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Achter Abschnitt: Adams erster Sündenfall.

Vor dem Beginn der Turnstunde tollten und tobten die Primaner [,] wie die jüngsten Schulbuben in einer dicken Staubwolke und einem Chaos von brüllenden Lauten. Amatus, der im freundschaftlichen Ringen Wilhelm Reder längelang auf die Sprungmatratze hinwarf, vernahm einen lauten Ton, der ihn wie eine Nadel stach. »Amatus Ewiglieb!« Es wäre zwischen ihm und seinem Freunde zum Faustduell gekommen, wenn nicht der Turnlehrer bereits in der Tür gestanden hätte.

Auch wenn Amatus auf der Straße die Professoren und Doktoren grüßte, meinte er einen zwinkernden Zug zu bemerken und war bei jedem Lachen hinter sich überzeugt, der Gegenstand desselben gewesen zu sein.

In diesen Tagen begann der Primaner Junker die Brauen zusammenzuziehen und die Lippen fester zu schließen. Ein unverlöschlicher Stempel der Lächerlichkeit war ihm aufgedrückt! Wo war Schild und Trost dawider? Das feuerrot gebundene Buch der Lieder [später entfallen: , das hinter den alten Schmökern des Bortes verstäubte,] erweckte wehmütige Erinnerungen und riß nur die Wunden auf.

Von ungefähr, und zwar befremdlicherweise in der Gedichtesammlung der Prima, fand er den packendsten Ausdruck für seine Stimmung und die neue Lebenslosung. Es war Lenaus Lied von den drei Zigeunern auf der Heide.

»Die drei [später: dreie], die haben mir gezeigt.
Wenn das Leben uns nachtet,
Wie man's verraucht, verschläft, vergeigt
Und es dreimal verachtet – «

Aus der langen Pfeife dampfte er gewaltig und verrauchte sein Leid [später: ,sein Leid verrauchend]. Gleich manchen Rittern des Geistes, wollte er mit Weltverachtung sein Gemüt panzern. Weil sein Mißtrauen wahrzunehmen meinte, daß die Mitschüler den höheren Stand ihrer Eltern herauskehrten und den Gerichtsdienersohn ihn fühlen ließen, zog er sich in sich selbst zurück und las in seinen freien Stunden sehr viel, allzu viel und ohne Auswahl. Mit dem ganzen Goethe war er fertig, in zwiefachem Sinne fertig, sofern er an dem Dichterkönig der Deutschen dreiste Kritik übte und der vornehm feine, kühle Hofpoet ihm nicht mehr wie früher zusagte. In der Bibliothek machte er [später ergänzt: jetzt] einen Fund und stieß auf Byrons Werke, die er mit heißem Lesehunger verschlang. Die Gesellschaft der Menschen und Mitschüler meidend, weidete er in der düstren Wildheit und Gedankenwildnis dieses Dichters seine [später ergänzt: einsame] Seele.

Die Schwester Friedline nahm er stets auf seine täglichen Spaziergänge mit.

Einmal faßte sie fester seine führende Hand. »Amatus, deine Stimme klingt nicht mehr so weich wie früher und hat zuweilen einen harten Ton …«

»Du Klugschnackerin!« brummte er, »was verstehst du von Stimmungen und Stimmen?«

»O, ich höre fein heraus, was in dem Menschen ist … manche, die lieblich reden, gefallen mir doch nicht und sind falsch … andre haben einen charmanten, höfischen Klang, aber einen schrillen Unterton … zum Beispiel …«

»Wer zum Beispiel? Ich etwa?«

Zögernd sagte Friedline: »Nein, Onkel Berg … ich glaube nicht, daß er alles so meint [später ergänzt: , wie er spricht] …«

»Da magst du Klughorcherin nicht unrichtig gehört haben … aber genug von den Stimmen!«

Amatus wollte nicht die Schwester zur Vertrauten machen. Was verstand die Blinde von seinem Leid?

Alle blödgesichtigen Menschen sind heiter und glücklich, weil sie nicht in die Tiefe sehen können; die scharfblickenden aber durchschauen den Weltjammer und haben von der Erdenmisere einen faden Abgeschmack.

Nur eins, nur die drei Mahlzeiten täglich, mundeten dem mächtig ins Kaut Schießenden vortrefflich, und auch das Trinken schmeckte gut – da, das Trinken – [!– –].

[Später entfallen: Junker, der das Haus des Hardesvogtes mied, weil der Onkel ekelhafte Witze machte und ihn seinen »ewiglieben« Neffen genannt hatte, traf auf der Straße den Vetter, welcher protzig ein goldnes Zwanzigmarkstück zeigte. »Das hat die gute Großmutter vom Lande mir für meine Sparbüchse geschenkt … ich besitze aber leider kein Sparschwein, und der Wirt im Tivoli will leben … komm mit! Ich gebe ein Glas Bier aus.« In der Sommerwirtschaft stießen sie mit dem zweiten Seidel an.

Vetter Asmus blickte vorsichtig durch die Büsche. »Wir haben eine Schülerverbindung gegründet, mit Band, blau–weiß–rot, mit langen Pfeifen und großen Stammkrügen … willst du dich nicht aufnehmen lassen?«

»Nein, den Luxus kann der Sohn des Gerichtsdieners sich nicht erlauben.«

»Du könntest zunächst als Konkneipant dich beteiligen.«

»Ja … das vielleicht.«

Amatus, dessen Brauenfalte sich geglättet hatte, merkte, wie das Bier die düsterste Weltanschauung erhellt und erheitert. Als sie den schäbigen Rest austranken, dünkte mancherlei in der Welt ihm nicht mehr so ganz schlecht noch schäbig. – –]

[Statt dessen folgte später ein mehrseitiger Einschub:

Die Witwe des Emeritus Jensen hatte seit Jahr und Tag keinerlei Interesse für den Schützling ihres verstorbenen Gatten bekundet. Sofort nach der Beerdigung des edlen Mannes hatte sie aus Pietät gegen den seligen Jensenwie sie permanent und pietätvoll den Toten nanntezwanzig Mark aus dem bedeutenden Nachlaß dem Gerichtsdiener übersandt, mit der kurzen und klaren Bemerkung, daß bei der geringen Pension, welche sie, die Witwe, beziehe, der vom seligen Jensen unterstützte Amatus auf weitere Unterstützung nicht rechnen dürfe. Die zwanzig Mark sollten ein einmaliger Loskauf von allen etwaigen moralischen Verpflichtungen sein. Aber der entlassene Schützling, der einen Teil seiner Schuld als Vorleser abgetragen hatte, erhielt einen Freiplatz der Schule und bedurfte der Wohltaten nicht mehr. Dennoch hatte er einmal aus purer Höflichkeit und Dankbarkeit der Witwe seines Wohltäters einen Besuch gemacht, war aber von der Frau, die vom Freiplatz noch nichts wußte, so kühl und abweisend empfangen worden, daß er die Schwelle des Hauses nicht mehr betrat. Nach Jahr und Tag aber erinnerte sich Frau Jensen, die jetzt vom Freiplatze Kenntnis hatte, der Wohltaten ihres Seligen und des Wohltaten-Empfängers, den sie plötzlich zu sich bitten ließ.

Die alte und eigenartige Frau hatte in ihrer Einsamkeit eine Gesellschaftsdame ins Haus genommen, während des verflossenen Witwenjahres aber nicht weniger als siebenmal die Gesellschafterin gewechselt und um dieser üblen Erfahrung willen beschlossen, auf alle weibliche Gesellschaft zu verzichten und zur Erheiterung ihres trübseligen Trauerstandes einen männlichen und noch dazu einen jungen Gesellschafter zu sich zu nehmen.

Der Gesellschafter, aus Dänemark gebürtig und ein Neffe der Pastorin, war heute mit der Diligence angelangt, und darum wurde der Primaner Junker plötzlich nach Jahr und Tag von der Witwe seines Wohltäters gerufen. Er folgte dem Rufe mit dem argwöhnischen Gedanken: Ob ich wohl den Dänen gratis im Deutschen unterrichten und den letzten Rest meiner Dankbarkeit abtragen soll? Nein, in andrer und angenehmerer Weise sollte er auf die empfangenen Wohltaten eine Abzahlung leisten.

Im Lehnstuhl des Emeritus lag ein junger Mensch von 19 Jahren, der eine von den hinterlassenen Zigarren des seligen Jenseneine von den sogenannten Visitationszigarrenbehaglich rauchte, und der von der Pastorin als ihr Neffe Viggo Evers v orgestellt wurde. Die alte Dame nahm das Wort, um umständlich zu erklären, was sie von dem jungen Junker wünsche. »Du wirst nicht vergessen haben, wie viel der selige Jensen für dich getan hat, dir ist jetzt Gelegenheit geboten, ein wenig für ihn und seinen Neffen zu tun. Viggo nämlich wird das hiesige Gymnasium besuchen und sich in die Oberprima aufnehmen lassen. Er hat bisher das höhere Institut der Brüdergemeinde Gnadenfeld besucht, wo er fromm und christlich und fern von der sündigen Welt erzogen worden ist. Er ist infolge seiner Edukation ein braver, aber auch ein bescheidener, etwas blöder junger Mensch geblieben.«

Der etwas blöde Jüngling zupfte an dem Flaum der Oberlippe, blies Rauchwolken von sich und grinste, von der Wolke verdeckt, ins Bärtchen hinein über die Worte der vorsorglichen Tante, welche fortfuhr: »Ich erwarte von dir, Junker, daß du meinem guten Viggo ein gewissenhafter Mentor, Führer und Beschützer sein wirst … heute wirst du ihn im Haus des Herrn Hardesvogtes einführen, du wirst ihm die Sehenswürdigkeiten unsrer schönen Stadt, insonderheit unsre herrliche Marienkirche zeigen … später erwarte ich von dir, daß du auf der Schule in jeder Weise meinem Neffen nützlich und förderlich sein, daß du auch den bescheidenen jungen Menschen gegen etwaige Übergriffe und Ungezogenheiten der andren Schüler schützen wirst. Junker! Vergiß nie, daß man Verpflichtungen gegen Gott und Menschen hat, und daß Viggo der Neffe des seligen Jensen ist!«

Die Pastorin machte bei diesen Worten ein feierliches Gesicht, das im nächsten Augenblick wohlwollend lächelte und zwei große Zähne zeigte. »Ich werde den jungen Mosjös ein angemessenes Taschengeld mitgebenin solchen Dingen knausere ich nichtin der Voraussetzung, daß ihr euch in honetter Weise amüsieren werdet, will ich nicht knickern, will ich euch keine Moral predigen, will ich freigebig sein …«

»Sela!« flüsterte Viggo der Blöde blasphemisch und fügte leise hinzu: »Sie hört schlecht, aber sie spricht gut, nicht wahr?«

Die alte Frau richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf ihre Geldbörse, in der sie lange wühlte, bis sie endlich ein Zweimarkstück nahm, das sie in Viggos Hand legte, dort aber eine Minute lang festhielt, als wenn die Trennung ihr schwer werde, und schließlich fahren ließ. Während der Trennungsminute ermahnte sie, mit dem vielen Gelde verständig hauszuhalten und honett sich zu amüsieren.

Der fromme und unerfahrene Jüngling aus Gnadenfeld benutzte einen unbeobachteten Moment, um sechs von den Visitationszigarren in seiner Tasche verschwinden zu lassen, und ging mit Junker, der ihm die Sehenswürdigkeiten der kleinen Grenzstadt zeigen sollte.

Amatus Junker ließ sich nicht leicht verblüffen, aber dieser Viggo Evers versetzte ihn in nicht geringe Ver- und Bewunderung; immer größer und respektvoller wurden seine Augen, je länger er den jungen Herrnhuter, den er in die Welt einführen sollte, schwatzen und schwadronieren hörte. Das war ein fabelhaft dreister, schnabelgewetzter und gewitziger Vogel, welchem dem engen Bauer der Brüdergemeinde [Zus. d. Hg.: irrtümlich statt Brüdergemeine] entflogen war und in die Oberprima von Norderhafen hineinflattern wollte. Mit Stolz und dem andern unbärtigen Gesellen zum Neide redete der Jüngling aus dem hundertsten ins tausendste von der Mühe und Mär, von den Erfahrungen und Abenteuern seines Lebens.

Viggo lachte: »Ja, das hält nur eine unverwüstliche Natur, wie die meinige, aus … sechs Jahre lang bin ich in Gnadenfeld zu einem nützlichen und christlichen Mitgliede der menschlichen Gesellschaft erzogen worden.«

»Wird in dem Institut so viel gehauen? Wird Weisheit und Tugend eingebläut?« meinte Amatus.

