offenbar im ganzen nur fünf Menschen, na oder zehn; woher soll ich es wissen?«

»Sie wissen es nicht?«

»Woher, zum Kuckuck, soll ich das wissen?«

»Aber Sie wußten doch, daß Schatow einer der Teilnehmer ist?«

»Ach!« Peter Stepanowitsch bewegte die Hand, als ob er sich gegen den überwältigenden Scharfsinn des Fragers schützen wolle. »Na, hören Sie, ich will Ihnen die ganze Wahrheit sagen: von den Proklamationen weiß ich nichts, das heißt absolut nichts, hol's der Henker; verstehen Sie wohl: nichts ... Na, natürlich, da ist jener Unterleutnant, und noch jemand hier am Orte ... na, und vielleicht Schatow; na, und noch jemand; na, das sind sie auch alle, eine elende, klägliche Gesellschaft ... Aber ich bin hergekommen, um für Schatow zu bitten; der muß gerettet werden; denn dieses Gedicht ist von ihm, sein eigenes Machwerk, und in seinem Auftrage im Auslande gedruckt; das weiß ich genau; aber von den Proklamationen weiß ich schlechterdings nichts.«

»Wenn die Verse von ihm herrühren, dann trifft das gewiß auch für die Proklamationen zu. Welche Tatsachen veranlassen Sie aber, Herrn Schatow im Verdacht zu haben?«

Mit der Miene eines Menschen, der nun völlig die Geduld verloren hat, holte Peter Stepanowitsch eine Brieftasche aus der Tasche und entnahm dieser einen Zettel.

»Da sind die Tatsachen!« rief er und warf ihn auf den Tisch.

Lembke faltete den Zettel auseinander und sah, daß derselbe vor einem halben Jahre von hier nach irgendeinem Orte im Auslande geschrieben war; der Inhalt war kurz und bestand nur aus zwei Zeilen:

 

»Die ›Glänzende Persönlichkeit‹ kann ich hier nicht drucken; ich kann überhaupt nichts; drucken Sie das Blatt im Auslande!

Iw. Schatow.«

 

Lembke blickte Peter Stepanowitsch starr an. Warwara Petrowna hatte recht gehabt mit ihrer Bemerkung, daß sein Blick an den eines Hammels erinnere, besonders manchmal.

»Die Sache hängt nämlich so zusammen,« sagte Peter Stepanowitsch hastig: »Er hat diese Verse hier vor einem halben Jahre geschrieben, konnte sie aber hier nicht drucken, nun, auf einer geheimen Druckerei. Und daher bittet er, sie im Auslande zu drucken ... Es scheint, das ist deutlich?«

»Ja, das ist deutlich; aber wen bittet er denn? Sehen Sie, das ist noch nicht deutlich,« bemerkte Lembke mit schlauer Ironie.

»Nun, natürlich Kirillow; der Brief ist an Kirillow nach dem Auslande geschrieben ... Das wußten Sie nicht, wie? Das Ärgerliche ist eben dies, daß Sie sich vielleicht vor mir nur verstellen und schon längst selbst von diesen Versen und allem andern Kenntnis haben! Wie sind diese Verse denn auf Ihren Tisch gekommen? Die Verse haben den Weg hierher schlau gefunden! Warum foltern Sie mich, wenn es so ist?«

Er wischte sich krampfhaft mit dem Taschentuche den Schweiß von der Stirn.

»Es ist mir vielleicht einiges bekannt ...« erwiderte Lembke geschickt ausweichend; »aber wer ist denn dieser Kirillow?«

»Nun, das ist ein von auswärts hergezogener Ingenieur; er war Stawrogins Sekundant, ein Wahnsinniger, ein Verrückter; Ihr Unterleutnant hat tatsächlich vielleicht nur einen Anfall von Tobsucht gehabt; aber dieser Mensch ist total verrückt, total; das garantiere ich. Ach, Andrei Antonowitsch, wenn die Regierung wüßte, von welcher Art diese Leute durch die Bank sind, dann würde sie keine Hand gegen sie aufheben. Alle, wie sie da sind, gehören sie ins Irrenhaus; ich habe sie mir in der Schweiz und auf ihren Kongressen zur Genüge angesehen.«

»Dort, von wo aus die hiesige Bewegung geleitet wird?«

»Aber wer leitet sie? Drei bis vier Menschen. Sowie man sie ansieht, bekommt man Langeweile. Und was für eine hiesige Bewegung leiten sie denn? Die Proklamationen, ja? Und wer wird denn angeworben: Unterleutnants, die am Delirium leiden, und zwei, drei Studenten! Sie sind ein vernünftiger Mensch; daher möchte ich Ihnen die Frage vorlegen: warum lassen sich nicht bedeutendere Leute anwerben, warum immer nur Studenten und unausgereifte Menschen von zweiundzwanzig Jahren? Und sind ihrer etwa viele? Eine Million Spürhunde ist auf der Suche nach ihnen, und wie viele finden sie denn im ganzen? Sieben Menschen! Ich sage Ihnen, die Geschichte wird einem langweilig.«

Lembke hörte aufmerksam zu, aber mit einer Miene, die deutlich besagte: mit allgemeinen Redensarten ist mir nicht gedient.

»Aber erlauben Sie, Sie behaupten, daß der Brief nach dem Auslande adressiert war; aber eine Adresse ist hier nicht vorhanden; woher wissen Sie denn, daß der Brief an Herrn Kirillow adressiert war und ferner nach dem Auslande, und ... und ... daß er wirklich von Herrn Schatow geschrieben ist?«

»Verschaffen Sie sich doch sogleich Schatows Handschrift, und vergleichen Sie beides! In Ihrer Kanzlei wird sich gewiß eine Unterschrift von ihm auftreiben lassen. Und daß der Brief an Kirillow gerichtet war, weiß ich daher, weil Kirillow ihn mir damals selbst gezeigt hat.«

»Also sind Sie selbst ...«

»Nun ja, natürlich, ich selbst. Die Leute haben mir da alles mögliche gezeigt. Und was diese Verse anlangt, so wird fingiert, der verstorbene Herzen habe sie für Schatow geschrieben, als dieser sich noch im Auslande umhertrieb; sie seien als eine Erinnerung an ihre Begegnung, als ein Lob und eine Empfehlung der Persönlichkeit gemeint; na, weiß der Teufel ... Und Schatow verbreitet das Gedicht nun unter den jungen Leuten und sagt ihnen damit: ›So hat Herzen selbst über mich geurteilt.‹«

»Tje, tje, tje!« schnalzte Lembke, als wenn er nun endlich alles erraten hätte. »Ich habe immer überlegt: die Proklamation, das versteht man; aber warum die Verse?«

»Wie sollten Sie das nicht verstehen? Aber weiß der Kuckuck, warum ich Ihnen das alles vorplaudere! Hören Sie, geben Sie mir Schatow frei, und dann mag alle übrigen der Teufel holen, sogar Kirillow einbegriffen, der sich jetzt im Filippowschen Hause eingeschlossen hat und verborgen hält, wo auch Schatow wohnt. Diese Menschen mögen mich nicht leiden, weil ich mich von ihnen losgesagt habe; aber versprechen Sie mir, Schatow zu schonen, und ich will Ihnen alle andern auf einem Präsentierteller darbieten. Ich werde mich nützlich machen, Andrei Antonowitsch! Ich schätze diese ganze klägliche Gesellschaft auf neun bis zehn Mann. Ich werde ihnen selbst nachspüren, auf eigene Hand. Dreie kennen wir schon: Schatow, Kirillow und den Unterleutnant. Die übrigen erkenne ich noch nicht mit hinreichender Deutlichkeit ... übrigens bin ich nicht kurzsichtig. Es ist hier gerade wie im Gouvernement Ch***; was waren das da für Leute, die mit Proklamationen abgefaßt wurden: zwei Studenten, ein Gymnasiast, zwei zwanzigjährige Adlige, ein Lehrer und ein sechzigjähriger Major a. D., der vom Trinken ganz dumm im Kopfe war; das war alles; glauben Sie mir, das war alles; man war ganz erstaunt darüber, daß das alles war. Aber ich brauche sechs Tage. Ich habe es mir schon ausgerechnet: sechs Tage, nicht weniger. Wenn Sie ein gutes Resultat erzielen wollen, so lassen Sie die Leute noch sechs Tage lang unangerührt, und dann werde ich sie Ihnen in ein Bündel zusammenbinden; aber wenn Sie sie früher aufstören, so fliegt das Nest aus. Aber schenken Sie mir Schatow! Ich bitte für Schatow ... Das beste wäre, wenn Sie ihn insgeheim und freundschaftlich zu sich rufen ließen, etwa hierher, in Ihr Arbeitszimmer, den Schleier vor ihm lüfteten und ihn examinierten. Er wird Ihnen gewiß von selbst zu Füßen fallen und in Tränen ausbrechen! Er ist ein nervöser, unglücklicher Mensch; seine Frau hat intimen Verkehr mit Stawrogin gehabt. Seien Sie freundlich zu ihm, und er wird Ihnen alles selbst enthüllen; aber Sie müssen noch sechs Tage damit warten ... Und vor allen Dingen, vor allen Dingen, sagen Sie keine Silbe zu Julija Michailowna! Es muß ein Geheimnis bleiben. Können Sie das Geheimnis bewahren?«

»Wie?« fragte Lembke und riß die Augen weit auf. »Haben Sie denn Julija Michailowna nichts davon entdeckt?«

»Ihr entdeckt? Aber ich bitte Sie, Gott soll mich behüten! Ach, Andrei Antonowitsch! Sehen Sie, ich lege den größten Wert auf die Freundschaft Ihrer Frau Gemahlin und schätze sie selbst sehr hoch ... na und so weiter ... aber einen solchen Bock werde ich nicht schießen. Ich widerspreche ihr nicht, weil das, wie Sie selbst wissen, gefährlich ist. Ich lasse wohl auch ab und zu ein Wörtchen vor ihr fallen, weil sie das gerne hat; aber daß ich ihr, wie jetzt eben Ihnen, Namen oder so etwas angeben sollte, davon ist nicht die Rede, liebster Herr! Warum wende ich mich denn jetzt an Sie? Weil Sie doch eine Mannsperson sind, ein ernsthafter Mensch mit langjähriger, sicherer dienstlicher Erfahrung. Sie haben vieles in der Welt gesehen. Sie wissen, meine ich, noch von Ihrer Petersburger Tätigkeit her genau über jeden Schritt Bescheid, den man in solchen Angelegenheiten tun muß. Aber wenn ich ihr zum Beispiel diese zwei Namen angäbe, so würde sie sie sogleich austrommeln ... Sie möchte ja doch Petersburg von hier aus in Erstaunen versetzen. Nein, sie ist zu hitzig; das ist die Sache!«

»Ja, dazu inkliniert sie ein wenig,« murmelte Andrei Antonowitsch mit einem gewissen Vergnügen; gleichzeitig aber ärgerte er sich gewaltig darüber, daß dieser Flegel sich erdreistete, über Julija Michailowna in so freier Manier zu reden.

Peter Stepanowitsch meinte wahrscheinlich, daß das Gesagte noch nicht ausreiche und noch eine weitere Dosis nötig sei, um Herrn v. Lembke zu schmeicheln und ihn völlig in seine Gewalt zu bekommen.

