Fjodor M. Dostojewski
Das Gut Stepantschikowo und seine Bewohner
Fjodor M. Dostojewski

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III

Der Onkel

Ich muß gestehen, ich hatte sogar ein bißchen Angst. Meine romanhaften Träumereien kamen mir auf einmal sehr wunderlich, ja töricht vor, als ich in Stepantschikowo einfuhr. Es war gegen fünf Uhr nachmittags. Die Landstraße führte an dem herrschaftlichen Hause vorbei. Nach langen Jahren des Fernseins erblickte ich wieder diesen gewaltig großen Garten, in welchem ich als Kind so manchen glücklichen Tag verlebt und von dem ich nachher oft in den Schlafsälen der Schulen, die sich mit meiner Bildung abmühten, geträumt hatte. Ich sprang aus dem Wagen und ging geradeswegs durch den Garten auf das Gutshaus zu. Es war mir sehr daran gelegen, unauffällig anzukommen, Erkundigungen einzuziehen, diesen und jenen zu befragen und vor allen Dingen mit meinem Onkel zu sprechen. Das gelang mir denn auch. Nachdem ich die Allee von hundertjährigen Linden durchschritten hatte, trat ich auf die Terrasse, von der man durch eine Glastür direkt in die inneren Räume kam. Diese Terrasse war von Blumenbeeten umgeben und mit kostbaren Topfpflanzen besetzt. Hier traf ich einen der Hausleute, den alten Gawrila, meinen ehemaligen Hüter, jetzt meines Onkels ehrwürdigen Kammerdiener. Der alte Mann hatte eine Brille auf und hielt in der Hand ein Heft, in dem er eifrig las. Wir hatten uns vor zwei Jahren in Petersburg gesehen, wohin er mit meinem Onkel gekommen war, und daher erkannte er mich jetzt sofort. Mit Freudentränen stürzte er auf mich zu, um mir die Hände zu küssen, wobei ihm die Brille von der Nase auf die Erde fiel. Eine solche Anhänglichkeit des alten Mannes rührte mich tief. Aber da ich noch durch das unlängst mit Herrn Bachtschejew geführte Gespräch aufgeregt war, so wandte sich meine Aufmerksamkeit vor allen Dingen dem verdächtigen Heft zu, das Gawrila in der Hand hatte.

»Was ist das, Gawrila? Mußt auch du jetzt etwa Französisch lernen?« fragte ich den Alten.

»Jawohl, junger Herr; das muß ich auf meine alten Tage lernen wie ein Starmatz«, antwortete Gawrila betrübt.

»Unterrichtet dich Foma selbst?«

»Ja, junger Herr. Er muß doch ein sehr kluger Mensch sein.«

»Das muß man ihm lassen; ein kluger Mensch! Unterrichtet er dich mündlich?«

»Nein, nach dem Heft, junger Herr.«

»Nach dem, das du da in der Hand hast? Ah! Französische Wörter mit russischen Buchstaben – eine schlaue Einrichtung! Und einem solchen Tölpel und Erznarren fügt ihr euch? Schämst du dich nicht, Gawrila?« rief ich; ich hatte in einem Augenblicke alle meine großmütigen Vermutungen über Foma Fomitsch vergessen, für die mich erst vor kurzem Herr Bachtschejew heruntergemacht hatte.

»Aber, junger Herr«, antwortete der Alte, »wie kann er denn ein Narr sein, wenn er doch unsere Herrschaft so nach seinem Willen lenkt?«

»Hm! Vielleicht hast du recht, Gawrila«, murmelte ich, durch diese Bemerkung in meinem Zornesausbruch gehemmt. »Führe mich zu meinem Onkel!«

»Ach, du mein Falke! Ich kann mich ja gar nicht vor ihm zeigen; ich wage es nicht. Ich habe schon angefangen, mich auch vor ihm zu fürchten. Da sitze ich nun hier in meiner Trübsal, und wenn er kommt, gehe ich hinter die Büsche.«

»Aber warum fürchtest du dich denn?«

»Ich habe vorhin meine Aufgabe nicht gekonnt; Foma Fomitsch wollte mich zur Strafe knien lassen; aber das tat ich nicht. Ich bin zu alt geworden, junger Herr Sergej Alexandrowitsch, als daß ich solche Späße mitmachen könnte! Der gnädige Herr wurde böse darüber, daß ich Foma Fomitsch nicht gehorchte. ›Er gibt sich Mühe, dir Bildung beizubringen, alter Graukopf‹, sagte er; ›er will dich die Aussprache lehren.‹ Da gehe ich denn hier umher und lerne Vokabeln. Foma Fomitsch hat versprochen, er wolle mich am Abend noch einmal examinieren.«

Mir schien dabei etwas unklar zu sein.

›Mit diesem Französisch‹, dachte ich, ›muß es doch wohl eine besondere Bewandtnis haben, die mir der alte Mann nicht erklären kann.‹

»Noch eine Frage, Gawrila: wie sieht er denn aus? Ist er stattlich, hochgewachsen?«

»Foma Fomitsch? Nein, junger Herr, der ist so ein mickriges Kerlchen.«

»Hm! Nun, habe nur Geduld, Gawrila; das alles wird vielleicht noch in Ordnung kommen; es wird sogar bestimmt in Ordnung kommen, das verspreche ich dir! Aber . . . wo ist denn der Onkel?«

»Er empfängt hinter den Pferdeställen die Bauern. Die Ältesten von Kapitonowka sind mit einem Bittgesuch gekommen. Sie haben gehört, daß sie an Foma Fomitsch abgetreten werden sollen, und da bitten sie, daß das nicht geschehen möchte.«

»Aber warum denn hinter den Pferdeställen?«

»Er fürchtet sich, junger Herr . . .«

In der Tat fand ich meinen Onkel hinter den Pferdeställen. Dort stand er auf einem freien Platz vor einer Anzahl von Bauern, die ihn mit vielen Verbeugungen angelegentlich um etwas baten. Der Onkel war eifrig beschäftigt, ihnen etwas auseinanderzusetzen. Ich trat näher heran und rief ihn. Er wandte sich um, und wir fielen einander in die Arme.