»Bewahre! Der Stock ist unbekannt, auch nicht den kleinsten Schlag erhalten die Schüler. Eine andre absolut sicher wirkende pädagogische Methode wird in der Brüdergemeinde angewandt. Pfui, prügeln ist unchristlich und unhuman … fasten, fasten ist das einzige, allerchristlichste Strafmittel der Brüdergemeinde. Wer in der Stunde plaudert, geht seines Vesperbrotes verlustig, wer seine Vormittagslektion nicht kann, erhält kein Mittagsmahl, wer seine Nachmittags-Schularbeiten nicht macht, muß hungrig zu Bette gehen; wer andrer grober Sünden sich schuldig macht, muß einen vollen Tag hungern, muß bis zu drei Tagen bei dickem Brot und dünner Milch fasten. Das Strafmittel wirkt immer und absolut, auch der größte Taugenichts wird kraft dieser Hunger-Pädagogik gebändigt und zu einem demütigen Lämmlein des Herrjesu gemacht. Ja, fasten ist ein unfehlbares, vorzügliches pädagogisches Mittel, einerseits spart die Gemeinde so und so viele Mahlzeiten, andrerseits wird dabei selbst das gottloseste Fleisch bald zahm und mürbe … jaja, fasten ist eine feine Zucht.«

»Du hast dir trotz der Pädagogik recht viel gottloses Fleisch konserviert«, lachte Amatus.

»Das ist Kummerspeck«, entgegnete Viggo, »auch lernt man das Heucheln und hinter dem Rücken der Brüder mit den Mädchen in der Küche gute Freundschaft halten.« Der Gnadenfelder grinste.

Erstaunt lauschte Amatus dem losen, frivolen Spötter, dessen Worte und Witze jedoch nicht ganz nach seinem Geschmacke waren.

Viggo erzählte mit Behagen von den kuriosen Gepflogenheiten des Instituts, nicht ohne Hyperbel wohl. »Selig sind, die da hungert! Man hat in Gnadenfeld einen ewigen Hunger, der am Samstage besonders stark und schreiend wird. Um sich nämlich für den Sonntag auch leiblich zu bereiten, wird am letzten Morgen der Woche jedem Schüler eine kräftige Dosis Karlsbader Salz verabreicht. So hat man einen Heißhunger. Neben dem leiblichen Laxativ geht die geistliche Abführung einher, die der Pfleger, der Gehilfe des Pastors, alle Samstag vornimmt. Alle Schüler, um ihre Seele von den Sünden purgieren zu lassen, müssen der Reihe nach erscheinen. Die Beichte verläuft seit Jahrhunderten genau in gleicher Weise. Der Pfleger frägt den Schüler: »Hast du dich in der Woche gegen deinen Herrn Jesum versündigt?«Worauf der Schüler mit niedergeschlagenen Augen antwortet: »Ich habe mich oft und schwer gegen meinen Herrn Jesum versündigt.«Danach sagt der Pfleger: »Bereust du deine Sünden und hast du deinen Herrn Jesum lieb?«Der Schüler antwortet mit niedergeschlagenen Augen: »Ich bereue meine Sünden und habe meinen Herrn Jesum von Herzen lieb.«Das ist die Beichte, die geistliche Purgierung, die alle Woche in der stereotypen Weise sich vollzieht.«

Junker schlug sich auf die Hosennaht. »Bei Jove, ich glaube, du wirst noch der größte Strick in der ganzen Lateinschule Norderhafens.«

Der Schwerenöter aus der Brüdergemeinde hatte imponiert und wollte imponieren. Geschmeichelt strich er die Lippenhärchen und sagte: »Je ärger Strick, je größer Glück! Ich hab' immer Fortuna, besonders bei den Weibern. Willst du glauben, daß sogar die Witwen im Witwenhause zu Gnadenfeld im Fenster die Hauben nach mir drehten und den schönen Viggo mich nannten?«

Amatus glaubte es nicht und nannte, aber mit Ironie, den neuen Kollegen den schönen Viggo. Das von Sommersprossen gefleckte Gesicht mit den wulstigen Lippen war nicht schön nach seiner Ästhetik.

»Schöner Viggo, hast du keine Eltern mehr, da du in der Brüderanstalt erzogen bist? Oder … ah …«

»Was grinst du?«

»Oder bist du in Zwangserziehung gegeben worden? Gnadenfeld macht ja in seinen Prospekten bekannt, daß schwer zu erziehende Menschen daselbst zu christlichen Jünglingen erzogen werden.«

Viggo machte ein bitterböses, ja boshaftes Gesicht und sagte knirschend: »Mit der Hungermethode kriegen sie jeden, auch den hartgesottensten Menschen, klein und kirre. Die Hunde haben mich gehungert, daß die Eingeweide in mir brüllten … Der Direktor, der sanfte Bruder Mangels, ist ein Schultyrann, ein Bändiger … Goddam! Wenn ich erst Student bin, rempele ich den Hundsfott auf der Straße an.«Ein lang aufgespeicherter, verbissener Grimm zeigte sich in jugendlich närrischen Worten, aber in erschreckender Weise.

Junker nickte irritierend, »Also, als schwer zu erziehender Knabe bist du nach Gnadenfeld gekommen?«

»Nein«, brummte der andere, »ich bin von selbst nach Gnadenfeld gegangen.«

»Eheh!« etschte Amatus, »ja, das Lügen und Heucheln wird in Gnadenfeld gelernt, wie du sagst. Freiwillig und von selbst?«

Viggo sagte mit verächtlich-vornehmer Miene: »Mein Vater hat eine große Pfarre auf der Insel Falster, eine fette Pfründe, die 910 000 Mark jährlich bringt … ja, die Herren Pastoren leben in Dänemark, wie der Herrgott in Frankreich. Leider nahm er nach dem Tode meiner Mutter eine zweite Frau, eine um zwanzig Jahre jüngere Person … ja, die Herren Pastoren kreuzigen ihr Fleisch … ich sehe an deinem bräunlichen Gesicht, daß du von solchen Dingen nichts verstehst. Weil mein Vater die Person nahm, wollte ich nicht im Hause bleiben.«

»War die Stiefmutter böse?«

»Nein, im Gegenteil, allzu freundlich und liebevoll … um meine Zuneigung zu gewinnen, ekelhaft liebevoll und lieblich war sie gegen mich … und dann … dann brachte der Storch alle Jahre ein Kind, ein Brüder- oder Schwesterlein, das man pflichtgemäß abküssen mußte, obgleich der kleine Fleischklumpen mir höchst unappetitlich war und sehr unästhetisch roch. Alle Jahre ein neugeborner Balg in der Wiege … na, das war für einen jungen Menschen, der nicht mehr dumm ist, wirklich genaut. Darum ging ich auf eine auswärtige Schule.«

Amatus machten bei den Worten des Zynikers große, unschuldige Augen, die noch größer wurden.

Der Gnadenfelder nämlich führte ihn in das vornehmste Wirtshaus der Stadt, in dem die Gymnasiallehrer pünktlich ihre Bierstunde von 4 – 8 Uhr hielten. Während dem armen Junker der feine Parkettboden unter den Füßen brannte, gerierte sich Viggo mit der vornehmen Nonchalance eines Gentlemans, echtes Bier und echten Kognak bestellend.

Junker stürzte den Kognak, den das Leben ihm bot, hastig herunter und stellte schnell das leere Gläschen, das nicht zum Verräter werden sollte, auf einen andern Tisch.

Evers lächelte: »Nur honett sich betragen, wie die Tante sagt!«

Der honette Jüngling reichte dem befrackten Ganymed ein hohes Trinkgeld, so daß dieser tief vor seinem Angesicht dienerte und hinter seinem Rücken spöttisch grinste. Viggo blies Rauchringe in die Luft und war unendlich zufrieden mit sich. »Meine Tante wird uns loben, denn wir haben nach ihren Intentionen wie Gentlemans [Zus. d. Hg.: statt gentlemen] uns betragen.«

Ich glaube, sie würde acht Tage Leid tragen um ihr Zweimarkstück, wenn sie wüßte, was der Kognak kostet.«

Das Geld war verausgabt; darum betrachtete man die Sehenswürdigkeiten, deren Besichtigung nichts kostete. Lange betrachtete man ein langes, langweiliges, kasernenartiges Gebäude, wohl eine halbe Stunde lang, bis auf den Glockenschlag das Portal sich öffnete und ein schnatternder, flatternder, vielköpfiger und vielzöpfiger Schwarm von halbwüchsigen, langhaarigen, kurzröckigen, weißstrümpfigen Schulmädchen herausströmte. Das kicherte und stieß sich und warf lange, verlangende Blicke. Das langweilige Gebäude war die höhere Töchterschule, die von den größeren Schülern für eine der größten Sehenswürdigkeiten gehalten und von Viggo besichtigt wurde.

Dann gingen sie nach dem Hause des Hardesvogtes, wo Viggo sich wie der gesetzteste, verständigste, solideste Mensch von der Welt benahm, auch vernünftig und altklug mit der altklugen Silly redete, so daß ihr Vetter neben jenem Jüngling für einen reinen, grünen Jungen sich selber hielt. Amatus war über das tadellose Benehmen des Herrnhuters innerlich entrüstet.

Am nächsten Morgen war die Aufnahmeprüfung. Evers wollte sich in Oberprima aufnehmen lassen. Jedoch Direktor, Kon- und Subrektor waren eines andren Willens und andrer Meinung. In der Prüfung nämlich hatte der Jüngling in christlicher Demut sein Licht unter einen Scheffel gestellt und von seinen Kenntnissen einen so bescheidenen Gebrauch gemacht, daß er in der Unterprima seine Gelehrten-Laufbahn beginnen mußte. – – – – – – – ]

Der Aktuar Quistrup hatte auf der steilen Leiter der langsam steigenden Gehaltsskala 120 Mark monatlich erreicht. Für Erna Junker, die 26 Sommer zählte und 200 Mark sich erspart hatte, war das Gehalt ein Vermögen zum Heiraten.

In der engen Dachwohnung des Pappeltals wurde eine kleine, eine sehr kleine Hochzeit gefeiert – mit Braut und Bräutigam zehn Personen, die mit eingedrückten Ellenbogen saßen, an einer Suppe, einem Braten und fünf Flaschen Wein sich gütlich taten, welche Junker bei dem Krämer Christian Petersen, der zum Unterschiede von den vielen [später ergänzt: andren] Petersens Christian Billig genannt wurde, auf Kredit genommen hatte.

Monika blickte heute heiter, denn Tochter und Schwiegersohn waren ein Paar kreuzbrave, schlicht verständige Leute, die von der von Gott gewiesenen und von Menschen geschlagenen Straßen nicht abwichen und darum ihren Weg durchs Leben machen würden.

Die zwei Primaner saßen zusammen und ermunterten sich gegenseitig mit fleißigem Anstoßen [später anders: Der Primaner leerte fleißig sein Glas] . Onkel Berg lachte: »Hans, sieh mal die Jungens ab, wie die picheln [später anders: den Jungen an, wie der pichelt]! Wir Alten müssen besser dran, wenn wir uns nicht [später entfallen: von unsern Söhnen] ausstechen lassen wollen.«

Seine Schwester warf [später entfallen: zwei von ihren bedeutsamen Blicken. Der eine, stumm und vielsagend, traf den Sohn, der andre galt dem Bruder und war von den Worten begleitet: »Wer zuerst über die hübschen Untugenden seiner Kinder lacht, muß zuletzt darüber weinen.«] [Später stattdessen/anders: einen bedeutsamen Blick, der stumm und vielsagend den Sohn traf.]

Gegen Ende des Mahles ergriff Amatus [später ergänzt: , des Weines und des Geistes voll] das Glas, roch die Blume des säuerlichen Medoc und trank von dem stark machenden Weine, der selbst dem Schüchternen den Redemut erzeugt. Kühn mit dem Messer klingend [später: ans Glas schlagend], hielt er die erste Rede seines Lebens, die immer schwungvoller wurde und nicht die Schwester, welcher sie doch galt, sondern die Mutter am meisten rührte.

Recht geschickt führte er aus, wie er als ganz kleiner Knabe, als Erna aus dem Elternhause ging, ihr nachgeschrieen und nachgeweint habe: »Meine Schwester soll bleiben [später ergänzt: , soll bleiben]!« wie er jetzt seine Erna, die nicht mehr seine, sondern eines andern geworden sei, mit wehmütiger Freude ziehen lasse.

Die Mutter hing an seinen Lippen und sagte sich, daß er ein klang- und kraftvolles Organ habe. Da sah sie im Traume die Erfüllung ihres herrlichsten Traums, ihren Amatus als Kanzelredner auf der stockhohen Kanzel von St. Marien, wie er gewaltig predigte und die guten, aber selbstgerechten Leute von Norderhafen erschütterte.

Auch der Onkel horchte mit einem schrägen Blick [später entfallen: Asmus aber flüsterte am Schluß der Rede ein satirisch stilles Sela.].