»Sehr richtig, sie inkliniert dazu,« stimmte er bei. »Sie ist ja vielleicht eine geniale, literarisch hochgebildete Dame; aber sie scheucht die Sperlinge auseinander. Sie hält es nicht sechs Stunden aus, geschweige denn sechs Tage. Ach, Andrei Antonowitsch, verbieten Sie einer Frau nie etwas auf die Dauer von sechs Tagen! Sie erkennen ja an, daß ich einige Erfahrung besitze, ich meine in diesen Dingen; ich weiß ja manches, und Sie wissen selbst, daß ich in der Lage bin, manches zu wissen. Ich bitte Sie nicht aus Mutwillen um die sechs Tage, sondern aus ernstem Grunde.«

»Ich habe gehört ...« (Lembke entschloß sich nur schwer dazu, seinen Gedanken auszusprechen), »ich habe gehört, daß Sie nach Ihrer Rückkehr aus dem Auslande an der gehörigen Stelle Erklärungen abgegeben haben ... als fühlten Sie Reue?«

»Na, nehmen wir an, es wäre so etwas geschehen!«

»Ich habe natürlich kein Verlangen, tiefer einzudringen ... Aber es hat mir immer geschienen, als hätten Sie hier bisher in einem ganz anderen Sinne gesprochen, zum Beispiel über den christlichen Glauben, über die gesellschaftlichen Einrichtungen und selbst über die Regierung ...«

»Ich habe alles mögliche gesagt. Ich spreche auch jetzt noch ebenso; nur darf man diese Gedanken nicht in der Weise durchzuführen suchen, wie es jene Dummköpfe möchten; das ist der Drehpunkt. Oder was hat das für Sinn, daß jener Unterleutnant einen in die Schulter gebissen hat? Auch Sie waren ja mit mir einverstanden und sagten nur, es sei verfrüht.«

»Meine Äußerung, daß ich einverstanden sei, und meine Bemerkung, das sei verfrüht, bezogen sich eigentlich auf etwas anderes.«

»Bei Ihnen hat doch jedes Wort einen Doppelsinn! He-he! Sie sind ein vorsichtiger Mensch!« sagte Peter Stepanowitsch in heiterem Tone. »Hören Sie, mein Teuerster, ich mußte mit Ihnen bekannt werden; na, und darum habe ich in meiner Manier geredet. In dieser Art habe ich nicht nur mit Ihnen, sondern auch schon mit vielen anderen Bekanntschaft gemacht. Vielleicht hielt ich für nötig, Ihren Charakter kennen zu lernen.«

»Wozu wollten Sie denn meinen Charakter kennen lernen?«

»Na, was weiß ich wozu« (er lachte wieder). »Sehen Sie, teurer und hochverehrter Andrei Antonowitsch, Sie sind schlau; aber darauf sind Sie doch noch nicht gekommen und werden auch gewiß nicht darauf kommen, verstehen Sie? Vielleicht verstehen Sie mich? Ich habe zwar nach meiner Rückkehr aus dem Auslande an der gehörigen Stelle Erklärungen abgegeben und weiß wirklich nicht, warum jemand, der seine bestimmten Überzeugungen hat, nicht so sollte handeln dürfen, wie es seine aufrichtigen Überzeugungen verlangen; aber es hat mich ›dort‹ niemand über Ihren Charakter aufgeklärt, und ich habe ›von dort‹ noch keine derartigen Aufträge übernommen. Erwägen Sie nur selbst: statt Ihnen als erstem die zwei Namen anzugeben, hätte ich auch direkt ›dorthin‹ einen Wink geben können, nämlich dorthin, wo ich gleich zuerst meine Erklärungen abgegeben habe; und wenn ich eine Verbesserung meiner Finanzen oder sonst einen Vorteil im Auge gehabt hätte, so wäre mein jetziges Verfahren ein Rechenfehler; denn dankbar werden die Herren dort jetzt nicht mir sein, sondern Ihnen. Ich handle so einzig und allein, um Schatow zu retten,« fügte Peter Stepanowitsch mit edler Wärme hinzu, »nur um Schatows willen, in Erinnerung an unsere frühere Freundschaft ... Na, und wenn Sie die Feder ergreifen, um ›dorthin‹ zu berichten, dann loben Sie mich ein bißchen, wenn Sie wollen ... ich werde nichts dagegen haben, he-he! Aber nun adieu; ich habe gar zu lange dagesessen und hätte nicht soviel schwatzen sollen!« fügte er nicht ohne Anmut hinzu und stand vom Sofa auf.

»Im Gegenteil, ich freue mich sehr, daß die Angelegenheit sozusagen geordnet ist,« sagte v. Lembke, indem er sich ebenfalls mit freundlicher Miene erhob, offenbar unter der Einwirkung der letzten Worte. »Ich nehme Ihren Dienst dankbar an; und seien Sie überzeugt, daß alles, was meinerseits hinsichtlich einer Äußerung über Ihren Eifer geschehen kann ...«

»Sechs Tage, das ist die Hauptsache; sechs Tage Frist, und daß Sie sich diese sechs Tage still verhalten; das ist's, was ich brauche.«

»Nun gut«

»Natürlich binde ich Ihnen nicht die Hände; wie könnte ich das wagen? Sie werden es nicht unterlassen können, der Sache nachzuspüren; nur erschrecken Sie das Nest nicht vor der Zeit; in diesem Punkte verlasse ich mich auf Ihre Klugheit und auf Ihre Erfahrung. Aber Sie haben gewiß eine Menge eigener Spürhunde aller Art bereit, he-he!« platzte Peter Stepanowitsch, wie junge Menschen eben sind, heiter und leichtfertig heraus.

»Ganz so ist es denn doch nicht,« erwiderte Lembke, liebenswürdig ausweichend. »Das pflegen sich junge Leute so einzubilden, daß wir immer einen großen Apparat in Bereitschaft haben ... Aber, apropos, gestatten Sie noch ein Wort: wenn dieser Kirillow Stawrogins Sekundant war, dann ist wohl auch Herr Stawrogin ...«

»Was ist mit Stawrogin?«

»Ich meine, wenn sie miteinander so befreundet sind?«

»Ach nein, nein, nein! Da haben Sie trotz all Ihrer Schlauheit doch fehlgeschossen. Ich muß mich sogar darüber wundern. Ich glaubte ja, daß Sie hierüber orientiert wären ... Hm ... Stawrogin ist das vollständige Gegenteil, aber das vollständige ... Avis au lecteur."

»Wirklich? Ist das möglich?« fragte Lembke mißtrauisch. »Julija Michajlowna hat mir mitgeteilt, nach Nachrichten, die sie aus Petersburg erhalten habe, sei er sozusagen mit gewissen Instruktionen hergekommen ...«

»Ich weiß nichts, nichts weiß ich, gar nichts! Adieu! Avis au lecteur!" rief Peter Stepanowitsch, der Frage unverhohlen ausweichend.

Er lief zur Tür.

»Gestatten Sie, Peter Stepanowitsch, gestatten Sie!« rief ihm Lembke nach. »Noch eine ganz kleine amtliche Sache, und dann werde ich Sie nicht mehr aufhalten.«

Er nahm aus dem Tischkasten ein Kuvert.

»Hier ist noch ein eigentümliches Exemplar aus derselben Kategorie, und ich beweise Ihnen damit, daß ich Ihnen im höchsten Grade vertraue. Sehen Sie es an, und sagen Sie mir Ihre Meinung darüber!«

In dem Kuvert steckte ein Brief, ein seltsamer, anonymer, an Lembke adressierter Brief, der ihm erst tags zuvor zugegangen war. Peter Stepanowitsch las zu seinem größten Ärger Folgendes:

 

»Exzellenz!

Denn dem Range nach sind Sie das. Hiermit mache ich Anzeige von einem Anschlage auf das Leben hochgestellter Persönlichkeiten und des Vaterlandes; denn dazu führt es direkt. Ich selbst habe viele Jahre lang fortwährend welche ausgestreut. Auch Gottlosigkeit ist dabei. Es wird eine Rebellion vorbereitet; es sind mehrere tausend Proklamationen da, und hinter jeder werden hundert Menschen jappend herlaufen, wenn die Behörde sie nicht vorher wegnimmt; denn es sind eine Menge Belohnungen versprochen, und das gewöhnliche Volk ist dumm, und dann noch der Branntwein. Das Volk, das sich fragt, wer der Schuldige ist, wird den einen und den andern zu Grunde richten und da ich vor beiden Seiten in Furcht bin, so habe ich bereut, woran ich nicht teilgenommen habe; denn meine Verhältnisse sind nun einmal von der Art. Wenn Sie wollen, daß eine Anzeige erfolgt zur Rettung des Vaterlandes, sowie auch der Kirchen und Heiligenbilder, so bin ich der einzige, der das tun kann. Aber nur unter der Bedingung, daß mir vom Ministerium des Innern telegraphisch Verzeihung erteilt wird, sofort, mir allein von allen; die andern mögen sich verantworten. Stellen Sie als Signal jeden Abend um sieben Uhr ein Licht ins Fenster beim Portier. Wenn ich das sehe, werde ich Vertrauen haben und hinkommen, um die barmherzige Hand aus der Hauptstadt zu küssen, aber unter der Bedingung, daß ich eine Pension bekomme; denn wovon soll ich leben? Sie selbst werden es nicht zu bereuen haben; denn für Sie wird dabei ein hoher Orden herauskommen. Es muß ganz im stillen verfahren werden; sonst drehen sie einem das Genick um.

Euer Exzellenz verzweifelter Mensch
fällt zu Ihren Fußspuren nieder

der reuige Freidenker Incognito.«

 

Herr v. Lembke erwähnte, der Brief sei gestern in die Portierloge hineingelegt worden in einem Augenblicke, als niemand darin gewesen sei.

»Wie denken Sie denn darüber?« fragte Peter Stepanowitsch in beinah grobem Tone.

»Ich möchte meinen, daß es ein anonymes Pasquill ist, ein Verspottung.«

»Das wird das Wahrscheinlichste sein. Sie führt man nicht hinter das Licht.«

»Ich glaube das besonders deshalb, weil es so dumm ist.«

»Haben Sie hier schon andere Pasquille erhalten?«

»Ja, zweimal, beide anonym.«

»Na, natürlich tragen sie keine Unterschrift. In verschiedenem Stil und in verschiedener Handschrift?«

»Ja, in verschiedenem Stil und in verschiedener Handschrift.«

»Und waren die auch so possenhaft wie dieses hier?«

»Ja, das waren sie, und, wissen Sie, sehr garstig.«

»Na, wenn Sie sonst schon welche bekommen haben, dann wird wohl auch dies eines sein.«

»Ich glaube das hauptsächlich deswegen, weil es so dumm ist. Denn jene Leute sind gebildet und schreiben sicherlich nicht so dumm.«

»Na ja, na ja.«

»Wie aber, wenn da wirklich jemand eine Anzeige erstatten will?«

»Das ist unwahrscheinlich,« antwortete Peter Stepanowitsch kurz und trocken. »Was bedeutet denn das Telegramm aus dem Ministerium des Innern und die Pension? Ein offenkundiges Pasquill.«

»Ja, ja,« stimmte ihm Lembke beschämt bei.

»Wissen Sie was? Überlassen Sie das Schriftstück mir! Ich werde Ihnen den Verfasser mit Sicherheit ausfindig machen. Noch bevor ich die andern herausbekomme.«

»Nehmen Sie es!« willigte v. Lembke ein, wiewohl nach einigem Zaudern.

»Haben Sie es schon jemandem gezeigt?«

»Nein, nach Möglichkeit niemandem.«

»Also doch Ihrer Frau Gemahlin?«

»Ach, Gott soll mich bewahren, und zeigen auch Sie es ihr um des Himmels willen nicht!« rief Lembke ängstlich. »Es würde sie so angreifen ... und sie würde auf mich furchtbar aufgebracht sein.«

»Ja, Sie würden der erste sein, der es von ihr abbekäme; sie würde sagen, Sie seien selbst schuld daran, wenn Ihnen solche Briefe geschrieben würden. Man kennt ja die Logik der Frauen. Nun, leben Sie wohl! Ich werde Ihnen vielleicht schon in drei Tagen diesen Verfasser vorstellen. Die Hauptsache bleibt unsere Verabredung.«

 

IV

Peter Stepanowitsch war vielleicht kein dummer Mensch; aber der Sträfling Fedka hatte mit Recht von ihm gesagt, er mache sich in seinem Kopfe von einem Menschen eine bestimmte Vorstellung zurecht und behandle ihn dann dauernd auf Grund dieser Vorstellung. Als er von Lembke fortging, war er fest davon überzeugt, daß er diesen wenigstens für sechs Tage beruhigt habe; diese Frist aber brauchte er höchst notwendig. Aber seine Annahme war irrig, und seine ganze Spekulation beruhte nur darauf, daß er sich Andrei Antonowitsch gleich von Anfang an und ein für alle Mal als einen ganz beschränkten Menschen vorgestellt hatte.

Wie jeder zu seiner eigenen Qual argwöhnische Mensch war Andrei Antonowitsch jedesmal, wenn er aus einem Zustande der Ungewißheit herauskam, im ersten Augenblick sehr fröhlich und vertrauensvoll. Die neue Wendung der Dinge erschien ihm zunächst in ziemlich erfreulichem Lichte, obwohl sich schon wieder einige sorgenvolle Komplikationen bemerklich machten. Aber wenigstens waren die alten Zweifel erledigt. Überdies war er nach den letzten Tagen so müde und fühlte sich so zermartert und hilflos, daß seine Seele unwillkürlich nach Ruhe dürstete. Aber leider war er doch schon wieder unruhig. Das lange Leben in Petersburg hatte in seiner Seele unverwischbare Spuren zurückgelassen. Die offizielle und sogar die geheime Geschichte der »neuen Generation« war ihm hinreichend bekannt (er war ein wißbegieriger Mensch und hatte Proklamationen gesammelt); aber begriffen hatte er von dieser Geschichte niemals auch nur das geringste. Jetzt aber hatte er eine Empfindung, wie wenn er sich in einem Walde verirrt hätte: er spürte instinktiv, daß in Peter Stepanowitschs Worten etwas lag, was mit allen Formen und Gebräuchen unvereinbar war; »freilich, weiß der Teufel, was bei dieser ›neuen Generation‹ alles geschehen kann, und weiß der Teufel, wie es bei ihnen zugeht,« meinte er im stillen, sich in Gedanken verlierend.