Er freute sich außerordentlich über meine Ankunft und war geradezu entzückt darüber. Er umarmte mich und drückte mir die Hand, als ob sein leiblicher Sohn nach Rettung aus irgendwelcher Lebensgefahr zurückgekehrt wäre oder als ob ich durch meine Ankunft ihn selbst aus irgendwelcher Lebensgefahr gerettet und Befreiung von allen Zweifeln sowie lebenslängliche Freude und Glückseligkeit für ihn und alle, die er liebte, mitgebracht hätte. Allein hätte mein Onkel nie glücklich sein mögen. Nach den ersten Ausbrüchen des Entzückens fing er von allem möglichen zu reden an, so daß er schließlich ganz konfus wurde. Er überschüttete mich mit Fragen und wollte mich unverzüglich zu seiner Familie führen. Wir waren auch schon auf dem Weg dahin; aber der Onkel kehrte wieder um, da er mich zuerst den Bauern von Kapitonowka vorzustellen wünschte. Dann fing er ohne ersichtlichen Anlaß auf einmal von einem Herrn Korowkin zu reden an, der ein ganz außerordentlicher Mensch sei; er hatte ihn vor drei Tagen irgendwo auf der Chaussee getroffen und erwartete jetzt dessen Besuch bei sich zu Hause mit größter Ungeduld. Darauf sprang er auch von Korowkin ab und begann von etwas anderem zu reden. Ich blickte ihn mit wirklicher Freude an. Auf seine eiligen Fragen antwortend, sagte ich ihm, es sei nicht meine Absicht, in den Staatsdienst zu treten, sondern mich weiter mit den Wissenschaften zu beschäftigen. Sowie ich die Wissenschaften erwähnt hatte, zog der Onkel auf einmal die Augenbrauen zusammen und machte ein höchst wichtiges Gesicht. Als er hörte, daß ich mich in der letzten Zeit mit Mineralogie beschäftigt hatte, hob er den Kopf und blickte stolz rings um sich, wie wenn er selbst allein ohne jede fremde Beihilfe die ganze Mineralogie erforscht und aufgezeichnet hätte. Ich habe schon gesagt, daß er vor dem Worte ›Wissenschaft‹ einen durchaus uneigennützigen Respekt hatte, einen um so uneigennützigeren, da er selbst absolut nichts wußte.

»Ach ja, lieber Freund, es gibt auf der Welt Leute, die alles durch und durch verstehen!« sagte er einmal zu mir, und seine Augen leuchteten dabei vor Entzücken. »Da sitzt man so unter ihnen und hört zu und weiß ja selbst, daß man nichts davon versteht; aber dennoch hüpft einem das Herz vor Freude. Und warum? Weil das Nutzen schafft; weil da Verstand darin steckt; weil dadurch die allgemeine Glückseligkeit gefördert wird! Dafür habe ich Verständnis. Da fahre ich zum Beispiel jetzt auf der Eisenbahn; aber mein Sohn IIja wird vielleicht durch die Luft fliegen . . . Na ja, schließlich auch der Handel, die Industrie, diese belebenden Kräfte sozusagen . . . das heißt, ich will sagen: wie man es auch dreht, ist es nützlich . . . Es ist doch nützlich, nicht wahr?«

Aber kehren wir zu unserem Wiedersehen zurück.

»Warte nur, Freundchen, warte nur«, begann er in seiner üblichen Hast und rieb sich dabei die Hände, »du wirst einen Menschen kennenlernen – ich sage dir, er ist ein seltener Mensch, ein Gelehrter, ein Mann der Wissenschaft, ein Koryphäe des Jahrhunderts. Das ist doch ein schöner Ausdruck: ›ein Koryphäe des Jahrhunderts‹, nicht wahr? Foma hat ihn mir erklärt . . . Warte nur, ich werde dich mit ihm bekannt machen.«

»Sprichst du von Foma Fomitsch, lieber Onkel?«

»Nein, nein, mein Freund! Jetzt spreche ich von Korowkin. Das heißt, Foma ist ebenfalls . . . auch er . . . Aber jetzt sprach ich nur von Korowkin«, fügte er hinzu; ohne verständlichen Grund errötete er jedesmal und wurde verlegen, wenn die Rede auf Foma kam.

»Mit was für Wissenschaften beschäftigt er sich denn, lieber Onkel?«

»Mit den Wissenschaften, mein Lieber, mit den Wissenschaften, überhaupt mit den Wissenschaften. Ich kann dir nur nicht genauer sagen, mit welchen Wissenschaften; ich weiß nur, daß er sich mit den Wissenschaften beschäftigt. Ach, wie der von der Eisenbahn redet! Und weißt du«, fügte mein Onkel beinahe flüsternd hinzu, indem er das rechte Auge vielsagend zusammenkniff, »er hat auch so ein bißchen freisinnige Ideen! Das habe ich bemerkt, namentlich als er von dem Glück des Familienlebens zu reden anfing . . . Schade, daß ich nur wenig davon verstanden habe (es war zu wenig Zeit); sonst würde ich dir alles wie am Schnürchen erzählen. Und überdies besitzt er die edelsten Eigenschaften! Ich habe ihn eingeladen, bei mir zu logieren. Ich erwarte ihn stündlich.«

Unterdessen sahen mich die Bauern mit offenem Munde und weit aufgerissenen Augen an wie ein Wundertier.

»Hören Sie, lieber Onkel«, unterbrach ich ihn, »ich bin, wie es scheint, den Bauern in die Quere gekommen. Gewiß sind sie in einer dringlichen Angelegenheit hier. Was wollen sie denn? Ich muß gestehen, ich habe so eine Vermutung und würde sehr gern hören, was die Leute sagen . . .«

Der Onkel geriet auf einmal in hastige, unruhige Bewegung.

