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Sechster Abschnitt: Ein tüchtiger Taugenichts.

Die Nachbarinnen im Pappeltal hielten sich oft darüber auf, daß »die Gerichtsdienersche« hoch hinaus wolle und jetzt sogar Latein lerne. Frau Junker nämlich überhörte, im Sommer bei offnem Fenster, ihrem Sohn die Vokabeln und wußte die gelernten aus dem Kopfe. Freilich, die Verknüpfung der Worte zu Sätzen blieb ihr ein verschlossenes Gebiet, in dem [später ergänzt: aber] Amatus flink und bewandert war.

Immer höher stieg die Sonne ihres Glücks in diesen Tagen. Wenn niemand im Zimmer war, öffnete sie zuweilen das kleinste, aber wichtigste Schubfach der Schatulle, in dem der geringe Geldvorrat, die bedeutsamen Papiere und die Bestallung ihres Mannes verwahrt wurden, und zog ein Schriftstück hervor, das sie mit sinnigen Mutteraugen betrachtete.

Es war von ihrem Sohn verfaßt – und das erste lateinische Extemporale, das er geschrieben. Unter der schwarzen Schrift stand mit roter Tinte: »Sehr gut! Bisher Nummer 24 ist Nummer 2 in der Klasse geworden.«

Der Sextaner Junker machte den Lehrern keine Mühe und bereitete dem alten Pastor Jensen keine Enttäuschung.

Am Sonnabendvormittage vor Palmarum wanderte der Gerichtsdiener, der in der Gegend zu tun gehabt hatte, vor der Lateinschule auf und ab, bis in dem völlig stillen Hause ein fürchterliches Treppengepolter und Gestampf entstand und der Schülerschwarm viel- und buntköpfig aus dem Portale sich ergoß.

»Amatus, Amatus!« winkte der Vater, »wie ist es dir ergangen?«

»Sehr gut!«

Im Haufen der Quintaner näherte sich der Vetter Berg [später anders: Fritz Hahn] mit einem dick mürrischen Gesicht.

» Asmus [später anders: Fritz], bist du nach Quarta versetzt worden?«

»Nein«, brummte dieser, »ich wußte es vorher … Doktor Hiebe hat es nicht gut auf mich … ich könnte den Kerl umbringen.«

Doktor Hiebe war der Spitzname von Doktor Liebe, der bei trägen Schülern fleißig den Rohrstock gebrauchte.

[Später entfallen: »Vater«, sagte Amatus triumphierend, »nun bin ich ebenso weit wie Asmus.«

»Sssst! Jung, nichts merken lassen, wenn wir uns auch darüber ›höchen‹ … Der große Onkel, der nichts für dich tun wollte, hat's verdient … aber wir sind kleine und abhängige Leute.«]

Der Sohn reckte sich [später ergänzt: heute] in den immer schief getretenen Schuhen, und der Vater kaufte ihm im Kürschnerladen die neue Quintanermütze.

Der übliche Besuchssonntag beim Onkel fiel auf Palmarum. Großmutter Lina machte zwar einen kurzen, spitzen Aufblick nach der blitzblauen, silberbordierten Mütze, aber sagte nichts.

Und der Hardesvogt sprach laut und lobend: »Du bist ein Musterschüler [später entfallen: , und der Schlingel Asmus soll sich an dir ein Beispiel nehmen] … es versteht sich von selbst, Monika, daß ich bei jeder Neuversetzung die Bücher [später ergänzt: für ihn] bezahle … ihr könnt sie beim Buchhändler auf meinen Namen anschreiben lassen.«

Amatus hörte noch in der Tür, daß der Onkel sagte: »Der Junge scheint ein phänomenales Gedächtnis zu haben.«

Was war phänomenal?

Im Garten befand sich bereits [später ergänzt: junger] Besuch. Die erwachsene Klarissa, die aus dem kurzen Kleide bedenklich herauswuchs, und ihr Bruder Wilhelm, ein schmächtiger Knabe mit großen Traumaugen in dem etwas gelblichen Gesicht, der durch die Erziehung der Stiefmutter an wortlosen Gehorsam gewöhnt, wenig gesprächig und eingeschüchtert war, hatten Erlaubnis bekommen, zu Hardesvogts zu gehen.

[Später entfallen: Asmus begrüßte freundlich den Vetter und Quintanerkollegen. »Wir haben schon auf dich gewartet … uns fehlt beim Spiel der fünfte Mann.«]

Hinter den knospenden Büschen des Gartens wurde [später ergänzt: zu vieren] Versteckens gespielt.

»Komm, Klarissa, ich weiß einen Ort, wo keiner uns findet«, winkte Amatus. Durch die Tannenhecke kroch er voran auf allen Vieren, und sie folgte flink und unzimperlich in gleicher Weise. Drinnen zwischen den dichten, grünen Wänden wat ein freier Raum, ein winziges, oben und überall geschlossenes Stübchen, in dem sie sich zusammenhockten und um die hochgezogenen Beine die Arme schlangen. Der Schonung halber wurde die neue Quintanermütze abgenommen und aufs Knie gelegt.

»Weißt du noch, Klarissa, als du in der Hucke hinter dem Schilf saßest?«

»O, laß uns davon schweigen … das war schrecklich.«

»Hat deine Mutter etwas gemerkt und dich …?« Aus Taktgefühl blieb der Satz unvollendet.

»Nein, unser Mädchen Karoline hat alles nachgewaschen und heimlich geplättet … die ist gut und hat oft gesagt, daß sie den Dienst längst verlassen hätte, wenn sie uns nicht so lieb hätte.«

»Hat die Magd euch lieber als eure Mutter?«

»Die … die ist gar nicht unsre Mutter … unsre rechte Mutter ist im Himmel.«

Das Geplauder verstummte, bis der Schritt des Suchenden vorübergegangen.

Klarissa sah ihn an. »Setz mal die Mütze auf!«

Er kehrte sich ihr zu, beugte das Knie, um den Kopf aufrecht tragen zu können, und stülpte die Mütze männlich aufs Ohr. »Magst du sie leiden?« fragte er.

»Ja, die blaue steht dir gut.«

»Magst du … mich auch leiden?« Der kecke Knabe wurde nach der Frage feuerrot.

Die Erwachsene aber errötete nicht, sondern sagte ruhig: »Ja, ich mag dich leiden, Amatus, wenn du immer gegen meinen Bruder nett bist.«

Worauf er nach kurzer Überlegung erwiderte: »Weißt du … ich glaube, daß Wilhelm mein bester Freund ist.«

Bisher war der schüchterne Wilhelm das kaum gewesen.

Klarissa blickte sich in dem lauschigen Verstecke um. »Das [später ergänzt: hier] könnte eine schöne Puppenlaube sein.«

»Ja«, sagte er, »wenn du deine Puppe hier [später: da] hättest, könnten wir [später ergänzt: ja] Mann und Frau spielen.«

Sie [später: Die Erwachsene] machte ein wenig von oben herab. » Es [später: Das] würde sich nicht schicken … ich bin ja viel größer und älter als du.«

Da wurden sie in ihrem Versteck von Silly gefunden, welche [später ergänzt: recht] gedehnt fragte: »Hier sitzt ihr … alle beide?«

Später holten die Mädchen Sillys Puppen und spielten in der neu entdeckten Puppenlaube. Die Knaben aber erforschten die Geheimnisse der alten Scheune, auf dem verstaubten Boden beginnend und unten im Hühnerstalle endend. Im Strohkorbe lagen drei frisch gelegte Eier, von denen Asmus [später anders: Wilhelm] das größte aussuchte und in der Hand hielt.

» Versteht ihr [später anders: »Verstehst du] ein Ei auszustechen, ohne einen Tropfen zu verschütten?«

Nein, keiner verstand [später anders: Amatus verstand nicht] die edle und unerlaubte Kunst.

[Später entfallen: »Paßt auf! So wird's gemacht.« Er zog eine spitze Stopfnadel, die wie ein Dolchlein unter seinem Wamse stak, hervor, bohrte ein kleines Loch in die Schale und legte die Lippen daran, saugend und schlürfend.

»Wer will nun? Hier ist die Nadel!«

»Wilhelm der Schüchterne wagte es nicht.

»Man zu! Es schmeckt schön!«, ermunterte der Versucher und schmatzte.

Amatus griff nach der Nadel, und das Kunststück gelang. Verbotene Früchte hängen meistens nicht hoch.