Aber gerade in diesem Augenblicke steckte Blümer wieder den Kopf zu ihm herein. Während der ganzen Zeit, wo Peter Stepanowitsch da gewesen war, hatte er in der Nähe gewartet. Dieser Blümer war sogar ein entfernter Verwandter Andrei Antonowitschs; aber diese Verwandtschaft war bisher stets sorgsam und ängstlich geheimgehalten worden. Ich bitte den Leser um Verzeihung, wenn ich dieser unbedeutenden Persönlichkeit hier wenigstens ein paar Worte widme. Blümer gehörte zu der sonderbaren Gattung der »unglücklichen« Deutschen, nicht wegen seines völligen Mangels an Begabung, sondern aus unbekannter Ursache. Die »unglücklichen« Deutschen sind kein Mythus, sondern sie existieren tatsächlich, sogar in Rußland, und haben ihren besondern Typus. Andrei Antonowitsch hegte das ganze Leben über das rührendste Mitleid mit ihm und brachte ihn überall, wo er nur konnte, je nach seinen eigenen Erfolgen in der amtlichen Laufbahn, unter, in einer untergeordneten, von ihm abhängigen Stelle; aber dem wollte es nirgends glücken. Bald wurde die Stelle eingezogen, bald wechselte der Vorgesetzte, bald wurde er beinahe mit anderen vor Gericht gezogen. Er war im Amte sorgfältig, aber sozusagen übermäßig, ohne Not, und mürrisch, wovon er selbst den Schaden hatte; dazu rothaarig, hochgewachsen, von gebückter Haltung, trübsinnig, sogar sentimental, aber bei all seiner Demut hartnäckig und eigensinnig wie ein Bulle, wiewohl immer am falschen Fleck. Seinem Gönner Andrei Antonowitsch bewies er mitsamt seiner Frau und seinen zahlreichen Kindern eine vieljährige, ehrerbietige Anhänglichkeit. Außer Andrei Antonowitsch hatte ihn nie jemand gern gehabt. Julija Michailowna hatte ihn gleich von vornherein für minderwertig erklärt, hatte aber die Hartnäckigkeit ihres Gemahls nicht überwinden können. Dies war ihr erster ehelicher Streit gewesen; er trug sich gleich nach der Hochzeit zu Beginn der Flitterwochen zu, als der bis dahin sorgsam vor ihr verborgen gehaltene Blümer ihr plötzlich vor die Augen trat und sie das beleidigende Geheimnis erfuhr, daß er mit ihr verwandt sei. Andrei Antonowitsch flehte sie mit gefalteten Händen an und erzählte ihr mit rührenden Worten Blümers ganze Geschichte, und wie sie von ihrer Kindheit an Freunde gewesen wären; aber Julija Michajlowna hielt sich für lebenslänglich entehrt und brachte sogar eine Ohnmacht zur Anwendung. Aber Herr v. Lembke gab ihr auch nicht einen Zollbreit nach und erklärte, er werde Blümer um keinen Preis aufgeben und aus seiner Nähe entfernen, so daß sie endlich in Staunen geriet und sich genötigt sah, Blümer zu dulden. Indes beschloß man, die Verwandtschaft noch sorgfältiger als bisher, wenn das überhaupt möglich war, zu verheimlichen und sogar Blümers Namen zu ändern; denn dieser hieß ebenfalls Andrei Antonowitsch. Blümer verkehrte bei uns mit niemand als mit einem deutschen Apotheker, hatte niemandem einen Besuch gemacht und lebte nach seiner Gewohnheit geizig und zurückgezogen. Andrei Antonowitschs schriftstellerische Sünden waren ihm schon längst bekannt. Er wurde vorzugsweise dazu berufen, seinen Roman bei geheimen Vorlesungen unter vier Augen anzuhören, und saß dann oft sechs Stunden hintereinander wie ein Pfahl da; er schwitzte und strengte alle seine Kraft an, um nicht einzuschlafen, sondern zu lächeln; wenn er nachher nach Hause kam, stöhnte er mit seiner langbeinigen, hageren Frau über die unglückliche Schwäche, die dieser Wohltäter der Familie für die russische Literatur besaß.

Andrei Antonowitsch blickte den eintretenden Blümer mit einem leidvollen Ausdruck an.

»Ich bitte dich, Blümer, mich in Ruhe zu lassen,« begann er hastig und in Erregung, mit dem offensichtlichen Wunsche, eine Erneuerung des Gespräches von vorhin, das durch Peter Stepanowitschs Ankunft unterbrochen war, zu vermeiden.

»Aber das läßt sich doch auf die taktvollste Weise, ganz im stillen machen; Sie besitzen ja alle erforderlichen Vollmachten,« sagte Blümer, der respektvoll, aber hartnäckig auf etwas bestand und den Rücken krümmend mit kleinen Schritten immer näher an Andrei Antonowitsch herankam.

»Blümer, du bist mir dermaßen ergeben und gehorsam, daß ich es jedesmal mit der Angst bekomme, sowie ich dich nur ansehe.«

»Sie machen immer witzige Bemerkungen und schlafen dann in der Freude über das, was Sie gesagt haben, ruhig ein; aber eben dadurch schaden Sie sich.«

»Blümer, ich bin soeben zu der Überzeugung gelangt, daß sich diese Sache ganz anders verhält, ganz anders.«

»Doch nicht etwa auf Grund der Reden dieses verlogenen, lasterhaften jungen Menschen, gegen den Sie selbst Verdacht hegen? Er hat Sie durch schmeichlerisches Lob Ihres schriftstellerischen Talentes eingewickelt.«

»Blümer, du verstehst nichts davon; dein Projekt ist eine Torheit, sage ich dir. Wir werden nichts finden; es wird sich ein gewaltiges Geschrei erheben, und dann ein Gelächter, und dann wird Julija Michailowna ...«

»Wir werden zweifellos alles finden, was wir suchen,« unterbrach ihn Blümer und trat, die rechte Hand auf das Herz legend, mit festem Schritte an ihn heran. »Wir werden plötzlich eine Haussuchung veranstalten, früh morgens, mit aller Rücksichtnahme auf die Person und unter genauer Beobachtung aller gesetzlich vorgeschriebenen Formen. Die jungen Leute, Ljamschin und Teljatnikow, versichern auf das bestimmteste, daß wir alles Gewünschte finden werden. Sie sind dort oft zu Besuch gewesen. Herrn Werchowenski ist hier niemand sonderlich zugetan. Die Generalin Stawrogina hat ihm ihre Wohltaten offenkundig entzogen, und jeder ehrenhafte Mensch, wenn es einen solchen in dieser argen Stadt gibt, ist überzeugt, daß sich dort von jeher die Quelle des Unglaubens und der sozialistischen Lehre versteckt hat. In seiner Wohnung sind alle möglichen verbotenen Bücher vorhanden, Rylejews Dichter; im Jahre 1826 als Verschwörer hingerichtet. Anmerkung des Übersetzers ›Träumereien‹, alle Schriften von Herzen ... Ich habe für alle Fälle ein leidlich vollständiges Verzeichnis.«

»Ach Gott, diese Bücher besitzt jeder; wie einfältig du bist, mein armer Blümer!«

»Auch viele Proklamationen hat er,« fuhr Blümer fort, ohne auf die Zwischenbemerkung zu hören. »Es wird uns dabei sicher gelingen, auf die Spur der Proklamationen zu kommen, die hier jetzt verbreitet werden. Dieser junge Werchowenski ist mir im höchsten Grade verdächtig.«

»Aber du verwechselst den Vater mit dem Sohne. Sie leben nicht in Eintracht; der Sohn macht sich über den Vater unverhohlen lustig.«

»Das ist nur eine Maske.«

»Blümer, du hast dir vorgenommen, mich zu Tode zu quälen! Bedenke nur, er ist doch eine hier am Orte angesehene Persönlichkeit. Er ist Professor gewesen; er ist ein bekannter Mann; er wird ein großes Geschrei erheben, und es werden sogleich die Spottreden durch die Stadt schwirren; na, und wir haben uns dann gründlich blamiert ... und bedenke nur, in welche Stellung dann Julija Michailowna gerät ...«

Blümer drang weiter vor ohne zu hören.

»Er ist nur Privatdozent gewesen, nicht Professor, und dem Range nach war er bei seinem Ausscheiden nur Kollegienassessor,« sagte er, indem er sich mit der Hand gegen die Brust schlug. »Dekorationen besitzt er keine; entlassen wurde er aus der dienstlichen Tätigkeit wegen Verdachtes regierungsfeindlicher Gesinnung. Er hat unter geheimer Aufsicht gestanden und steht unzweifelhaft noch unter ihr. Und angesichts der jetzt hervortretenden Ordnungswidrigkeiten sind Sie ohne Zweifel zum Einschreiten verpflichtet. Sie aber lassen sich die Gelegenheit, sich auszuzeichnen, entgehen, wenn Sie gegen einen tatsächlich Schuldigen Nachsicht üben.«

»Julija Michailowna kommt! Mach, daß du hinauskommst, Blümer!« rief v. Lembke auf einmal, da er die Stimme seiner Gemahlin im anstoßenden Zimmer hörte.

Blümer fuhr zusammen, wollte sich aber noch nicht ergeben.

»Gestatten Sie, gestatten Sie,« sagte er, indem er noch näher herantrat und noch fester beide Hände gegen die Brust drückte.

»Mach, daß du hinauskommst!« rief Andrei Antonowitsch zähneknirschend. »Tu, was du willst ... ein andermal ... O mein Gott!«

Die Portiere wurde aufgehoben, und Julija Michailowna erschien. Bei Blümers Anblick blieb sie majestätisch stehen, musterte ihn mit einem hochmütigen, kränkenden Blicke, wie wenn schon allein die Anwesenheit dieses Menschen an diesem Orte für sie eine Beleidigung wäre. Blümer machte ihr schweigend und achtungsvoll eine tiefe Verbeugung und ging, sich vor Respekt zusammenkrümmend und die Arme ein wenig auseinanderbreitend, auf den Zehen zur Tür.

Ob er wirklich Andrei Antonowitschs letzten ungeduldigen Ausruf als eine direkte Erlaubnis auffaßte, so zu verfahren, wie er es vorgeschlagen hatte, oder ob er in diesem Falle, um seinem Wohltäter zu nützen, gegen sein Gewissen handelte, weil er gar zu fest davon überzeugt war, daß das Ende das Werk krönen werde, das muß dahingestellt bleiben; aber, wie wir weiter unten sehen werden, aus diesem Gespräche des Vorgesetzten mit seinem Untergebenen ging ein höchst unerwartetes Begebnis hervor, das eine große Publizität erlangte, viele Leute zum Lachen brachte, Julija Michailownas heftigen Zorn erregte und durch all dies Andrei Antonowitsch vollständig in Verwirrung setzte und ihn gerade zur kritischsten Zeit in bedauerlichster Weise ratlos machte.

 

V

Peter Stepanowitsch war an diesem Tage von Geschäften sehr stark in Anspruch genommen. Von Herrn v. Lembke wollte er so schnell wie möglich nach der Bogojawlenskaja-Straße eilen; aber als er die Bykowa-Straße passierte und an dem Hause vorbeikam, in welchem Karmasinow Wohnung genommen hatte, blieb er plötzlich stehen, lächelte und trat in das Haus hinein. Auf seine Frage nach Karmasinow wurde ihm geantwortet: »Sie werden erwartet,« was ihm sehr interessant war, da er sein Kommen in keiner Weise vorher angekündigt hatte.

