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VIII.
Die Binde fiel

Vorher noch zwei Worte. Noch vor einem Monat war mir ihre eigentümliche Nachdenklichkeit aufgefallen; es war eben keine Schweigsamkeit mehr, es war Nachdenklichkeit. Das war mir ganz plötzlich aufgefallen. Sie saß damals über eine Näharbeit gebeugt und merkte nicht, daß ich sie beobachtete. Plötzlich fiel es mir auf, wie schmal und mager sie geworden war, wie bleich ihr Gesicht, wie blutleer ihre Lippen waren – dies alles und noch dazu ihre Nachdenklichkeit erschreckten mich mit einem Male ganz außerordentlich. Ich hatte schon früher bemerkt, daß sie manchmal, besonders nachts, so eigentümlich trocken hüstelte. Ich stand gleich auf und eilte, ohne ihr etwas davon zu sagen, zum Doktor Schröder.

Schröder kam am nächsten Tage. Sie war sehr erstaunt und blickte bald auf mich und bald auf den Arzt.

»Ich bin ja vollständig gesund,« sagte sie mit einem rätselhaften Lächeln.

Schröder untersuchte sie nicht besonders eingehend (diese Mediziner sind ja manchmal vor lauter Einbildung etwas nachlässig). Er sagte mir im Nebenzimmer, daß es noch eine Nachwirkung ihrer Krankheit sei und daß es ganz gut wäre, wenn sie in irgendein Seebad oder wenigstens in eine Sommerfrische gehen könnte. Er sagte also eigentlich nichts, außer, daß es Schwäche oder etwas Ähnliches sei. Als Schröder gegangen war, blickte sie mich ungewöhnlich ernst an und sagte plötzlich nochmals:

»Ich bin ja vollständig gesund.«

Kaum hatte sie es gesagt, als sie plötzlich über und über rot wurde, augenscheinlich vor Scham. Ja, es war augenscheinlich Scham. O, jetzt begreife ich es: sie schämte sich darüber, daß ich noch ihr Mann war und für sie sorgte, als ob ich noch ihr wirklicher Mann wäre. Damals begriff ich es aber nicht und schrieb das Erröten ihrer Demut zu. (Ja, ich hatte eben noch die Binde vor den Augen!)

Nach einem Monat, an einem sonnigen Apriltag saß ich also gegen fünf Uhr in meinem Zimmer und machte Kasse. Sie saß im anderen Zimmer an ihrem Tischchen und nähte. Plötzlich hörte ich, daß sie leise, ganz leise zu singen anfing. Diese neue Wahrnehmung machte auf mich einen geradezu erschütternden Eindruck, den ich auch heute noch nicht recht fassen kann. Bis dahin hatte ich sie fast nie singen gehört, höchstens noch in den ersten Tagen nach der Hochzeit, wo wir noch beide lustig waren, mit dem Revolver ins Ziel schossen usw. Ihre Stimme war damals stark, schön und hell; sie sang zwar nicht ganz richtig, doch ungemein angenehm. Nun war ihr Liedchen so schwach – ich will nicht sagen, daß es melancholisch gewesen wäre (es war irgendeine Romanze): ihre Stimme klang aber so, als ob in ihr etwas gesprungen oder gerissen wäre, als ob sie nicht die Kraft hätte, als ob das Liedchen selbst krank wäre. Sie sang ganz leise, und plötzlich, bei einem hohen Ton, brach die Stimme ab – so ein armseliges Stimmchen, es war so jämmerlich, als es abbrechen mußte! Sie hüstelte, räusperte sich und begann dann wieder ganz leise und kaum hörbar zu singen ...

Man wird wohl über meine Aufregung lachen, doch niemand wird je begreifen können, warum mich diese Aufregung überkam! Nein, es war noch kein Mitleid mit ihr, es war etwas ganz anderes. Zuerst, wenigstens in den ersten Minuten, stand ich dieser neuen Tatsache ganz verständnislos gegenüber; ich war erstaunt und bestürzt, es war ein unheimliches, seltsames und krankhaftes Gefühl, beinahe etwas wie Rachsucht, das sich in mir regte: »Sie singt und dazu noch in meiner Gegenwart! Hat sie mich etwa vergessen?«

*

Zuerst blieb ich ganz bestürzt auf meinem Platze sitzen, sprang dann plötzlich auf, nahm meinen Hut und ging, ohne noch recht zu wissen, was ich tun wollte, hinaus. Lukerja reichte mir meinen Mantel.

»Sie singt?« fragte ich sie unwillkürlich. Lukerja verstand mich nicht und sah mich ganz blöde an; ich war ihr wohl auch wirklich unverständlich.

»Singt sie heute zum ersten Male?«

»Nein, wenn Sie nicht zu Hause sind, singt sie öfters,« antwortete Lukerja.