Am Morgen hatten sich alle in der Dachwohnung verschlafen, und der Primaner eilte die Pappelstraße hinab, in eine Semmel beißend, deren Bissen im Munde quollen. Er stellte uralte, aschgraue und unlustige Betrachtungen an, wie schon Noah, da er den Saft des Rebstocks gegoren [später: gegohren] und genossen hatte; er [später: Amatus] sah nach der Uhr, setzte sich in Trab und schmälte: »Das ist der Dank … dem großen Herrn fällt es nicht ein, mir mein Heft zu bringen … wenn er nun heute, wie so häufig, den Kranken spielt und fehlt? Ich muß es holen und den Umweg machen.«

Der Sohn des Rittmeisters, dem er die deutschen Nachhilfestunden gab, hatte sein mathematisches Heft »Vergleichens halber« geliehen und nicht zurückgebracht.

Darum betrat Amatus das herrschaftliche Haus und ging bescheiden in die Küche: »Ich muß Karl von Schmieder sprechen.«

Bevor die Köchin Antwort geben konnte, rauschte aus dem anstoßenden Raume die Gnädige [später ergänzt: herein] und sagte majestätisch: »Mein Herr Sohn ist schon fort und nicht zu sprechen … auch möchten wir uns so frühzeitige Küchenbesuche verbitten.«

[Später ergänzt: Diese Impertinenz!] Amatus, von dem Vorfall verbittert, zog sich von dem jungen Herrn von Schmieder völlig zurück [später ans Satzende gestellt], bei dem der Lehrer einen plötzlichen und unerklärlichen Rückschritt im deutschen Aufsatz konstatierte. – – –

Amatus Junkers Geburtstag fiel immer in die Hundstage und heuer auf einen Sonntag. Der Vater beschenkte ihn mit einer meterlangen Pfeife, die Mutter hatte eine edlere Geburtstagsüberraschung. Am Nachmittage wurde ein Ausflug nach dem Meere gemacht. Der hochbetagte Raddampfer »Marie« dampfte schwer keuchend, als wenn er an asthmatischer Atemnot leide, die Föhrde hinab, die flußschmal durch Wiesen und Wald sich wand.

Friedline sah nichts von dem Liebreiz und der Sonnenherrlichkeit des Tages, aber [später nach dem Verb] genoß dennoch die Meerfahrt, weil der Bruder ihr die Augen lieh und die vorüberziehenden Bilder deutete.

»Was plumpst da im Wasser?« fragte sie, »ein Fisch?«

»Nein, zwei bärtige Meermänner waten bis zur Brust … der eine schleppt die Reuse, die wie ein riesiger Kaffeetrichter gestaltet ist, durchs Wasser, der Voranschreitende aber stößt mit einer Stange in den morastigen Grund, um die Aale aufzuscheuchen und in das Netz zu treiben.«

Weit tat sich das Wassertor der Föhrde auf, und dahinter lag das offene, ewige Meer, das der Sohn der Küste mit ewiggleicher Sehnsucht begrüßt und mit ewig neuer Verwunderung verehrt.

In den rasend teuren Strandwirtshäusern durften die Gerichtsdienerleute nicht einkehren. In einer abgelegenen Dünenschlucht wurde der Eßkorb geleert und die durchgeschmolzenen Butterbröte verzehrt. Hans legte sich bald hin [später: aufs Ohr], um den versäumten Mittagsschlummer nachzuholen.

Hand in Hand gingen die Geschwister am Strande, und der Bruder zog Friedline auf einen hohen Steinblock, den die Flut umspielte. Sie horchte auf das klucksende Geplätscher; »Amatus, wie ist das Meer?«

»Es kichert und lacht.«

»Wie kann es lachen?«

»Wenn die Sonne darüber flimmert, lacht es, und die kleinen, gekräuselten Wellen kichern, wie ein schelmisch süßes Mädchenlächeln.«

»Warum just wie ein Mädchenlächeln?«

»Nun … ist nicht die blaugrüne und doch tiefblaue See eine Nixe?«

Von seiner Hand gehalten, hüpfte Friedline herunter.

Plötzlich zuckte es [später ergänzt: heftig] in seiner Hand. Von einer Bank erhoben sich vier Personen und kamen ihnen in gravitätischem Gänsemarsch entgegen, vorne die lange Stine, dann der dicke Zollinspektor, hinter ihm der dünne Wilhelm und zuletzt die schlanke Klarissa. Die letztere war auf kurze Ferien von der einsam grünen Grasweide bei der energischen Pastorin nach Hause gekommen. Der Primaner [später ergänzt: Junker] zog viermal mechanisch die Mütze und sah ins Nichts. Darum entging ihm der Aufblick des Fräuleins, der unsicher und unglücklich war.

Mürrisch kehrte er ins Strandlager zurück und fing an mit alten Wünschen herauszurücken.

»Quäle nicht!« sagte Monika scharf, »ich lasse dich nicht in die Schülerkneipe gehen.«

[Später ergänzt: Der neue Primaner, Viggo Evers nämlich, hatte die grosse Idee gehabt und eine Schülerverbindung mit blauweißem Bande, Stammkrügen, langen Pfeifen und zwei rostigen Rapieren gegründet. Der Gnadenfelder führte das Präsidium in den Kneipen, an denen auch nicht aktive Schüler als sogenannte Konkneipanten teilnehmen durften. Amatus war eingeladen und wollte nur ein einziges Mal die Bachanalien [Zus. d. Hg.: statt Bacchanalien ] besuchen.]

Seine Lippen bliesen: »J–a–a, wenn ich mit meinen Mitschülern gar nichts mitmachen darf, ziehen sie sich natürlich von mir zurück … ich stehe allein und muß mich ›heilig‹, und ›Hebräer‹ und ›Pastor Junker‹ schimpfen lassen.«

Hans machte einen vorwurfsvollen Blick. »Mutter, wollen wir aus dem armen Jungen einen Duckmäuser machen?«

»Mutter!« bat Friedline mild, »Amatus hat so wenig, und [später entfallen: der Vetter und] die Söhne der Reichen so viel …«

Den drei Verbündeten widerstand Monika nicht länger, sondern sagte mit gekniffenen Lippen: »Meinetwegen mag er einmal hingehen.«

Heiß und dunstig war die Luft. Friedline lauschte. »Überall ein sich Regen und Reigen … das zirpt und schwirrt, das wimmelt und wühlt, das kreucht und krabbelt.«

»Ja, heute ist der schwülste Tag des Jahres, und die allerkleinsten Tiere, die Mücken, Grillen, Käfer und Fliegen, halten ihr Sommerfest.«

»Ach, gib ja acht auf meine Füße, Amatus, daß [später: damit] ich kein Würmchen oder Käferlein zertrete!«

Der Vater betrachtete schläfrig blinzelnd den Himmel und sagte: »Ich wollte, wir wären [später ergänzt: wohlbehalten] zu Hause.«

»Du langweilst dich wohl auf dem Familienfeste?« antwortete seine Frau.

»Nein, liebe Mutter, aber wir bekommen ein schweres Gewitter, und dann möchte ich ungern auf dem Wasser sein.«

Als die stark belastete und langsame »Marie« auf der Föhrde schwamm, wurde eine beängstigende Stille in der Natur, und Blauschwärze bedeckte den Himmel. Das fürchterlichste Unwetter jenes Jahrzehnts brach los mit Blitz [später: Blitzen] und Donnergeknatter und Sturzregen. Sekunde um Sekunde wechselten Rabenfinsternis und grellste Helle. In Angst schrieen die Frauen und Kinder an Bord, und die, welche jene Nacht auf dem Wasser erlebten, sind jahrelang gewitterbang geblieben.

Junkers, obgleich bis auf die Haut durchnäßt, dankten Gott, als sie zu Hause waren. Um die zuckenden Feuerlohen nicht zu sehen, zündeten sie die Lampe an, um den Tisch herum hockend und kein Auge schließend. Es war, als wenn alle Gewitter des Himmels auf diese Gegend losgelassen würden. Hans hielt [später ergänzt: stets] die Hände gefaltet und sprach bei den schwersten Schlägen: »Gott behüte uns!«

Gegen Morgen schien das Wetter sich zu sänftigen, und Amatus schläferte auf dem Stuhle. Plötzlich riß er die Augen auf und lag in demselben Augenblick, von einem [später ergänzt: furchtbaren] Druck niedergeschmettert, wie tot auf dem Fußboden. Monika behielt ein halbes Bewußtsein und riß tappend, stolpernd das Fenster auf. Von stinkendem Schwefeldunst war die Stube erfüllt. In die Dachwohnung hatte der Blitz eingeschlagen, ein sogenannter kalter Schlag war durch den Schornstein gegangen und an der Wand entlang zum Fenster hinausgefahren.

Alle erholten sich allmählich von der Betäubung. Stumm erblickten sie den Weg des Wetterstrahls und das große Gotteswunder. Hinter ihnen an der Tapete war ein schnurgerader, schwarzer Strich, wie mit Kohlenstift nach dem Lineal gezogen. Einige Handbreit von ihnen war der tötende Blitz vorübergegangen. Monika sank auf die Kniee und sprach ein Gebet, ein stammelndes, (später entfallen: zerstücktes,] von Tränen ersticktes, aber starkes Dankgebet.

In den Tagen nach dieser Errettung kam der Sohn frühzeitiger als sonst nach Hause.

Und die Mutter hielt oft religiöse Gespräche mit ihm: »Amatus, haben wir nicht Gottes Hand gesehen?«

»Ja … aber …«

»Was hast du für ein Aber?«

Der von der Weltwissenschaft angehauchte Primaner wischte sich das flaumlose Kinn. »Wenn kein Zufall, d.i. kein Gesetz oder richtiger Ungesetz des blinden Unsinns, in die Weltordnung eingreift, muß doch Gott zuerst den Blitz gesandt und dann von uns ferngehalten haben.«

Monika anwortete darauf nicht, sondern fragte: »Hast du [später ergänzt: jetzt] nicht den dummen Gedanken aufgegeben, an der häßlichen Schulkneiperei dich zu beteiligen?«

»Ich, ich habe schon zugesagt … und sein Wort muß man halten.«

Die Mutter wünschte, daß der Abend überstanden sei.

An dem gefürchteten Sonnabend versammelten sich die Primaner im Hinterzimmer der Tivoli-Wirtschaft und machten so viel sinnlosen Lärm, wie drei [Zus. d. Hg.: aus Werktreue im Original wiedergegeben] polnische Judenschulen.

Hans Junker blieb wider Gewohnheit [später ergänzt: auf und] munter, während seine Frau schon im Bette lag, aber nicht einschlief. Weil er wußte, daß er die meiste Suppe ausessen müsse, wenn die Sache schief ablaufe, war er in Spannung und wollte aufsitzen, um den heimkehrenden Sohn zu erwarten.

Um Mitternacht wurde im Pappeltal eine Burschenweise gepfiffen. Hans horchte ängstlich – und über sein Gesicht glitt ein pfiffiges Grinsen, denn ein leicht beschwingter Tritt hüpfte die Treppe hinauf.

Das eine Auge verkneifend, ernst und sachverständig beguckte er seinen Sohn von oben bis unten und klopfte dann vaterstolz ihm beide Schultern. »Wie ging's?«

»Famos! Als ich verschwand, war Vetter Asmus [später anders: Wilhelm Reder] vom Stuhl gefallen, und sie setzten zum Ulk ein Glas Bier neben ihn auf die Diele [später ergänzt: … Der arme Kerl! Seine Stiefmutter knöpft ihm gewiß die Hosen herunter].«

Hans kicherte: »Hihi! Du bist ein ganzer Kerl! Der Mensch muß trinken, aber sich nie betrinken … das eine ist schön und wird besungen, das andre ist schweinisch und wird verlacht.«

In die Schlafstube hineinhopsend, beugte er sich über das Bett. »Mutter, er hat gezeigt, daß er ein [später ergänzt: ganzer] Mann ist … gar nichts ist ihm anzumerken, nicht einmal angesäuselt, geschweige denn angeschmort!«

Monika schien auf ihren männlichen Sohn nicht sehr stolz zu sein, sondern sagte: »Wer mit Feuer spielt, verbrennt sich die Finger.« –

[Später entfallen: In derselben Nacht um zweie wurde nach der Hardesvogtei der Hausarzt geholt.

Asmus war von mitleidigen Kameraden bis in den Flur gebracht und wie eine Stehleiter gegen die Wand gestellt worden. Aber als die andren vorsichtig sich entfernt hatten, verlor die Stehleiter den Halt und stürzte mit fürchterlichem Gepolter. Halb bekleidete Mägde trugen des Hauses Sohn ins Bett. Der erschrockene Vater rannte nach dem Hausarzt, welcher ein Lächeln bezwang, die Krankheit sofort als akute Intoxikation diagnosierte und die Magenpumpe mit Erfolg ansetzte.

Am Morgen lag Asmus kleinlaut und todkrank auf seinem Schmerzenslager, und in seinem Munde stak, wie der Lutschpfropfen eines Säuglings, eine saure Gurke, welche die mitleidige Silly hineingeschoben hatte.