Aber der große Schriftsteller erwartete ihn tatsächlich und sogar schon seit einem oder zwei Tagen. Vor drei Tagen hatte er ihm das Manuskript seines Schriftchens » Merci« eingehändigt, das er auf der literarischen Matinee bei dem von Julija Michailowna veranstalteten Feste vorlesen wollte, und zwar hatte er das aus Liebenswürdigkeit getan, weil er der festen Überzeugung war, er schmeichle in angenehmer Weise dem Selbstgefühl jemandes, wenn er ihm das großartige Werk vorher zum Lesen gebe. Peter Stepanowitsch hatte schon längst bemerkt, daß dieser eitle, verwöhnte, für Nichtauserwählte in beleidigender Weise unzugängliche Herr, dieser »überragende Verstand« ganz einfach um seine Gunst buhle, und noch dazu mit großer Beflissenheit. Ich glaube, der junge Mensch hatte es schließlich erraten, daß jener ihn wenn nicht für den weiter der gesamten geheimen revolutionären Bewegung in ganz Rußland, so doch wenigstens für jemand halte, der in die Geheimnisse der russischen Revolution besonders tief eingeweiht sei und einen unbestreitbaren Einfluß auf die junge Generation ausübe. Die Anschauungen des »klügsten Mannes in Rußland« interessierten Peter Stepanowitsch; aber einer Aussprache war er bisher aus gewissen Gründen aus dem Wege gegangen.

Der große Schriftsteller wohnte in dem Hause seiner Schwester, der Frau eines Kammerherrn und Gutsbesitzers; beide, Mann und Frau, verehrten ihren berühmten Verwandten außerordentlich, befanden sich aber bei seinem jetzigen Besuche zu ihrem großen Bedauern in Moskau, so daß die Ehre, ihn zu empfangen, einer alten Frau zufiel, einer sehr entfernten armen Verwandten des Kammerherrn, die schon lange im Hause wohnte und die ganze Hauswirtschaft leitete. Seit Herrn Karmasinows Ankunft ging jedermann im Hause auf den Fußspitzen. Die alte Frau erstattete fast täglich nach Moskau Bericht darüber, wie er geschlafen und was er gespeist habe, und hatte einmal ein Telegramm mit der Nachricht abgesandt, daß er nach einem Diner beim Bürgermeister genötigt gewesen sei, einen Löffel voll Medizin einzunehmen. In sein Zimmer zu ihm hineinzugehen wagte sie nur selten, obwohl er mit ihr höflich verkehrte; sein Ton ihr gegenüber war allerdings ziemlich trocken, und er redete mit ihr nur so viel, wie nötig war. Als Peter Stepanowitsch hereinkam, nahm er gerade sein aus einem Kotelett und einem halben Glase Rotwein bestehendes Frühstück ein. Peter Stepanowitsch war auch früher schon einige Male bei ihm gewesen und hatte ihn immer bei diesem Frühstückskotelett getroffen, das er in seiner Gegenwart weiter aß, ohne ihm selbst jemals etwas anzubieten. Nach dem Kotelett wurde noch eine kleine Tasse Kaffee serviert. Der aufwartende Diener war in Frack und Handschuhen und trug weiche, unhörbare Stiefel.

»A-ah!« machte Karmasinow, erhob sich vom Sofa, wischte sich mit der Serviette den Mund und näherte mit dem Ausdruck der reinsten Freude dem Besucher sein Gesicht, um sich mit ihm zu küssen, – eine charakteristische Gewohnheit der Russen, wenn sie bereits sehr berühmt sind.

Aber Peter Stepanowitsch erinnerte sich von seiner früheren Erfahrung her, daß jener sich zwar anzunähern pflegte, als ob er sich mit dem andern küssen wolle, dann aber nur seine Backe hinhielt; und daher machte er selbst es diesmal ebenso; die Backen beider trafen zusammen. Karmasinow tat, als ob er das nicht bemerkt hatte, setzte sich wieder auf das Sofa und wies den Besucher liebenswürdig auf einen gegenüberstehenden Lehnstuhl hin, auf dem dieser es sich auch sofort bequem machte.

»Sie mögen nicht ... Wollen Sie nicht frühstücken?« fragte der Wirt, diesmal von seiner Gewohnheit abgehend, aber selbstverständlich mit einer Miene, die dem andern eine höflich ablehnende Antwort in deutlicher Art nahelegte.

Peter Stepanowitsch sprach sofort den Wunsch aus zu frühstücken. Ein Schatten der Verwunderung und Empfindlichkeit verdunkelte das Gesicht des Wirtes, aber nur für einen Augenblick; er klingelte nervös dem Diener und sprach, als er befahl, noch ein Frühstück zu bringen, trotz all seiner Erziehung mit erhobener Stimme und in verdrießlichem Tone.

»Was wünschen Sie, ein Kotelett oder Kaffee?« erkundigte er sich noch einmal.

»Sowohl ein Kotelett als auch Kaffee, und lassen Sie doch auch Wein bringen; ich bin ganz ausgehungert,« antwortete Peter Stepanowitsch und musterte dabei mit ruhiger Aufmerksamkeit das Kostüm seines Wirtes.

Herr Karmasinow trug eine Art von wattierter Hausjacke mit Perlmutterknöpfen; sie hatte die Fasson eines Jaketts, war aber so kurz, daß sie nicht bis an seinen ziemlich feisten Bauch und bis an die prallen, rundlichen Teile am Anfang der Beine reichte; aber der Geschmack ist eben verschieden. Auf den Knien hatte er ein ausgebreitetes, wollenes, kariertes Plaid liegen, obgleich es im Zimmer warm war.

»Sie sind wohl krank?« bemerkte Peter Stepanowitsch.

»Nein, ich bin gesund; aber ich fürchte, in diesem Klima krank zu werden,« antwortete der Schriftsteller mit seiner kreischenden Stimme, wobei er nach jeder Silbe eine kleine Pause machte und in vornehmer Art anmutig lispelte. »Ich hatte Sie schon gestern erwartet.«

»Wieso denn? Ich hatte doch nichts versprochen.«

»Nein, aber Sie haben mein Manuskript. Haben Sie es durchgelesen?«

»Manuskript? Was für ein Manuskript?«

Karmasinow war höchlichst erstaunt.

»Aber Sie werden es doch mitgebracht haben?« fragte er in solcher Aufregung, daß er sogar zu essen aufhörte, und blickte Peter Stepanowitsch ganz erschrocken an.

»Ach so, das über › Bonjour‹, nicht wahr?«

»› Merci‹.«

»Na, das tut nichts. Ich habe es ganz vergessen und es nicht gelesen; ich hatte keine Zeit. Wahrhaftig, ich weiß nicht, in den Taschen habe ich es nicht; also muß es bei mir zu Hause auf dem Tische liegen. Seien Sie unbesorgt; es wird sich schon finden.«

»Nein, das Beste ist doch wohl, daß ich sofort zu Ihnen hinschicke. Es könnte verloren gehen; oder es könnte es am Ende jemand stehlen.«

»Na, wer kann das brauchen? Aber warum sind Sie denn so erschrocken? Julija Michailowna hat mir ja gesagt, Sie hätten von Ihren Schriften immer mehrere fertige Abschriften, eine bei einem Notar im Auslande, eine zweite in Petersburg, eine dritte in Moskau, und eine schicken Sie ja wohl noch an die Bank, nicht wahr?«

»Aber Moskau kann ja doch auch abbrennen und mit ihm mein Manuskript. Nein, ich werde doch lieber gleich hinschicken.«

»Halt, da ist es!« rief Peter Stepanowitsch und zog aus der hinteren Rocktasche ein Päckchen Briefbogen. »Es ist ein bißchen zerknittert; denken Sie sich: wie ich es damals bei Ihnen bekommen habe, so hat es die ganze Zeit über mit dem Taschentuche zusammen in der hinteren Rocktasche gesteckt! Ich hatte es ganz vergessen.«

Karmasinow griff eifrig nach dem Manuskripte, betrachtete es sorgsam, zählte die Blätter durch und legte es respektvoll einstweilen neben sich auf ein besonderes Tischchen, aber so, daß er es fortwährend im Auge hatte.

»Sie lesen nicht sehr viel, wie es scheint?« konnte er sich nicht enthalten mit seiner zischenden Aussprache zu fragen.

»Nein, nicht sehr viel.«

»Und auf dem Gebiete der russischen Belletristik wohl gar nichts?«

»Auf dem Gebiete der russischen Belletristik? Erlauben Sie, ich habe etwas gelesen ... ›Auf dem Wege‹ hieß es ... oder ›Auf dem Weg‹ ... oder ›Am Kreuzwege‹, ich besinne mich nicht mehr. Es ist schon lange her, daß ich es gelesen habe, etwa fünf Jahre. Ich habe keine Zeit.«

Es trat ein längeres Stillschweigen ein.

»Seit ich hierher kam,« begann Karmasinow von neuem, »habe ich allen Leuten hier versichert, daß Sie ein außerordentlich kluger Mensch seien, und jetzt scheinen ja auch alle ganz entzückt von Ihnen zu sein.«

»Ich danke Ihnen,« erwiderte Peter Stepanowitsch ruhig.

Das Frühstück wurde gebracht. Peter Stepanowitsch machte sich mit großem Appetit über das Kotelett her, aß es im Handumdrehen auf, trank den Wein aus und schlürfte den Kaffee.

»Dieser Grobian,« dachte Karmasinow, indem er ihn von der Seite betrachtete und dabei von seinem eigenen Frühstück den letzten Bissen aß und das letzte Schlückchen trank, »dieser Grobian hat wahrscheinlich die Stichelei, die in meiner Bemerkung lag, sofort vollständig verstanden ... und auch das Manuskript hat er gewiß begierig durchgelesen und lügt jetzt nur in besonderer Absicht. Möglich aber auch, daß er nicht lügt, sondern ganz ohne Verstellung dumm ist. Ich habe es gern, wenn ein genialer Mensch ein bißchen dumm ist. Und ob die Stadt nicht wirklich an ihm ein Genie besitzt? Hol ihn übrigens der Teufel!«

Er stand vom Sofa auf und begann im Zimmer von einer Ecke nach der andern auf und ab zu gehen, um sich Bewegung zu machen, was er jeden Tag nach dem Frühstück tat.

»Werden Sie die Stadt bald wieder verlassen?« fragte Peter Stepanowitsch von seinem Lehnsessel aus, nachdem er sich eine Zigarette angezündet hatte.

»Ich bin eigentlich hergekommen, um ein Gut zu verkaufen, und hänge jetzt von meinem Verwalter ab.«

»Sie sind ja doch, wie es scheint, hergekommen, weil man dort im Auslande nach dem Kriege eine Epidemie befürchtete?«

»N-nein, doch nicht ganz deswegen,« fuhr Herr Karmasinow fort, indem er in vornehmer Weise die Silben voneinander trennte und bei jeder Umdrehung von einer Ecke nach der andern forsch mit dem rechten Beine schlenkerte, übrigens nur ein ganz klein wenig. »Ich beabsichtige tatsächlich,« sagte er mit einem Lächeln, das nicht frei von Bosheit war, »möglichst lange zu leben. Die russischen Adligen nutzen sich außerordentlich schnell ab, in jeder Beziehung. Aber ich möchte mich möglichst spät abnutzen und werde daher jetzt ganz und gar ins Ausland übersiedeln; dort ist das Klima besser, und die Häuser und Staaten sind aus Stein gebaut und fester als bei uns. Solange ich lebe, wird Westeuropa wohl vorhalten, meine ich. Wie denken Sie darüber?«

»Woher soll ich das wissen?«

»Hm ... Wenn es da wirklich dazu kommt, daß Babel zusammenbricht und sein Fall ein großer wird (worin ich mit Ihnen vollständig einer Meinung bin, wiewohl ich glaube, daß es noch so lange, wie ich lebe, vorhalten wird), so ist bei uns in Rußland überhaupt nichts vorhanden, was zusammenstürzen könnte, relativ gesprochen. Bei uns werden nicht Steine zusammenstürzen, sondern alles wird in Schmutz zerfließen. Weniger als irgendein anderes Land auf der Welt ist das heilige Rußland in der Lage, einem Stoße Widerstand zu leisten. Das einfache Volk hält sich noch so zur Not durch den russischen Gott aufrecht; aber der russische Gott ist nach den letzten Erfahrungen sehr unzuverlässig und hat sogar der bäuerlichen Reform gegenüber kaum standgehalten; wenigstens hat er stark gewackelt. Und dazu kommen noch die Eisenbahnen und Ihre Tätigkeit ... an den russischen Gott glaube ich überhaupt nicht mehr.«