Ich kann mich noch genau auf alles besinnen. Ich ging die Treppe hinunter, trat auf die Straße und ging aufs Geratewohl. Ich ging bis zur nächsten Ecke und starrte gerade vor mich hin. Leute gingen vorüber, stießen mich an, ich sah und hörte nichts. Ich rief eine Droschke herbei und sagte dem Kutscher, er solle mich zur Polizeibrücke fahren; warum, weiß ich nicht. Ich gab aber gleich diese Absicht auf und schenkte dem Kutscher zwanzig Kopeken.

»Das ist dafür, daß ich dich umsonst anrief,« sagte ich ihm, indem ich ihm ganz sinnlos und verstört ins Gesicht lachte. In meinem Herzen stieg plötzlich ein unsagbares Wonnegefühl auf.

Ich kehrte um und begab mich mit beschleunigten Schritten nach Hause. In meiner Seele klang wieder der gesprungene, traurige, abgerissene Ton. Mir stockte der Atem. Die Binde fiel, sie fiel von meinen Augen! Wenn sie in meiner Gegenwart zu singen begonnen hatte, so hatte sie mich vergessen – das war es, was ich plötzlich so klar vor Augen sah und was mich so erschreckte. So fühlte mein Herz. Doch das Wonnegefühl erfüllte meine Seele und besiegte die Angst.

O die Ironie des Schicksals! Dieses Wonnegefühl war doch in meiner Seele den ganzen Winter über gewesen, etwas anderes als dieses Gefühl hätte in ihr ja gar nicht wohnen können; wo war ich selbst diesen Winter über gewesen? Ob ich überhaupt mit meiner Seele eins gewesen war? Ich lief eilig die Treppe hinauf. Ob ich stürmisch oder schüchtern ins Zimmer trat, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur noch, daß der ganze Fußboden unter mir schwankte, als werde ich von Wellen getragen. Als ich ins Zimmer trat, saß sie noch immer auf ihrem früheren Platze, den Kopf über die Näharbeit gebeugt; sie sang aber nicht mehr. Sie streifte mich mit einem gleichgültigen Blick; es war eigentlich kein Blick, sondern eine rein mechanische Geste, so wie wenn irgendein Gleichgültiger ins Zimmer tritt.

Ich ging direkt auf sie zu und setzte mich dicht neben sie. Ich sah wohl wie ein Wahnsinniger aus. Sie warf mir einen schnellen Blick zu und schien erschreckt. Ich ergriff ihre Hand, ich weiß nicht mehr, was ich ihr sagte, d. h. was ich ihr sagen wollte, denn ich konnte ja nicht einmal vernünftig reden. Meine Stimme riß und wollte mir nicht gehorchen. Ich wußte ja auch gar nicht, was ich ihr sagen sollte. So saß ich, um Atem ringend, neben ihr.

»Wollen wir ein wenig sprechen ... weißt du ... sag doch irgendwas!« lallte ich plötzlich ganz dumm. Wie hätte ich da auch etwas Vernünftiges sagen können? Sie zuckte wieder zusammen, sah mich an und prallte, außer sich vor Angst, von mir zurück. Plötzlich nahmen ihre Augen den Ausdruck von Strenge und Erstaunen an. Ja, es war ein ganz eigentümliches strenges Erstaunen. Sie sah mich mit großen Augen an. Von dieser Strenge, diesem strengen Erstaunen war ich wie zermalmt. »Du willst noch Liebe? Liebe?« fragten mich ihre erstaunten Blicke. Sie schwieg, doch ich las in ihrem Blicke alles, alles. Alles erzitterte in mir, und ich stürzte zu ihren Füßen. Ja, ich lag wirklich vor ihren Füßen. Sie sprang rasch auf, aber ich hielt sie mit ungewöhnlicher Kraft an beiden Händen fest.

Ich begriff vollkommen meine Verzweiflung, o ich begriff sie! Und doch – Sie werden es kaum glauben – und doch war mein Herz von einem so unbeschreiblichen Wonnegefühl erfüllt, daß ich glaubte, es würde brechen. Ganz berauscht küßte ich ihr die Füße. Ja, ich war glücklich, grenzenlos, unendlich glücklich, obwohl ich mir dabei auch meiner Verzweiflung voll bewußt war. Ich weinte, stammelte etwas, konnte aber nichts sagen. Schrecken und Erstaunen wurden bei ihr von einer Besorgnis verdrängt, von einer bangen Frage abgelöst; sie sah mich so sonderbar, sogar wahnsinnig an, wollte endlich alles begreifen und lächelte. Sie schämte sich sehr, daß ich ihr die Füße küßte, und zog sie immer zurück; ich küßte aber dann die Stelle, wo ihre Füße gestanden hatten. Sie sah es und begann plötzlich vor Scham zu lachen (wissen Sie, wie es klingt, wenn man vor Scham lacht?). Sie bekam einen hysterischen Anfall, ich sah, wie ihre Hände zuckten, doch ich dachte nicht daran und flüsterte in einem fort, daß ich sie liebe, daß ich nicht aufstehen würde: »Laß mich dein Kleid küssen ... Laß mich dich mein Leben lang anbeten ...« Ich weiß nicht mehr, kann mich auf nichts mehr besinnen – plötzlich schluchzte sie auf und erbebte am ganzen Leibe. Es war ein schrecklicher hysterischer Anfall. Ich hatte sie zu sehr erschreckt.

