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VI.
Eine schreckliche Erinnerung

Nun diese schreckliche Erinnerung ...

Ich erwachte am Morgen so zwischen sieben und acht Uhr, als es im Zimmer schon fast hell war. Ich erwachte mit einem Ruck bei vollem Bewußtsein und schlug sofort die Augen auf. Sie stand vor dem Tisch und hielt den Revolver. Sie merkte nicht, daß ich wach war und sie beobachtete. Plötzlich sehe ich, wie sie mit dem Revolver in der Hand auf mich zugeht. Ich schloß rasch die Augen und stellte mich schlafend.

Sie kam an mein Bett und beugte sich über mich. Ich hörte jede ihrer Bewegungen; es herrschte eine Totenstille, und ich hörte diese Stille. Etwas durchzuckte mich, und ich schlug plötzlich, ganz gegen meinen Willen, die Augen auf. Sie blickte mir gerade in die Augen, und der Revolver war schon dicht an meiner Schläfe. Unsere Blicke begegneten sich. Wir sahen einander nur einen Bruchteil einer Sekunde an. Ich nahm meine ganze Seelenkraft zusammen und zwang mich, die Augen wieder zu schließen und sie nicht wieder zu öffnen; mich überhaupt nicht zu rühren, geschehe, was da wolle.

Es kommt ja auch wirklich vor, daß ein fest schlafender Mensch plötzlich die Augen aufreißt, sogar seinen Kopf für einen Augenblick hebt und sich im Zimmer umsieht, dann aber wieder bewußtlos in die Kissen sinkt und einschläft, ohne sich später an den ganzen Vorgang zu erinnern. Als ich, nachdem sich unsere Blicke getroffen und ich den Revolver an meiner Schläfe gefühlt hatte, meine Augen plötzlich wieder schloß und regungslos wie ein Schlafender dalag, konnte sie wirklich annehmen, daß ich schliefe und nichts gesehen hätte, um so mehr, als es doch ganz unwahrscheinlich erscheinen mußte, daß einer, der das gesehen, was ich gesehen, in einem solchen Augenblick die Augen wieder geschlossen hätte.

Ja, es war durchaus unwahrscheinlich. Sie hätte aber auch die Wahrheit erraten können; auch das durchzuckte mein Hirn in diesem selben Augenblick. Welch ein Sturm von Gedanken und Empfindungen raste in diesem kurzen Augenblick in meinem Geiste! Es lebe die Elektrizität des menschlichen Gedankens! In diesem Falle (sagte ich mir), wenn sie die Wahrheit erraten hat und weiß, daß ich nicht schlafe, muß ich sie schon durch meine Bereitschaft, den Tod hinzunehmen, entwaffnet haben, und ihre Hand wird den Hahn nicht abdrücken können. Ihre frühere Entschlossenheit könnte ja an diesem unerwarteten Eindruck zerschellen. Es scheint mir, daß einer, der am Rande eines Abgrundes steht, sich von diesem Abgrund angezogen fühlt. Ich glaube, daß viele Selbstmorde und Morde nur darum verübt worden sind, weil der Täter bereits den Revolver in der Hand hatte. Das ist ja auch so ein Abgrund, ein Abhang von 45 Grad, den man hinabgleiten muß, und etwas zwingt einen, den Hahn abzudrücken. Nur das Bewußtsein, daß ich alles gesehen, alles weiß und schweigend den Tod von ihrer Hand erwartete, hätte sie noch auf der steilen Fläche aufhalten können.

Die Stille dauerte fort, und plötzlich fühlte ich an meiner Schläfe, an meinen Haaren die kalte Berührung des Eisens. Ich will Ihnen, wie vor Gott, bekennen: ich hatte gar keine Hoffnung, und meine Chancen verhielten sich wie eins zu hundert. Warum ich dann den Tod so ruhig hinnahm? Darauf werde ich Sie fragen: was für einen Wert hatte für mich noch das Leben, nachdem das von mir vergötterte Wesen den Revolver gegen mich erhoben hatte? Außerdem fühlte ich mit der ganzen Kraft meiner Seele, daß zwischen uns in diesem Augenblick ein Kampf entbrannt war, ein schrecklicher Zweikampf auf Leben und Tod, zwischen ihr und dem gestrigen Feigling, den seine Kameraden wegen Feigheit aus dem Regiment hinausgejagt hatten. Ich wußte das, und auch sie mußte das wissen, wenn sie nur erraten hatte, daß ich nicht schlief.

Vielleicht habe ich in jenem Augenblicke diese Gedanken gar nicht gehabt, vielleicht kommt es mir jetzt nur so vor, aber so hätte es sich doch notwendig abspielen müssen, wenn auch ohne Gedanken. Denn in meinem ganzen ferneren Leben habe ich nichts anderes getan, als in jeder Stunde daran gedacht.

Sie werden mich wieder fragen: warum habe ich sie nicht vom Verbrechen zurückzuhalten gesucht? Ja, ich habe mir diese Frage später selbst tausendmal vorgelegt, jedesmal, wenn ich mit einem kalten Schauer im Rücken an diesen Augenblick zurückdachte. Aber meine Seele befand sich damals in finsterster Verzweiflung: ich ging zugrunde, ging selbst zugrunde, wie hätte ich da überhaupt noch eine andere Seele retten können? Und warum glauben Sie, daß ich damals überhaupt noch hätte jemand retten wollen? Wer kann wissen, was ich in jenen Augenblicken gefühlt habe?

Mein Bewußtsein war aber wach, es siedete förmlich in mir, die Sekunden verstrichen, und die Totenstille dauerte fort; sie stand noch immer über mich gebeugt – und plötzlich durchzuckte mich ein Hoffnungsstrahl! Ich öffnete schnell die Augen. Sie war nicht mehr im Zimmer. Ich stand auf; ich hatte gesiegt, und sie war für immer besiegt!

Ich ging ins andere Zimmer zum Teetisch. Der Samowar wurde bei uns immer im ersten Zimmer gereicht, und sie pflegte selbst den Tee einzuschenken. Ich setzte mich schweigend an den Tisch, und sie reichte mir mein Glas. Nach etwa fünf Minuten sah ich sie an. Sie war entsetzlich bleich, noch bleicher als gestern, und sah mich unverwandt an. Und plötzlich, plötzlich, als sie merkte, daß ich sie ansah, huschte über ihre bleichen Lippen ein mattes Lächeln, und in ihren Augen regte sich eine bange Frage. »Folglich zweifelt sie noch immer und fragt sich: Weiß ers, oder weiß ers nicht? Hat ers gesehen oder nicht?« Ich blickte gleichgültig zur Seite.

Nach dem Frühstück schloß ich die Kasse, ging auf den Markt und kaufte eine eiserne Bettstelle und eine spanische Wand. Nach Hause zurückgekehrt, ließ ich das Bett mit der spanischen Wand im ersten Zimmer aufstellen.

Das Bett war für sie bestimmt, ich sagte ihr aber kein Wort davon; auch ohne Worte begriff sie durch dieses Bett, daß »ich alles gesehen habe und alles weiß«, und daß sie darüber nicht mehr zweifeln dürfe. Abends ließ ich den Revolver wie gewöhnlich auf dem Tische liegen. Sie legte sich schweigend in ihr neues Bett: unsere Ehe war getrennt. – Sie war besiegt, doch nicht freigesprochen. In der Nacht begann sie zu phantasieren, und am Morgen hatte sie Nervenfieber. Sechs Wochen blieb sie liegen.


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