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VII.
Ein stolzer Traum

Lukerja hat mir soeben erklärt, daß sie bei mir nicht länger bleiben wolle und gleich nach der Beerdigung der Gnädigen fortgehen werde. Ich habe soeben fünf Minuten lang auf den Knien gebetet, obwohl ich ursprünglich die Absicht hatte, eine ganze Stunde lang zu beten. Ich muß immer denken und denken; in meinem kranken Kopfe regen sich nur kranke Gedanken – das Beten wäre ja Sünde! Es ist auch merkwürdig, daß ich keine Schläfrigkeit fühle: bei großem, allzu großem Schmerz, wenn die ersten heftigen Ausbrüche vorbei sind, will man sonst immer schlafen. Das ist ja auch ganz natürlich, sonst würden ja die Kräfte nicht ausreichen ... Ich legte mich auf den Diwan, blieb aber wach ...

*

... Sechs Wochen lang pflegten wir sie Tag und Nacht: ich, Lukerja und die gelernte Pflegerin aus dem Spital, die ich engagiert hatte. Ich sparte kein Geld, hatte sogar den Wunsch, für sie möglichst viel auszugeben. Ich ließ sie von Doktor Schröder behandeln und zahlte ihm zehn Rubel für jeden Besuch. Als sie das Bewußtsein wiedererlangt hatte, gab ich mir Mühe, ihr möglichst wenig unter die Augen zu treten. Warum spreche ich jetzt übrigens davon? Als sie das Bett verließ, setzte sie sich schweigend an einen besonderen Tisch, der in meinem Zimmer stand und den ich um jene Zeit für sie angeschafft hatte ... Ja, es ist wahr, wir schwiegen beide; d. h. wir fingen sogar später zu sprechen an, doch nur über ganz gleichgültige Dinge. Ich gab mir absichtlich Mühe, möglichst wenig zu sprechen, merkte aber sehr genau, daß sie sehr froh war, kein übriges Wort sagen zu müssen. Das erschien mir sogar sehr natürlich: »Sie ist zu sehr erschüttert, zu sehr besiegt,« sagte ich mir, »und ich muß ihr Zeit lassen, zu vergessen und sich einzuleben.« So schwiegen wir beide, ich bereitete mich aber in Gedanken jeden Augenblick auf die Zukunft vor. Ich hatte den Eindruck, daß auch sie mit den gleichen Gedanken beschäftigt war; ich versuchte oft zu erraten, woran sie im betreffenden Augenblick denken könnte.

Ich will noch folgendes sagen: Natürlich kann sich kein Mensch vorstellen, was ich während ihrer Krankheit durchgemacht habe; ich stöhnte aber nur in mich hinein und verbarg sogar vor Lukerja manchen Seufzer. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, konnte es gar nicht fassen, daß sie sterben werde, ohne alles erfahren zu haben. Als aber die Gefahr vorüber war und sie sich zu erholen begann, beruhigte ich mich, ich weiß es noch genau, ungewöhnlich schnell. Und noch mehr als das: ich beschloß, unsere Zukunft möglichst weit hinauszuschieben, und alles, solange es noch geht, im alten Geleise zu belassen. Ja, da geschah mit mir etwas ganz Merkwürdiges und Besonderes, ich kann es nicht anders nennen: ich hatte den Sieg davongetragen, und es stellte sich heraus, daß schon der bloße Gedanke daran mir vollkommen genügte. So verging der ganze Winter. Ich war zufrieden wie noch nie, und dieser Zustand hielt den ganzen Winter an.

Denn sehen Sie: in meinem Leben gab es einen furchtbaren, durchaus äußeren Umstand, der mich bis dahin, d. h. bis zur Katastrophe mit meiner Frau, Tag und Nacht, jede Stunde und Minute bedrückt hatte; ich meine die Entehrung und Ausstoßung aus dem Regiment. Kurz: mir war eine tyrannische Ungerechtigkeit widerfahren. Allerdings war ich wegen meines unverträglichen und vielleicht auch etwas lächerlichen Charakters wenig beliebt; obgleich es oft vorkommt, daß das, was einem erhaben erscheint, was er als sein Heiligstes im Herzen bewahrt und schätzt, seiner Umgebung aus irgendeinem Grunde lächerlich erscheint. Selbst in der Schule hat man mich niemals geliebt. Ich war immer und überall unbeliebt. Auch Lukerja kann mich nicht lieben. Doch der Fall im Regiment trug einen durchaus zufälligen Charakter, wenn er auch in gewisser Hinsicht die Folge meiner Unbeliebtheit war. Ich erwähne es nur, weil es nichts Bedrückenderes und Unerträglicheres geben kann, als durch einen Zufall zugrunde zu gehen, durch einen Zufall, der ebensogut auch nicht hätte sein können, durch eine unglückliche Verkettung von Umständen, die sich ebensogut wie eine Wolke hätte verziehen können. Für einen intelligenten Menschen ist das ganz besonders erniedrigend. Der Fall lag so:

Es war im Theater. In einer Pause ging ich ans Büfett. Der Husarenoffizier A., der plötzlich am Büfett erschien, erklärte in Gegenwart aller anwesenden Offiziere und des Publikums, im Gespräch mit zwei anderen Husaren, daß der Hauptmann unseres Regiments, Besumzew, soeben im Korridor Skandal gemacht hätte und wahrscheinlich betrunken sei. Weiter wurde darüber nicht gesprochen, denn A. hatte sich geirrt: Besumzew war gar nicht betrunken, und der Skandal war eigentlich kein Skandal. Die Husaren brachten das Gespräch auf andere Dinge, und damit schien die Sache erledigt. Doch am nächsten Tage erfuhr man von der Geschichte in unserem Regiment, und gleich hieß es, daß ich, der einzige Offizier unseres Regiments, der dabei gewesen, den Husaren, der sich verletzend über unseren Hauptmann Besumzew geäußert hatte, nicht zur Rede gestellt hätte. Warum hätte ich es auch tun sollen? Wenn er etwas gegen Besumzew hatte, so war es doch eine persönliche Angelegenheit zwischen den beiden; warum hätte ich mich da einmischen sollen? Doch unsere Offiziere fanden, daß die Angelegenheit durchaus keine persönliche wäre, sondern das ganze Regiment beträfe; da ich aber als einziger Vertreter des Regiments zugegen gewesen, so hätte ich dadurch allen am Büfett anwesenden Offizieren und dem Publikum gezeigt, daß es in unserem Regiment Offiziere gäbe, die in bezug auf ihre persönliche Ehre und die Ehre des Regiments wenig empfindlich seien. Ich konnte mich dieser Auffassung nicht anschließen. Man gab mir zu verstehen, daß ich alles gutmachen könnte, wenn ich mich noch nachträglich mit A. auseinandersetzen wollte. Ich wollte es aber nicht tun. Ich war aufs höchste gereizt, und meine Weigerung klang sehr bestimmt und stolz. Gleich darauf reichte ich mein Abschiedsgesuch ein. Das ist die ganze Geschichte. Ich verließ das Regiment mit stolz erhobenem Kopf, war aber innerlich gebrochen. Meine Willenskraft und meine geistigen Kräfte waren auf einmal wie gelähmt. Da traf es sich noch, daß mein Schwager in Moskau unser ganzes Vermögen, und somit auch meinen Teil, eine allerdings nicht sehr große Summe, durchgebracht hatte; so blieb ich ohne einen Heller auf der Straße. Ich hätte ja eine Privatstelle nehmen können, tat es aber nicht: ich konnte nicht den glänzenden Offiziersrock mit der Uniform eines Eisenbahners vertauschen. Wenn schon sinken, dann tief sinken, wenn schon Schande, dann die allergrößte Schande; je schlimmer desto besser: das war meine Wahl. Nun kamen die drei Jahre, an die ich mich heute noch mit Grauen erinnere; auch die Erinnerung an das Nachtasyl am Heumarkt gehört dazu. Vor eineinhalb Jahren starb in Moskau meine reiche alte Pate und hinterließ mir, wie den anderen Taufkindern, dreitausend Rubel. Dies entschied mein Schicksal. Ich entschloß mich, eine Leihkasse zu gründen und von ihr zu leben, ohne mich vor den Menschen erniedrigen zu müssen: so würde ich mir Geld erwerben, dann ein eigenes Heim gründen und ein neues Leben fern von alten Erinnerungen beginnen. Das war mein Plan. Dennoch quälten mich die Gedanken an meine dunkle Vergangenheit und die für immer verlorene Ehre jede Stunde und jede Minute. Um diese Zeit heiratete ich. Ob es ein Zufall war oder nicht – kann ich wirklich nicht sagen. Jedenfalls glaubte ich, als ich sie in mein Haus führte, in ihr einen Freund gewonnen zu haben; einen Freund brauchte ich aber notwendiger als irgendetwas. Zugleich wußte ich schon damals, daß ich mir diesen Freund erst werde vorbereiten, erziehen und sogar besiegen müssen. Hätte ich denn dieser Sechzehnjährigen, die noch alle Vorurteile ihres Alters hatte, überhaupt etwas erklären können? Wie hätte ich sie z. B. ohne die zufällige Hilfe der Katastrophe mit dem Revolver überzeugen können, daß ich kein Feigling bin und daß das gegen mich ergangene Urteil der Regimentskameraden ungerecht war? Die Katastrophe kam gerade zur rechten Zeit. Indem ich dem gegen mich gerichteten Revolver standhielt, rächte ich meine ganze finstere Vergangenheit; und wenn es auch kein anderer Mensch erfuhr, so erfuhr es doch sie; das bedeutete für mich alles, denn sie selbst war mein alles, die ganze Hoffnung meiner Zukunft! Sie war der einzige Mensch, den ich an meiner Seite haben wollte; ich wollte sie mir zu einem Freund erziehen, und eines anderen Menschen bedurfte ich nicht. Nun hatte sie die Wahrheit erfahren. Sie hatte jedenfalls eingesehen, daß sie schlecht und voreilig gehandelt hatte, als sie zu meinen Feinden überging. Dieser Gedanke entzückte mich. In ihren Augen konnte ich nicht mehr als gemeiner, höchstens noch als sonderbarer Mensch dastehen; und sogar das letztere durfte mir, nach allem, was geschehen, gar nicht so unangenehm sein: Sonderbarkeit ist kein Laster, eher etwas, was den weiblichen Charakter zuweilen anzieht. Kurz und gut, ich bemühte mich, die Lösung der Sache möglichst hinauszuschieben: denn das, was geschehen, genügte mir vorläufig vollkommen zu meiner Beruhigung und gab eine Menge von Bildern und Material für meine Träume. Das ist eben das Gemeine, daß ich ein Träumer bin: mir genügte das Material, von ihr aber dachte ich, daß sie noch warten könne.