Dieser Krankheitsfall wurde von dem Hardesvogt und seinem Sohne wie ein Staatsgeheimnis gehütet. Aber Silly machte den Vetter zum Vertrauten. – – –]

Die vom Pedellen ewig gleich gestellte Uhr der Schule ging – nur in den Ferien stille stehend und selbst Feiertage haltend – ein volles Jahr ihren regulierten Gang. Die Horazischen Oden und noch manches andre wurde im zweiten Jahre wiedergekäut. Nichts Neues war unter der nördlichen Sonne Norderhafens geschehen, nur da unten in Septima und Sexta saß eine gänzlich neue Generation.

[Später ergänzt sowie Zus. d. Hg.: Im Kontext der Gruft von St. Marien geht Dose, etwa ab 1896 Autor zahlreicher historischer Romane, erstmals und nur in der überarbeiteten Fassung des »Muttersohnes« auf ein »Geschichtsthema« ein; dies stützt aus Sicht d. Hg. die These, dass der »Muttersohn« in seiner ursprünglichen Fassung Doses erstes Werk war, jedoch erst wesentlich später veröffentlicht wurde] Amatus Junker und Viggo Evers waren in die Oberprima hinaufgerückt. Der Herrnhuter war einer von den befähigsten, aber auch einer von den faulsten Schülern. Seine sämtlichen Schularbeiten und häuslichen Exerzitien machte er während der Schulpausen. Dann saß er, in Geistesarbeit vertieft und hastig an der Semmel kauend, über dem Xenophon oder Cicero. Das war seine ganze Präparation und genügte ihm, um Genügendes zu leisten. Seine nonchalante, burschikose, blasierte Art imponierte allen, er galt als Autorität in allen Allotriis.

Amatus konnte sich dem Eindruck und Einfluß des Menschen nicht entziehen, obgleich an dem Wesen und den Worten des Gnadenfelders vieles ihm antipathisch war. An einem Samstagnachmittag, gegen Schluß der Physikstunde, wo der Lehrer seine Experimente und die Schüler ihre Konversation machten, reckte Viggo gähnend die Glieder. »Nach der sauren Woche muß man seinen Geist ausspannen und den dicken Staub der Gelehrsamkeit von Lunge und Leber sich spülen. Gehst du mit zur Schwemme heute Nachmittag, Amatus?«

»Willst du baden gehen?« fragte der Harmlose.

»Nein, ich will eine kleine Bierreise machen.«

Junker, der über die Grenzsteine des Kreises Norderhafen nicht hinausgekommen war, hatte bitterwenig Reisen und noch nie eine Bierreise gemacht. Das ihm fremde Wort hatte etwas Mysteriöses, Verlockendes – ein neues, unbekanntes Gebiet sollte er betreten.

Monika gab zögernd ihre Einwilligung zu dem Spaziergang und sagte: »Der junge Mensch weiß alle für sich einzunehmen, aber der Mensch gefällt mir nicht. Trau ihm nie ganz! Seine dunklen Augen haben den Blick des Verführers.«

Amatus hörte nur mit halbem Ohr, denn er hatte das Reisefieber, das Bierreisefieber.

Evers erschien pünktlich auf dem Markte, wo der Start der Bierfahrt sein sollte, erzählte, daß die Tante Jensen eine Reichsmark vom blutenden Herzen losgerissen habe, und machte zum obersten Grundgesetz der Reise, daß jedes honette Wirtshaus am Wege besucht werden müsse.

Junker, der nur fünfzig Pfennige besaß, murmelte hoffnungslos: »Mit anderthalb Mark soll das gemacht werden?«

Viggo zupfte sorglos an dem Schatten der Oberlippe. »Ja, und die Mark hat die Tante mir unter der ausdrücklichen Bedingung, daß ich endlich die Schönheiten der Marienkirche von innen besichtige, gegeben … von jeder Inschrift, von den Pfeifen der Orgel, sogar von den Mumien der Gruft, wie viele Nasen und Finger noch erhalten sind, soll ich ihr berichten. Ich setze voraus, daß du als Norderhafener über die Katakomben-Geheimnisse von St. Marien mich instruieren kannst … eine Gräfin Ranzau von Anno 15 oder 1600 soll in einem Sarkophage liegen und einen kostbaren Ring mit Saphiren und Smaragden am Knochenfinger tragen. So behauptet die Alte … darüber orientierst du mich.«

Kleinlaut erwiderte Junker, daß er noch nie die Gruft von St. Marien, die der Totengräber für fünfzig Pfennige öffne, betreten habe.

»Das sind curae posteriores … zu einer Bierreise gehört Geld, Geld, Geld. Sollen wir den [Erg. d. Hg.: im Interesse der Werktreue im Original wiedergegeben] Juden Markus totschlagen oder den Laden des Goldschmieds ausrauben?«

»Pfui Teufel!« brummte Amatus. Der Kamerad war ihm antipathisch in diesem Augenblick.

Evers betrat einen Laden, aber nicht einen Goldschmied-, sondern einen Zigarrenladen, wo er, wählerisch wie ein Grandseigneur, vieles sich vorlegen ließ, an allen Sorten mäkelte und schließlich zwei Kisten nahm, die er auf Rechnung zu schreiben und in seine Wohnung zu senden befahl, dann aber, andern Sinnes geworden, selbst mitzunehmen geruhte. Der Händler ließ sich durch das noble Auftreten überrumpeln.

Im nächsten Wirtshause, wo der Primaner offenbar heimisch war, bot er dem Wirte die zwei Kisten zum Kaufe an. Der Wirt war ein Schlauer, der alle Ge- und Verlegenheiten zu benutzen verstand und aus Gefälligkeit sich bewegen ließ, das gute Kraut zu nehmen – für die Hälfte der Kaufsumme. Das Geld zur Bierreise, die hier mit einigen Schoppen begonnen wurde, war beschafft.

Junker merkte bald, wie das Bier die düsterste Weltanschauung erhellt und erheitert. Als sie den schäbigen Rest austranken, bemerkte er mit einem tiefsinnigen Lächeln, daß doch mancherlei in dieser schlimmen Welt nicht so ganz schlecht noch schäbig sei.

Streng verfuhr der Gnadenfelder nach dem Grundsatz, daß der Bierreisende an keinem Wirtshaus vorübergehen darf. Da jedes dritte Haus in der gesegneten Straße eine Schenke war, ist es begreiflich, daß die Jünglinge nach einer Weile sehr redselig geworden waren. Der Gnadenfelder mußte mit Würde des Bieres Wirkung zu ertragen; seine spöttischen Blicke beobachteten vergnüglich, wie Monikas langer Sohn immer lauter schwatzte, rötere Wangen und bierselig blödere Augen bekam. Diese stille Beobachtung schien für Viggo das Hauptvergnügen, der Hauptspaß der Bierreise zu sein.

Er trieb weiter. Da lag kein Wirtshaus, sondern das Haus des Herrn, der imposante Dom von St. Marien streckte seine mächtigen Chorfenster höher, als das höchste Häuserdach, empor. Viggo wollte in der Kirche Einkehr halten, denn er sollte ja der Tante Bericht erstatten. Amatus holte aus dem alten, schiefen Häuschen, das neben dem Kirchengebäude lag, um die ungeheure Größe des letzteren ins Licht zu rücken, den Totengräber und Glöckner, der ein Original sein wollte und zum Teil auch war. Peter Totengräber, ein lächerlich kurzbeiniges, kurzarmiges, kurzhalsiges Kerlchen, kam mit dem riesigen Schlüssel angeschnauft und angewatschelt und kassierte sofort vor dem Eintritt die Gebühr von 50 Pfennigen ein, indem er hinzufügte: »Nach der Besichtigung kannst du ein Trinkgeld nach Belieben geben, mein junger Herr.«

Viggo prallte vor dem Du einen Schritt zurück und zupfte vornehm am Schatten der Oberlippe.

Der Kurze liebte auch die Kürze der Rede. »Ich habe zu Sr. Majestät dem König Friedrich VII. du gesagt … ja du! Das hab' ich!«

Amatus gab eine Aufklärung über diese menschliche Sehenswürdigkeit von St. Marien. »Ja, Peter Totengräber hat zum dänischen König, der einmal hier war und die Kirche in Augenschein nahm, du gesagt … er redet sogar den Landrat, der doch König von Norderhafen ist, auch den Bürgermeister und Propst permanent mit du an.«

»Und das lassen sich die Herren von dem alten, närrischen [Erg. d. Hg.: erneut im Interesse der Werktreue im Original wieder gegeben] Kümmeltürken gefallen?« flüsterte Viggo, die Nase rümpfend.

»Erzählen Sie doch mal, wie der König hier war!« sagte Junker.

Peter blieb stehen und brummelte: »Es war Friedrich VII., der ein herrlicher König war und jetzt hochselig ist, dem ich die Mumie der Gräfin und ihren Ring zeigte; und ich sagte zu ihm: ›Ja, Herr König, so wirst du auch einmal aussehen, wenn sie dich in Roeskilde einbalsamieren und beisetzen.‹ – Se. Majestät lachte huldvoll: ›Ja, mein armer Kadaver wird hübsch aufgehoben, damit nach 4 oder 5 Jahrhunderten ein dicker, versoffener Totengräber, wie du, ihn für 50 Pfennige pro Person allen Leuten und Lumpen vorzeigen kann, und deinen Kadaver kriegen die Würmer, d.h. wenn sie ihn mögen. Das ist der ganze Unterschied zwischen einem Könige und einem Totengräber nach dem Tode. Und du sagst du zu deinem Könige, alter Hausnarr?‹ – Darauf antwortete ich mit einem Kratzfuß: ›Ich sage du zu allen Menschen, zu hoch und niedrig, denn als Totengräber sehe ich alle Tage, daß wir alle Moder und Mist werden.‹ – Der König Friedrich fand Gefallen an meinem geraden Wesen und klopfte mich auf die Schulter. ›Was möchtest du am liebsten haben, alter Dickkopf, das Danebrogskreuz oder 20 Taler?‹ – ›Beides möchte ich am liebsten haben, beides könntest du mir geben, Herr König‹ – Und Se. Majestät gab mir beides, das Kreuz und die Taler, und versetzte mir zuletzt einen allergnädigsten Tritt im Hintern und sagte: ›Hiermit erteile ich dir das allerhöchste Privileg, zu allen Menschen, zu König, Propst und Kaiser du zu sagen.‹ – Ich habe mithin ein königliches Privileg, zu jedem du zu sagen.«

Peter versuchte stolz, den kurzen Hals zu recken und schlurfte weiter.

Die erhabene Höhe der Säulen, die schönen Epitaphs, das herrliche Schnitzwerk interessierte Viggo nicht. Der bierselige Junker war feierlich und stumm geworden.

Man stieg in die düstere Gruft hinab, wo schwerer Modergeruch den Atem beengte; Peter zündete den Leuchter an und streckte einen frischen Priem hinter die Zähne.

Hier ruhte ein ganzes Grafengeschlecht, Ritter, Frauen und Fräuleins, Mägdlein, Knaben und Säuglinge sogar. Der Totengräber kaute eifrig und öffnete ein Eichensärglein, daraus er ein Dreimonatskind, in weiße Seide gekleidet, mit den schmutzigsten Fäusten nahm und als Sehenswürdigkeit zeigte. Die Kindesmumie hatte ein gelbliches, greinendes, greisenhaftes Gesicht. Nachdem die kleine Leiche begafft war, warf er sie roh, wie ein Stück Plunder, in den Sarg zurück, und die Seide raschelte. Mit wie viel Mutter- und Vatertränen war vor Jahrhunderten dieses Kindlein beweint, diese Totentruhe begossen worden. Amatus fühlte einen heiligen Schauer an dieser Stätte der Vergänglichkeit, wo ein ganzes, großes Adelsgeschlecht zu Staub wurde. Das stumpfe und rohe Gebaren des Totengräbers ekelte ihn an.

Zum Glück waren die meisten Sarkophage geschlossen und nicht zu öffnen; aber der Sarg der Gräfin Ranzau, die große, viel besuchte Sehenswürdigkeit von St. Marien, stand offen. Auf dem verschrumpften, regelmäßigen, länglich schmalen Gesicht der Mumie, die langes, blondes, wohl erhaltenes Haar hatte, sah man noch einen Schimmer der einstigen Schönheit. Die Tote war sehr dürftig, nur mit einem Hemde bekleidet, aber an dem Zeigefinger der Hand glänzte ein Goldreif mit blitzenden Saphiren und Smaragden.

Jetzt war Viggo, den die Geschichte bisher gelangweilt hatte, eitel Aufmerksamkeit und Auge: mit langen, gierigen Blicken betrachtete, verschlang er die kostbaren Steine.

Peter hatte den Leuchter auf einen Sarkophag gestellt. Man ging schauend und die Inschriften entziffernd hin und her.