»Ach ja, das hatte ich ganz vergessen! Ja, siehst du . . . was soll ich mit ihnen anfangen? Sie sind auf den Gedanken gekommen (und ich möchte bloß gern wissen, wer von ihnen als erster diese Idee hatte), ich hätte die Absicht, sie und ganz Kapitonowka wegzugeben (du erinnerst dich wohl noch an Kapitonowka? Wir pflegten immer abends mit meiner seligen Katerina Spazierfahrten dorthin zu machen), ganz Kapitonowka, ganze achtundsechzig Seelen, und zwar an Foma Fomitsch! Nun kommen sie und sagen: ›Wir wollen nicht von dir weg, unter keinen Umständen!‹«

»Also ist es nicht wahr, lieber Onkel? Sie wollen ihm Kapitonowka nicht schenken?« rief ich hocherfreut.

»Fällt mir nicht ein; ist mir nie in den Sinn gekommen! Aber von wem hast du es denn gehört? Es ist mir einmal so ein Wort entschlüpft, und daraus hat man nun wer weiß was gemacht. Warum können sie nur Foma gar nicht leiden? Warte nur, Sergej, ich werde dich mit ihm bekannt machen«, fügte er hinzu; er blickte mich dabei schüchtern an, als ahne er schon in mir einen Feind Foma Fomitschs. »Das ist ein Mensch, lieber Freund . . .«

»Wir wollen keinen andern Herrn haben als dich!« riefen die Bauern auf einmal kläglich im Chor. »Du bist unser Vater, und wir sind deine Kinder!«

»Hören Sie, lieber Onkel«, antwortete ich, »ich habe Foma Fomitsch noch nicht gesehen; aber . . . sehen Sie . . . ich habe so einiges gehört. Ich muß Ihnen gestehen, daß ich heute mit Herrn Bachtschejew zusammengetroffen bin. Übrigens habe ich vorläufig darüber so meine eigenen Ideen. Jedenfalls möchte ich vorschlagen, lieber Onkel, daß Sie die Bauern jetzt entlassen; dann können wir beide allein, ohne Zeugen, miteinander reden. Ich muß Ihnen gestehen, daß ich gerade zu diesem Zweck hergekommen bin . . .«

»Richtig, richtig«, fiel der Onkel ein, »ganz richtig! Ich werde die Bauern fortschicken, und dann wollen wir miteinander reden, weißt du, so recht freundschaftlich, vertraulich und gründlich! Na«, fuhr er, sich zu den Bauern wendend, in seiner eilfertigen Art fort, »dann geht jetzt nur, liebe Leute! Und kommt künftig immer zu mir, wenn ihr etwas braucht, immer zu mir; ja, ja, wendet euch direkt an mich, zu jeder Zeit!«

»Du bist unser Vater, gnädiger Herr, und wir sind deine Kinder! Laß uns nichts von Foma Fomitsch zuleide geschehen! Darum bitten wir Ärmsten dich alle!« riefen die Bauern noch einmal.

»Ach ihr Dummköpfe! Ich habe euch ja gesagt: ich werde euch nicht weggeben!«

»Sonst wird er uns noch ganz zu Tode peinigen, Väterchen, mit seinem Unterricht! Die Hiesigen, heißt es, hat er schon ganz damit zermartert.«

»Unterrichtet er wirklich auch euch in Französisch?« rief ich ordentlich erschrocken.

»Nein, junger Herr, bis jetzt ist uns Gott noch gnädig gewesen!« antwortete einer der Bauern, wahrscheinlich der redegewandteste unter ihnen, ein rothaariger Mensch mit einer gewaltigen Glatze auf dem Hinterkopf und einem langen, dünnen, keilförmigen Bärtchen, das sich, wenn er sprach, so flink bewegte, wie wenn es eigenes Leben hätte. »Nein, junger Herr, bis jetzt ist uns Gott noch gnädig gewesen.«

»Worin unterrichtet er euch denn?«

»Er unterrichtet uns so, Euer Gnaden: wir haben verstanden, wir sollen einen goldenen Kasten kaufen und eine Kupfermünze hineinlegen.«

»Was soll das heißen, eine Kupfermünze?«

»Sergej, du irrst dich; es ist eine Verleumdung!« rief mein Onkel, der ganz rot und schrecklich verlegen geworden war. »Die Dummköpfe haben nicht verstanden, was er zu ihnen gesagt hat. Er hat das nur bildlich gesagt . . . von einer wirklichen Kupfermünze ist nicht die Rede . . . Aber du verstehst das alles nicht, und darum solltest du lieber den Mund halten«, fuhr der Onkel, sich vorwurfsvoll an den Bauern wendend, fort. »Er hat dir Dummkopf Gutes tun wollen, und du verstehst das nicht und machst ein Geschrei!«

»Aber ich bitte Sie, lieber Onkel, und das Französische?«

»Das will er doch nur wegen der Aussprache, lieber Sergej, einzig und allein wegen der Aussprache«, erwiderte der Onkel in flehendem Tone. »Er hat das selbst gesagt, daß er es nur wegen der Aussprache will . . . Außerdem hat sich hier ein besonderer Vorfall zugetragen – du weißt davon nichts; aber ebendarum kannst du nicht darüber urteilen. Zuerst, lieber Freund, muß man in die Sache eindringen; dann erst darf man Beschuldigungen aussprechen . . . Beschuldigungen auszusprechen ist leicht!«

»Aber wie benehmt ihr euch auch!« rief ich, mich zornig von neuem zu den Bauern wendend. »Ihr hättet ihm alles geradeheraus sagen sollen. Ihr mußtet sagen: ›Das geht nicht, Foma Fomitsch; aus dem und dem Grunde!‹ Ihr habt doch einen Mund?«