»Aber an den westeuropäischen?«

»Ich glaube an keinen. Man hat mich bei der russischen Jugend verleumdet. Ich habe immer mit allen Bestrebungen derselben sympathisiert. Man hat mir die hiesigen Proklamationen gezeigt. Man sieht sie mit verständnislosem Staunen an, weil alle Leute ihre Form erschreckt; aber doch sind alle Leute von der Macht derselben überzeugt, wenn sie es auch nicht eingestehen. Alle Leute sind hier schon längst dem Fallen nahe, und alle wissen längst, daß sie sich an nichts halten können. Ich bin schon deswegen von dem Erfolge dieser geheimen Propaganda überzeugt, weil gerade Rußland jetzt auf der ganzen Welt dasjenige Land ist, wo man alles Beliebige tun kann, ohne den geringsten Widerstand zu finden. Ich verstehe sehr wohl, warum die vermögenden Russen alle nach dem Auslande geströmt sind und dies von Jahr zu Jahr in größerem Umfange tun. Das ist ganz einfach Instinkt. Wenn ein Schiff untergeht, so sind die Ratten die ersten, die aus ihm auswandern. Das heilige Rußland ist sozusagen ein hölzernes Land, ein armes Land und ... ein gefährliches Land, ein Land eitler Bettler in seinen höchsten Schichten; aber die überwältigende Mehrzahl hockt abwartend in elenden Hütten. Das russische Volk freut sich über jede Möglichkeit, aus dieser Lage herauszukommen; man braucht sie ihm nur klarzumachen. Nur die Regierung will noch Widerstand leisten; aber sie schlägt im Dunkeln mit dem Knittel um sich und trifft ihre eigenen Leute. Hier ist alles verurteilt und dem Tode geweiht. Rußland, wie es ist, hat keine Zukunft. Ich bin ein Deutscher geworden und rechne mir dies zur Ehre an.«

»Sie fingen da vorhin von den Proklamationen an zu reden; sprechen Sie sich doch ganz aus: wie denken Sie darüber?«

»Diese Proklamationen werden allgemein gefürchtet; folglich sind sie mächtig. Sie decken den Betrug offen auf und zeigen, daß man sich bei uns an nichts halten und auf nichts stützen kann. Sie reden laut da, wo alle andern schweigen. Was ihnen (trotz ihrer Form) am meisten zum Siege verhilft, das ist die bisher unerhörte Kühnheit, mit der sie der Wahrheit gerade ins Gesicht sehen. Diese Fähigkeit, der Wahrheit gerade ins Gesicht zu sehen, ist der russischen Rasse ausschließlich eigen. Nein, in Westeuropa ist man noch nicht so kühn; dort ist das Königtum von Stein; dort ist noch etwas, worauf man sich stützen kann. Soweit ich sehe, und soweit ich es beurteilen kann, besteht der eigentliche Kern des russischen revolutionären Gedankens in der Verneinung der Ehre. Es gefällt mir, daß dies so kühn und furchtlos ausgesprochen wird. Nein, in Westeuropa hat man dafür noch kein Verständnis; aber bei uns legt man gerade darauf den Nachdruck. Dem Russen erscheint die Ehre nur als eine überflüssige Last. Und sie ist ihm auch immer eine Last gewesen, in seiner ganzen Geschichte. Mit dem offen verkündeten ›Recht auf Ehrlosigkeit‹ kann man ihn am leichtesten anlocken und mit sich ziehen. Ich gehöre zur alten Generation und bin noch, wie ich gestehe, ein Verteidiger der Ehre, aber nur aus Gewohnheit, nur weil mir die alten Formen gefallen, allerdings infolge einer Schwäche; man muß doch seinem Leben irgendwie einen Abschluß geben.«

Er blieb auf einmal stehen.

»Aber«, dachte er, »ich rede und rede, und er schweigt immer dabei und sieht mich an. Er ist hergekommen, damit ich ihm eine offene Frage vorlege. Nun, das werde ich tun.«

»Julija Michailowna hat mich gebeten,« sagte plötzlich Peter Stepanowitsch, »irgendwie durch List von Ihnen herauszubekommen, was das für eine Überraschung ist, die Sie für den übermorgen stattfindenden Ball vorbereiten.«

»Ja, es wird wirklich eine Überraschung sein, und ich werde wirklich die Gesellschaft in Erstaunen versetzen,« erwiderte Karmasinow wichtig und würdevoll; »aber ich werde Ihnen nicht verraten, worin sie besteht.«

Peter Stepanowitsch drang nicht weiter in ihn.

»Hier lebt ein gewisser Schatow,« erkundigte sich der große Schriftsteller; »und denken Sie sich: ich habe ihn noch nicht zu sehen bekommen.«

»Ein Mensch von sehr gutem Charakter. Wieso?«

»Ich frage nur so; er sucht hier gewisse Ideen zu verbreiten. Er ist es doch gewesen, der Stawrogin auf die Backe geschlagen hat?«

»Ja.«

»Und wie denken Sie über Stawrogin?«

»Ich weiß nicht; er ist ein Weiberfreund.«

Karmasinow hatte einen Haß auf Stawrogin, weil dieser die Gewohnheit hatte, ihn gar nicht zu bemerken.

»Wenn bei Ihnen«, sagte er kichernd, »einmal das, was die Proklamationen predigen, verwirklicht wird, dann wird dieser Weiberfreund wahrscheinlich der erste sein, den man an einem Aste aufhängt.«

»Vielleicht auch schon früher,« erwiderte Peter Stepanowitsch.

»Und das wäre nur in der Ordnung,« stimmte ihm Karmasinow, nicht mehr lachend, sondern sehr ernst, bei.

»Sie haben das schon früher einmal ausgesprochen, und wissen Sie, ich habe es ihm wiedergesagt.«

»Wie? Haben Sie es ihm wirklich wiedergesagt?« fragte Karmasinow, jetzt wieder lachend.

»Er erwiderte, wenn er an einem Ast aufgehängt wurde, dann würde es für Sie genügen, wenn man Sie durchpeitschte, aber nicht, um Ihnen eine Unehre anzutun, sondern schmerzhaft, wie man einen Bauer durchpeitscht.«

Peter Stepanowitsch nahm seinen Hut und stand auf. Karmasinow streckte ihm zum Abschied beide Hände hin.

»Aber wie ist es?« flötete er plötzlich mit honigsüßer Stimme und einem besonders herzlichen Klange, während er immer noch die Hände des Gastes in den seinigen hielt, »wie ist es? Wenn nun alledem, was da geplant wird, beschieden ist verwirklicht zu werden, ... wann könnte das dann wohl vorgehen?«

»Woher soll ich das wissen?« versetzte Peter Stepanowitsch in etwas grobem Tone.

Beide blickten einander scharf in die Augen.

»Nun, beispielsweise? Annähernd?« flötete Karmasinow noch süßer.

»Sie werden noch Zeit haben, Ihr Gut zu verkaufen und auch sich davonzumachen,« murmelte Peter Stepanowitsch noch gröber.

Beide blickten einander noch schärfer an.

Es folgte ein Stillschweigen, das wohl eine Minute lang dauerte.

»Zu Anfang des nächsten Mai wird es beginnen, und zu Mariä Fürbitte Am 1. Oktober. Anmerkung des Übersetzers. wird alles beendet sein,« sagte Peter Stepanowitsch plötzlich.

»Ich danke Ihnen aufrichtig,« erwiderte Karmasinow warm und drückte ihm die Hände.

»Du wirst noch Zeit haben, du Ratte, aus dem Schiffe auszuwandern!« dachte Peter Stepanowitsch, als er auf die Straße trat. »Na, wenn sogar dieser ›überragende Verstand‹ sich mit solcher Überzeugung von dem Gelingen nach Tag und Stunde erkundigt und sich respektvoll für die erhaltene Auskunft bedankt, dann brauchen wir an unserer Kraft nicht zu zweifeln.« (Er lächelte.) »Hm ... Aber sie haben an ihm wirklich keinen dummen Parteigänger, und ... er ist doch nur eine auswandernde Ratte; eine solche denunziert nicht.«

Er begab sich eilig nach der Bogojawlenskaja-Straße, nach dem Filippowschen Hause.

 

VI

Peter Stepanowitsch ging zuerst zu Kirillow. Dieser war wie gewöhnlich allein und war diesmal damit beschäftigt, mitten im Zimmer turnerische Freiübungen auszuführen; nämlich mit gespreizten Beinen dastehend, schwenkte er die Arme in einer besonderen Weise über dem Kopfe herum. Auf dem Fußboden lag ein Ball. Auf dem Tische stand der noch nicht weggeräumte, schon kalt gewordene Morgentee. Peter Stepanowitsch blieb ein Weilchen auf der Schwelle stehen.

»Sie sind ja sehr besorgt um Ihre Gesundheit,« sagte er laut und heiter, als er dann ins Zimmer trat. »Aber was ist das für ein prächtiger Ball! Hui, wie er springt! Dient der auch zur Leibesübung?«

Kirillow zog sich den Rock an.

»Ja, er ist auch zur Gesundheit da,« murmelte er trocken. »Setzen Sie sich!«

»Ich bin nur auf einen Augenblick gekommen. Aber hinsetzen will ich mich. Lassen wir nun die Gesundheit; ich bin hergekommen, um Sie an die Verabredung zu erinnern. Unser Termin rückt ›in gewissem Sinne‹ heran,« schloß er mit einer ungeschickten Begründung.

»Was für eine Verabredung?«

»Was ist das für eine Frage?« fuhr Peter Stepanowitsch auf. Er hatte ordentlich einen Schreck bekommen.

»Es besteht keine Verabredung und keine Verpflichtung; ich habe mich durch nichts gebunden; das ist von Ihrer Seite ein Irrtum.«

»Hören Sie mal, was reden Sie denn da?« rief Peter Stepanowitsch und sprang nun vollständig in die Höhe.

»Ich habe meinen freien Willen.«

»Welchen?«

»Den früheren.«

»Wie ist das zu verstehen? Das bedeutet doch, daß Sie wie früher denken?«

»Ja. Nur ist keine Verabredung da und ist nie eine dagewesen, und ich habe mich durch nichts gebunden. Es war lediglich mein Wille und ist auch jetzt mein Wille.«

Kirillow sprach in scharfem, mißmutigem Tone.

»Einverstanden, einverstanden; sagen wir ›Wille‹, wenn nur dieser Wille sich nicht geändert hat,« sagte Peter Stepanowitsch und setzte sich mit zufriedener Miene wieder hin. »Sie ärgern sich über Worte. Sie sind in der letzten Zeit sehr reizbar geworden; darum bin ich einmal herangekommen, um Sie zu besuchen. Übrigens war ich vollkommen davon überzeugt, daß Sie Ihren Entschluß nicht ändern würden.«

»Sie sind mir sehr widerwärtig; aber Sie können vollkommen überzeugt sein! Obgleich ich die Begriffe Veränderung und Nichtveränderung nicht gelten lasse.«

»Aber wissen Sie,« fuhr Peter Stepanowitsch von neuem auf, »wir müssen doch wieder vernünftig reden, um uns nicht mißzuverstehen. Die Sache verlangt Bestimmtheit, und Sie machen mich ganz wirr. Gestatten Sie, daß ich rede?«

»Reden Sie!« versetzte Kirillow kurz und blickte in eine Ecke.

»Sie haben sich schon lange vorgenommen, sich das Leben zu nehmen ... das heißt, Sie hatten eine solche Idee. Habe ich mich richtig ausgedrückt, ja? Ist da auch kein Irrtum?«

»Ich habe diese Idee auch jetzt noch.«

»Sehr schön. Beachten Sie dabei, daß Sie niemand dazu gezwungen hat.«

»Am Ende gar! Wie dumm Sie reden!«

»Mag sein, mag sein; ich habe mich sehr dumm ausgedrückt. Unzweifelhaft wäre es sehr dumm, jemanden dazu zu zwingen. Ich fahre fort: Sie waren Mitglied der Gesellschaft schon zur Zeit der alten Organisation und bekannten es gleich damals einem Mitgliede der Gesellschaft.«

»Bekannt habe ich nichts; ich habe es einfach gesagt.«

»Meinetwegen. Es wäre ja auch lächerlich, so etwas zu ›bekennen‹; es ist ja doch keine Beichte. Sie haben es einfach gesagt; sehr schön.«

»Nein, nicht sehr schön; denn Sie reden sehr unverständig. Ich bin Ihnen keine Rechenschaft schuldig, und Sie können meine Gedanken nicht begreifen. Ich will mir das Leben nehmen, weil das mein Gedanke ist, weil ich keine Todesfurcht will, weil ... weil Sie nichts davon zu wissen brauchen ... Was möchten Sie? Wollen Sie Tee trinken? Er ist kalt. Warten Sie, ich werde Ihnen ein anderes Glas bringen.«

Peter Stepanowitsch hatte wirklich schon nach der Teekanne gegriffen und suchte ein leeres Trinkgefäß. Kirillow ging zum Schranke und holte ein reines Glas.

»Ich habe eben bei Karmasinow gefrühstückt,« bemerkte der Gast; »dann habe ich zugehört, wie er redete, und geriet dabei in Schweiß; darauf lief ich hierher und geriet auch wieder in Schweiß; ich habe davon furchtbaren Durst bekommen.«

»Trinken Sie! Kalter Tee ist bekömmlich.«

Kirillow setzte sich wieder auf seinen Stuhl und bohrte sich wieder mit den Augen in der Ecke fest.