»Wie schmeckt's?«

»Wappelig«, sprach Amatus und spuckte aus.]

[Später stattdessen: Wilhelm der Schüchterne wagt nicht, seine Kunst zu zeigen, und legte das Ei zurück. – –]

Auf dem Nachhauseweg hängte er sich an die Hand der Mutter. »Was ist phänomenal?« Das Wort hatte er behalten.

»Das ist etwas großartiges …«

»O, Mutti, dann habe ich ein großartiges Gedächtnis.«

»Ach, das [später ergänzt: Wort] hast du aufgeschnappt … aber ein bloßes Gedächtnis ist noch nicht viel, mein Sohn … und das wollte der Onkel sagen. Aber [später: Doch] ich hoffe, du hast mehr.« –

[Später entfallen: Nach vielen Tagen wurde der Eierdieb im Hühnerstalle ertappt und von der Magd vor das Höchstengericht des Hardesvogts geschleppt. Der Vater, an seinem juristischen Ehrgefühl getroffen, riß den Sünder kräftig an den Haaren, und der riß den Mund heulend auf. »Ich will es nie mehr tun … nie mehr … Amatus hat es auch getan.«

»Hat der es dir vorgemacht?«

»Ja, er zeigte es mir.«

Die Züchtigung ließ nach. Berg sah die Großmutter an und lächelte grimmig. »Die Pflanze kann zu einem netten Unkraut sich entwickeln … aber meinetwegen.« Er meinte nicht seinen Sohn. – – –]

Doktor Liebe, der Ordinarius der Quinta, war ein sehr kleiner Herr mit einem roten, gesunden Gesicht, das immer zu lächeln schien. Aber, der einen so wohlwollenden und gutmütigen Eindruck machte, trug den Namen Doktor Hiebe nicht mit Unrecht; denn das erste, das er aufs Pult legte und als letztes verschloß, war der Rohrstock.

Mit dem Abfragen der Lektion begann die lateinische Stunde, und der Stock lag still. Wer ein unregelmäßiges Verbum nicht wußte, blieb stehen; wer zwei oder drei nicht konnte, erhob die rechte resp. Beide Hände. Wer es im Nichtwissen auf vier oder fünf oder sechs brachte, mußte aus der Bank und in die betreffende Zimmerecke sich stellen.

Bunt sah es nach beendigtem Abfragen in der Quinta aus. In den Winkeln, in den Bänken standen sie, einige mit einer, andre mit zweien, wie flehend gen Himmel erhobenen Händen.

Aber da gab's keine Gnade, und ein jeder erhielt nach der Zahl der nicht gewußten Verba mit dem Rohrstock seine Fingerschläge. Und die Quintaner behaupteten, daß Liebe bei der Exekution am breitesten und teuflischsten lächle. Wenn das Jammergeheul verstummt war, wurde in dem unsterblichen Ostermann übersetzt.

Gegen die [später ergänzt: im zweiten Jahre] Sitzengebliebenen, die bemoosten Häupter, wie er sie nannte, ging der Lehrer am schärfsten vor. An einem heißen Sommertage hatte Asmus Berg [später anders: Fritz Hahn] es bis auf sieben Fingerschläge gebracht und kam – obgleich er drei Stunden lang stillgeschwiegen hatte – heulend nach Hause und hielt der Großmutter [später anders: dem Vater] die geschwollenen Finger hin. Das war dem Hardesvogt [später anders: Senator] zu viel, und er besuchte den Direktor des Gymnasiums, um in der allervorsichtigsten Weise Klage zu führen.

Die Quintaner meinten ein gelinderes Regiment zu verspüren. Aber nach den Ferien setzte Doktor Hiebe trotz der Beschwerde seine pädagogische Methode fort.

Amatus gehörte zu den wenigen Glücklichen, die noch keinen Schlag erhalten hatten, und die Mitschüler schalten ihn den Liebling des Lehrers. [– –]

[Später entfallen: Das störte nicht das Verhältnis der beiden Vettern, obschon der eine haßte, wo der andre verehrte. Sie blieben gute Freunde, weil jeder seinen Vorteil dabei hatte. Asmus ließ die Mängel seines Wissens, die bei den schriftlichen Arbeiten besonders hervortraten, durch den andern ergänzen, und Amatus fand im Garten des Onkels stets einen lustigen Spielplatz und frohe Kameraden. – –]

Täglich tat der Gerichtsdiener Junker seine Pflicht als beeidigter Beamter, kam durch alle Gassen und kannte alle Menschen in Norderhafen, hoch und niedrig, deutsch und dänisch, fein und unfein. Der immer gut gelaunte und gentile Mann hatte viele Freunde, die ihn auf der Straße, an den Wirtshaustüren zu einem Freiglase einluden, wie es bei kleinen Beamten Sitte oder Unsitte ist.

Wenn Hans abends in die Stube trat, nahm Monika mit der scharfen Nase die Witterung und warf beiläufig die Bemerkung hin: »Du hast nicht Kaffeepünsche, aber Bier getrunken … ja, ich rieche gut.«

Er machte eine Lache davon. »Hast du nicht Durst bei dieser Hitze? Und es kostet mich [später ergänzt: ja] keinen Pfennig.«

Monika wollte sich nicht um Kleinigkeiten grämen, sondern Gott danken, jetzt, wo jeder Morgen, wenn Amatus gleich nach dem Buche griff, um das Erlernte durchzulesen, jetzt, wo jeder Abend, wenn sie mit ihm lernte, immer neue Freuden brachte. Sie wandelte im Mittsommerlicht des Mutterglücks unter einem stetig blauen Hoffnungshimmel. Wer merkt an einem solchen Tag die Wölkchen, die auf einen Augenblick die Sonne verhüllen und vorüberfliegen?

Auch gelang es ihr nach vielfachen, vergeblichen Bemühungen, ihrer ältesten Tochter, die als »Stütze« knapp und kümmerlich sich durchgeschlagen hatte, eine einträgliche Stellung auf einem Hofe in der Nähe Norderhafens zu verschaffen.

Wenn Erna zum Besuch nach Hause kam, hatte Amatus seine helle Freude an der großen Schwester. Aber das Glück war am hellsten, wenn er je und dann, von Nalde, dem Hund, begleitet, hinüberspazieren und die Mamsell auf dem Hofe besuchen durfte.

Ach, unvermutet und wenn's am allerhellsten, kommt oft das Unglück. Über Amatus' Glückssonne zog eine schwarze, tränenschwangere Wolke. Nalde hatte sich in seinen gesetzten Jahren nicht zum guten entwickelt, sondern war ein arger Kläffer geworfen, der durch Peitschenknall und harmlos geschwungene Stöcke schwer gereizt wurde.

Kaum hatte Amatus [später ergänzt: an jenem bösen Freitage] seinen Spaziergang angetreten und noch nicht das Pappeltal verlassen, als ein Herr des Weges kam, der mit dem Stocke tapfer die Schierlingsköpfe abschlug und sich nichts Böses dabei dachte. Aber Nalde nahm's übel und umsprang bissig bellend den friedlichen Wanderer, der naturgemäß in Vereidigungsstellung sich setzte und mit dem Stocke um sich fuchtelte. Um so rasender wurde der Hund, welcher des Knaben Ruf nicht hörte, sondern zähnefletschend zusprang und dem Herrn die Hose zerriß.

Da wurde der friedliche Spaziergänger furios, ging in Junkers Wohnung, wurde grob und schimpfte noch auf der Treppe, obgleich er zehn bare Reichsmark durch Drohungen erpreßt hatte.

Nalde, von der Mutter geprügelt, heulte, Amatus stand im Winkel und weinte, der Vater war in einen Stuhl gesunken und seufzte ersterbend: »Zehn Mark, zehn Mark!«

Plötzlich schnellte er wie ein Gummimännchen empor und schrie dröhnend: »Nun ist es aus! Mein lieber, lieber Hund, für dich will ich sorgen.«

Er sagte nicht, worin die Umsorge [später ergänzt: für den lieben Hund] bestehen solle, sondern holte einen dicken Strick, mit dem er das Tier an der Schatulle festband. »Weine nicht, mein Jung, sondern geh hinaus und besuche Erna! Der soll zur Strafe hier bleiben … ja, zerr nur, du Racker, du sollst am Stricke bleiben.«

Amatus machte sich traurig von dannen und kehrte abends zurück. Seine Augen gingen unter Tisch und Stühle, und seine erste Frage war: »Wo ist Nalde?«

Die Mutter machte sich schnell in der Küche zu schaffen, aber der Vater knipste mit den Fingern: »Ja, der hat's gut, ein Bauer hat ihn gekauft …«

Amatus schluchzte: »Welcher … welcher Bauer?«

Ja, das war der große Unbekannte, der vorbeigekommen sei, aber auf dem Lande hätten die Hunde es gut und bekämen Grütze und Milch alle Tage.