»Wo ist die Maus, die der Katze die Schelle anhängt, junger Herr? Er sagt: ›Ich will dich rohen Bauer Reinlichkeit und Ordnung lehren. Warum ist dein Hemd unsauber?‹ Aber unsereiner schwitzt viel; da kann das Hemd nicht sauber sein. Wir können nicht jeden Tag ein reines Hemd anziehen. Peinlichkeit schützt nicht vorm Sterben; Schmutz bringt keinen ins Verderben.‹«

»Neulich kam er auf die Tenne«, begann ein anderer Bauer, ein großer, hagerer Mann, der vielfach geflickte Kleider und sehr schlechte Bastschuhe trug, anscheinend einer von jenen Leuten, die beständig mit etwas unzufrieden sind und immer ein scharfes, giftiges Wort in Bereitschaft haben. Bis dahin hatte er sich hinter dem Rücken der anderen Bauern verborgen gehalten, in finsterem Schweigen zugehört und die ganze Zeit über ein zweideutiges, bitteres, schlaues Lächeln nicht von seinem Gesicht verschwinden lassen. »Er kam auf die Tenne. ›Wißt ihr auch wohl, wieviel Werst es bis zur Sonne sind?‹ fragte er. Aber wer von uns kann das wissen? Das ist keine Wissenschaft für uns Bauern, sondern eine für die Herren. ›Nein‹, sagte er, ›du bist ein Dummkopf, ein Tölpel und kennst deinen Vorteil nicht; aber ich‹, sagte er, ›bin Astrolom! Ich kenne alle Planiden am Himmel.‹«

»Na, hat er dir denn gesagt, wieviel Werst bis zur Sonne sind?« mischte sich der Onkel ein, der auf einmal lebhaft wurde und mir vergnügt zublinzelte, als ob er sagen wollte: ›Paß mal auf, was da herauskommen wird!‹

»Ja, er nannte eine große Zahl«, antwortete der Bauer mißmutig, da er eine solche Frage nicht erwartet hatte.

»Na, wieviel hat er denn gesagt, wieviel genau?«

»Das ist Euer Gnaden besser bekannt; wir sind unwissende Leute.«

»Ich, mein Lieber, weiß es; aber hast du es auch behalten?«

»›Soundso viel Hunderte oder Tausende‹, sagte er, ›sind es.‹ Es war eine große Zahl. Auf drei Fuhren kann man sie nicht wegfahren.«

»Na ja, so etwas mußt du dir merken, mein Bester! Du hast gewiß gedacht, es sei ungefähr eine Werst weit, man könne ja mit der Hand hinlangen. Nein, mein Lieber, die Erde, siehst du wohl, das ist eine Art runder Ball – verstehst du?« fuhr der Onkel fort, indem er mit den Händen in der Luft die Gestalt eines Balles zur Darstellung brachte.

Der Bauer lächelte bitter.

»Ja, eine Art Ball! Sie hält sich so von selbst in der Luft und wandert um die Sonne herum. Die Sonne aber steht still auf einem Fleck; das scheint dir nur so, daß sie wandert. Ja, so eine verschmitzte Sache ist das! Entdeckt hat das alles Kapitän Cook, ein Seefahrer . . . Aber weiß der Teufel, wer es eigentlich entdeckt hat«, fügte er, sich zu mir wendend, im Flüstertone hinzu. »Ich weiß es selbst nicht, lieber Freund . . . Aber weißt du, wieviel Werst es bis zur Sonne sind?«

»Das weiß ich, lieber Onkel«, antwortete ich; ich betrachtete diese ganze Szene sehr erstaunt. »Aber höre, was ich denke: gewiß, ein Mangel an Bildung ist ja eine Art von Unsauberkeit; aber andrerseits . . . die Bauern in der Astronomie zu unterweisen . . .«

»Richtig, richtig, richtig, eine Art von Unsauberkeit!« unterbrach mich mein Onkel, entzückt über den von mir gebrauchten Ausdruck, der ihm außerordentlich treffend zu sein schien. »Ein vortrefflicher Gedanke! Ganz richtig, eine Art von Unsauberkeit! Das habe ich immer gesagt . . . das heißt, gesagt habe ich es niemals, aber ich habe es gefühlt. Hört mal«, rief er den Bauern zu, »der Mangel an Bildung ist eine Art von Unsauberkeit, eine Art Schmutz! Deswegen wollte euch Foma auch unterrichten. Er wollte euch etwas Gutes lehren; damit tut er euch nichts zuleide. Weißt du, lieber Freund, das ist ganz dasselbe, wie wenn er ein Amt verwaltete, und er wäre würdig, dafür einen hohen Rang zu erhalten. Da seht ihr, was das für ein Ding ist, die Wissenschaft! Nun gut, gut, liebe Leute! Geht mit Gott; ich freue mich, ich freue mich . . . seid ganz beruhigt; ich werde euch nicht verlassen.«

»Beschütze uns, du unser Vater!«

»Laß uns unseres Lebens froh werden, Väterchen!«

Die Bauern warfen sich ihm zu Füßen.

»Nun, nun, das ist dummes Zeug! Kniet vor Gott und dem Zaren, aber nicht vor mir . . . Na, nun geht nur und verhaltet euch ordentlich, so daß ihr eine freundliche Behandlung verdient . . . weiter ist nichts nötig . . . Weißt du«, sagte er, sich zu mir wendend, sobald die Bauern weggegangen waren, und sein Gesicht strahlte ordentlich vor Freude, »der Bauer hat das gern, wenn man ein gutes Wort zu ihm redet, und auch ein kleines Geschenk schadet nichts. Soll ich ihnen etwas schenken? Wie denkst du darüber? Deiner Ankunft zu Ehren . . . Soll ich ihnen etwas schenken, ja?«