Plötzlich erlosch das Licht, man stand in unheimlicher Stockfinsternis, und Peter schalt: »Warum bläst du das Licht aus, du Dummkopf?«

»Ein Windstoß pustete es aus«, brummte Viggo und tastete sich bis zur Treppe, wo er ein Streichholz anzündete und hochhielt. »Komm, Amatus, mach' flink, Peter Totengräber, ich leuchte, bis du die Treppe hast!«

Nun standen alle im Tageslichte, und Peter, der das Anzünden des Leuchters sich erspart hatte, schloß die Tür zu und schaute den Gnadenfelder grimmig an. »Du! Du sagtest du zu mir, du grüner Junge! Das kostet eine Mark Strafe, du Laps!« – Der das Duz-Privileg vom dänischen Könige erhalten hatte, duldete durchaus nicht, daß man ihn duze.

Viggo gab eine halbe Mark als Sühngeld und verließ sehr eilig das Gotteshaus und den Totengräber, den er einen alten und groben Esel nannte.

Im Gotteshause war Junkers Rausch ziemlich verflogen, was Viggo mit einem Seitenblicke ärgerlich konstatierte. Es mußte also von neuem angeheizt werden; und die Bierreise wurde fortgesetzt. Nach einer Weile schlug die Stimme des Gnadenfelders den sanften Herrnhuter Ton ab und fragte, ob man nicht statt des magenfüllenden Bieres ein paar Kaffeepünsche probieren wolle.

Der Kaffeepunsch aus Schnaps respektive Rum, Zucker und Kaffee gebraut, ist das für Neulinge gefährliche Nationalgetränk Nordschleswigs, sofern der Kaffeepunsch sehr schwach, aber auch sehr stark gemischt werden, aber auch der Grad der Stärke durch viel Zuckerzusatz täuschend verdeckt werden kann. Darum schwärmen alle Leute, die ihre Freude daran haben, andre Leute betrunken zu machen, für den Kaffeepunsch.

Amatus trank arglos das Zeug, das ihm nicht recht mundete, und Viggo mischte das Getränk mit kundiger, aber auch betrügerischer Hand, denn so oft der andre auf einen Moment das Zimmer verließ, goß er lachend einen Schuß Rum, nicht in seine, sondern in des Kameraden Tasse.

So schloß die Bierreise mit Kaffeepünschen, und ihr Ende war, daß Amatus der Arglose sein erstes Räuschlein heim zu seiner Mutter trug. Vor seinem Blicke taumelte alles, seine Ausgelassenheit war in heimliche Angst umgeschlagen, doch seine Füße gehorchten ihm und hielten sich schnurgerade auf dem Bürgersteige. Viggo gab ihm das Geleit ins Pappeltal und stieß ab und an eine hustende Lache heraus. Kurz vor der Junkerschen Wohnung nahm er mit den höhnischen Worten Abschied: »O, uh, uh, deine Mutter steht schon mit dem Rohrstock am Fenster … Gott sei dir und dem Teil deines Rückens, der seinen respektablen Namen verloren hat, gnädig … behüt' dich Gott!«

Monika stand nicht mit dem Stocke, wohl aber mit einer Träne im Auge am Fenster; denn sie hatte lange ausgeschaut und jetzt den seltsamen Schritt ihres Sohnes bemerkt. Eine angstvolle Ahnung, als wenn ein tiefer, tückischer Abgrund sich vor ihr auftue, wogte in ihrem Mutterherzen. Aber sie bezwang ihre Erregung und sprach mit ruhig traurigem Tonfall eindringliche Worte der angstvollen Liebe. Von vornherein verteidigte und entschuldigte sie ihren unerfahrenen Amatus, der in böse Gesellschaft geraten und häßlicher Verführung unterlegen sei. Monika schalt nicht, aber sie bewahrte doch die traurige, tragische Miene, während ihr Mann mit Mühe ein belustigtes Lächeln verbiß; und sie stellte ihrem Sohne umständlich mit vielen Gründen vor, wie verderblich und sündhaft das Trinken sei. Unermüdlich variierte sie das Thema von dem Elend, das ein Trinker sich und andern anrichte, ohne Aufhör redete sie auf ihren Amatus bis Mitternacht ein, bis Hans Junker im Bette nach der Uhr sah und die sanfte Bemerkung machte: »Nun hast du genau 4 Stunden und 18 Minuten lang gepredigt, besser als der beste Good-Templar-Redner [Erg. d. Hg.: The Independent order of Good Templars, der 1852 in New York gegründete »Gut-Templer-Orden«, forderte die sittliche Erneuerung des Menschen und den Verzicht auf Alkohol] , liebe Mutter … willst du dem armen Jungen bis morgen früh eine Rede halten?«

Monika verstummte sofort und küßte den armen Jungen zärtlich, freundlich und voll Vergebung. Er sei ja verführt worden, und einmal sei keinmal.

Jede Mutter wird das erste Räuschlein ihres Sohnes zu den verzeihlichen Sünden zählen. – – –

Ein altes und immer neues Fest wurde von den Trommlern und Pfeifern der Schule mit ohrenbetäubenden Übungen vorbereitet. Der zweite September war und ist das große Volksfest in dem nordschleswigschen Norderhafen, d.h. [später ergänzt: nur] für den deutschen Teil der Bevölkerung; von der dänisch gesonnenen [später: gesinnten] Minderheit wird er als Buß- und Verbitterungstag gefeiert. Bei dem Schreiber Petersen und vielen andern galt keiner als ein gesinnungstüchtiger Patriot, der sich nicht an diesem Tage ein Räuschlein kaufte.

Schon am Vormittage war im Stadtwalde das Scheibenschießen der Schüler. Asmus [später anders: Amatus], der [später entfallen: durch seine Krähenjagden ein geübter Schütze geworden war und] zweimal mitten in das schwarze Zentrum traf, schoß zum dritten Male in die blaue Luft und fluchte: »Verdammt! Ich hätte die drei Frühschoppen nicht trinken sollen.«

[Später entfallen: In der Norderstraße sagte er zum Vetter: »Holst du mich um halb zwei Uhr ab? Ich bin nämlich abgebrannt und muß Geld machen, wobei du mir kleine Handreichung tun kannst.«

Amatus erwog den pythisch dunklen Sinn und kam, begierig, in die Goldmacherkunst einen Blick zu tun.

Dieweil alle Geheimkünste das Geräuschlose lieben, und damit der Mittagsschlaf des Hardesvogtes nicht gestört werde, bat Asmus, keinen Lärm zu machen, und öffnete leise die Schranktür. »Ich muß einen alten Anzug verkaufen … unter meinem Rock zieh ich die Joppe an … willst du die Hose und die Weste dir um den Oberkörper wickeln und darüber dicht zuknöpfen, um alles Auffallen zu vermeiden?«

Die Goldmacherkunst war noch einfacher als das einfache Ei des Kolumbus. Junker stutzte. »Der graue Anzug ist ja sehr gut…«

»Mir aber nicht! Mein Vater will, daß ich mich standesgemäß kleide … darum lasse ich mir beim Manufakturisten einen neuen grauen Anzug machen und auf Rechnung schreiben.«

Der standesgemäße Primaner hielt es nicht nur unter seiner Würde, in der schmutzig dumpfen Trödlerbude sich zu entkleiden und in Hemdsärmeln mit der [Zus. d. Hg.: erneut im Interesse der Werktreue im Original wiedergegeben] schlauen Jüdin zu handeln und zu feilschen.

Sie rannten nach dem Festplatze hinaus. Asmus Berg, der nie knauserig war, sondern] [Stattdessen später neuer Anschluß: Der Gnadenfelder, der] eine angeborene Gabe zum Grandseigneur besaß, war der »Wohltäter« [später ergänzt: und traktierte seine…] [später entfallen: Wo das Freibier fließt, sammeln sich] Freunde. Um ihn bildete sich eine Tafelrunde der guten Kameraden. Weil auch der Rittmeistersohn, der in diesem deutschen Fache stark war, sich nicht lumpen lassen wollte, wurde es bald zu einer kleinen Kneiperei mit Salamanderreiben, Schreien und Gesang. An dem großen Sedantage drückten die Herren Lehrer beide Augen zu und tranken selbst mehr, als zur Stillung des Durstes vonnöten.

Als Monika [später ergänzt: am Nachmittage] ihren Mann fragte, ob er auch hinausgehen wolle, machte Hans einen Indignationshopser. »Ich als beeidigter Beamter sollte mich nicht am Sedanfeste beteiligen und [später ergänzt: am Ende] mein Brot verlieren?«

»Friedline und ich werden nachkommen«, nickte sie [später ergänzt: nur] vielsagend.

Spät am Nachmittage wanderte sie mit der Tochter am Arme durch das Menschengewühl, und ihr Blick glitt durch die offen stehenden Schankzelte.

Ihre Ahnung hatte recht geraten. Neben dem Schreiber Petersen und andern gleichgesinnten Seelen saß ihr Mann hinter dampfenden Kaffeepünschen und ließ im dänischen Nationalgetränk das große deutsche Vaterland hochleben. Wenn er nur nicht mit diesem Gelichter sich gemein gemacht hätte!

Sie ging weiter und hatte unruhige Augen. Da! Unter den Rotbemützten saß ihr Sohn und rieb den Salamander. Trotzdem der unter seinesgleichen saß, gab es ihr einen Stich ins Herz.

Vater und Sohn! [Später ergänzt: Vater und Sohn!]

»Friedline, hier in dem greulichen Lärm ist es nicht schön.«

Sie gingen in den stillen Wald hinein, und die Mutter war so stille [später: still].

»Warum sagst du gar nichts, Mutti?«

»Wir wollen sehen, ob die Nüsse schon sich bräunen, Friedline.«

Beide brachen durch das Buschdickicht, und die Mutter pflückte Haselnüsse, welche Friedline enthülste und mit den gesunden Zähnen knackte.

Frau Junker stand still und stutzte. »Was ist doch das für ein weißes Waldtier, das unter dem Wacholderstrauche hockt?«

Die Blinde erkannte noch eher [,] als die Sehende [,] mit feinem Ohr das Tier an seinen Lauten. »Eine Katze ist es.«

Ja, ein kleines, schneeweißes Kätzchen miaute kläglich und ließ sich zutraulich greifen.

»Ach, unsinnige Menschen haben das arme Tier im Walde ausgesetzt, um sich seiner zu entledigen … das ist noch grausamer als töten.«

»Mutter, laßt uns das Kätzchen mitnehmen … ich verstecke es unter meinem Überwurf.«

Sie erbarmten sich des Findlings, und ein lang gehegter Herzenswunsch der Blinden war erfüllt.

»Mit dem Katzenbaby müssen wir machen, daß wir nach Hause kommen.«

Weil auf dem Platze durch dreimaligen Tusch die Festrede eingeblasen wurde und alle Leute herbeiströmten, blieb Frau Junker stehen, um den Gymnasialdirektor, welcher Norderhafens Demosthenes war, anzuhören. Von ihr ungesehen, zogen drüben Hans Gerichtsdiener und die Schreiber Arm in Arm herbei und sangen: Wir halten fest und treu zusammen, hipp, hipp, hurra.

Über den tausend rot begeisterten Köpfen stand der Direktor und redete. Frau Junkers Blick haftete immer starrer auf einem weit drüben sich vorwärts drängenden Kopfe, der mit selig schwimmenden Augen und verzückt verzerrten Lippen zu dem Redner verständnisvoll emporhimmelte und doch nichts verstand. Es war ihr Hans – und wie war er!

Sie riß die Tochter mit sich hinweg. Hinter ihnen gellte im Walde das brausende Hoch [später ergänzt: auf Kaiser und Reich].

Beide vergaßen, das Abendbrot zu bereiten, und horchten. Die Katze, die nicht vergessen war, leckte behaglich ihre warme Milch.

Immer wieder klang wie ein Seufzer die Frage: »Wo bleibt Amatus?«

Als es dunkel geworden war und in der Stadt die zischenden Raketen den Himmel erleuchteten, kam ein stark polternder Schritt die steile Treppe hinauf, und eine fremd veränderte Stimme trällerte: »Wanke nicht, mein Vaterland!«

Hans stolperte [später: schwankte] über die Schwelle und glotzte das weiße Tier an. »Was? Ein fremdes Katzenbiest? Heraus!«

Zu einem Fußtritt ausholend, hätte er um eines Haares Breite des beschwerten Körpers Gleichgewicht verloren.

»Vater, das ist meine Katze«, schrie Friedlinchen.

Die Mutter stand steil und streng. »Vater, du bist betrunken.«

Er hatte einen kapitalen, patriotischen Rausch und wußte es natürlich nicht, »Was? Betrunken? Der Amtsrichter hat sogar ein Glas Bier für mich ausgegeben.«

»Sind das die Grundsätze, die du deinen Sohn gelehrt hast? Der Mensch muß trinken, aber sich nie betrinken …«

Er strammte sich empor und sagte kühn: »Ich kann mein bißchen mit Anstand tragen … soll ich deinen Sohn hüten?«

Sie schienen sich den Sohn gegenseitig zuzuschieben.

»Mutter, willst du mit mir spektakulieren?« fragte Hans kriegerisch.