»Und wir kriegen Nalde nicht wieder?«

»Nein.«

Der Knabe war unglücklich wie noch nie.

Nalde war bei keinem Bauer, sondern hatte ein böses Ende genommen. Er lag noch immer am Stricke – an dessen Ende ein Stein befestigt war – unten in der Föhrde.

Am Sonntagmorgen hockte Amatus trübselig hinter der geleerten Tasse.

»Willst du noch ein Brötchen?«

Er schüttelte den Kopf und schien keine Wünsche und keine Hoffnung mehr zu haben. Der Gerichtsdiener machte sich amtsfertig, strich mit der Bürste über die Uniform und nahm den Stock aus der Ecke.

»Warum hast du am Sonntagvormittag Dienst, während alle andern frei sind?« fragte seine neugierige Frau.

»Ich muß zwei Herren dienen … wenn der Amtsrichter nichts für mich zu tun auftreibt, hat die Amtsrichterin ein paar Besorgungen.«

Monika war etwas mißtrauisch und meinte: »Der [später ergänzt: arme] Jung sitzt hier und wird wegen des Hundes ganz schwermütig … nimm ihn mit!«

Hans krümmte sich. »Liebe, liebe Mutter …«

»Wenn du erst liebe Mutter sagst …«

Hans richtete sich auf. »Marsch, mach' dich fertig und komm mit!«

Sie wanderten zusammen. Im Bureau lagen allerdings ein paar Briefe, die bald ausgetragen waren. Als die Glocken läuteten, war der Sonntagsdienst beendet.

»Vater, wollen wir jetzt zur Kirche gehen?«

»Nein, Mutter wartet auf uns.«

Hans machte sich mit seinem Sohne auf den Heimweg, allerdings auf einem Umwege über den Lindensteig, an den die langen Gärten der Schloßstraße stießen. Und er verlangsamte den Schritt und reckte den Hals über die Hecke.

Aus dem Garten, der merkwürdig viele Bänke und Tische hatte, brüllte eine rauhe Stimme: »Junker, Junker!«

Der Vater rief ganz erstaunt: »Was ist da los?« Und auch Amatus folgte in großer Spannung.

Nichts weiter war los, als daß ein Mann, der in dem einsam leeren Garten sich gruselte oder ödete, Junker zum Frei- und Frühschoppen einlud.

Stets geht ein Glas mit dem nächsten schwanger, auch war der Würfelbecher bei der Hand.

Im Turme schlug die Betglocke – die Würfel rasselten.

Die Kirchgänger strebten auf dem Lindensteige nach Hause – frisch füllte der Wirt die Seidel, die Junker verspielt hatte.

Amatus zupfte am Rockärmel. »Die Mutter wartet auf uns.«

»Ja, noch einen Gnadenwurf!«

Junker, dem der Spaß eine Mark kostete, nahm den Knaben bei der Hand und eilte aus der Gartentür. Fröhlich kommandierte er: »Marsch–marsch!«

Dann wies er mit dem Daumen zurück und neigte sich vertraulich. »Daß wir da drinnen gewesen sind, brauchst du der Mutter nicht zu erzählen … ja, du bist ein Kluger und kennst dich aus.«

Der kluge Amatus gab keine Antwort. In Eilmärschen gelangten sie nach Hause und verzehrten das Mittagessen. Die Mutter erkundigte sich, ob der Sonntagsdienst so lange gedauert habe, und der Vater kaute eifrig und knurrte, ob er sich am Essen verschlucken solle.

Während er seinen Mittagsschlaf hielt, stellte sie [später: Monika] mehr als eine Frage, und der Knabe, der das phänomenale Gedächtnis hatte, berichtete alle Vorgänge des Vormittags haarklein. »Ja, wenn sie drei Einse warfen, drehten sie sie um, und das nannten sie höchste Hausnummer mit allen Chikanen ... und Vater fiel zuletzt [später ergänzt: bei dem Gnadenwurfe] herein und mußte eine Mark berappen.«

»Genug … geh jetzt spielen im Garten!«

Ihren Mann, der gähnend aus der Schafstube trat, sah sie fest an. »Hans, ich habe mit dir zu reden.«

»Liebe Mutter, ich habe gar nichts zu sagen … ich setze mich still auf diesen Stuhl und schweige.« Ducksig saß er in der Ecke, die Hände zwischen den Knieen gefaltet und den Kopf gesenkt, damit das Unwetter darüber gehe.

»Das arme, unschuldige Kind nimmst du ins Wirtshause mit, damit es frühzeitig Geschmack an der Sünde bekommt.«

»Hast du ihn mir nicht aufgehalst?« fragte er demütig.

Sie wurde schärfer. »Am Sonntagvormittag hältst du einen Trinkgottesdienst und zechst mit dem Schreiber Petersen, dem verrufenen Saufsubjekt …«

Hans riß die gefalteten Hände auseinander und hüpfte empor: »So, ein Saufsubjekt und Scheusal bin ich … adieu!«

Er rannte in den Garten hinunter und ließ seinen Unmut an dem Unkraut aus, das er mit rabiaten Griffen ausraufte.

Monika vergoß nach langer Zeit Bitternistränen. Über ihren lichten Glückshimmel zog eine schwere Wolke. Da stand wieder das Gespenst mit dem Zerrgesicht, das Amatus gebannt hatte, und das alte Elend warf seine dräuenden Schatten über ihre Sonne, die so lang und lieb geleuchtet hatte.

Am Abend im Bette sagte sie zu ihrem Manne: »Hans, du mußt mir einen Schwur leisten.«

»Jaja … wohl, daß ich nichts mehr trinke?«

»Nein, ich will dich nicht meineidig machen … daß du den Knaben nie, nie mehr mit ins Wirtshaus nimmst!«

Das gelobte er teuer und heilig.

Am Morgen küßte sie ihren Sohn sehr heiß. »Amatus, willst du nimmer in ein Wirtshaus gehen und niemals mir Sorge bereiten?«

»Nein, Mutti, nie … und ich will immer fleißig sein und regelmäßig versetzt werden.«

Das letzte Wort hat er gehalten. [Später ergänzt: Aber das erste?] – – –

Junker war nach Quarta versetzt worden.

Die Mutter las das Zeugnis und lachte hell: »Unter ›gut' tust du es in keinem Fach, außer im letzten, im Zeichnen.«

Amatus, Wilhelm Reder und Asmus Berg [später: Fritz Hahn], die drei Freunde, saßen in dieser Reihenfolge nach- und nebeneinander in der Klasse. [Später entfallen: Asmus, der ein träges Fleisch, aber eine recht tüchtige Auffassungsgabe hatte und Nachhilfestunden bei dem Primaner Ehlers bekam, hielt jetzt auf der Gelehrtenlaufbahn ziemlich Schritt mit dem Vetter.]

Eines schönen Sonntages schlenderte er [später: Fritz], beide Hände in den vollgestopften Hosentaschen, ins Pappeltal und bat: »Tante, darf Amatus mit?«

»Ja, aber nicht aufs und nicht ins Wasser.«

Sie hörten es und hatten schon die Mütze auf dem Kopfe.

[Später entfallen: »Hast du heute keine Stunde, Asmus?«

»Ja, es ist mir zu heiß zum Arbeiten … ich will mal schwänzen und sehen, ob Ehlers schweigt und die Stunde auf Rechnung schreibt.«]

Der Zollinspektor Reder wohnte in der Nähe des Hafens, und der Pastor Jensen war sein Hausnachbar. Weil keiner wagte, der langen Stine unter die stechenden Augen zu treten, wußte Amatus Rat. »Ich will ihn herunterflöten.« Im Hofe steckte er zwei Finger in den Mund und stieß einen Pfiff aus. Oben ging das Fenster der Hinterstube, die hinter der Küche lag und gleichzeitig als Kinder- und Mädchenstube diente, auf, Wilhelm steckte den Kopf hervor und nickte, schlich sich auf Zehenspitzen hinunter und schloß sich den Freunden [später: Kameraden] an.

Das Wasser der Föhrde übte seine Anziehungskraft aus.