»Sie sind ja, wie ich sehe, ein wahrer Wohltäter Ihrer Bauern, lieber Onkel.«

»Na, das ist notwendig, lieber Freund, das ist notwendig; nicht der Rede wert. Ich wollte ihnen schon längst etwas schenken«, fügte er wie zur Entschuldigung hinzu. »Aber kommt es dir auch nicht komisch vor, daß ich die Bauern in den Wissenschaften unterrichtet habe? Nein, lieber Freund, das habe ich bloß so aus Freude darüber getan, daß ich dich wiedersehe, lieber Sergej. Ich wollte einfach, daß auch der Bauer erfahren sollte, wie weit es zur Sonne ist, und daß er darüber den Mund aufsperren möchte. Es ist so amüsant, lieber Freund, zu sehen, wenn er den Mund aufsperrt . . . Man freut sich geradezu um seinetwillen. Nur, weißt du, lieber Freund, sage da im Salon nichts davon, daß ich mich hier mit den Bauern ausgesprochen habe. Ich habe sie absichtlich hinter den Pferdeställen empfangen, damit es von dort nicht zu sehen ist. Da auf dem Hof ging es nicht, lieber Freund; es ist eine kitzlige Sache; und sie waren auch selbst heimlich hergekommen. Ich habe das auch in der Hauptsache um ihretwillen getan . . .«

»Na, sehen Sie, lieber Onkel, da bin ich also gekommen!« begann ich in dem Wunsche, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben und so schnell wie möglich zur Hauptsache zu gelangen. »Ich muß Ihnen gestehen, Ihr Brief hat mich dermaßen in Erstaunen versetzt, daß ich . . .«

»Lieber Freund, kein Wort davon!« unterbrach mich der Onkel; er schien einen Schreck bekommen zu haben und sprach sogar leiser. »Später, später wird sich alles aufklären. Ich habe vielleicht dir gegenüber eine Schuld auf mich geladen, vielleicht sogar eine große Schuld . . .«

»Sie hätten mir gegenüber eine Schuld auf sich geladen, lieber Onkel?«

»Später, später, lieber Freund, später! All das wird seine Aufklärung finden. Aber was du für ein prächtiger Bursche geworden bist! Du lieber Mensch du! Und wie ich dich erwartet habe! Ich wollte dir sozusagen mein Herz ausschütten . . . du bist ein Gelehrter; du bist der einzige Mensch, den ich habe . . . du und Korowkin. Ich muß dich darauf aufmerksam machen, daß hier alle auf dich böse sind. Sieh dich vor; benimm dich recht vorsichtig; sei auf der Hut!«

»Böse auf mich?« fragte ich und sah den Onkel erstaunt an, da ich nicht begriff, wodurch ich Leute erzürnt haben könne, die ich überhaupt nicht kannte. »Böse auf mich?«

»Ja, auf dich, lieber Freund. Was ist zu machen? Foma Fomitsch ist nun einmal ein bißchen . . . na, und Mama folgt seinem Beispiel. Überhaupt, sei vorsichtig, respektvoll, widersprich nicht, vor allem aber sei respektvoll . . .«

»Gegen Foma Fomitsch soll ich respektvoll sein, lieber Onkel?«

»Was soll man machen, mein Freund? Ich verteidige ihn ja nicht. Er hat vielleicht wirklich seine Fehler; und gerade jetzt, in diesem Augenblick . . . Ach, lieber Sergej, wie mich das alles beunruhigt! Wenn sich das doch alles in Ordnung bringen ließe und wir alle zufrieden und glücklich lebten! . . . Aber freilich, wer ist ohne Fehler? Wir sind ja nicht von Gold!«

»Aber ich bitte Sie, lieber Onkel! Bedenken Sie doch nur, was er tut . . .«

»Ach, lieber Freund, es ist ja alles nur leeres Gezänk und weiter nichts! Da will ich dir zum Beispiel etwas erzählen: jetzt ist er auf mich böse, und was meinst du wohl, warum? . . . Übrigens bin ich vielleicht selbst mit daran schuld. Ich werde es dir lieber ein andermal erzählen . . .«

»Wissen Sie, lieber Onkel, ich bin zu einer eigenartigen Auffassung gelangt«, unterbrach ich ihn, da ich es eilig hatte, meine Auffassung auszusprechen. Auch hatten wir es alle beide eilig. »Erstens ist er Possenreißer gewesen; das hat ihn verbittert, gebeugt, ihm seine Ideale zerstört; und so hat sich denn bei ihm ein krankhafter Ingrimm herausgebildet, ein Verlangen, sich sozusagen an der ganzen Menschheit zu rächen . . . Aber wenn man ihn mit der Menschheit versöhnen, seine bessere Natur wiederherstellen könnte . . .«

»Richtig, richtig!« rief mein Onkel ganz entzückt; »ganz richtig! Ein ausgezeichneter Gedanke! Wir müßten uns schämen, und es wäre unedel von uns, wenn wir ihn verdammen wollten! Ganz richtig! . . . Ach, mein Freund, du verstehst mich; du hast mir Trost gebracht! Wenn doch bloß dort alles wieder in Ordnung käme! Weißt du, ich fürchte mich sogar, mich dort zu zeigen. Da bist du nun angekommen, und ich werde dafür mit Sicherheit gehörig etwas abkriegen!«

»Lieber Onkel, wenn es so ist . . .«, begann ich, durch dieses Geständnis in arge Verlegenheit versetzt.

»Nein, nein, nein! Um keinen Preis in der Welt!« rief er und ergriff meine Hände. »Du bist mein Gast, und ich will es so!«

Alles dies erregte mein größtes Erstaunen.