»Nein, ich will, daß du sofort zu Bett gehst.«

Friedline saß mit der Katze auf dem Schoße und weinte.

Der Vater sah nach der Weinenden hin und begab sich merkwürdig gehorsam in die Schlafstube, wo er nach drei Minuten fest schlief.

Mutter und Tochter saßen beisammen und ließen zuweilen leise das Wort fallen: »Wo bleibt Amatus?«

Der ging soeben Arm in Arm mit dem Vetter [später anders: Viggo] und zwei anderen dauerhaften Freunden in ein etwas versteckt liegendes Wirtshaus in der Gerberstraße, über dessen Innentür in altdeutschen Worten die beruhigende Inschrift prangte:

Wo gesungen wird [später: man singt], da laß dich ruhig nieder!
Böse Menschen haben keine Lieder.

Durch einen lustig flimmernden Nebel blickte er [später: Amatus] und war, wie die andern, mehr als angesäuselt.

Während Junker [später: er] an diesem sirenenhaften Orte noch nie gewesen war, nickte Vetter Asmus [später anders: Viggo] den vier Damen zu, welche in die Harfen griffen und lächelnde Pfeile schossen. Der Neuling in dem Tempel der Aftermusen wurde von einem trunkenen Geist der Romantik ergriffen und träumte sich zurück in die lauteschlagende Minnezeit.

Die immer gut geschmierte [später ergänzt: , diskrete] Saaltür ging hinter ihm geräuschlos auf. Verzückt hing er mit Augen, Ohren und allen Sinnen am Podium.

Die zwei zuletzt eingetretenen Herren hielten vorsichtige Umschau im Saale, und der kleinste sprach das ermutigende Zitat: »Nitimur in vetitum!« Zum Verbotenen haben wir ein angebornes Gelüst.

Es waren lateinkundige Leute – und die zwei jüngsten Gymnasiallehrer.

Amatus hing an den geschminkten Rubin-Lippen der etwas heiseren Primadonna-Nachtigall, welche schmetterte:

»Des Nachts um halb zwei,
Da sitzt ein Jüngling im Saale
Und Hulda, die sitzet dabei –
Zehn Flaschen Champagner!
Hundert Mark sind nicht alle Welt,
Und doch fragen die Väter:
Wo, ja, wo bleibt da unser Geld?

Der aufmerksame Zuhörer [später: aufmerksamste von allen Zuhörern] fiel lachend in den Stuhl zurück, als von hinten eine Hand hart seine Schulter tupfte.

Rück- und aufwärts schauend, glotzte er den Doktor Käsebier an, dessen Schnurrbartborsten grimmig standen, und der ihn anschnarrte: »Äh … Junker, das ist kein Ort für Sie!«

Frech erwiderte der Primaner dem Ordinarius der Sexta: »Etwa für Sie, Herr Doktor?«

In schweigender Indignation setzten sich die Lehrer in die entgegengesetzte Ecke des Saales.

Asmus Berg [später anders: Einer von den Primanern] schielte dort hinüber und meinte, etwas lallend und unsicher sich erhebend: »Die Gesellschaft wird mir zu gemischt.«

Nachts um halb zwei kam der Primaner Junker nach Hause. Ja, er kam allein und ohne Stütze.

Das Leben ist ein Januskopf, vorne lustsprühende Augen und heißglühende Wangen – die Kehrseite aber hat graue, gramentstellte Züge.

Monika stieß einen Schrei, einen klagenden Mutterschrei aus.

Er stotterte blaß: »I–ch bin – nicht betrunken.«

»Du bist es! Wenn du dich im Spiegel sehen könntest, würdest du vor dir selber erschaudern.«

In der Nacht nach dem Sedanfeste schlossen sich vier Augen in der Dachwohnung nicht. Die Mutter murmelte drei Worte müde und mechanisch: »Vater und Sohn!«

Gegen Morgen schüttete sie ihr Herz vor der blinden Tochter und dem allsehenden Gott aus. »Mein Gott, es ist zu viel, zu viel, was du mir auferlegst. Mit und für einen will ich ringen und streiten, aber der Kampf mit zweien ist mir zu groß und grauenhaft für meine Kraft. Ich kann das Doppelkreuz nicht tragen, das mich erdrückt.«

»Mutti, ich trage alles mit dir«, rief Friedlinchen.

»Ja, du bist mein Kind.«

»Er ist es auch, er soll es noch mehr sein, weil er unsrer Liebe mehr bedarf.«

»Amatus hat auf eine furchtbare Bahn den Fuß gesetzt … ist das ein Flucherbe?«

»Mutter, mein Bruder ist gut.«

»Ja … aber der Leichtsinn ist in ihm, der trotz seiner Scheinschwingen eine in der Staub ziehende Schwerkraft hat.«

»Nie kann mein Bruder schlecht werden!«

Der Glaube der Schwester stärkte den Glauben der Mutter.

Nachdem sie alle Türen hinter sich zugemacht, weckte sie ihren Sohn dadurch, daß sie seine Hände faßte und zusammenfaltete. Sein Gehirn arbeitete sich aus einem wüsten Traume, seine Augen wurden voll Angst.

»Amatus, willst du deine Mutter, dich selbst, deine Zukunft, deinen Gott verlieren? Das Trinken ist ein Grab dafür…«

Er schluckte und schluchzte: »Ich will es nie wieder tun.«

»O, das kindisch leere Wort, das leichthin gegeben und in den Wind geschlagen wird … bekenne alles!«

Wenn er auch das Schwärzeste schönfärbte, war er doch wahrhaftig [später: wahr und aufrichtig].

»Im Tingeltangel bist du gewesen?«

»Zwei Lehrer waren auch da …« Was er zur Beruhigung anführen wollte, machte sein Haar, welches Nerven zu haben schien, vor Graus zu Berge stehen. Wie hatte er dem Doktor Käsebier geantwortet!

»Wenn du noch einmal das Haus in der Gerberstraße betrittst, bist du mein Sohn nicht mehr.«

Energisch schnellte er empor. »Mutti, das schwöre ich dir.«

Den Schwur konnte er halten und hat ihn gehalten. Aber das Wort vom nie wieder Tun [später: vom Nie wieder tun]?

Frau Junker ging aus der schrägen Dachkammer in die Schlafstube hinein. Ah, das Bett war leer. Der kurz vorher noch schnarchte, hatte sich auf Strumpfsocken angekleidet, draußen auf dem Flur die Stiefel angezogen und war ohne Frühstück an seine Berufsarbeit gegangen. Hans wollte die Sonne [später ergänzt: erst] aufgehen lassen über seines Weibes Zorn. Die Bußpredigt aber sollte ihm nicht geschenkt, noch um eine Silbe gekürzt werden.

In aschgrauer Stimmung betrat der Primaner Junker die Klasse, und die aschgraue wurde gelb und gallig. Schadenfröhlich grinsten sie [später: alle] ihm in das Gesicht. »Hast du mit dem Doktor Käsebier getingelt und Schmollis getrunken?«

Der jüngste Fuchs [Erg. d. Hg.: ein Fuchs bzw. Fux war/ist ein neues Mitglied einer/s (studentischen) Burschenschaft/Corps] der Prima wurde [später ergänzt: sogar] frech. »Du! Hat deine Mutter dich verhauen?«

Amatus nahm eine Boxerstellung ein. Sein ursprünglicher Name Adam Amatus war trotz der Wiedertaufe die vielen Jahre hindurch wie eine [später entfallen: alte] Tradition in der Schule bewahrt worden.

Viele Kläffer schrieen um ihn her: »Sagte deine Mutter nicht: O, mein Adam, du hast deinen ersten Sündenfall getan?«

Scheußlich wurde er gehänselt mit dem Sedantage, den sie als Adams ersten Sündenfall bezeichneten.

Am Mittage aber lief das Maß seines Verhängnisses über [später: füllte sich das Maß seines Verhängnisses]. Durch den Pedellen wurde er in die Privatwohnung des Direktors gerufen und der jüngste Fuchs raunte ihm tröstend ins Ohr: »Paß auf! Du sollst relegiert werden!«

Der rote Kopf des Schulchefs galt als ein böses Omen. Die zwei Lehrer hatten sich zu sehr erbost und in umschreibender Weise Meldung erstattet.

»Junker! Sie haben sich unanständig betragen. Herr Doktor Käsebier, der gestern abend ein den Schülern verbotenes Wirtshaus revidierte, hat Sie dort betroffen. Junker! In Berücksichtigung Ihrer Lage haben Sie von mir einen Freiplatz erhalten … wenn Sie sich solchen Lapsus noch einmal zu Schulden kommen lassen, wird Ihnen das Benefizium als einem Unwürdigen entzogen. Marsch!«

In barscher Weise, ohne einen väterlichen Ton abgefertigt, fühlte Amatus bittere Reue, aber auch eine Verbitterung. Warum wurden die Mitschüler und Mitmissetäter nicht vom Pedellen gerufen und nicht vom Direktor verwarnt? Hatten sie nicht alle von der verbotenen Frucht genascht? Oder hatten jene, weil ihre Eltern wohlgestellt waren, ihre Stellung nicht vergessen?

Die Mutter sah mit Genugtuung das [später ergänzt: tief] verkümmerte Gesicht ihres Sohnes, welches sie der innerlichen Zerknirschung zuschrieb.

Sie hatte ihrem Manne sich zu widmen, der ihr am Mittage nicht entschlüpfte. Hans saß in der Schlafstube, die Hände zwischen den Knien gefaltet. Jeder lebensheitere und pfiffige Zug war verschwunden. Etwas Neues, Ernstes und Feierliches war in seinem Wesen.

Flehend sah er empor. »Mutter, ich bin ein Lump.«

»Unser einziger Sohn hat deine Bahn betreten … das hast du auf dem Gewissen«, sagte Monika hart.

»Ja … schlag mich mit deinen Worten tot!« Sein Körper wand sich. »Mutter, höre mich! Heute haben wir den dritten September … merke dir den Tag! Von heute an soll es anders werden. Ich gelobe dir vor Gott, daß ich in meinem Leben nichts mehr trinke.«

»Das hast du oft versprochen … und gebrochen.«

»Nein, hier drinnen ist es fest geworden.« Er bohrte den Finger in die Brust. »Ich schwöre … keinen Tropfen …«

»Keinen Schwur!«

»Glaube mir, Mutter!«

»Nach drei Monaten will ich sehen, ob du dich [später: es] gehalten hast, und es glauben.«

»Du wirst es sehen … auch die Kasse sollst du von heute an haben und führen … ich will nichts … nur einen Groschen für Kautabak und Kleinigkeiten.«

Ihr Antlitz wurde von einer neuen Hoffnung erhellt. »Das ganze Gehalt willst du mir abliefern? Ich würde es gut verwalten.«

»Ja, das ganze …« Sein Mund kaute verlegen, und seine Hand kramte den Beutel aus der Tasche und zählte zitternd die Stücke auf den Tisch.

»O Hans, nun fange ich wieder an, an deine Vorsätze zu glauben.«

Aus dem umgestülpten Beutel fiel nichts mehr heraus; 7 Taler und 22 Silbergroschen lagen auf dem Tische.

Monika, deren guter Glaube in der Geburt getötet wurde, starrte darauf hin und schrie: »Das ist alles, was du von dem vorgestern empfangenen Gehalt noch hast … alles andre hast du gestern verjubelt?«

Hans preßte eine Träne aus den trocknen Augen. »Nein … ich habe … Schulden abbezahlt.«

»Barmherziger Gott! Wir haben Schulden …«

»Ja, etwas steht beim Krämer und bei Hans und Christian Petersen auch ein bißchen.«

Als alles zusammengerechnet war, sah sie [später: seine Frau] ihn mit leblosen Augen an. »Die unerschwingliche Summe können wir nicht in einem Jahr abtragen.«

»Mutter, von jetzt an darfst du für alles raten.«

»Ja, ich darf raten, wo du am Ende bist und dir nicht mehr zu raten weißt.«

Aber nachdem sie den kleinen Restbestand der Kasse in Verwahrung genommen, küßte sie ihren Mann.

Am vierten September ging Monika zu allen Gläubigern und war am Abend müde, kampfmüde geworden. Doch bald ermannte sich die Frau zu der alten, mutigen Standhaftigkeit, die nicht müde wurde.

Auf das Lot wurde berechnet, um den Pfennig wurde gefeilscht, aufs äußerste wurde gespart und das eine der zwei Mittagsgerichte abgeschafft. Das Fleisch wurde in genaue und gleiche Rationen geteilt. Die gerechte Kassenverwalterin ließ sich nur eine Bevorzugung zuweilen zu schulden kommen, [später ergänzt: nämlich] wenn sie dem schmächtig dünnen, aber mächtig aufschießenden Sohne ein fleischbelegtes Butterbrot mitgab.

Sie redete aber ernster und zurückhaltender mit ihm, und er mußte von jeder Stunde, die er außerhalb des Hauses verbrachte, Rechenschaft ablegen.