Ich trug sie auf ihr Bett. Als der Anfall vorüber war, setzte sie sich auf, ergriff meine Hände und sagte: »Lassen Sie, quälen Sie sich nicht, beruhigen Sie sich!« Sie war furchtbar traurig, schien ganz vernichtet und weinte in einem fort. Den ganzen Abend ging ich nicht von ihrer Seite. Ich sagte ihr immer, daß ich mit ihr in ein Seebad, nach Boulogne reisen wolle, und zwar sofort, in vierzehn Tagen; daß mir der seltsam gesprungene Ton in ihrer Stimme aufgefallen sei, daß ich die Leihkasse schließen und an Dobronrawow verkaufen würde, daß nun ein neues Leben beginnen würde; vor allen Dingen aber müßten wir sofort nach Boulogne reisen! Sie hörte mir erschrocken zu. Ihre Angst schien immer zu wachsen. Ich kümmerte mich aber nicht um ihre Angst, hatte nur den einen unbezwingbaren Wunsch, vor ihren Füßen zu liegen, die Stelle auf dem Boden, wo ihre Füße gestanden, zu küssen, zu ihr zu beten. »Ich werde von dir nichts mehr verlangen,« wiederholte ich immer wieder, »du brauchst mir nichts mehr zu antworten, brauchst mich überhaupt nicht mehr zu beachten, laß mich nur auf dich von einem Winkel aus schauen, behandle mich wie dein Eigentum, wie dein Hündchen ...« Sie weinte.

» Und ich hatte schon gedacht, Sie würden mich ganz in Ruhe lassen«, entfuhr es ihr plötzlich ganz unwillkürlich – so unwillkürlich, daß sie vielleicht selbst gar nicht merkte, wie sie es sagte. Und doch war es das Wichtigste, das Verhängnisvollste, was ich von ihr an diesem Abend zu hören bekam, eigentlich das einzige, was ich vollkommen begriff. Diese Worte durchbohrten mir förmlich das Herz, sie erklärten mir alles! Doch solange ich sie bei mir, vor meinen Augen hatte, gab ich noch immer die Hoffnung nicht auf, war noch immer unsagbar glücklich. Ich hatte sie an diesem Abend furchtbar ermüdet, ich sah es vollkommen ein, glaubte aber immer, daß es mir gleich gelingen würde, alles gutzumachen. Als die Nacht kam, war sie ganz erschöpft. Ich bat sie, sie möchte doch einschlafen, und sie schlief auch wirklich sofort ein. Ich erwartete, daß sie phantasieren würde; sie phantasierte auch wirklich, doch nicht zu heftig. In der Nacht stand ich jeden Augenblick auf, ging leise in Pantoffeln an ihr Bett und betrachtete sie. Wie ich das arme kranke Wesen auf dem schmalen eisernen Bett, das ich ihr für drei Rubel gekauft hatte, liegen sah, rang ich die Hände. Ich kniete vor ihr nieder, wagte aber nicht, während sie schlief (also gegen ihren Willen!), ihre Füße zu küssen. Ich versuchte zu beten, sprang aber immer gleich wieder auf. Lukerja kam einige Male aus der Küche und sah mich ganz verwundert an. Ich sagte ihr, sie möchte sich endlich hinlegen; morgen würde aber »etwas ganz Neues« beginnen.

Auch ich selbst glaubte blind, wahnsinnig, fanatisch daran. Ich war vor Freude ganz berauscht! Ich wartete nur auf den Morgen. Trotz aller warnenden Symptome glaubte ich nicht an die Möglichkeit eines Unglücks. Obwohl die Binde gefallen war, hatte ich den gesunden Menschenverstand noch nicht ganz wiedererlangt; und dieser Zustand hielt noch lange an, bis auf den heutigen Tag! Wie hätte ich damals auch vernünftig denken können: sie war ja noch am Leben, sie lag vor mir, und ich stand vor ihr. »Morgen wird sie erwachen, ich werde ihr alles sagen, und sie wird alles einsehen!« So stellte ich es mir damals vor, so klar und so einfach; und darum war ich auch so berauscht! Am meisten aber berauschte mich der Gedanke an die Reise nach Boulogne. Aus irgendeinem Grunde glaubte ich, daß Boulogne die Rettung sei, daß Boulogne alles lösen würde. Mit wahnsinniger Spannung wartete ich auf den Morgen.


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