»Lieber Onkel, sagen Sie mir doch gleich«, begann ich in energischem Tone, »warum Sie mich hergerufen haben. Was erhoffen Sie von mir, und vor allem: inwiefern haben Sie mir gegenüber eine Schuld auf sich geladen?«

»Mein Freund, frage nicht danach! Später, später! Alles dies wird später seine Aufklärung finden! Ich habe mich vielleicht in vieler Hinsicht schuldig gemacht; aber ich wollte wie ein ehrenhafter Mensch verfahren, und . . . und . . . du wirst sie heiraten! Du wirst sie heiraten, wenn du nur einen Funken edler Gesinnung besitzt!« fügte er hinzu; er errötete über das ganze Gesicht infolge einer Empfindung, die ihn plötzlich überkam, und drückte mir entzückt und kräftig die Hand. »Aber genug; kein Wort mehr! Du wirst bald alles erfahren. Alles wird von dir abhängen . . . Die Hauptsache ist, daß du jetzt dort gefällst und einen guten Eindruck machst. Vor allem: werde nicht verlegen!«

»Aber hören Sie, lieber Onkel, wer ist denn da bei Ihnen? Ich muß gestehen, ich habe mich so wenig in Gesellschaft bewegt, daß . . .«

»Daß du ein bißchen Bange hast?« unterbrach mich der Onkel lächelnd. »Ach, dazu ist kein Grund! Es sind lauter Verwandte und gute Bekannte; nur Courage! Vor allem habe Courage und fürchte dich nicht! Ich selbst fürchte mich etwas um deinetwillen. Wer da bei uns ist, fragst du? Ja, wer ist denn bei uns? Erstens Mama«, begann er eilig. »Du erinnerst dich wohl noch an Mama? Eine sehr gutherzige, vornehm denkende alte Dame; ohne Ansprüche, kann man sagen; ein bißchen altmodisch; aber das ist gerade nett. Na, weißt du, manchmal hat sie so wunderliche Anschauungen und redet so ein bißchen eigentümlich; mir ist sie jetzt böse; aber ich bin selbst schuld daran; ich weiß, daß ich daran schuld bin! Na, schließlich – sie ist ja, was man nennt, eine grande dame, eine Generalin . . . ihr Mann war ein ganz vortrefflicher Mensch: erstens war er General, ein gebildeter Mensch; Vermögen hinterließ er nicht; aber dafür war er ganz mit Wunden bedeckt; kurz, er hatte sich die allgemeine Achtung erworben! Dann Fräulein Perepelizyna. Nun ja, die . . . ich weiß nicht . . . in der letzten Zeit war sie so merkwürdig . . . so ein eigenartiger Charakter . . . Aber freilich, man darf nicht über einen jeden den Stab brechen . . . Na, ich will ihr nichts Schlechtes nachsagen . . . Glaube nur nicht, daß sie so eine Schmarotzerin wäre. Sie ist selbst eine Oberstleutnantstochter, lieber Freund. Mamas Busenfreundin! Dann, mein Bester, ist da meine Schwester Praskowja Iljinitschna. Na, von der brauche ich nicht viel zu sagen: ein schlichtes, gutherziges Wesen; etwas zu geschäftig und neugierig; aber dafür hat sie ein prächtiges Herz! Sieh du nur besonders auf das Herz; sie ist ein altes Jüngferchen; aber, weißt du, dieser wunderliche Kauz, der Bachtschejew, macht ihr anscheinend den Hof und will sich um sie bewerben. Aber schweig davon; es ist ein großes Geheimnis! Na, wer ist denn noch von unseren Leuten da? Von den Kindern rede ich nicht; du wirst sie ja selbst sehen. Ilja hat morgen seinen Namenstag . . . Ja, halt! Beinah hätte ich das vergessen: es logiert bei uns, siehst du, schon einen ganzen Monat lang Iwan Iwanowitsch Misintschikow; er ist ja wohl dein Vetter dritten Grades; ja, ganz richtig, dritten Grades. Er hat vor kurzem als Husarenleutnant seinen Abschied genommen; er ist ein noch junger Mann. Eine herrliche Seele! Aber, weißt du, er hat sein Vermögen so durchgebracht, daß ich gar nicht begreife, wie er das so schnell fertiggekriegt hat. Übrigens, viel hat er nicht besessen; aber er hat es durchgebracht und Schulden gemacht. Jetzt wohnt er bei mir. Ich hatte bis dahin überhaupt nichts von ihm gewußt; er kam an und stellte sich selbst vor. Ein liebenswürdiger, gutmütiger, friedlicher, respektvoller Mensch. Bis jetzt hat ihn noch keiner reden hören. Er schweigt immer. Foma hat ihm spottweise den Spitznamen ›der schweigsame Unbekannte‹ gegeben; aber er macht sich nichts daraus; er nimmt es nicht übel. Foma ist mit ihm zufrieden; er sagt von Iwan, es sei nicht viel mit ihm los. Übrigens widerspricht ihm Iwan nie und stimmt ihm in allen Dingen bei. Hm! Er ist so niedergeschlagen . . . Na, Gott helfe ihm auf! Du wirst ja selbst sehen. Dann sind da noch Gäste aus der Stadt: Pawel Semjonowitsch Obnoskin mit seiner Mutter; ein junger Mensch, aber außerordentlich vernünftig; er hat so etwas Gereiftes, weißt du, Unerschütterliches . . . Ich kann mich nur nicht so recht ausdrücken. Und außerdem ist er von einer hervorragenden Sittsamkeit und hat strenge moralische Grundsätze! Na, und endlich logiert bei uns noch, siehst du, eine gewisse Tatjana Iwanowna; sie wird wohl ganz entfernt mit uns verwandt sein; du kennst sie nicht; sie ist unverheiratet, nicht mehr jung, das muß man zugeben; aber – ein angenehmes Mädchen; sie ist so reich, lieber Freund, daß sie zwei solche Güter wie Stepantschikowo kaufen könnte; sie hat erst kürzlich geerbt; bis dahin führte sie ein klägliches Leben. Behandle sie bitte recht behutsam, lieber Sergej: sie hat etwas Krankhaftes . . . weißt du, etwas Exaltiertes in ihrem Charakter. Na, du bist ja ein edeldenkender Mensch und wirst dafür Verständnis haben; weißt du, sie hat viel Unglück durchgemacht! Denke übrigens nichts Schlimmes von ihr! Gewiß, sie hat ihre Schwächen: sie spricht zu schnell, verhaspelt sich manchmal, trifft nicht das richtige Wort; nicht daß sie löge, glaube das nicht . . . das alles, lieber Freund, kommt bei ihr sozusagen aus einem reinen, edlen Herzen; das heißt, wenn sie wirklich etwas hinzulügt, so tut sie das doch einzig und allein aus übermäßigem Edelsinn ihres Herzens – du verstehst?«

Es schien mir, daß der Onkel schrecklich verlegen geworden war.