Hans wagte eine schüchterne Einwendung: »Soll der junge Mensch ein Muttersöhnchen und nie selbständig werden?«

»Willst du ihm vielleicht die Selbständigkeit und die Kunst, mit Geld umzugehen, beibringen?«

Hans verstummte in der Erkenntnis, daß er die Herrschaft abgegeben und nichts mehr zu sagen habe. [–]

[Später entfallen: Nach ein paar Wochen brach die Sonne der Mutterliebe immer heller durch die Wolken des Unmuts.]

[Später ergänzt: Am 7. September ist das Maß des Verhängnisses, das dieser Unglücksmonat der Familie Junker brachte, übervoll geworden.

In der deutschen Zeitung Norderhafens stand groß und fett gedruckt unter den neuesten Tagesnachrichten: »In unsrem herrlichen Gotteshause ist ein schändlicher Kirchenraub begangen worden. Als eine Gesellschaft heute die Gruft besichtigte und den Ring der Gräfin Ranzau in Augenschein nehmen wollte, fehlte zum allgemeinen Entsetzen dieses kostbare Juwel am Finger der Mumie. Peter Totengräber, das allbekannte Original unsrer Stadt, der schon 45 Jahre lang das Glöckneramt gewissenhaft verwaltet hat, wurde vor Schreck fast vom Schlage gerührt und konstatierte, nachdem er sich erholt, daß vor acht Tagen zwei Primaner mit ihm in der Gruft waren, der Ring noch vorhanden gewesen ist. Seit dem Besuch der Primaner, deren Personalien unschwer festzustellen sind, hat niemand den Sarkophag geöffnet noch besichtigt; auch war das Schloß der Tür unversehrt, und es ist ausgeschlossen, daß ein Einbruch von außen stattgefunden hat. Eine strenge Untersuchung des mysteriösen Diebstahls, der in unsrer Stadt das größte Aufsehen erregt, ist in die Wege geleitet, und wir wollen hoffen, daß auf den guten Ruf unsrer Gelehrtenschule keinerlei Makel fallen wird.«

Amatus hatte die Zeitungsnotiz der »Grenzwacht« gelesen war und war immer blässer geworden. Viggo und er waren die beiden Primaner, die zuletzt in der Gruft gewesen, und auf die der furchtbare Verdacht des Diebstahls fiel! Eine entsetzliche Verkettung, ein fürchterliches Verhängnis! Und wer war der Dieb? Hatte Viggo oder hatte der Totengräber das Licht hinterrücks ausgeblasen? Hatte Viggo geschwind im Dunkeln den Ring gemaust? Nein, nein, der Gnadenfelder war wohl ein lichtsinniger Mensch mit laxen Grundsätzen, aber ein Spitzbube und Kirchenräuber war er nicht.

Amatus selbst hatte das beste Gewissen und ging doch mit einem beklemmenden Angstgefühl in die Schule.

Hier schrieen die Kameraden, die ein Hauptgaudium erwarteten: »Der Gerichtsdiener Junker ist drinnen beim Direktor … Amatus, du sollst von deinem leiblichen Vater nach Nixens Herberge in Untersuchungshaft geführt werden.« – Immer ist die Jugend rücksichtslos, ja roh und grausam mit dem Worte bei der Hand.

Der Direktor trat in die Klasse. Hochgerötet und gestreng war das Antlitz des Gestrengen, der mit einem durchbohrenden Blicke Junker herauswinkte und im Konferenzzimmer ein scharfes Verhör begann. Junker war bleich, und sein Herz bebte in der Brust, aber er gab feste, bestimmte Antworten auf alle Fragen.

Als der Direktor immer wieder ihm in die Augen sah und die Frage stellte: »Also … Sie haben den Ring nicht gestohlen?« – da schnellte er empor, förmlich die Worte schreiend: »Nein! Ich bin eines kleinen und armen Mannes Sohn, aber ich bin kein Dieb. Ich ahne nicht, wer den Diebstahl begangen hat.«

Der Direktor winkte kalt die Entlassung, Als Amatus den Gang entlang ging, kam ihm der Verdacht, Peter Totengräber, der mehr trank, als seine Einnahmen ihm erlaubten, habe den Ring genommen und verdächtige andre.

Der Schulchef sah diesem Primaner nach und schüttelte ärgerlich das weiße Haupt. Warum war der Junker so blaß und so aufgeregt, wenn er ein gutes Gewissen besaß?

Wie ganz anders, wie unverdächtig benahm sich der andre Schüler!

Heiter und höflich war Viggos Miene, ruhig und überzeugend klangen seine Worte. Ohne ein Verhör abzuwarten, sagte er: »Ich für meine Person habe wahrlich nicht nötig, auf unerlaubte Weise mir Geld zu verschaffen.« – Dieser Satz enthielt eine indirekte Verdächtigung des andren, des unbemittelten Kameraden. – »Ich bekomme von meiner Tante mehr, als ich gebrauche, und lege mir in mancher Woche einiges zurück.« – Das war eine groteske Lüge.

Aber der Direktor glaubte ihm und mißtraute dem andern.

Die Polizei Norderhafens recherchierte eifrig nach dem seltenen Ringe, der aber nirgends verkauft oder versetzt wurde. Der Polizeimeister nahm Peter Totengräber und die beiden Primaner in ein langes Kreuzverhör, ohne Resultat, doch nicht ohne einen Verdacht zu hegen. Der Ring der Gräfin Ranzau, die große Sehenswürdigkeit von St. Marien, war auf mysteriöse Weise gestohlen worden, war und blieb spurlos verschwunden.

Amatus – und seine Mutter nicht minder – litt unsagbar in diesen Tagen; er litt eine förmliche Seelenqual unter dem schändlichen Verdacht, gegen den es keine Rechtfertigung und keine Reinigung gab. Überall schlich, zischte und raunte diese ekle Giftschlange der Verdächtigung, die er nicht fassen und nicht erwürgen konnte. Darum würgte die Wut in ihm, die ohnmächtige Wut der gekränkten Ehre, der getretenen Unschuld; und in seinem Busen keimte ein Haß gegen die Reichen, die Großen, die Ungerechten der Erde. Wo Amatus auf der Straße ging, meinte er zu sehen, wie die Leute mit Blicken auf ihn zeigten; wo zwei Köpfe zusammensteckten, war er überzeugt, daß sie von ihm raunten und afterredeten.

In seiner finstren Verbitterung fand er Trost in einer kalten, erhabenen Welt- und Menschenverachtung, die ihn über die klägliche Masse der Herdenmenschheit und über die ganze Misere des Lebens hinaushob. Mit spöttischen Lippen wollte er diese kleinlichen Kreaturen und Kostgänger des Herrgotts verlachen und alle ehrbaren Institutionen dieser wohlgeordneten Welt verachten – das sei die einzig wahre Lebensweisheit.

Diese Philosophie war vorläufig ein Trost für den armen jungen Mann, welcher überzeugt war, daß alle auf ihn als einen Langfinger mit Fingern zeigten. Aber bald erhielten seine neuen Grundsätze einen starken Stoß und einen tiefen Riß. Klarissa Reder riß das erste Loch in das feste System seiner pessimistischen Grundsätze.

Klarissa war auf Besuch bei ihren Eltern und kam mit langen Schritten über die Straße und auf ihn zu. Nach kurzer Begrüßung sah sie ihm ins Antlitz, sah sie die Schatten auf seiner Stirn und sagte unvermittelt, unvermutet: »Das ist ja eine schrecklich dumme und schändliche Geschichte … ich … ich weiß, daß Sie unschuldig leiden … und ich … ich glaube an Sie.« Sie schämte sich ihres dummen Gestotters und ging freundlich nickend schnell weiter.

Ein Wesen wenigstens – Klarissa glaubte an ihn! Das tat seiner Seele und seinem Herzen sehr wohl, so wonnig, daß er sich gelobte, alles andere Menschengesindel zu hassen und zu verachten, aber das einzige Wesen, das an ihn glaubte, über alles zu lieben.

Nun geschah es aber bei dem nächsten Sonntagsbesuche der Familie Junker im Hause des Hardesvogts, daß der Onkel von dem Ringe der Gräfin Ranzau sprach und einige maliziöse Blicke auf seinen Neffen richtete. Da stand Silly jach und jähzornig auf, nahm den Vetter mit in den Garten, wo sie mit sittlicher, heftiger Entrüstung auf ihn einredete: »Kümmere dich nicht um das Geschwätz meines Vaters, der nur necken will! Jedermann hat Peter Totengräber im Verdacht. Viggo Evers ist ein anständiger, feiner Mensch, und noch fester bin ich von deiner Unschuld überzeugt.«

Amatus war bis zu den Tränen gerührt. Nicht nur ein menschliches Wesen, nicht nur Klarissa, sondern auch die herzensgute Base glaubte an ihn; zwei menschliche, weibliche Wesen waren von seiner Unschuld überzeugt.

Er hatte sich gelobt, diejenige, die an ihn glaube, über alles zu lieben – wollte er sein Wort halten, so mußte er beide, sowohl Silly als auch Klarissa, lieben. Mithin wollte er beide von Herzen lieb haben.

Der schändliche Kirchenräuber wurde von dem Arme der irdischen Gerechtigkeit nicht ergriffen; die große Sensation Norderhafens wurde von neuem Klatsche verdrängt.

Ein giftiger Verdacht schlägt dem, der sich nicht reinigen kann, eine giftige Wunde, die lange brennt und schlecht vernarbt. Amatus Junker hegte fortan den tiefen, stillen Groll der Armen und Enterbten; und so oft er eine Ungerechtigkeit der Welt, ein Unrecht der Reichen und Großen sah, brannte die alte Wunde in ihm.]

Sie strich Amatus über die leicht gerunzelte Stirn. »Das verdrossene Wesen steht dir nicht gut … du bist am hübschesten, wenn du heiter blickst.«

Seine Antwort war die mürrische Frage: Warum und wozu sollte ich mich freuen? Was hab' ich vom Leben? Nichts als Arbeit, mit ein wenig [später anders: nicht wenig] Ärger gesalzen.«

Fortan wurden die Zügel [später ergänzt: der Mutter] etwas lockerer gehalten. Ja, er arbeitete viel und saß aus eignem Anrieb fleißig bei den Büchern, um sich für die Abiturientenprüfung vorzubereiten.

Tätige Willensenergie und passiver Weltschmerz vertragen sich wie Feuer und Wasser. Er verabschiedete Heinrich Heine, wuchs über Byron hinaus und warf alle weichliche Sentimentalität aus seiner Seele.

Es geschah ein paar Mal, daß die Mutter die Nasenflügel weit öffnete und den Sohn ansah. »Hast du dich parfümiert?«

Er kaute: »Ja– a, ich habe ein paar duftende Bonbons gegessen … darf ich das nicht?«

Gewiß, Süßigkeiten durfte er essen, so viel er wollte. »Aber woher hast du die Bonbons?«

» Asmus [später anders: Schmieder] hat sie mir gegeben.«

Das war eine Wahrheit, aber nicht die ganze. Als der Vetter [später anders: Schmieder, dem er den deutschen Aufsatz gemacht] ihn zu einem Glase Bier einlud, hatte er den Kopf geschüttelt: »Der Geruch wird zum Verräter.«

Worauf der Verführer ein schlaues Gesicht machte und eine Kapsel aus der Westentasche zog. »Ah, deine Mutter beriecht dich … diese Pillen nehmen den fatalen Biergeruch.«

So geschah es, daß der Primaner Junker sich zuweilen parfümierte. Nach Adams erstem Sündenfall kamen kleine, heimliche Sündenfälle vor. –

Zweimal täglich, wenn er heimkehrte, küßte Monika ihren Mann. Im Anfang mißverstand Hans die Liebkosung und lachte: »Ja, liebe Mutter, kontrolliere du mich nur!«

Aber eines Tages fiel sie ihm ohne Arg und [später entfallen: Absicht,] in großer Innigkeit um den Hals. »Mein lieber Hans, heute sind es drei Monate, daß du nichts getrunken … in den 28 Jahren unsrer Ehe hast du dich nie so lange gehalten … nun glaube ich an dich!«

Stolz und pfiffig wurde seine Miene. »Habe ich dir nicht gesagt, daß etwas in mir fest geworden ist?« Leise setzte er hinzu: »Mutter, ich schämte mich und konnte doch nicht unserm Sohne ein solches Exempel geben.«

Was die Liebe zu seinem Weibe in vielen Anläufe der 28 Ehejahre nicht vermocht, hatte die Liebe zu seinem Sohne ausgerichtet. –

In diesem Frühling, als der Märzschnee schmolz, gingen fünf [später anders: vier] Primaner in das Abiturientenexamen hinein, aber nur die viere [später anders: dreie] kamen aus der schriftlichen Prüfung heraus. Einen verschlang die Scylla des griechischen Extemporale [später anders: deutschen Aufsatzes]. Asmus Berg [später anders: Schmieder] wurde in das Zimmer des Direktors gerufen, wo ihm in schonender Weise der freiwillige Rücktritt nahe gelegt wurde.