Im Sandberge schwitzte die dicke Dorte und schaufelte Ballasterde in die Schiebkarre.

»Dorte, dürfen wir nicht Ihr Boot nehmen und ein bißchen rudern?«

»Mein Boot?« prustete das zigeunerbraune Weib, »ja, wenn ihr sechs Karren mir vollgeschaufelt habt.«

Sie nahmen die Akkordarbeit sofort in Angriff. Der dünne Peter, Dortes Mann, entkorkte die Bierflasche, spuckte erst den braunen Saft [später ergänzt: des Tabaks] durch die Zähne und trank.

»Peter, Sie können wie ein rechter Seemann spucken«, sagte Amatus in aufrichtiger Bewunderung.

»Ja, alles hat seine Wissenschaft«, sprach Peter und spie noch weiter.

Als die sechste Karre gefüllt war, gingen die Knaben zum Bollwerk und stiegen ins Boot, das vor einem guten Westwinde die Föhrde hinaus trieb.

»Wer von euch kann so wie Peter spucken?« meinte Amatus.

Sie übten sich eine Zeitlang in der edlen Seemannswissenschaft, aber das deutliche Zischen der Zähne gelang ihnen nicht.

Zuletzt merkten sie, daß sie umkehren müßten, und legten sich aus aller Kraft in die Ruder.

»Ich hab' schon eine Blase unter dem Finger.«

»Und ich hab' drei«, klagte Wilhelm.

Alle wollten steuern und keiner rudern.

Als Asmus [später: Fritz Hahn], der eine unförmliche, vom Großvater geerbte Uhr besaß, verkündete, daß es sieben Uhr sei, sprang Amatus empor. »Ich muß nach Hause … laßt uns das Boot an der Badehausbrücke festmachen … Peter kann sich seine Schute holen.«

Der schlimme Vorsatz wurde ausgeführt. Auf dem festen Lande liefen die Knaben von dannen.

Nach Feierabend fluchte Dorte auf die Bengels, und Peter holte sein Boot ans Bollwerk. Bei den Junkers war nichts zu holen, aber für reiche Eltern wollte er nicht umsonst arbeiten, zog Rock und Stiefel an und ging zum Hardesvogt [später: Zollinspektor]. Das Unglück wollte, daß der alte Pastor anwesend war, als Peter seine Beschwerde vorbrachte. Berg [später: Herr Reder] griff sofort in die Tasche und holte ein Zweimarkstück hervor, welches die Beschwerde in Danksagung verwandelte.

Asmus [später: Wilhelm] wurde geholt und schaute drein wie das redliche Gewissen. »Amatus hat das Boot geliehen und auch beim Badehause festgelegt«, sagte er fest.

»Ah, der ist der Verführer … du kannst gehen … es täte mir furchtbar leid, wenn Ihr Schützling die auf ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllen würde.«

Der Pastor lächelte [später ergänzt: milde]. »Das sind dumme Jungensstücke, aber keine schlechten Streiche … Füllen müssen sich ausspringen.«

Die Quartaner-Füllen sprangen wild und gebärdeten sich unbändig, insonderheit, wenn der Konrektor, ein greiser, gekrümmter und kurzsichtiger Herr, die deutsche Stunde gab.

Arge Dinge wurden gemacht, und den ärgsten Streich verübten die beiden Vettern [später: Fritz und Amatus] gegen ihren besten Freund, der zwischen ihnen saß und ins Buch schielte, um den Vers des »Erlkönigs«, der ihm zufallen würde, durchzulesen. Unbemerkt kramte Asmus [später: Fritz] in der Tasche und schob dem Vetter ein Tauende zu.

Amatus raspelte die Reime ab und setzte sich; und in demselben Moment wurde das Seil von hüben nach drüben straff gezogen.

»Reder!« rief der Konrektor.

Mit allen Mienen des Entsetzens rückte Wilhelm auf seinem Sitze, um sich loszureißen, aber straffer wurde das Seil geschnürt.

»Er will nicht aufstehen«, kicherten die hinteren Schüler.

»Reder!« donnerte der Lehrer, und Wilhelm warf einen Blick völliger Hilflosigkeit den treulosen Freunden zu.

»Ich will dich aufstehen machen!«

Worauf ein Gestöhn: »Ich kann nicht!«

Mit taschenspielerischer Geschwindigkeit wurde der Strick eingeholt und weitergegeben.

»Du Ausbund von Frechheit!« Bevor Wilhelm, der jetzt zitternd [später ergänzt: auf…]stand, sich verteidigen konnte, wurde er beim Kragen gepackt und für die Dauer dieser Stunde auf den Flur hinausgeworfen.

Das war ein böser Streich, der nicht ohne Folgen blieb.

Zwar schonte der Zollinspektor aus Taktgefühl die Vatergefühle des Hardesvogts [später: Zollinspektors], mit dem er gesellschaftlich verkehrte, aber seinem Nachbar, dem Pastor Jensen, erzählte er über die Gartenhecke hinüber den Vorfall und schloß sehr ernst: »Nehmen Sie Ihren Junker [später ergänzt: gehörig] ins Gebet … sonst wird ein großer Schlingel aus dem kleinen Schlingel.«

Als Amatus laut flötend in der Nußhecke des Pappeltals nach unreifen Nüssen suchte, rief eine dumpfe Stimme: »Adam [,] Amatus Junker, komm mal her!«

Pastor Jensen stand unter der Hecke und stemmte sich auf den Stock.

Der Knabe wollte zuvorkommen. »Ich habe von Nielsen Erlaubnis zu pflücken.«

»Hattest du auch Erlaubnis, Wilhelm Reder auf der Bank festzuhalten?«

Der Quartaner stotterte: »As–mus Berg [später: »Fritz Hahn] ga–b mir das En–de des Stricks …«

»Ja, lieber Adam, so haben alle Adams von jeher gesagt … weißt du nicht, daß es eine Schlechtigkeit ist, den Lehrer zu hintergehen und einen Schulfreund perfide ins Unglück zu bringen?«

»J–a!«

»Willst du vielleicht zum Taugenichts dich entwickeln?«

»Nein, nein!« Amatus schluckte.

»Tue dergleichen nie wieder, mein Sohn! Schlechte Streiche lasse ich nicht durchgehen.«

Der Pastor spazierte weiter, und nicht zu Frau Junker hinauf. Sein Zartgefühl vermochte nicht, ein Mutterherz zu verwunden.

Amatus fühlt eine beißende Reue, die noch bitterer wurde.

Klarissa Reder begegnete ihm. Er gewahrte, daß ihr Kleid bedeutend länger geworden war, und sie warf kalt den Kopf zur Seite, als wenn sie ihn [später ergänzt: gar] nicht kenne.

Schüchtern grüßte er: »Guten Tag, Klarissa!«

Ein vernichtender Blick traf ihn. »Du, du hast meinen Bruder auf der Bank festgebunden … ich hätte dich verprügelt, du Knirps!«

Er schleppte sich von dannen mit völlig gebrochenem Selbstbewußtsein.

Daß er kein Knirps und Dreikäsehoch sei, stand ja fest, und um sich davon zu überzeugen, stellte er sich zu Hause gegen den Türpfosten, wo die eingekratzte Kerbe bewies, daß er im letzten Halbjahr um zwei Zoll in die Höhe geschossen sei.

Die Mutter beobachtete ihn. »Du scheinst mir so benaut.«

Nein, ihm fehle gar nichts, und er zwang sich, laut die Wacht am Rhein zu pfeifen.

In diesen Tagen suchte Amatus die Einsamkeit und wanderte am liebsten in Schwer- und Reumütigkeit auf dem abgelegenen Königswege, der hügelig und eng durch dichte Hecken sich schlängelte. Die sonntäglich geputzten Spaziergänger suchten andre Wege. Hier war kein Mensch und die rechte Stille zum Sinnieren.

Seine Gedanken hafteten an der schwarzen Tat, die ihn zum Taugenichts gemacht. Von dem leibhaftig Bösen, dem Luther das Tintenfaß an den frechen Kopf warf, hatte er sich nie einen klaren Begriff machen können – aber nun war es ihm klar [,] wie die Sonne Gottes am Himmel, es müsse damals rein der Teufel in ihn gefahren sein.