»Hören Sie, lieber Onkel«, sagte ich, »ich habe Sie so herzlich lieb . . . verzeihen Sie mir eine offenherzige Frage: werden Sie eine dieser Damen heiraten?«

»Von wem hast du denn so etwas gehört?« antwortete er und wurde dabei rot wie ein Kind. »Siehst du, mein Freund, ich will dir alles auseinandersetzen. Erstens werde ich nicht heiraten. Mama, zum Teil auch meine Schwester und ganz besonders Foma Fomitsch, den Mama vergöttert (und mit Grund, mit Grund; denn er hat viel für sie getan), die wollen alle, daß ich ebendiese Tatjana Iwanowna heiraten soll, aus Vernunftgründen, das heißt zum Segen für die Familie. Gewiß, sie wünschen ja nur mein Bestes, das sehe ich ein; aber ich will um keinen Preis heiraten; das habe ich mir fest vorgenommen. Trotzdem habe ich es nicht verstanden, auf den Vorschlag zu antworten: ich habe weder Ja noch Nein gesagt. Das geht mir immer so, lieber Freund. Sie haben gedacht, ich sei einverstanden, und wollen nun durchaus, daß ich ihr morgen bei dem Familienfest einen Antrag machen soll . . . und so stehen mir denn für morgen solche Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten bevor, daß ich gar nicht weiß, was ich anfangen soll! Überdies ist Foma Fomitsch auf mich böse, ich weiß nicht warum, und Mama ebenfalls. Ich muß dir gestehen, lieber Freund, ich habe dich und Korowkin sehnsüchtig erwartet . . . ich wollte euch mein Herz ausschütten, sozusagen . . .«

»Aber inwiefern wird Ihnen denn Korowkin helfen, lieber Onkel?«

»Er wird mir helfen, lieber Freund, er wird mir helfen. Er ist dazu imstande; mit einem Wort: er ist ein Mann der Wissenschaft! Ich setze meine Hoffnung auf ihn wie auf einen Felsenberg; er hat so etwas Sieghaftes an sich! Wie er über das Glück des Familienlebens reden kann! Ich muß gestehen, auch auf dich habe ich gehofft; ich dachte, du wirst sie schon zur Vernunft bringen. Sage doch selbst: nun ja, allerdings, ich habe mich schuldig gemacht, ich habe mich tatsächlich schuldig gemacht; das sehe ich alles ein; ich bin ja nicht unverständig und gefühllos. Na, aber sie könnten mir doch auch endlich einmal verzeihen! Was würden wir dann für ein Leben führen! . . . Ach, lieber Freund, wie ist meine Alexandra herangewachsen; sie könnte gleich vor den Traualtar treten! Und was für ein hübscher Bursche ist mein Ilja geworden! Morgen feiert er seinen Namenstag. Meine heißblütige Alexandra macht mir einige Sorge . . . ja, ja!«

»Lieber Onkel, wo ist denn mein Koffer? Ich werde mich umkleiden und sogleich dort erscheinen, und dann . . .«

»Im Zwischengeschoß, lieber Freund, im Zwischengeschoß. Ich hatte schon im voraus Befehl gegeben, dich, sobald du ankämest, geradeswegs nach dem Zwischengeschoß zu führen, damit dich niemand sähe. Gewiß, gewiß, zieh dich um! Das ist gut, sehr schön, sehr schön! Ich aber werde inzwischen dort alle ein bißchen vorbereiten. Na, Gott möge uns helfen! Weißt du, lieber Freund, man muß schlau vorgehen. Man wird, ob man nun will oder nicht, zu einem Talleyrand. Nun, das schadet nichts! Dort sind sie jetzt beim Teetrinken. Der Tee wird bei uns früh getrunken; denn Foma Fomitsch trinkt ihn gern, gleich wenn er vom Mittagsschläfchen aufwacht; und das ist ja auch besser, weißt du . . . Na, dann will ich also hingehen, und du komm mir nur möglichst bald nach; laß mich nicht allein; es ist mir unbehaglich, lieber Freund, wenn ich da so mit ihnen allein bin . . . Ja! Warte! Da habe ich noch eine Bitte; schilt mich dort nicht, wie du es soeben hier getan hast, ja? Wenn du mir eine tadelnde Bemerkung machen willst, so tue es nachher, hier, unter vier Augen; aber bis dahin beherrsche dich und warte! Ich bin dort sowieso schon unten durch. Sie sind auf mich böse . . .«

»Hören Sie, lieber Onkel, nach allem, was ich gesehen und gehört habe, scheint es mir, daß Sie . . .«

»Eine Nachtmütze sind, nicht wahr? Sprich es nur ruhig aus!« unterbrach er mich ganz unerwartet. »Was soll ich tun, lieber Freund? Ich weiß das ja auch selbst. Na, also, du wirst kommen? Bitte, komm so bald wie möglich!«