[Später entfallen: Als der Gerichtsdiener dieses vernahm, schien er nicht sehr betrübt, sondern sagte: »Wo der Kopf nicht langt, kann auch der Hardesvogt nicht helfen … hast du nicht Bange, mein Sohn?«

Amatus lachte zuversichtlich und bestand die Prüfung.]

[Später ergänzt: Am Tage vor der mündlichen Prüfung ging Viggo des Weges mit seinem Kommilitonen Junker, den er ohne Mühe beredete, ein Glas Bier mit ihm zu trinken.

Junker merkte nicht die mephistophelische Absicht des falschen Freundes, war schon bei dem dritten Schoppen und im besten Zuge, als er zufällig durchs Fenster schaute. Draußen vor dem Fenster stand Silly, die gute Base, die ihn in der Schenke hatte sitzen sehen. Beharrlich ging sie vor dem Hause auf und ab, mit vorwurfsvollen Blicken ihn herausrufend, aber vergebens! Das gute Bier war mächtiger als die gute Base.

Da verleugnete die Scheue ihre Natur, die Sanfte wurde resolut, beherzt und tapfer, und die nie in einer Kneipe gewesen war, ging mit hastigen Schritten, heißen Wangen und hochklopfendem Herzen in das Wirtshaus hinein und direkt auf den bestürzten Vetter zu, den sie am Ärmel faßte: »Amatus, denke doch an deine Mutter und an das mündliche Examen morgen!«

Evers sprang auf und machte ein tiefes Kompliment. Silly nahm davon keine Notiz, sondern entführte ihre Beute.

Amatus ging beschämt und wie begossen nach Hause, dankte es aber später seiner Kousine, die als guter Engel ihn behütet hatte.

Zur Prüfung erschien er mit einem klaren Kopfe. Viggo, Wilhelm Reder und Junker bestanden die Abgangsprüfung.]

Da war in der niedrig engen Dachwohnung kaum Raum für die grenzenlose Freude, die Einzug hielt. Hans knipste mit den Fingern und machte einen Hopser mit den geschmeidigen Beinen. Friedlinchens blinde Augen vergossen süße Zähren. Monika aber sagte: »Mein Amatus, wir müssen danken und sehr demütig sein.«

Von allen Tugenden gerät die Demut einem bestandenen Abiturienten am schlechtesten.

Jene Jünglinge, welche die rote Mütze verächtlich in den Schrankwinkel schleudern und das kecke Interims-Hütchen aufs Ohr schieben, sind die selbstbewußtesten von allen Menschen, die sich auf der weiten Gotteserde spreizen. Welch ein Sprung aus dem Schulzwang in die Freiheit! Das ist ein plötzlicher Riesenschritt und -erfolg, der auch dem Bescheidenen in die Krone steigen muß.

Amatus war nicht anders [später ergänzt: , als sie alle sind] und versuchte, wenn auch vergeblich, aus der Oberlippe den ersten Schnurrbartflaum herauszuzerren. Ein Taumel packte ihn in diesem Stadium der größten Menschenmauserung, wo er von dem Esel aufs Pferd kam und darum von den Studenten Norderhafens ein mulus, ein Maulesel, das Mittelstück zwischen beiden genannt wurde.

Aber auch die Dankbarkeit kam zu ihrem Rechte. Alle Sonntage ging er mit der Mutter in die Kirche. Der Propst von Norderhafen hatte ein großes Stipendium von 240 Mark jährlich zu vergeben – doch wird diese Tatsache [später ergänzt: hoffentlich] ohne Einfluß auf den Kirchenbesuch gewesen sein.

Monika sagte auf dem Heimwege: »Du wirst ja Theologie studieren, und, so Gott will, nach ein paar Jahren auf der Kanzel stehen.«

Alle Menschen, beide Eltern, beide Schwestern und der Schwager und alle Nachbarn des Pappeltals hatten sich wider ihn verschworen und hielten es für etwas Selbstverständliches, daß er zum Theologen prädestiniert sei. Er wehrte sich und wollte durchaus nicht Pastor werden.

In dem schwarzen Anzug, dem ersten völlig modischen, den sein langer Leib getragen hatte, machte Junker dem Propsten seine Aufwartung, um das große Stipendium zu erbitten. Der Herr war freundlich und fragte: »Ja, was wollen Sie studieren?«

Entschlossen und entschieden kam die Antwort: »Deutsch und Geschichte!« Die zwei Wissenschaften waren seine Lieblinge.

»Haha, mein Lieber!« Er wurde von dem Propsten ausgelacht. »Das ist eine unmögliche Fakultät … nach den Bestimmungen der Stiftung sollen Theologen bevorzugt werden … Sie müssen natürlich Theologie studieren.«

Da war wiederum das Natürliche, das ihm so wider die Natur ging. Seine geärgerte Seele sprach das Stoßgebet der Schüler: Samuel hilf! Und Samuel half.

»Herr Propst, ich will Theologie und Philologie studieren.«

»Das möchte gehen … reichen Sie Ihr Gesuch ein!«

Amatus saß zu Hause vor einem weißen Bogen, aber das mit Klecksen und Strichen bemalte Papier blieb unbeschrieben. Zuletzt schleuderte er die Feder fort. »Mutter, ich weiß keine Anrede, keine Formel und Phrase und bring' es nicht fertig.«

Der Abiturient, der im Deutschen »gut« hatte und über den Charakter der keuschen Emilia Galotti und der blutfingrigen Lady Macbeth die feinsten psychologischen Studien schrieb, vermochte tatsächlich nicht eine einfaches Bewerbungsgesuch aufzusetzen. Wie unendlich viele, im Leben durchaus notwendige Dinge gibt es, die auf Gymnasien nicht gelehrt werden!

»Geh zum Onkel und bitte ihn, es dir zu zeigen!« sagte die Mutter.

Zum erstenmal nach bestandenem Examen betrat er die Hardesvogtei.

Er ging ins Bureau. Der Hardesvogt legte mit einem kleinen, malitiösen [später: maliziösen] Lächeln Papier und Feder hin und sagte: »Da? Da meinst du wohl, daß ich dir das Gesuch machen soll? Nein, mein Sohn, nun setz dich hin und zeige, was du gelernt hat … dann will ich es durchsehen.«

Amatus kaute lange ärgerlich an der Feder, und seine Gedanken kreisten und konnten nichts Gescheites gebären. Zuletzt wurde er ingrimmig und schrieb nieder, was ihm in die Quere kam. Es war allerdings eine Mißgeburt von Bewerbungsgesuch, die er dem Onkel kleinmütig reichte.

Der las laut und lachte höhnisch: »Haha! ›Weil ich nach reiflicher Überlegung mich entschlossen habe, Theologie und Philologie zu studieren, bewerbe ich mich hiermit um das Handelmannsche Stipendium und bitte, da ich sehr bedürftig bin, mir dasselbe zu geben. Hochachtungsvoll –.‹ Haha! An deiner Hochachtung werden die Herren ihre helle Freude haben, auch an der Bündigkeit deines lapidarischen Stils sich erbauen. Hat deine Mutter vielleicht die deutschen Aufsätze für dich gemacht? Mein lieber Abiturient, laß dir dein Schulgeld wiedergeben!«

»Das kann ich leider nicht, da ich eine Freistelle gehabt habe.« Amatus war zu grimmigen Witzen aufgelegt.

Nachdem der Onkel das Mütchen des Unmuts gekühlt hatte, sagte er: »Setz dich! Ich werde diktieren und die schwersten Worte buchstabieren.«

In den devotesten Ausdrücken sich bewegend, sprach er die Sätze vor bis zum Submissionsstrich, der ihm nicht lang genug wurde.

Der angehende Student dankte trocken und begab sich nicht in bester Stimmung in das Wohnzimmer.

Dort saß Klarissa Reder im Sofa, groß und vollgereift in dem vom Besatze aufgebauschten Kleide. Ihre braunen Haare glänzten, und – wohl infolge der guten Landluft und der grünen Weide – rosenrot blühte ihr Antlitz; nur die Krümmung der Nase schien das Schönheitsideal zu stören.

Obschon Amatus das Interimshütchen verlegen drehte, bewahrte er eine künstlich kalte Miene und wandte sich Silly zu. »Ja, jetzt reise ich bald.«

»Du wirst doch in der Universitätsstadt die Verwandten besuchen? Soll mein Vater dir ein Empfehlungsschreiben mitgeben?«

Er wurde in seiner Befangenheit burschikos. »Ich wage auch ohne das, auf mein ehrliches Gesicht hin, mich vorzustellen. Meine Maxime ist: Mehr als herausgeschmissen kann der Mensch nicht werden.«

»Ein guter [Zus. d. Hg.: im Interesse der Werktreue im Original wieder gegeben:] jüdischer Grundsatz«, sagte Klarissa mit glasklarer Stimme.

[Später entfallen: Der Vetter Asmus kam, die Brauen ein wenig runzelnd und sogleich fragend:] [Stattdessen anders: Dann fragte sie:] »Was willst du studieren?«

Leise, als wenn er sich schäme, antwortete Amatus: »Philologie und Theologie.« [und direkt im Anschluß an die entfallende Passage]

[Später entfallen: Worauf Asmus unverschämt rief: »Gott, du Gerechter! Theologie willst du treiben, das ist definiert, einen täglichen Selbstmord der Vernunft begehen.«

Junker versuchte schlau zu lächeln. »Siehst du] … eigentlich studiere ich Philologie … und zum Scheine Theologie, um das Stipendium zu erhalten.«

»Ist das ehrlich und wahrhaftig?« Die glasklare Stimme hatte gesprochen.

Die Erwachsene wollte ihn schulmeistern, und er erwiderte scharf: »Fräulein Reder, haben Sie nie einer konventionellen Unwahrheit bedurft … nie in irgend einem beliebigen Menschen falsche Vorstellungen erweckt?«

Sie richtete auf ihn einen Blick, groß und unentratbar.

Weil ihm ungemütlich wurde, empfahl er sich mit einer linkischen Verbeugung.

Die zwei Freundinnen hatten die Einsamkeit des Gartens aufgesucht und schmiegten sich aneinander.

»Rissa, wie gefällt er dir?«

»Hm, äußerlich hat er sich nett herausgewachsen … aber er soll ja ein fürchterlicher Leichtfuß geworden sein.«

Die Kousine nahm den Vetter in Schutz. »Sie kneipen alle gern, und er ist nicht der schlimmste.«

Das Gespräch wurde zum Getuschel. »Rissa … glaubst du … daß er … eine von uns beiden liebt?«

Leise, aber glashart klang die Stimme: »Es macht allerdings nicht den Eindruck … in seinem studentischen Übermut sieht er über seine Jugendgespielinnen hinweg.«

»Ach, Rissa, sag mir die Wahrheit … liebst du ihn noch?«

Fräulein Reder kehrte die Frage um. »I–ich? Ich? Liebst du ihn noch, Silly?«

Auch diese gab keine Antwort, sondern fragte weiter: »Weißt du, da wir als kleine Mädchen in der Kastanienallee uns das heilige Versprechen gaben, ihn zu lieben, aber nie zu heiraten?«

»Ach, das waren wohl Kindertorheiten …«

»Kindertorheiten nennst du das? Rissa, ich wenigstens werde mein Wort halten.«

Die Größere umschlang die Kleine. »Ich auch, so lange ich lebe … wie kannst du anders von mir denken, Silly?«

Sie küßten sich und erneuerten mit Händedruck das Kindheitsgelübde der jungfräulichen Liebe, die ehelos bleiben und zur alten Jungfer werden wollte.

Plötzlich brach die kleine Silly das Schweigen. »Stell dich mal hinter mich und betrachte meinen Rücken!«

Jene gehorchte und sah traurig, was sie nicht sehen wollte, daß nämlich die rechte Schulter sich verwuchs.

Die Freundin [Später und ohne Absatz: Sie] [später entfallen: aber] versuchte zu lachen. »Soll das heißen: Du kannst mir von hinten begegnen?«

»Um Gottes willen, sag es mir! Wird mein Rücken krumm?«

»Nei–ein!« Klarissa, die nicht log, mußte die Unwahrheit sagen; aber sie milderte die Notlüge: »Du mußt dich hübsch grade [später: gerade] halten … so! Brust heraus, Schultern zurück!«

Von da an machte Silly oft gymnastische Übungen im Garten. – – –

Amatus Junker hatte das Handelmannsche Stipendium erhalten und mithin einen Wechsel von 240 Mark jährlich, auf den hin er studieren wollte.

Monikas große Lebenshoffnung machte in diesem Frühling den Blütenansatz der Erfüllung. Ihr war der Predigerberuf der ruhigste, schönste und herrlichste von allen. Auch meinte sie, daß ihr lieber Sohn vor allen Versuchungen der Studentenzeit am besten in der Gottesgelehrsamkeit geborgen sei.


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