Die Jelängerjelieber der Hecke erfüllten den Königsweg mit ihrem Duft. Er dachte [später ergänzt: nur] an den scheußlichen Teufel und die süße Klarissa, die ihn so sauer angesehen. Alles schien ihm fade und freudlos. Freilich, eine kleine Freude werde der Abend bringen, wenn Erna käme. Früher war sie präzise nachmittags drei Uhr eingetroffen, aber seit längerer Zeit erst gegen Abend erhitzt angekommen, weil sie, durch ihre Mamsellenpflichten aufgehalten , sehr gerannt war [später: und dann sehr gerannt sei].

Der träumende Knabe legte die Hände auf den Rücken, wie's zum Grübeln gehört, und starrte in die Himmelsbläue.

Eine Elle über seiner Nase hingen vier braune Nüsse in einem Klunker. Der Anblick riß ihn aus dem spekulativen ins tätige Leben zurück. Durch die Brombeerranken raschelnd, kletterte er in die schwanke Staude hinauf, rupfte und knackte und fand immer mehr der Nüsse.

Stimmen klangen gedämpft, und Leute kamen. Vorsichtshalber [später ergänzt: , denn er wußte nicht, wem die Hecke gehöre,] hielt er sich mäuschenstill.

»O, Karl, wenn jemand uns sähe.« Das Geflüster wehte in den Baum hinauf.

Potztausend, das war ja Ernas Stimme! Die Eichkatze äugte durch das Gezweig und mußte sich mit beiden Händen festhalten, um nicht vor Erstaunen herunterzufallen. Im weißen Kleid mit roten Seidenschleifen stand die Schwester keine drei Schritt von ihm, und ein Mann im schwarzen, eleganten Gehrock hatte den Arm um ihre Schulter gelegt.

War sie überfallen worden und in Gefahr? Nein, es schien nicht, denn sie bog den roten Kopf zur Seite, und der Wildfremde küßte sie mitten auf den Mund. »O, o!« machte sie dabei.

Das O, o! klang in Amatus' Seele in andrem Tone wieder, O, o! Die Erna!

Der Wildfremde war bei näherem Zusehen ein Bekannter und niemand anders als der Gerichtsaktuar Karl Quistrup.

Als das Paar hinter der nächsten Ecke verschwunden war, kletterte der Knabe langsam und wie gelähmt hinunter. Sein Mund spitzte sich tiefsinnig zum Schnabel, denn dies war ein ganz außerordentliches Ereignis. Wenn die Männer und die Mädchen sich küssen, dann lieben sie sich – so hatte er in den Zeitungsgeschichten gelesen, so hatte er auf den Bänken der Pappelallee im Abenddunkel gesehen.

Aber dieser Quistrup durfte die Schwester nicht küssen – das war unschicklich. Der Knabe, in dem Eifersucht und sittliche Entrüstung sich regten [später: regte], setzte sich in Laufschritt und stürzte brennend heiß in die Stube, um brühwarm zu berichten.

»Mutter, darf Erna auf dem Königswege mit dem Aktuar spazieren gehen?«

»Bist du unklug?«

»Nein … und er hat sie geküßt.«

Monika war erst sprachlos und stellte dann ins Endlose dieselben Fragen, die er mit Ausdauer beantwortete.

Nach der Zeugenvernehmung gab er sein Urteil ab. »Mutti, ich glaube … sie lieben sich …«

»Was weißt du dummer Junge vom Lieben!«

Sie [später: Die Mutter] setzte sich ans Fenster und dachte nach. Quistrup war ja ein ordentlicher und tüchtiger Mensch, den seine Vorgesetzten lobten … aber, daß Erna, die sittsam erzogene und vor allen Verwaltern und Volontären oft genug gewarnte, hinter dem Rücken der Eltern ein Verhältnis hatte – das war haarsträubend.

Gegen halb acht Uhr kam die Sünderin die steile Treppe hinauf. Der Denunziant hockte auf einem Stuhle, harmlos die Hände gefaltet, und schaute von unten herauf mit schadenfröhlicher Miene ihr in das heiße Gesicht, wurde aber sofort von der Mutter herausgewiesen – und horchte draußen. Zuerst ging die Strafrede der einen im Weinen und Schluchzen der andern verloren.

»Warum kommt er nicht zu uns und macht seinen Antrag, wenn er dich aufrichtig liebt?«

»Darf er das, Mutter? Er schämt sich [später ergänzt: nur], es zu sagen …«

»Er war doch weder zu bange noch zu blöde, um dich nach dem einsamen Königswege zu schleppen.«

»Er hat mich nicht geschleppt«, heulte Erna, »ich bin freiwillig mitgegangen … darf ich ihn am nächsten Sonntag hierher bringen? Dann wird es ihm leichter.«

Zu dieser Erleichterung gab Monika ohne Bedenken ihre Erlaubnis. –

In die Woche fiel der zweite September und das Sedanfest, das in dem nordschleswigschen Norderhafen mit größerem Gepränge gefeiert wurde als in den meisten Städten des deutschen Reichs. Alle Schulen und die halbe, die deutsche Bevölkerung zog in den Wald hinaus, wo die Kinder an Scheibenschießen und Topfschlagen sich ergötzten, die Erwachsenen aber an Kaffee und Bier, an patriotischen Reden und Gesängen sich labten.

Amatus half der Kousine, die durstig war, Wasser aus dem Brunnen schöpfen und klagte: »Wilhelm ist mir böse, und Klarissa mopst noch immer.«

Silly, die eine Friedensstifterin war, holte die Getrennten von allen Seiten zusammen und hielt eine kleine Rede, die nicht frei von Geschichtsfälschung war. »Heute ist ein großer und heiliger Tag des Vaterlandes, an dem Napoleon eingelocht und der Friede von Sedan geschlossen wurde … Darum wollen wir fröhlich sein und zur Erinnerung an die Gefangennahme Napoleons einen ewigen Frieden schließen.«

Alle riefen Hurra und reichten sich gerührt die Hände.

Aus dem Brunnen wurde Wasser geholt und aus der mitgebrachten Flasche Johannisbeersaft dazu gegossen. In dem Rotweingetränk ist die Freundschaft erneuert worden.

»Wollen wir uns nicht einen Versöhnungskuß geben?« meinte Amatus schelmisch.

Aber schnippisch erwiderte Klarissa: »So weit ist es noch lange nicht, mein Jung.«

»Bin ich dein Jung?«

»Nein, du bist deiner Mutter Jung und ein Muttersöhnchen.«

Es ärgerte ihn, und er antwortete: »Das sagst du, weil du eine Stiefmuttertochter bist.« –

Am Sonntage nach dem Sedanfeste saß Amatus am Fenster und rührte sich nicht.

»Willst du nicht zu Onkels?« fragte die Mutter.

»Nein, lieber nicht.«

»Willst du nicht in die frische Luft hinaus und spielen?«

»Nein, ich bin so müde.«

Er war [später ergänzt: aber] nicht müde, sondern wartete der großen Dinge, die heute Nachmittag geschehen sollten.

Als vier Schritte auf der Treppe hallten, spitzte er vergnüglich[-]neugierig die Ohren; aber [später: doch] seine Hoffnung wurde schwer getäuscht.

Die Mutter nämlich befahl: »Geh in den Garten, bis ich rufe!«

[Später ergänzt: Ach,] d/Der fürchterliche Spaß entging ihm, und er haderte mit der Mutter, bis sie ihn endlich rief.

Erna und der Aktuar saßen im Sofa. In seiner [später ergänzt: brennenden] Verlegenheit fächelte Karl Quistrup sich Kühlung mit dem Taschentuche zu. Dreist stellte sich der Knabe mitten in die Stube und musterte die beiden – [später ergänzt: nein,] der konnte ihm keinen Schreck einjagen.

»Gib dem neuen Schwager die Hand!« sagte die Mutter lustiglistig, »der Jung hat ja gewissermaßen die Verlobung gemacht … wenn er nicht in der Nußhecke gesessen hätte, würdet ihr vielleicht noch jahrelang auf dem Königswege herumirren.«

Quistrup wurde krebsrot und hielt das Taschentuch vor den Mund.

Erst nach Wochen hat er die Bräutigamsblödigkeit überwunden. – – –

Der Winter war eingekehrt, nicht als schneeweißer und schöner Greis, sondern alt und häßlich, ein tränender, trübseliger und keifender Griesgram.

Tapp, tapp! troffen die Dächer des Pappeltals. Patsch, patsch! quietschten die Steige bei jedem Tritt. Das schlechte Wetter war sehr beständig und beharrlich. Immer Regen und Wind, Wind und Regen!