»In der Gesellschaft wurde der Gedanke ausgesprochen,« fuhr er in demselben Tone wie vorher fort, »ich könnte mich dadurch nützlich machen, daß ich mich tötete; wenn Sie hier irgend etwas angerichtet hätten und man nach den Schuldigen suchte, dann sollte ich mich erschießen und einen Brief hinterlassen, daß ich alles getan hätte, so daß auf Sie ein ganzes Jahr lang kein Verdacht fallen könnte.«

»Wenn auch nur für einige Tage; auch ein einzelner Tag ist kostbar.«

»Gut. In dieser Absicht wurde mir gesagt, wenn es mir recht wäre, möchte ich noch warten. Ich sagte, ich würde warten, bis mir von seiten der Gesellschaft der Zeitpunkt angegeben würde, weil es mir ganz egal war.«

»Ja, aber erinnern Sie sich, daß Sie sich verpflichtet haben, den Brief vor dem Tode nur in Gemeinschaft mit mir abzufassen und nach der Ankunft in Rußland zu meiner ... na, kurz, zu meiner Verfügung zu stehen, das heißt selbstverständlich nur für diesen einen Fall; in jeder andern Hinsicht sind Sie natürlich frei,« fügte Peter Stepanowitsch in beinah liebenswürdigem Tone hinzu.

»Ich habe mich nicht verpflichtet; ich habe mich nur einverstanden erklärt, weil mir doch alles egal ist.«

»Nun schön, schön; ich beabsichtige durchaus nicht, Ihr Ehrgefühl zu verletzen, aber ...«

»Um Ehrgefühl handelt es sich nicht.«

»Aber erinnern Sie sich, daß für Sie hundertundzwanzig Taler zur Reise zusammengebracht wurden, und Sie somit Geld genommen haben.«

»Durchaus nicht!« rief Kirillow hitzig. »Diese Bedingung war nicht an das Geld geknüpft. Dafür nimmt man kein Geld.«

»Mitunter doch.«

»Sie lügen. Ich habe in einem Briefe aus Petersburg die Sache klargestellt, und in Petersburg habe ich Ihnen die hundertzwanzig Taler zurückgezahlt, in Ihre eigene Hand ... und sie sind dorthin zurückgesandt worden, vorausgesetzt, daß Sie sie nicht für sich behalten haben.«

»Gut, gut, ich will über nichts streiten; sie sind zurückgesandt. Die Hauptsache ist, daß Sie noch ebenso denken wie früher.«

»Das tue ich. Sobald Sie kommen und sagen: ›Es ist Zeit‹, werde ich alles ausführen. Wie steht's? Wird es bald soweit sein?«

»In wenigen Tagen ... Aber vergessen Sie nicht: den Brief fassen wir zusammen ab, gleich in derselben Nacht.«

»Meinetwegen auch bei Tage. Sie sagten, ich solle die Proklamationen auf mich nehmen?«

»Und sonst noch etwas.«

»Ich nehme nicht alles auf mich.«

»Was wollen Sie denn nicht auf sich nehmen?« fuhr Peter Stepanowitsch wieder auf.

»Was ich nicht will; das genügt. Ich mag nicht mehr darüber reden.«

Peter Stepanowitsch bezwang sich und änderte das Gesprächsthema.

»Ich will noch von etwas anderem reden,« schickte er voraus. »Werden Sie heute abend bei den Unsrigen sein? Wirginski begeht seinen Namenstag; unter diesem Vorwande werden sie sich versammeln.«

»Ich habe keine Lust.«

»Tun Sie uns den Gefallen und kommen Sie hin! Es ist nötig. Wir müssen durch die Zahl und durch die Gesichter Eindruck machen ... Und Sie haben ein Gesicht ... na, kurz, Sie haben ein bedeutsames Gesicht.«

»Finden Sie?« erwiderte Kirillow lachend. »Gut, ich werde kommen; aber nicht wegen des Gesichtes. Wann?«

»Oh, möglichst früh, um halb sieben. Und wissen Sie, Sie können hereinkommen und sich hinsetzen und brauchen mit niemandem zu reden, mögen auch noch so viele da sein. Nur, wissen Sie, vergessen Sie nicht, Papier und Bleistift mitzunehmen.«

»Wozu das?«

»Ihnen ist ja alles ganz egal, und dies ist eine besondere Bitte von mir. Sie brauchen nur dazusitzen und mit keinem Menschen zu sprechen und nur zuzuhören und manchmal zu tun, als ob Sie sich Notizen machten; na, zeichnen Sie meinetwegen auch etwas!«

»Was ist das für dummes Zeug! Wozu?«

»Na, wenn Ihnen doch alles egal ist; Sie sagen ja selbst immer, es sei Ihnen alles egal.«

»Ich muß doch wissen wozu.«

»Na, dann will ich es sagen. Ein Mitglied der Gesellschaft, ein Revisor, hat heimlich seinen Wohnsitz in Moskau genommen, und ich habe hier diesem und jenem gesagt, vielleicht werde uns der Revisor besuchen; da werden sie nun denken, Sie seien der Revisor, und, da Sie schon drei Wochen hier sind, sich um so mehr wundern.«

»Spiegelfechtereien. Sie haben gar keinen Revisor in Moskau.«

»Na, meinetwegen nicht, hol's der Teufel; was kümmert das Sie, und wie kann Sie das stören? Sie sind ja selbst ein Mitglied der Gesellschaft.«

»Sagen Sie ihnen, ich sei der Revisor; ich werde dasitzen und schweigen; aber Papier und Bleistift will ich nicht vornehmen.«

»Aber warum denn nicht?«

»Ich will es nicht.«

Peter Stepanowitsch ärgerte sich wütend; sein Gesicht wurde sogar ganz grünlich; aber auch diesmal bezwang er sich, stand auf und nahm seinen Hut.

»Ist ›dieser Mensch‹ bei Ihnen?« fragte er auf einmal halblaut.

»Ja.«

»Das ist gut. Ich werde ihn bald fortschaffen; seien Sie unbesorgt!«

»Ich bin auch unbesorgt. Er übernachtet hier nur. Die alte Frau ist im Krankenhause; ihre Schwiegertochter ist gestorben; ich bin seit zwei Tagen allein. Ich habe ihm eine Stelle im Zaun gezeigt, wo sich ein Brett herausnehmen läßt; da kriecht er durch; niemand sieht ihn.«

»Ich werde ihn bald wegnehmen.«

»Er hat mir gesagt, er habe viele Stellen, wo er nächtigen könne.«

»Er lügt; er wird gesucht; aber hier fällt einstweilen niemandem etwas auf. Lassen Sie sich denn mit ihm in Gespräche ein?«

»Ja, ich rede mit ihm die ganze Nacht. Er schimpft sehr auf Sie. Ich habe ihm in der Nacht aus der Offenbarung St. Johannis vorgelesen und ihm Tee gegeben. Er hat aufmerksam zugehört, sehr aufmerksam sogar, die ganze Nacht.«

»Aber zum Teufel, da bekehren Sie ihn am Ende gar noch zum Christentum?«

»Er ist auch so schon christlichen Glaubens. Aber seien Sie unbesorgt: er wird morden. Wen wollen Sie denn ermorden lassen?«

»Nein, das ist nicht meine Absicht mit ihm; ich habe mit ihm etwas anderes vor ... Weiß Schatow von Fedka?«

»Ich rede nicht mit Schatow und sehe ihn nicht.«

»Er ist wohl böse auf Sie?«

»Nein, wir sind nicht böse aufeinander; wir gehen uns nur aus dem Wege. Wir haben in Amerika zu lange zusammen gelegen.«

»Ich werde gleich zu ihm hingehen.«

»Wie Sie wollen.«

»Ich werde vielleicht auch mit Stawrogin von dort zu Ihnen herkommen, so gegen zehn Uhr.«

»Tun Sie das!«

»Ich muß mit ihm über eine wichtige Angelegenheit reden ... Wissen Sie, schenken Sie mir Ihren Ball; wozu brauchen Sie ihn jetzt? Ich möchte ihn ebenfalls zu Leibesübungen haben. Ich will ihn Ihnen bezahlen, wenn's Ihnen recht ist.«

»Nehmen Sie ihn so!«

Peter Stepanowitsch steckte den Ball in die hintere Rocktasche.

»Aber gegen Stawrogin werde ich Ihnen nichts geben,« murmelte Kirillow, wahrend er den Besucher hinausließ.

Dieser blickte ihn erstaunt an, antwortete aber nichts darauf.

Kirillows letzte Worte befremdeten Peter Stepanowitsch außerordentlich; er war über ihren Sinn noch nicht ganz ins klare gekommen, bemühte sich aber schon auf der Treppe zu Schatow, seine unzufriedene Miene in eine freundliche umzuwandeln. Schatow war zu Hause und nicht recht wohl. Er lag auf dem Bette, war aber angekleidet.

»Na so ein Malheur!« rief Peter Stepanowitsch von der Schwelle aus. »Sind Sie ernstlich krank?«

Der freundliche Ausdruck war mit einem Schlage von seinem Gesichte verschwunden; etwas Boshaftes funkelte in seinen Augen.

»Durchaus nicht,« rief Schatow in nervöser Erregung und sprang auf. »Ich bin gar nicht krank; nur der Kopf tut mir ein bißchen weh ...«

Er war ganz fassungslos; das plötzliche Erscheinen dieses Gastes versetzte ihn geradezu in Schrecken.

»Ich komme gerade in einer Angelegenheit, bei der man nicht krank sein darf,« begann Peter Stepanowitsch eilig und gewissermaßen gebieterisch. »Gestatten Sie, daß ich mich setze,« (er setzte sich), »und setzen Sie sich auch wieder auf Ihr Bett; so ist es recht! Heute werden sich, angeblich um Wirginskis Namenstag zu feiern, die Unsrigen bei diesem versammeln; Leute von anderer Couleur werden nicht da sein; dagegen sind Maßregeln getroffen. Ich werde mit Nikolai Stawrogin hingehen. Sie würde ich natürlich nicht hinschleppen, da ich Ihre jetzige Denkweise kenne, ... das heißt, um Sie da nicht zu quälen, nicht etwa aus Besorgnis, Sie könnten eine Denunziation einreichen. Es hat sich aber doch als notwendig herausgestellt, daß Sie hinkommen. Sie werden dort gerade diejenigen Persönlichkeiten vorfinden, mit denen wir eine endgültige Entscheidung darüber treffen werden, auf welche Weise Sie aus der Gesellschaft ausscheiden können, und wem Sie das, was sich in Ihren Händen befindet, zu übergeben haben. Wir wollen das unauffällig tun; ich werde Sie in eine Ecke führen; es werden viele Menschen da sein, und es brauchen es nicht alle zu wissen. Offen gestanden, ich habe um Ihretwegen meine Zunge gehörig anstrengen müssen; aber jetzt sind, wie es scheint, auch die andern einverstanden, natürlich unter der Bedingung, daß Sie die Druckerei und alle Papiere abgeben. Dann mögen Sie hingehen, wohin es Ihnen beliebt.«

Schatow hörte mit finsterer, grimmiger Miene zu. Die nervöse Angst von vorhin war vollständig geschwunden.