*

So verging der Winter in ständiger Spannung und Erwartung. Ich liebte es, sie heimlich zu beobachten, wenn sie vor ihrem Tischchen saß. Sie machte irgendeine Handarbeit, stickte Wäsche, las auch manchmal abends die Bücher, die sie in meinem Schranke fand. Auch die Auswahl der Bücher, die ich besaß, mußte wohl zu meinen Gunsten sprechen. Sie verließ fast nie das Haus. Täglich nach dem Essen führte ich sie in der Dämmerstunde ein wenig aus, doch während dieser kurzen Spaziergänge schwiegen wir beide ganz wie früher. Ich bemühte mich, so zu tun, als ob wir nicht schwiegen, sondern uns freundschaftlichst unterhielten; doch, wie gesagt, vermieden wir beide wie auf Verabredung überflüssige Worte. Ich tat es mit Absicht, um ihr Zeit zu lassen. Etwas ist allerdings sonderbar: während des ganzen Winters fiel es mir kein einziges Mal auf, daß sie mich fast nie eines Blickes würdigte, während ich sie doch so gerne heimlich beobachtete. Ich glaubte, es sei ihre Schüchternheit. Denn nach der Krankheit schien sie so schüchtern, sanft und kraftlos. »Nein, warte nur,« sagte ich mir immer, »sie wird einmal plötzlich selbst zu dir kommen.«

Dieser Gedanke entzückte mich, und ich konnte ihm nicht widerstehen. Ich will dem noch hinzufügen, daß ich mich zuweilen selbst aufhetzte und meinen Geist und meinen Verstand so weit brachte, daß sich in mir so etwas wie ein feindseliges Gefühl gegen sie regte. So ging es eine geraume Zeit. Doch dieses Gefühl vermochte nicht, in meiner Seele Wurzeln zu fassen und zu einem Haß gegen sie zu reifen. Ich fühlte auch selbst, daß es eigentlich ein Spiel war. Selbst damals, als ich das Bett und die spanische Wand kaufte und auf diese Weise unsere eheliche Gemeinschaft zerriß, habe ich sie nicht ernsthaft für eine Verbrecherin halten können. Und dies nicht etwa, weil ich ihr Verbrechen leichtsinnig beurteilt hätte, sondern weil ich gleich am ersten Tage, noch bevor das Bett angeschafft war, die Absicht hatte, ihr gänzlich zu verzeihen. Es war mit einem Worte nur eine Laune von mir, denn sonst habe ich strenge moralische Anschauungen. Im Gegenteil: sie war in meinen Augen so sehr besiegt, erdrückt, vernichtet, daß ich mit ihr manchmal Mitleid hatte, obwohl ich gestehen muß, daß der Gedanke an ihre Erniedrigung mir sogar gewisse Genugtuung verschaffte. Es war eben der Gedanke an unsere Ungleichheit, der mich so reizte ...

In diesem Winter beging ich absichtlich einige gute Taten. Ich schenkte zwei Schuldnern die Schuld und gab einer armen Frau ein Darlehen ganz ohne Pfand. Meiner Frau sagte ich aber nichts davon, denn ich tat es gar nicht, damit sie es erfahre; doch die arme Frau kam von selbst und bedankte sich bei mir kniefällig. Auf diese Weise erfuhr sie davon; mir schien sogar, daß sie sich darüber freute.

Da kam der Frühling; es war schon Mitte April, die Winterfenster wurden herausgenommen, und die Sonne warf ihre grellen Strahlen in unsere schweigenden Zimmer. Meine Augen waren noch gleichsam verbunden, und mein Geist war blind. Diese verhängnisvolle, furchtbare Binde vor den Augen! Wie kam es nur, daß sie plötzlich fiel, daß ich plötzlich alles begriff? War es Zufall? Hatte sich die Zeit erfüllt? Oder war es ein Sonnenstrahl, der in meinem stumpf gewordenen Geiste plötzlich die Ahnung erweckte? Nein, es war keine plötzlich geweckte Ahnung, sondern das Aufleben einer gewissen Ader, die bis dahin gelähmt war; sie erbebte plötzlich, lebte auf und erleuchtete meine stumpf gewordene Seele und meinen teuflischen Hochmut. Es geschah so plötzlich und so unerwartet, daß ich, wie von einem Schlage getroffen, auffuhr. Es geschah an einem Abend, so gegen fünf Uhr nachmittags ...


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