Das Wetter bereitete allen Menschen Verdruß – jeder dritte Norderhafener hatte Schnupfen – und dem Quartaner Junker wirklichen Herzkummer. Der Kummer nämlich war der Überrock, den er tragen mußte, der an sich schon eine Last war und zum Kreuz wurde, das er täglich auf sich nehmen mußte. Das lange und warme Gewandstück war aus einem Lodenrock des Vaters zurechtgeschnitten und geschneidert worden. Die liebevollen Kameraden hoben verwundert die Schöße empor und fragten, ob das seines Großvaters Bräutigamsrock sei, hänselten ihn täglich und hatten ihre Höllenfreude an dem Rocke. Nicht mit Geduld, sondern mit zurückgepreßten Tränen trug er sein Kreuz und lief, um sich baldmöglichst des Monstrums zu entledigen, zweimal täglich zu und von der Schule.

Abends aber Punkt sieben Uhr wanderte er in dem Bräutigamsrock zu dem Emeritus Jensen und ließ sich unterwegs gute Zeit. Der Pastor, für dessen Wohlergehen und langes Leben Monika betete, erfreute sich einer rüstigen Gesundheit; nur die alten Augen liebten nicht die lichtlose [später: lichtarme] Zeit und vertrugen das Lampenlicht schlecht. Darum wurde dem Knaben Gelegenheit gegeben, einen geringen Teil seiner Dankbarkeitsschuld abzutragen. Alle Abende las er dem Pastor die Zeitung, die Flensburger Norddeutsche, vor, und zwar von Anfang bis Ende. Auch die wichtigsten Annoncen, insbesondere die Todesanzeigen, Ver- und Entlobungen, mußten vorgetragen werden.

Der Pastor rauchte seine Pfeife dabei, sah es gern, wenn der aufgeweckte Knabe Fragen stellte, und gab Aufschlüsse über die Parteien und politischen Fragen der Zeit. Amatus, der bald eine politische Überzeugung sich bildete, war sehr kulturkämpferisch gesonnen, und das Zentrum von allen Parteien seiner Seele verdrießlich und zuwider.

Zuweilen erlaubte ihm die Mutter, nach beendeter Vorlesung Wilhelm Reder, der im Nachbarhause wohnte, zu besuchen. Dann prickelte und spornte ihn die Unruhe, so daß seine Zunge immer überstürzter galoppierte, bis der Pastor die Pfeife aus dem Munde nahm: »Nicht ableiern, sondern mit Betonung lesen!«

Sehr lang und gediegen [später ergänzt: , allzu lang] war die Flensburger Norddeutsche.

Des Knaben behende Augen flogen voraus und die Spalte herunter. Kleine, bald auch größere Stücke, die gar nicht des Vorlesens wert und würdig ihm dünkten, wurden überschlagen. Eine Zeitlang ging es glatt und gut.

Einmal aber ärgerte sich Amatus, wie so mancher Deutsche, an der endlosen Reichstagsverhandlung und ließ zwei ganze Spalten aus. Pastor Jensen ging täglich von 5 – 6 Uhr zur Bierstunde, wo die Honoratioren-Herren der Stadt mäßig Bier tranken und maßlos kannegießerten. Während die hochbedeutsame und fulminante Rede des kleinen Abgeordneten von Meppen, der ein großer Redner vor dem Herrn und Seiner Heiligkeit dem Papste war, besprochen wurde, konnte der Pastor seinen Mund nicht auftun, sondern mußte schweigen, weil er von dem oratorischen Meisterstück keine blasse Ahnung hatte.

Ohne blasse Ahnung des Verhängnisses zog Amatus Junker um sieben Uhr den Bräutigamsrock aus und verbeugte sich.

Sehr unhöflich war der Gegengruß: »Komm her, du Schlingel! Du bist ja ein Taugenichts und hast die ganze Rede des Windthorst unterschlagen … das ist Betrug und Mißbrauch des Vertrauens, das ich dir geschenkt habe … von nun an werd' ich dich kontrollieren.«

Der Lektor ließ den Kopf hängen und las [später ergänzt: gewissenhaft] jeden Satz und jede Annonce, auch die Ankündigung des Pferdeschlachters: »Gutes, fettes, junges Roßfleisch …«

»Dummer Jung, das nicht!«

Die Pastorin gab ihm zwei gebratene Äpfel als Pflaster auf die Wunde.

Im Torwege erholte er sich und trat in den Hof, wo er dreimal durch die Finger pfiff. Auf dieses Zeichen öffnete sich das erhellte Fenster der Kinderstube.

»Ist die Luft rein?«

»Ja, der Vater und die lange Stine sind fort.«

Wenn Zollinspektors in Gesellschaft gingen, empfingen die Kinder ihre Besuche.

Klarissa, die das Puppenkleid, an dem sie nähte, schnell unter der Bettdecke versteckt hatte, lächelte dem Besucher entgegen: »Du riechst nach Gebratenem.«

Die Äpfel wurden in vier ehrliche Teile zerlegt, und Karoline, das Dienstmädchen, nahm das erste Stück. Wilhelm wollte mit dem Freunde Damm spielen, aber die Schwester fand das Spiel langweilig und bat das Mädchen: »Tanze mit uns den schönen Schunkelwalzer, bis wir ihn können!«

Die dicke Karoline brauchte nicht genötigt zu werden, sondern stimmte mit klingender, kreischender Stimme an: »Denn so wie du, so lieblich und so schön – «

Klarissa riß Amatus mit sich herum, während die Magd den schmächtigen Wilhelm wie einen Federball wirbelte. Wenn einem Paar Pust und Odem ausgingen, machte es die Musika und sang »so lieblich und so schön« und das andre walzte zwischen Tisch und Betten.

»Können wir nun den schweren Tanz?«

»Ja«, sagte Karoline stolz, »ihr könntet im Bürgerverein auf dem sogenannten Honorarienball euch sehen lassen.«

Der gelehrte Gymnasiast kicherte: »Es heißt Honoratiorenball.«

Sogleich faßte er [später ergänzt: beschwichtigend] die Hand der beleidigten Karoline: »Wollen wir nun einen Galopp machen?«

Ja, sie galoppierten durch das schmale Zimmer, daß die Lampenflamme, in dem Glase auf und nieder flackernd, mitzutanzen schien. Karolines Röcke fegten und flogen immer wagerechter und erregten einen kleinen Sturmwind in der Kinderstube. Ein starker Windstoß – und mit einem [später ergänzt: lauten] Paff erlosch die Lampe.

Plötzlich standen sie in Finsternis. Karoline barst in eine schallende Lache aus.

Im Dunkeln ist gut munkeln. Amatus ließ die Hand nicht von der Hüfte seiner Tänzerin und hatten einen von den Augenblicken – wie bei der Wiedertaufe in der Septima –, wo Gefühl und Zunge mit ihm durchgingen.

Ein sehr sehr leises Lispeln! »Klarissa, hast du mich lieb?«

»Ach Jung«, anwortete die Erwachsene, »was quatschst du? Du müßtest doch wie ein richtiger Herr sagen: Ich liebe dich über alles in der Welt … aber einen Kuß sollst du haben … da!« Sie drückte einen kräftigen Schmatz auf seine Lippen.

»Was war das?« fragte Wilhelm, der einen eigentümlichen Laut vernahm.

»Himmel! Was [–] ist [–] das?« schrie Karoline, »die Pforte ging … und die Flurtür knirscht … Frau Reder kommt!«

Eilig rieb sie ein [später, wohl Satzfehler: einen] Streichholz und zündete die Lampe an.

Amatus war noch verwirrt und betäubt, beseligt von dem Kusse.

Aber Klarissa packte ihn. »Die lange Stine kommt … versteck dich, versteck dich, damit sie dich nicht sieht, unter dem Tische!«

Er kroch unter den Tisch, um den die drei andern äußerst still und anständig sich setzten.

Zuerst kam eine nadelspitze Nase zum Vorschein, dann eine überlange, mit Spitzen behangene Gestalt, welche gravitätisch über die Schwelle trat.

»Was ist hier für ein Heidenlärm, den man [später ergänzt: unten] auf der Straße hören kann? Und die Stube dick voll Staub, daß ich keine Hand vor Augen sehe?«

Ihre Augen aber sahen sehr gut und liefen in alle Winkel.

Keiner gab Antwort.

»Mir deuchte, daß ich mehr als drei Stimmen und ein ganzes Regiment hier oben brüllen hörte.«

Die lange Stine lüpfte den Gardinenvorhang, lugte unter das Bett und näherte sich dem Tische, unter dem Amatus im nassen Tanz- und Angstschweiß zitterte.