»Ich erkenne keine Verpflichtung an, irgend jemandem Rechenschaft zu geben,« erwiderte er in entschiedenem Tone. »Niemand kann mich freilassen.«

»Ganz so steht es denn doch nicht. Es ist Ihnen vieles anvertraut worden. Sie hatten nicht das Recht, mit der Gesellschaft geradezu zu brechen. Und schließlich haben Sie das auch niemals klar ausgesprochen, so daß Sie die Gesellschaft in eine zweideutige Situation gebracht haben.«

»Als ich hierher kam, habe ich es in einem Briefe klar ausgesprochen.«

»Nein, nicht klar,« widersprach ihm Peter Stepanowitsch in aller Ruhe. »Ich schickte Ihnen zum Beispiel die ›Glänzende Persönlichkeit‹, um sie hier zu drucken und die Abzüge hier bei Ihnen aufzubewahren, bis sie Ihnen abverlangt würden, desgleichen zwei Proklamationen. Sie schickten mir alles mit einem zweideutigen Briefe zurück, der nichts klar besagte.«

»Ich habe es offen und deutlich abgelehnt, die Sachen zu drucken.«

»Abgelehnt ja, aber nicht offen und deutlich. Sie schrieben: ›Ich kann nicht‹; aber Sie gaben nicht an, warum Sie es nicht könnten. ›Ich kann nicht‹ bedeutet nicht ›Ich will nicht‹. Man konnte denken, Sie könnten es einfach aus materiellen Gründen nicht. So hat man es denn auch aufgefaßt und gemeint, Sie seien doch willens, Ihre Verbindung mit der Gesellschaft fortzusetzen, und man könne Ihnen somit wieder etwas anvertrauen, sich folglich Ihnen gegenüber kompromittieren. Hier sagen allerdings einige, Sie wollten uns einfach täuschen, um, sobald Ihnen etwas Wichtiges mitgeteilt würde, zu denunzieren. Ich habe Sie aus allen Kräften verteidigt und Ihre schriftliche zweizeilige Antwort als Beleg zu Ihren Gunsten vorgezeigt. Aber ich mußte, als ich sie jetzt durchlas, selbst zugeben, daß diese zwei Zeilen nicht klar sind und einen Irrtum Hervorrufen können.«

»Und diesen Brief haben Sie so sorgfältig aufgehoben?«

»Da ist nichts dabei, daß ich ihn aufgehoben habe. Ich habe ihn auch jetzt noch.«

»Na, zum Teufel, meinetwegen!« rief Schatow wütend. »Mögen Ihre Dummköpfe meinetwegen glauben, daß ich sie denunziert habe, was schert es mich! Ich möchte wissen, was Sie mir tun können!«

»Man würde Sie notieren und Sie beim ersten Erfolg der Revolution aufhängen.«

»Also sobald Sie die Oberhand erlangt und Rußland in Ihre Gewalt gebracht haben werden?«

»Lachen Sie nicht! Ich wiederhole, ich habe Sie verteidigt. Na, so oder so, jedenfalls rate ich Ihnen, heute zu erscheinen. Was hat es für Zweck, aus falschem Stolz unnütze Worte zu machen? Ist es nicht bester, freundschaftlich auseinanderzugehen? Jedenfalls müssen Sie ja die Druckerpresse und die Lettern und die alten Papiere abliefern, und darüber wollen wir eben reden.«

»Ich werde kommen,« brummte Schatow und ließ nachdenklich den Kopf herunterhängen.

Peter Stepanowitsch betrachtete ihn von seinem Platze aus mit einem schrägen Blicke.

»Wird Stawrogin da sein?« fragte Schatow plötzlich, indem er den Kopf in die Höhe hob.

»Ganz sicher.«

»He-he!«

Wieder schwiegen sie etwa eine Minute lang. Schatow lächelte verächtlich und gereizt.

»Und diese Ihre unwürdige ›Glänzende Persönlichkeit‹, die ich hier nicht drucken wollte, ist sie nun gedruckt?«

»Allerdings.«

»Gimnasistow behauptet, Herzen hätte Ihnen das Gedicht selbst ins Album geschrieben; ist das wahr?«

»Ja, Herzen hat es mir selbst eingeschrieben.«

Sie schwiegen wieder etwa drei Minuten lang. Endlich stand Schatow vom Bette auf.

»Gehen Sie von mir weg; ich mag nicht mit Ihnen zusammen sein.«

»Das will ich tun,« sagte Peter Stepanowitsch höchst vergnügt und erhob sich sofort. »Nur noch ein Wort: Kirillow wohnt jetzt, wie es scheint, in seinem Seitengebäude mutterseelenallein, ohne eine Dienerin?«

»Ja, ganz allein. Gehen Sie weg; ich kann nicht mit Ihnen in ein und demselben Zimmer sein.«

»Na, du bist ja jetzt gut!« dachte Peter Stepanowitsch munter, als er auf die Straße hinaustrat; »und du wirst auch heute abend gut sein. Gerade so habe ich dich jetzt nötig; besser kann ich es mir gar nicht wünschen! Der russische Gott hilft selbst!«

 

VII

Wahrscheinlich besorgte er an diesem Tage bei seinen vielen Laufereien noch eine ganze Menge von Geschäften und erledigte sie offenbar erfolgreich; das zeigte der selbstzufriedene Ausdruck seines Gesichtes, als er am Abend Punkt sechs Uhr bei Nikolai Wsewolodowitsch erschien. Aber zu diesem wurde er nicht sogleich hereingelassen, weil sich gerade Mawriki Nikolajewitsch bei Nikolai Wsewolodowitsch im Arbeitszimmer befand. Diese Nachricht machte ihn sofort besorgt. Er setzte sich dicht an die Tür des Arbeitszimmers, um zu warten, bis der Besucher weggehen würde. Daß gesprochen wurde, war zu hören; aber die Worte ließen sich nicht verstehen. Der Besuch dauerte nicht lange; bald wurde ein Geräusch vernehmbar; eine sehr laute, scharfe Stimme ertönte; daraus öffnete sich die Tür, und Mawriki Nikolajewitsch trat mit ganz blassem Gesichte heraus. Er bemerkte Peter Stepanowitsch nicht und ging schnell an ihm vorbei. Peter Stepanowitsch lief sofort in das Arbeitszimmer hinein.

Ich kann nicht umhin über diese kurze Begegnung der beiden »Nebenbuhler« ausführlich zu berichten, eine Begegnung, die unter den obwaltenden Umstanden anscheinend unmöglich war, aber doch tatsächlich stattfand.

Das begab sich folgendermaßen. Nikolai Wsewolodowitsch schlummerte nach dem Mittagessen in seinem Arbeitszimmer auf der Chaiselongue, als ihm Alexei Jegorowitsch die Ankunft des unerwarteten Besuchers meldete. Als er bei der Meldung den Namen horte, sprang er erstaunt auf und wollte es nicht glauben. Aber bald glänzte ein Lächeln auf seinen Lippen auf, ein Lächeln hochmütigen Triumphes und gleichzeitig einer mißtrauischen Verwunderung. Den eintretenden Mawriki Nikolajewitsch schien dieses eigenartige Lächeln stutzig zu machen; wenigstens blieb er auf einmal mitten im Zimmer stehen, wie wenn er unschlüssig wäre, ob er weitergehen oder umkehren solle. Der Wirt veränderte aber im selben Augenblicke sein Gesicht und kam ihm mit dem Ausdruck ernster Verwunderung entgegen. Dieser nahm die hingestreckte Hand nicht an, zog sich linkisch einen Stuhl heran und setzte sich, ohne ein Wort zu sagen und ohne eine Aufforderung abzuwarten, noch vor dem Wirte hin. Nikolai Wsewolodowitsch setzte sich ihm schräg gegenüber auf die Chaiselongue, blickte Mawriki Nikolajewitsch aufmerksam an, schwieg und wartete.

»Wenn Sie können, so heiraten Sie Lisaweta Nikolajewna!« sagte Mawriki Nikolajewitsch auf einmal, und, was das merkwürdigste war, an dem Tone, in dem er das sagte, ließ sich nicht erkennen, was es eigentlich war, eine Bitte, eine Empfehlung, ein Zugeständnis oder ein Befehl.

Nikolai Wsewolodowitsch fuhr fort zu schweigen; aber der Gast hatte offenbar bereits alles gesagt, weswegen er gekommen war, und blickte in Erwartung einer Antwort seinem Gegenüber ins Gesicht.

»Wenn ich mich nicht irre (übrigens ist die Sache ja sehr sicher), so ist Lisaweta Nikolajewna bereits mit Ihnen verlobt,« erwiderte Stawrogin endlich.

»Sie ist in aller Form mit mir verlobt,« bestätigte Mawriki Nikolajewitsch mit fester, deutlicher Stimme.

»Haben Sie ... sich entzweit? ... Verzeihen Sie die Frage, Mawriki Nikolajewitsch!«

»Nein. Sie ›liebt und achtet‹ mich; das sind ihre eigenen Worte. Und ihre Worte sind absolut zuverlässig.«

»Daran ist kein Zweifel.«

»Aber wissen Sie: wenn sie in der Kirche schon am Lesepult unter der Brautkrone dastehen wird und Sie sie rufen, dann wird sie mich und alle im Stich lassen und zu Ihnen hingehen.«

»Von der Trauung weg?«

»Ja, und auch nach der Trauung.«

»Irren Sie sich auch nicht?«

»Nein. Unter dem ununterbrochenen, aufrichtigen, starken Hasse, den sie gegen Sie empfindet, leuchtet alle Augenblicke die Liebe und ... der Wahnsinn hervor ... die aufrichtigste, maßlose Liebe und ... der Wahnsinn! Umgekehrt leuchtet aus der Liebe, die sie ebenso aufrichtig zu mir fühlt, jeden Augenblick der größte Haß hervor! Ich hätte mir früher all diese Metamorphosen niemals vorstellen können.«

»Aber ich wundere mich darüber, wie Sie herkommen konnten, um über Lisaweta Nikolajewnas Hand zu verfügen. Haben Sie ein Recht dazu? Oder hat sie Ihnen eine Vollmacht erteilt?«

Mawriki Nikolajewitsch machte ein finsteres Gesicht und senkte einen Augenblick den Kopf.

»Das sind ja von Ihrer Seite nur Worte,« sagte er dann plötzlich, »rachsüchtige, triumphierende Worte; ich bin überzeugt, Sie verstehen auch das, was ich unausgesprochen lasse; und ist denn hier wirklich der Ort für kleinliche Prahlerei? Ist Ihnen diese Genugtuung noch nicht ausreichend? Soll ich denn wirklich alles ausführlich und haarklein darlegen? Nun gut, ich werde es tun, wenn Ihnen an meiner Demütigung soviel gelegen ist: ein Recht habe ich nicht; eine Vollmacht ist ein Ding der Unmöglichkeit; Lisaweta Nikolajewna weiß von nichts, sondern ihr Bräutigam hat den letzten Rest von Verstand verloren und ist reif für das Irrenhaus, und um allem die Krone aufzusetzen, kommt er selbst her, um Ihnen davon Meldung abzustatten. Auf der ganzen Welt können nur Sie allein sie glücklich und nur ich allein sie unglücklich machen. Sie machen sie mir streitig, Sie verfolgen sie; aber, ich weiß nicht warum, Sie heiraten sie nicht. Wenn der Grund dafür ein Liebeszank ist, der im Auslande stattgefunden hat, und wenn, um ihn zu beenden, ich zum Opfer gebracht werden muß, so bringen Sie mich zum Opfer! Sie ist sehr unglücklich, und ich kann das nicht ertragen. Meine Worte sind keine Erlaubnis, keine Vorschrift und enthalten daher auch nichts, was für Ihr Selbstgefühl verletzend sein könnte. Wenn es in Ihrer Absicht läge, meinen Platz am Kirchenpult einzunehmen, so hätten Sie das ohne jede Erlaubnis von meiner Seite tun können, und ich hätte dann keinen Anlaß gehabt, mit diesem verdrehten Anliegen zu Ihnen zu kommen. Um so mehr, da auch unsere Hochzeit nach meinem jetzigen Schritte schon unmöglich geworden ist. Ich kann sie doch nicht zum Altare führen, wenn ich ein gemeiner Mensch bin! Und das, was ich jetzt tue, indem ich sie Ihnen, vielleicht ihrem unversöhnlichsten Feinde, übergebe, ist eine solche Gemeinheit, daß ich sie selbstverständlich nicht überstehen werde.«

»Sie werden sich erschießen, wenn wir getraut werden?«

»Nein, erst weit später. Wozu soll ich ihr Hochzeitskleid mit meinem Blute beflecken? Vielleicht werde ich mich überhaupt nicht erschießen, weder jetzt noch später.«

»Durch diese letzte Bemerkung wollen Sie mich wohl beruhigen?«

»Sie beruhigen? Was macht es Ihnen denn aus, ob etwas Blut mehr vergossen wird?«

Er war blaß geworden, und seine Augen fingen an zu funkeln. Es folgte ein Stillschweigen, das wohl eine Minute lang dauerte.

»Verzeihen Sie mir die Fragen, die ich Ihnen vorlegte,« begann Stawrogin von neuem. »Einige derselben Ihnen vorzulegen war ich nicht berechtigt; aber zu einer andern Frage habe ich, wie ich meine, ein volles Recht: sagen Sie mir: durch welche Tatsachen sind Sie veranlaßt worden, auf meine Gefühle gegen Lisaweta Nikolawjewna zu schließen? Ich meine auf einen solchen Grad dieser Gefühle, daß die Überzeugung von deren Vorhandensein Ihnen erlaubte, zu mir zu kommen ... und einen solchen Vorschlag zu riskieren?«

»Wie?« rief Mawriki Nikolajewitsch und zuckte dabei sogar ein wenig zusammen; »haben Sie sich denn nicht um sie beworben? Bewerben Sie sich nicht um sie, und wollen Sie sich nicht um sie bewerben?«

»Über meine Gefühle gegen diese oder jene Frau kann ich überhaupt nicht laut zu einem Dritten sprechen, wer es auch sein mag, sondern nur zu der betreffenden Frau. Verzeihen Sie, das ist nun einmal eine Eigentümlichkeit meines Organismus. Aber dafür will ich Ihnen im übrigen die volle Wahrheit sagen: ich bin verheiratet, und es ist mir daher nicht mehr möglich, mich zu verheiraten oder mich zu ›bewerben‹.«

Mawriki Nikolajewitsch war dermaßen erstaunt, daß er gegen die Rückenlehne des Sessels zurückschwankte und seinem Gegenüber eine Zeitlang ins Gesicht sah ohne sich zu rühren.