Als ich nach oben gekommen war, öffnete ich eilig meinen Koffer, um mich nach der Weisung meines Onkels möglichst schnell nach unten zu begeben. Beim Umkleiden wurde mir klar, daß ich von dem, was ich erfahren wollte, noch fast nichts wußte, obwohl mein Gespräch mit dem Onkel eine ganze Stunde gedauert hatte. Das frappierte mich. Nur eines war mir einigermaßen klar: der Onkel wünschte immer noch energisch, daß ich heiraten möchte; folglich waren alle gegenteiligen Gerüchte, nämlich daß der Onkel in ebendiese junge Person selbst verliebt sei, unzutreffend. Ich erinnere mich, daß ich mich in großer Unruhe befand. Unter anderm kam mir der Gedanke, daß ich durch meine Ankunft und durch mein Schweigen dem Onkel gegenüber beinahe ein Versprechen erteilt, mein Wort gegeben und mich für das ganze Leben gebunden hatte. ›So leicht ist es‹, dachte ich, ›ein Wort zu sagen, das einen dann lebenslänglich an Händen und Füßen bindet. Und dabei habe ich das junge Mädchen noch nicht einmal gesehen!‹ Und dann wieder fragte ich mich: ›Woher denn diese Feindschaft der ganzen Familie gegen mich? Was veranlaßt sie alle, nach der Versicherung des Onkels, meine Ankunft mit so mißgünstigen Blicken anzusehen? Und was für eine sonderbare Rolle spielt mein Onkel selbst hier in seinem eigenen Haus? Woher sein geheimnisvolles Benehmen? Woher all seine Angst und Pein?‹ Ich muß gestehen, daß das alles mir auf einmal als völliger Nonsens erschien; meine romantischen, heroischen Träumereien aber waren beim ersten Zusammenstoß mit der Wirklichkeit gänzlich zerstoben. Erst jetzt, nach dem Gespräch mit meinem Onkel, trat mir die ganze Ungereimtheit, die ganze Absurdität seines Vorschlags vor Augen, und ich sagte mir, daß einen solchen Vorschlag unter solchen Umständen eben nur mein Onkel zu machen fähig war. Ich sagte mir ferner, daß auch ich selbst, der ich auf seine erste Aufforderung hin im Entzücken über seinen Vorschlag Hals über Kopf hierhergejagt war, sehr viel Ähnlichkeit mit einem Dummkopf hatte. Ich kleidete mich eilig um und war dabei so stark mit meinen unruhigen Gedanken beschäftigt, daß ich anfänglich den Diener, der mir behilflich war, gar nicht bemerkte.

»Belieben Sie die adelaidenfarbene Krawatte anzulegen oder diese kleinkarierte?« fragte der Diener auf einmal, indem er sich mit außerordentlich gekünstelter Höflichkeit an mich wandte.

Ich sah ihn an und hatte den Eindruck, daß auch er Beachtung verdiente. Er war ein noch junger Mann, für einen Diener sehr schön gekleidet, nicht schlechter als mancher Stutzer in einer Gouvernementsstadt. Der braune Frack, die weißen Beinkleider, die strohgelbe Weste, die Halbstiefel von Lackleder und die rosa Krawatte waren augenscheinlich mit besonderer Sorgfalt ausgewählt. Alles dies mußte den Beschauer sofort auf den feinen Geschmack des jungen Elegants aufmerksam machen. Die Uhrkette war zweifellos zu gleichem Zweck sehr sichtbar angebracht. Sein Gesicht war blaß, ja grünlich, die Nase groß, gebogen, schmal und ungewöhnlich weiß, als wäre sie von Porzellan. Das Lächeln auf seinen schmalen Lippen brachte eine gewisse Traurigkeit, eine feine Traurigkeit zum Ausdruck. Die großen, vorstehenden, gläsern aussehenden Augen hatten einen außerordentlich stumpfen Blick; aber doch leuchtete aus ihnen gleichzeitig ebenjene Feinheit heraus. Seine dünnen, weichen Ohren waren um der Feinheit willen mit Watte zugestopft. Das lange, hellblonde, dünne Haar war in Locken gedreht und pomadisiert. Seine kleinen Hände waren weiß und sauber und wohl mit Rosenwasser gewaschen; die Finger endeten mit stutzerhaften, langen, rosafarbenen Nägeln. All das zeugte von Verwöhnung, Geckenhaftigkeit und Vermeidung gröberer Arbeit. Er lispelte und sprach nach neuester Mode das R nicht richtig aus, richtete die Augen abwechselnd nach oben und nach unten und seufzte und kokettierte in einer unglaublichen Weise. Er duftete nach Parfüm. Er war von kleiner Statur, schwächlich und welk und knickte beim Gehen in eigentümlicher Weise ein, wahrscheinlich weil er darin die höchste Feinheit sah, – kurz, er war ganz von Feinheit, auserlesenem Geschmack und einem außerordentlichen Gefühle der eigenen Würde durchtränkt. Letzterer Umstand mißfiel mir sehr stark, ohne daß ich mir über den Grund hätte Rechenschaft geben können.

»Also diese Krawatte ist adelaidenfarben?« fragte ich und sah den jungen Diener ernst an.

»Jawohl, adelaidenfarben«, antwortete er, ohne sich in seinem feinen Benehmen beirren zu lassen.

»Aber gibt es keine Agrafena-Farbe?«

»Nein; eine solche Farbe kann es gar nicht geben.«

»Warum denn nicht?«

»Weil Agrafena ein unfeiner Name ist.«

»Wieso unfein? Warum?«

»Nun, das ist klar: Adelaida ist wenigstens ein ausländischer Name und hat dadurch einen edlen Klang; aber Agrafena kann jedes Weib aus den niedrigsten Ständen heißen.«

»Du hast wohl den Verstand verloren?«

»Durchaus nicht; ich bin bei vollem Verstand. Allerdings steht es ganz in Ihrem Belieben, mich in jeder erdenklichen Weise zu schelten; aber viele Generale und sogar mehrere Grafen in der Residenz sind mit meiner Redeweise zufrieden gewesen.«

»Wie heißt du denn?«

»Widopljassow.«

»Ah! Also du bist Widopljassow?«

»Ganz richtig.«

»Nun, warte nur, lieber Freund; wir werden uns auch noch näher kennenlernen.«

»Das ist ja hier fast so, als ob man in Bedlam wäre« dachte ich bei mir, während ich nach unten ging.


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