Frau Reder sah [später ergänzt: dort unten] etwas, lachte hämisch und streckte den dünnen Gespensterarm aus. Sie hatte einen Schopf gepackt, aus dem sie einen Büschel Haare riß.

»Au–au!« stöhnte [später: winselte] einer, wie ein grausam geschorner Pudel.

»Was? Ein Mensch liegt da? Heraus – oder ich hol' die Polizei!« Die lange Stine schlug in erkünsteltem Entsetzen die knochigen Hände zusammen, daß es klapperte.

Er kroch auf allen Vieren der rettenden Tür zu.

Und sie rief mit aller Verachtung, deren ihre Stimme fähig war: »Aha, der hat sich wie ein Dieb versteckt … Mosjö Junker, merke dir, daß wir Gäste unter unserm Tische nicht gebrauchen können.«

Amatus erschnappte seine Mütze und den Bräutigamsrock und war, wie im Nu und Nichts, verschwunden.

Die Stiefmutter befahl zu lüften. »Wilhelm, warum suchst du mit Vorliebe die allergewöhnlichste Gesellschaft … weißt du keinen passenderen Freund zu finden als den Sohn des Gerichtsdieners? Und Sie, Karoline, der ich die [später: meine] Kinder anvertraue, dulden Sie solchen Unfug?«

Karoline nahm sofort ihre letzte Verteidigungswaffe zur Hand und wurde patzig. »Wollen Sie mir kündigen, gnädige Frau? Man zu, Madame!«

Frau Reder holte stillschweigend den vergessenen Pompadour und entfernte sich [später ergänzt: , das Feld räumend].

Es war eine kuriose Tatsache, daß sie durch Unverschämtheit am ehesten beruhigt wurde und von ihrem Dienstmädchen am meisten sich meistern ließ.

Für Amatus war es ein Unheilsabend gewesen, und er ging tief bekümmert, weil er von dem Schicksal unverdiente Schläge bekommen hatte [später ergänzt: nach Hause].

Aber noch ärgere Prügel waren ihm bestimmt. Als er am nächsten Tage aus der Nachmittagsschule kam, war Pastor Jensen bei der Mutter, und er hörte draussen die harten Worte: »Der Jung wird zum Taugenichts … bei Zollinspektors hat er sich höchst ungezogen betragen … Frau Junker, wir müssen die Zügel straffer halten und eventuell die Kandare anlegen.«

Als der Sünder sich zaghaft über die Schwelle getraute, weinte die Mutter Tränen des Leides um ihn und sah ihn bitterböse an. »O, du Schlingel machst mir nichts als Schande … fremde Leute müssen sich über dich bei deinem Wohltäter beklagen … eine ganze Reichstagsrede unterschlägst du heimlich … der Herr Pastor wird nicht mehr das Schulgeld für einen Taugenichts bezahlen.«

Amatus begriff das Entsetzliche und weinte in aufstoßenden Heullauten.

Der alte, gutmütige Herr beschwichtigte: »Es sind ja arge Streiche, aber keine Schlechtigkeiten … mein Sohn, weil du so viele Allotria zu besorgen hast, entwickelst du dich vielleicht zum Faulpelz … darum hole mal dein Buch her!«

Der Quartaner trocknete die Tränen und nahm seinen Kornelius Nepos zur Hand, las die vom Pastor aufgeschlagene Seite und übersetzte so fließend, als wenn er deutsch vom Blatte läse.

Monikas Tränen versiegten, und der Greis kneipte ihm [später: dem Burschen] das Ohr. »Das hast du gut gemacht.«

Auf der Treppe reichte er Frau Junker die Hand und blinzelte: »Nehmen Sie es sich nicht zu Herzen … der Jung ist ein Taugenichts, aber ein tüchtiger.«

So war das Wort vom tüchtigen Taugenichts geprägt und wurde vom Pastor, der seinen eig[e]nen Witz lieb gewann, in der Bierstunde, wenn auf seinen Schützling die Rede kam, oft angewendet [später: gebraucht].

Die Mutter legte ihrem Sohne die Kandare an und kontrollierte alle seine Schritte. Für den Nachhauseweg von der Schule durften zwanzig Minuten nicht überschritten werden; sofort nach beendigter Vorlesung mußte er auf dem kürzesten Wege heim ins Pappeltal stürzen, wofern er einem scharfen Verhör ausweichen wollte.

Das Haus des Zollinspektors blieb ihm verschlossen. Wenn er Klarissa auf der Straße begegnete, ging sie mit Schulfreundinnen und nickte nur.

Er zog sich in sich selber zurück, wie die Schnecke in ihr Häuschen, aber machte seine Schularbeiten so gründlich, daß er der Primus der Klasse wurde.

Weil Amatus sich an den sogenannten Jugenderzählungen der Schülerbibliothek übersättigt hatte und sie ihm oft kindlich vorkamen, las er an den langen Winterabenden im Schiller, die Räuber zuerst, und in Kabale und Liebe, welches seinem Gemüt besonders zusagte, am liebsten. Das Buch wurde ihm nicht aus der Hand genommen, weil es ein Klassiker war, vor dem die Eltern [später ergänzt: großen] Respekt hatten.

In dieser Epoche bewegten sich seine Aufsätze in Kraftausdrücken.

Bald nach Weihnachten wurde er krank. Die Mutter konnte sich nicht erklären, daß der Junge, der nur für die notwendigen [später: notwendigsten] Gänge in die kalte Luft hinauskam, sich erkältet habe, und ließ ihn Kamillenthee [später: Kamillentee] trinken.

Aber in der Nacht fieberte er heftig und fing an zu phantasieren. »Mutter … hilf mir … die lange Stine reißt mich an den Haaren.« Immer war die Zollinspektorin der Spuk, der ihn verfolgte.

Am Morgen wurde der Arzt gerufen und stellte eine Lungenentzündung fest.

Die Mutter streichelte den brennenden Kopf des Knaben und lächelte ihm beruhigend zu; aber in der Küche draußen schlug sie [später ergänzt: förmlich auf dem Estrich] nieder und betete, jeden weinenden Laut gewaltsam unterdrückend. »Mein Herr und Gott, du hast mir in allem Jammer des Lebens diese einzige [später ergänzt: große, echte] Freude gegeben … du kannst nicht grausam sein, o Gott, und mein Glück mir nehmen.«

Nach acht Tagen verschwand das Fieber, aber der Auswurf nahm zu, und die Lunge blieb angegriffen. Ohne Schmerz, still, liebevoll und zärtlich saß er [später: der Knabe] bei der Mutter, die für ihn ein Hemdlein nähte.

Plötzlich sah er empor: »Mutti, nähst du mein Leichenhemd?«

Sie entsetzte sich und eilte hinaus, um den hervorstürzenden Tränenstrom zu verbergen. Mit gerungenen Händen rief sie zu Gott. »Heile und erhalte mir den Knaben! Es ist unmöglich, weil du die Liebe bist, es ist unmöglich, daß du das Kind mir nimmst … du mußt das Schreien meines Mutterherzens hören.«

Amatus genas, und die Lunge verheilte, so daß der Arzt seine große Kunst selbst nicht begreifen konnte.

Obgleich Monika im Neubesitz ihres Kindes überglücklich war, schlug ihr zartes Gewissen. Hatte sie nicht Gott durch ihr Gebet förmlich gezwungen? War eine so ungestüme und bedingungslose Bitte nicht sündig? Wenn nur das Kind lebte, wollte sie willig ihre Züchtigung leiden.

Nachdem der Unterricht volle fünf Wochen versäumt war, ging Amatus wieder zur Schule und kam weinend nach Hause. »Mutter, nun kann ich nicht zu Ostern versetzt werden.«

Sie wollte den kleinen Kummer als Strafe für ihr ungehöriges Gebet hinnehmen und tröstete den Untröstlichen, daß er unverschuldet sitzen bleibe.

Doch der Quartaner Junker blieb nicht sitzen, sondern wurde zu Ostern versetzt. Der gute Emeritus nämlich hatte ihm täglich eine Unterrichtsstunde gegeben und die versäumten Abschnitte nachgeholt. Von da an hielten die Gerichtsdieners ihren Sprößling für ein Wunderkind.