»Denken Sie sich, das habe ich wirklich in keiner Weise gedacht,« murmelte er. »Sie sagten damals, an jenem Vormittag, Sie seien nicht verheiratet ... und daher glaubte ich, daß es nicht der Fall sei.«

Er war furchtbar blaß geworden; auf einmal schlug er aus voller Kraft mit der Faust auf den Tisch.

»Wenn Sie nach diesem Bekenntnis nicht von Lisaweta Nikolajewna ablassen und sie absichtlich unglücklich machen, so werde ich Sie mit dem Stocke totschlagen, wie einen Hund am Zaun!«

Er sprang auf und verließ schnell das Zimmer. Als Peter Stepanowitsch hereingelaufen kam, fand er Stawrogin in einer ganz unerwarteten Gemütsverfassung.

»Ah, Sie sind da!« rief dieser, laut lachend. Er lachte anscheinend nur über Peter Stepanowitschs Figur, der mit allen Zeichen neugieriger Aufregung hereingelaufen kam.

»Haben Sie an der Tür gehorcht? Warten Sie mal, warum sind Sie doch gekommen? Ich habe Ihnen ja etwas versprochen ... Ach ja, ich erinnere mich: wir wollten zu den ›Unsrigen‹! Gehen wir; ich freue mich sehr darauf, und Sie hätten nichts ersinnen können, was mir jetzt gelegener käme.«

Er griff nach seinem Hute, und beide verließen ohne Verzug das Haus.

»Sie lachen schon im voraus darüber, daß Sie die ›Unsrigen‹ zu sehen bekommen werden?« fragte Peter Stepanowitsch, lustig umherscherwenzelnd, indem er bald neben seinem Gefährten auf dem schmalen Ziegeltrottoir zu gehen suchte, bald sogar auf den Straßendamm geradezu in den Schmutz lief, weil sein Gefährte es gar nicht gewahr wurde, daß er allein gerade in der Mitte des Trottoirs ging und es somit mit seiner eigenen Person allein einnahm.

»Ich lache durchaus nicht,« antwortete Stawrogin laut und fröhlich. »Ich bin im Gegenteil davon überzeugt, daß ich bei Ihnen dort sehr ernste Leute finden werde.«

»›Ingrimmige Dummköpfe‹, wie Sie sich einmal auszudrücken beliebten.«

»Es gibt nichts Amüsanteres als so einen ingrimmigen Dummkopf.«

»Ah, damit zielen Sie auf Mawriki Nikolajewitsch! Ich bin überzeugt, daß er soeben zu Ihnen gekommen war, um Ihnen seine Braut abzutreten, wie? Dazu habe ich ihn direkt aufgehetzt, wie Sie sich vorstellen können. Und wenn er sie Ihnen nicht abtritt, dann nehmen wir sie ihm einfach weg, nicht wahr?«

Peter Stepanowitsch wußte natürlich, was er riskierte, wenn er sich auf solche Wendungen einließ; aber da er selbst sehr aufgeregt war, so wollte er lieber nötigenfalls alles riskieren, als länger in Ungewißheit bleiben. Nikolai Wsewolodowitsch lachte nur.

»Spekulieren Sie immer noch darauf, mir zu helfen?« fragte er.

»Sobald Sie rufen werden. Wissen Sie aber, daß es einen sehr guten Weg gibt?«

»Ich kenne Ihren Weg.«

»Nein doch, das ist vorläufig noch ein Geheimnis. Aber vergessen Sie nicht, daß das Geheimnis Geld kostet!«

»Ich weiß, wieviel es kostet,« brummte Stawrogin vor sich hin, beherrschte sich aber und sprach nicht weiter.

»Wieviel? Was sagten Sie?« fragte Peter Stepanowitsch aufgeregt.

»Ich sagte: Gehen Sie zum Teufel mit Ihrem Geheimnisse! Sagen Sie mir lieber, wen ich da jetzt treffen werde. Ich weiß, daß wir zur Feier eines Namenstages gehen; aber wer ist denn eigentlich da?«

»Oh, ein äußerst bunter Mischmasch! Selbst Kirillow wird da sein.«

»Lauter Komiteemitglieder?«

»Donnerwetter, haben Sie es aber eilig! Hier hat sich noch kein einziges Komitee gebildet.«

»Wie haben Sie es denn dann fertigbekommen, so viele Proklamationen zu verbreiten?«

»Dort, wohin wir gehen, sind nur vier Komiteemitglieder. Die übrigen bespionieren einander vorläufig um die Wette und erstatten mir Bericht. Es sind Leute, von denen man sich viel versprechen kann. Das ist lauter Material, das man organisieren muß; dann allerdings muß man sich davonmachen. Übrigens haben Sie ja selbst das Statut verfaßt; da brauche ich Ihnen nichts weiter auseinanderzusetzen.«

»Wie ist es? Die Sache geht wohl schwer? Hapert es?«

»Wie es geht? So leicht, wie man es sich nur denken kann. Ich werde Sie zum Lachen bringen: das erste, was gewaltig wirkt, das sind die Ämter. Die sind das stärkste Zugmittel. Ich ersinne absichtlich Titel und Obliegenheiten: ich habe Sekretäre, geheime Kundschafter, Kassierer, Vorsitzende, Registratoren und Gehilfen all dieser Chargen; das gefällt sehr und ist sehr gut aufgenommen worden. Dann folgt natürlich als zweites kräftiges Moment die Sentimentalität. Wissen Sie, der Sozialismus verdankt seine Verbreitung bei uns vorzugsweise der Sentimentalität. Aber das Malheur ist, daß sich auch Unterleutnants finden, die zu beißen anfangen; da kann man leicht hereinfallen. Darauf folgen die reinen Schurken; na, die sind ein ganz braves Völkchen und manchmal sehr nützlich; nur muß man auf sie viel Zeit verwenden; sie verlangen eine unaufhörliche Überwachung. Na, und dann schließlich das Hauptmoment, der alles bindende Zement, das ist die Scheu vor einer eigenen Meinung. Sehen Sie, das ist etwas, was stark wirkt! Und wer hat das durch seine Arbeit herbeigeführt? Welcher ›liebe Mensch‹ hat es durch seine Bemühungen dahin gebracht, daß kein einziger eigener Gedanke in jemandes Kopfe übriggeblieben ist? Selbständiges Denken betrachten sie geradezu als eine Schande.«

»Wenn es so dürftige Menschen sind, warum geben Sie sich dann mit ihnen soviel Mühe?«

»Aber wenn sie doch so einfach daliegen und einen gleichsam mit aufgesperrtem Munde dazu einladen, wie sollte man sie da nicht in die Tasche stecken! Es klingt, als ob Sie an die Möglichkeit des Gelingens nicht ernsthaft glaubten? Oder vielmehr, der Glaube ist schon da, es fehlt jedoch am rechten Wollen. Aber gerade mit solchen Leuten ist ein Gelingen möglich. Ich sage Ihnen, meine Kerle gehen durch Wasser und Feuer; ich brauche ihnen nur zuzurufen, sie seien nicht fortschrittlich genug. Die Dummköpfe werfen mir vor, ich hätte sie alle hier mit dem Zentralkomitee und den ›zahllosen Verzweigungen‹ hinters Licht geführt. Auch Sie selbst haben mich einmal deswegen gescholten; aber wie kann da von Täuschung die Rede sein: das Zentralkomitee sind Sie und ich, und Verzweigungen wird es so viele geben, als man nur will.«

»Und alles, was Sie hier haben, ist solcher Pöbel!«

»Es ist Material. Auch die sind zu brauchen.«

»Und Sie spekulieren immer noch auf mich?«

»Sie sind der Chef, Sie sind die bewegende Kraft; ich werde Ihnen nur zur Seite stehen, etwa als Sekretär. Wissen Sie, wir werden in einen Nachen steigen, dessen Ruder von Ahornholz, dessen Segel von Seide sind, und am Steuer sitzt ein schönes Mädchen, die liebe Lisaweta Nikolajewna ... oder wie das da in jenem Liede heißt ...«

»Da ist er stecken geblieben!« lachte Stawrogin. »Nein, da will ich Ihnen lieber noch ein gutes Mittel angeben. Sie zählen an den Fingern die wirksamen Umstände auf, durch die die Komitees gebildet und zusammengehalten werden. All dieses Beamtenwesen und diese Sentimentalität, das ist wohl ein guter Kleister; aber es gibt noch einen besseren Kunstgriff: bereden Sie vier Komiteemitglieder, das fünfte zu ermorden, unter dem Vorgeben, dieses sei ein Denunziant, und sofort werden Sie sie mittels des vergossenen Blutes wie mit einem Strick zusammenknoten. Sie werden Ihre Sklaven werden und nicht wagen, sich zu empören oder Rechenschaft zu fordern. Ha-ha-ha!«

»Aber«, dachte Peter Stepanowitsch für sich, »aber für diese Worte sollst du mir büßen, und noch heute abend. Du erlaubst dir denn doch schon gar zu viel!«

So oder fast so mochte Peter Stepanowitsch denken. Übrigens näherten sie sich schon dem Hause Wirginskis.

»Sie haben mich da gewiß für ein Mitglied ausgegeben, das aus dem Auslande kommt und mit der Internationale in Verbindung steht, für einen Revisor?« fragte Stawrogin.

»Nein, für einen Revisor nicht; den Revisor sollen nicht Sie, sondern ein anderer spielen; Sie werden ein zu den Gründern gehöriges, aus dem Auslande eingetroffenes Mitglied sein, dem gewisse höchst wichtige Geheimnisse bekannt sind; das ist Ihre Rolle. Sie werden natürlich reden?«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Sie sind jetzt verpflichtet zu reden.«

Stawrogin blieb vor Verwunderung mitten auf der Straße stehen, nicht weit von einer Laterne. Peter Stepanowitsch hielt seinen Blick dreist und ruhig aus. Stawrogin spuckte aus und ging weiter.

»Aber Sie selbst, werden Sie reden?« fragte er auf einmal Peter Stepanowitsch.

»Nein, ich werde Ihnen zuhören.«

»Hol Sie der Teufel! Sie bringen mich wirklich auf eine Idee!«

»Auf was für eine?« fragte Peter Stepanowitsch hastig.

»Ich werde da reden, meinetwegen; aber dafür werde ich Sie nachher durchprügeln, und wissen Sie, gehörig durchprügeln.«

»Apropos, ich habe vorhin von Ihnen zu Karmasinow gesagt, Sie hätten über ihn geäußert, man müsse ihn durchpeitschen, aber nicht einfach, um ihm eine Unehre anzutun, sondern wie man einen Bauer durchpeitscht, schmerzhaft.«

»Aber ich habe das ja nie gesagt, ha-ha!«

»Das tut nichts. Se non è vero ...«

»Nun, ich danke Ihnen, ich danke Ihnen aufrichtig.«

»Noch eins; wissen Sie, was Karmasinow sagte? In der Hauptsache sei unsere Lehre eine Verneinung der Ehre, und mit dem offen verkündeten Recht auf Ehrlosigkeit könne man den Russen am leichtesten anlocken und mit sich ziehen.«

»Ein vorzüglicher Gedanke! Ein goldener Gedanke!« rief Stawrogin. »Da hat er den Nagel auf den Kopf getroffen! Das Recht auf Ehrlosigkeit, – ja, dann werden alle zu uns gelaufen kommen, und kein einziger wird auf der anderen Seite bleiben! Aber hören Sie mal, Werchowenski, gehören Sie auch nicht zur Geheimpolizei, was?«

»Aber wem solche Fragen im Kopfe herumgehen, der spricht sie doch nicht aus.«

»Ich verstehe; aber wir sind ja unter uns.«

»Nein, vorläufig gehöre ich noch nicht zur Geheimpolizei. Aber nun genug; wir sind am Ziele. Machen Sie Ihr Gesicht zurecht, Stawrogin; ich tue das auch immer, wenn ich zu ihnen hineingehe. Recht viel finsteren Ernst; weiter ist nichts nötig; es ist kein Kunststück.«


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