In der Dachwohnung des Pappeltals wurde ein fröhliches Osterfest gefeiert. Friedline war aus der Blindenanstalt entlassen worden und sollte fortan bei den Eltern bleiben. Der Bruder führte sie an der Hand vom Bahnhofe und nahm sie täglich mit hinaus in den überall leise webenden Frühling. Sie war [später ergänzt: jetzt] ein schlankes Mädchen mit einem fein geschnittenen, durchsichtig weißen und schönen Gesicht, in dem die blauen Augen reg- und leblos standen. Ihr Blick war tot, aber ihr Lächeln sonniger und vielsagender als irgend eines sehenden Menschenantlitzes.

Nie müßig, fand sie sich vermöge ihres erstaunlichen Tastgefühls im Hause zurecht und ging der Mutter zur Hand. Auch hatte sie gelernt, in Blindenbüchern zu lesen und die saubersten Handarbeiten anzufertigen.

»Nun wirst du immer bei uns bleiben«, sagte Amatus einmal bei Tische.

»Ja, ja«, nickte der Vater [später ergänzt: leidvoll] und warf der geleerten Schüssel einen verkümmerten Blick zu.

»Mutter, Mutter«, sagte Hans zweimal tonlos in der Küche, »wir sind jetzt vier erwachsene Personen … ich fasse nicht, wie wir durchkommen … der Herrgott mag's wissen.«

»Ja, eben er wird's wissen und machen.«

Hans [später ergänzt: war sorgenvoll, denn er] hatte [später entfallen: aber] ein übles Gewissen, weil er ohne Wissen seiner Frau zwölf Taler zur Hausmiete vom Schwager Berg geliehen hatte.

In der Dachwohnung wurde eingeteilt und gerechnet und jeder Groschen in der Hand gewogen, ehe er ausgegeben wurde. Monika brachte das fabelhafte Kunststück fertig und beköstigte mit sechzehn Talern im Monat vier erwachsene Personen.

Am Tage nach Pfingsten zogen Friedline und Amatus Hand in Hand hinaus in den vollerblühten Lenz, [später entfallen: und] ihr Ziel war der Hof, auf dem Erna in Stellung war. So gut unterhielten sie sich, so oft standen sie still, daß der Marsch von einer halben Meile zwei Stunden währte.

»Im Garten drüben sind Maiglöckchen … ich rieche es am Duft«, sagte Friedline.

»Und hier an der Hecke?« fragte er.

»Das sind ja Syringen … und die Kastanien über uns blühen … sie hauchen einen feinen Odem aus, den du gar nicht merkst … ich rieche besser als du … aber, wie sehen die Kastanienbäume aus?«

»Das sind die Weihnachtsbäume des Frühlings, die mit tausend weißen Lichtkerzen besteckt sind … weißt du, wo die Sonne steht, Friedline?«

Sie sah mit den weit offnen Augen in den grellen, glühenden Sonnenball hinein, ohne zu blinzeln. »Dort brennt sie! Wie der Ofen im Winter die Stube traulich erwärmt, ist die Sonne der Feuerofen Gottes, welcher die ganze, große Erde heizt.«

»O, sie wärmt nicht bloß, sie leuchtet und gibt Licht …«

»Was ist Licht?« fragte die Blinde, »kannst du es mir nicht sagen und schildern?«

»Nein, das ist eine wunderbare Helle, die ich ebensowenig wie die Luft beschreiben kann … in der Nacht bin ich auch blind und muß mich vorwärts tasten … allmählich bricht der Morgen herein, erst grau, dann weißlich und dann purpurn schimmernd, bis alles hell und herrlich wird … erst das Sonnenlicht macht, daß ich sehen kann.«

»Warum macht es mich nicht auch sehend?« sagte sie.

»Das … das weiß nur Gott.«

Sie schwiegen und erstiegen die Höhe des Weges, von wo aus die blinkende Föhrde, die zwischen Buchenhäuptern und langgezogenen Heckenfeldern wie ein verträumter Landsee lag, überschaut wurde.

»Weshalb stehst du still, Amatus?«

»Hier ist prächtig … weil die Sonne scheint, ist es, als wenn alles lache … sogar das lichtgrüne Roggenfeld lacht, und das glänzende Wasser lächelt mit seinen kleinen, krausen, kindlichen Wellen.«

»Ach, das möchte ich nur ein einziges Mal sehen«, seufzte Friedline.

»Weißt du, was ich möchte? Jeden Tag eine Stunde lang – aber nicht mehr – dir meine Augen leihen, so daß ich blind wäre und du an meiner Stelle sehen könntest … ja, das würde ich machen, Friedline, wenn ich allmächtig wie der Herrgott wäre.« Großmächtig und großmütig warf er die Hand aus.

Sie drückte [später ergänzt: innig] seine Finger. »Du bist mein lieber, guter Bruder.«

Dann lauschte sie. »Da fliegt eine Libelle.«

»Am leisen Knirschen der langen Schwingen hörst du es?«

Ihre Finger zeigten nach der Hecke. »Und dort muß ein Schmetterling flattern.«

»Ja, ein großer Trauermantel wiegt sich über der Syringenblüte … das hast du [später ergänzt: gut] geraten.«

»Nein, du kannst es nicht vernehmen, aber ich höre den Flügelschlag des Schmetterlings«, lachte die Blinde in kindlichem Stolz.

Die Landstraße führte mitten durch einen Laubwald. Viele Vogelstimmen piepsten und pfiffen und schlugen kurze Trillertöne an, als wenn sie die Kehlen zum abendlichen Gesangvortrage stimmten.

Friedlines Ohr horchte hin und her. »Was ist das für ein Vöglein, das jetzt schlägt?«

»Ein Stieglitz!« sagte er dreist.

»Nein, ein Rotkehlchen singt seine kurze Weise.«

»Du hast recht … eine rote Brust geht auf und nieder.«

»Horch, kennst du den Schlag, Amatus?«

Nun gab er seine Unwissenheit zu.

»Fifi, so flötet die Schwarzdrossel«, lachte Friedlinchen.

»Ei, du bist aber klug und kennst alle Vogellieder … ich glaube, du siehst mit den Ohren und den Fingern und der Nase.«

Friedline lächelte. »Ja, ich gebrauche meine vier Sinne.«

Nachdem sie auf dem Hofe reichlich geatzt waren, trieb sich der Tertianer in den Ställen und auf dem Felde umher. Für alles Landwirtschaftliche, für Pferde, Kühe und Ferkel, hatte er eine Vorliebe, als wenn ein starker Rest des Bauernbluts von seinen Vorfahren her in ihm nachwirke.

Gegen neun Uhr abends kehrten die Ausflügler Hand in Hand und fröhlich trällernd heim. Aber streng blickte die Mutter ihm [später: dem Sohne] entgegen. »Komm her, du Schlingel!«

Der Vater spottete: »Weil er so lang ins Kraut schießt, muß ich ihm wohl ein Mille vom besten Zigarrenkraut kaufen.«

Amatus wußte jetzt, was ihm bevorstand.

Die Mutter schalt: »Großmutter erzählt mir, daß du geraucht hast! Aus ihrer Hofpforte bist du mit dem Zigarrenstummel im Munde gekommen und hast frech den Rauch zum Fenster hinaufgeblasen, obgleich du sie sahest.«

»Nein, ich habe sie gewiß nicht gesehen.«

Frau Junker sprach eine böse Hoffnung aus: »Ich will wünschen, daß du jedesmal, wenn du es tust, sterbenskrank davon wirst.«

Mit gekränkter Würde erwiderte er: »Ich werde doch nicht mehr krank vom Rauchen.«

»So? So weit hast du es schon in dem Laster gebracht.« Eine lange Buß- und Ermahnungspredigt wurde ihm gehalten. –

Die Großmutter hat ihren Enkel nie mehr verklagt. Bald darauf wurde sie in der Nacht von einem Schlagfluß betroffen. Monika, die vom Schreiber geholt wurde, fand sie noch lebend, aber in den letzten Zügen.

Die Greisin lallte eine letzte Bitte: »Vergib … daß ich deine Kinder … nicht so lieb … wie ich sollte … dein Amatus … soll den Golddukaten haben.«

Hans hatte eben den [später ergänzt: Morgen-]Kaffee gekocht, als Monika verweint die Trauernachricht brachte. Die Tränen des Enkels flossen, aber versiegten [später ergänzt: schnell], je mehr er sich in die Betrachtung der ungeheuer großen Goldmünze versenkte, und er war bald getröstet um den Verlust der Großmutter, die erst durch das Vermächtnis ihre Liebe ihm bewiesen.


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