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Siebenter Abschnitt: Das Buch der Lieder und der Liebe.

Die Vettern Berg und Junker waren [später anders: Amatus Junker war] Sekundaner geworden. [Später entfallen: Trotz der Versetzungs- und Vaterfreude äußerte der Hardesvogt: »Von Rechts wegen müßtest du ihn weit überflügeln … deine Nachhilfestunden kosten mich mehr als das dreifache Schulgeld.«

Asmus dachte groß: »Ich bin kein Streber und fühle keine Spur von Neid, der pöbelhaft ist.«

Dennoch hatte er seinen Ehrgeiz und schon als Sekundaner sich für einen Lebensberuf entschieden. Jedem Menschen, der zu fragen beliebte, dem Schreiber im Bureau und dem Dienstmädchen in der Küche, die ihn jetzt »siezten«, erklärte er vertraulich, daß er Jurist werden wolle, welches in Deutschland der alleinige Weg zu Ruhm und Ehre sei.]

Am ersten Schultage wurden die Sekundanerfüchse zwar nicht nach ihrer Berufswahl gefragt, sondern der Ordinarius schrieb diejenigen auf, welche an den zwei hebräischen Stunden, die fakultativ waren, sich beteiligen wollten.

Backfischrot und blöde meldete sich Amatus Junker. Trotz seiner Bitten hatte die Mutter es ihm [später ergänzt: bestimmt] befohlen.

In der Pause zupften die Kameraden seine Rockschöße und titulierten ihn sehr höflich mit »Hochwürden« und »Herr Pastor«; andere drückten sich platter aus und gaben ihm den Spitznamen »Prester«, der dem mehrfach umgetauften Sohn der Monika ein Greuel und Ärgernis geworden ist.

Die sogenannten Hebräer, die langen und schmalbrüstigen Zukunftstheologen der Sekunda, hatten viel Spott und Neckerei zu leiden und mußten früh und freiwillig die Schmach Christi erdulden.

Vergebens flehte Amatus die standhafte Mutter an, ihn von diesem Kreuz zu befreien. Umsonst beteuerte er den Kameraden auf Ehre und mit [später ergänzt: sittlicher] Entrüstung, daß er nicht Pastor, sondern Seemann werden wolle.

Aha! Ob er vielleicht an der arabischen Küste Schiffahrt treiben und hebräisch lernen wolle, um sich besser mit den Beduinen verständigen zu können?

Erst als er von den Waffen der Fäuste Gebrauch machte, verstummten die kleinen Kläffer, und nur die großen und berühmten Raufbolde der Sekunda bedienten sich des Spitznamens »Prester« wie zuvor.

Das Boxen und Balgen hatte er von den Matrosen am Hafen erlernt. Die meisten Galeassen und Schoner, die nach Norderhafen mit Stückgut oder nordischen Hölzern kamen, kannte er, und ging nach Feierabend an Bord. Auf Reling und Ankerwinde lungerten die Matrosen, bliesen Rauchwolken in die Luft und spuckten in das Wasser, während der Koch der Ziehharmonika schwedische und schwermütige Weisen entlockte.

Mam Hedin, der zwanzig Jahre fuhr, zerkaute seinen Priem und seine Sätze und erzählte fabelhafte Dinge von seinen Fahrten. Sein größtes Abenteuer hatte er an Islands Küste erlebt, wo er eines guten Tages im kühlen Wasser tauchte, als ihm eine ahnungslose Robbe so nahe schwamm, daß er sich auf ihren Rücken schwingen konnte. Und er behauptete hoch und heilig, das arme Seeroß so lange zu Wasser geritten zu haben, bis es sich schnaufend und völlig verkeucht auf den Strand geworfen, wo es von ihm zum Lohne [später ergänzt: schändlich] erschlagen worden.

Der Decksgast, den die Schweden Student titulierten, rauchte seine Tonpfeife und fühlte sich [später ergänzt: hier] als Mann unter Männern. –

In der Dachwohnung des Pappeltals war der zehnte August der große Tag, an dem des Hauses Hoffnung geboren war.

Als Amatus [später ergänzt: des Mittags] Mütze und Bücher auf den Ecktisch warf, scherzte und neckte der Vater: »Was möchtest du zum Geburtstag haben, mein Sohn? Ein Stammseidel? Oder eine lange Pfeife?«

»Ja, Vater … möchtest du einen kleinen Kaffeepunsch haben?«

Monika strafte die [später ergänzt: sehr] despektierliche Antwort und sah ihren Mann an. »Da hast du es, Hans! Setze dem Jungen keine Dummheiten in den Kopf!«

»Er raucht ja doch diskret.«

»Aber offiziell soll er es nicht tun, ehe er Primaner wird.«

In der Küche ging Hans Junker seiner Frau zur Hand. »Liebe Mutter, ich bin ja daran gewöhnt und sage es nicht, um größere Freiheiten zu erlangen … ohne die tägliche Vermahnung würde mir etwas fehlen … aber der Junge hat nach meiner Meinung zu wenig Freiheit und kriegt selten einen Groschen … er lernt nie selbständig zu werden.«

»Erst muß er verständig werden.«

»Ja, du hast die Erziehung in der Hand … aber sie ist zu strenge.«

Monika rührte tiefsinnig im Topfe.

Als ihr Sohn am Nachmittag um die Erlaubnis bat, mit seinen Freunden einen Ausflug zu machen, gab sie ihm dieselbe, ohne zu fragen, und noch dazu ein Fünfgroschenstück.

Von dem Kapitän des schwedischen Schoners erhielt Amatus das Beiboot und beide Segel. Der Vetter und der Freund Wilhelm Reder warteten bereits am Bollwerk. Auch zwei Freundinnen sollten an der Seefahrt teilnehmen und spazierten vornehm unter den Kastanien auf und ab, Silly unter einem ungeheuren Strohhut und Klarissa mit dem ausrangierten Sonnenschirm der langen Stine. Als alles klar war, stiegen sie schnell und unauffällig ins Boot.

Die Tochter des Zollinspektors war konfirmiert und [später ergänzt: mithin] ganz erwachsen. Trotz der vielen Sommersprossen fand Amatus ihr Antlitz hold und lieblich und die Augen schön. Trotz der vielen Ecken an Schultern und Ellenbogen war ihr Körper schlank und geschmeidig.

Asmus, als der wohlbeleibteste von allen [später anders: Wilhelm] , nahm von der Kapitänswürde und dem Steuerruder Besitz. Amatus paßte die Segel und spielte [später ergänzt: bescheiden] den Matrosen.

Auf der hohen Küste lag das grüne Buchenhaupt, das der Seefahrt Ziel war. Weil die Weiblichkeit etwas von Creamschnitten wisperte, lief Junker ins Wirtshaus und legte sein ganzes Vermögen in Kuchen an.

Asmus [später anders: Wilhelm] aber zählte unter dem Tisch seine Nickelstücke, setzte sich dann breit in den Stuhl und winkte dem Kellner. » Drei Bier und zwei Zigarren [später anders: »Zwei Bier und eine Zigarre]!«

Leutselig nickte er den Kameraden zu. »Die eine könnt Ihr je zur Hälfte rauchen.« [Später anders: Weiter lange sein Geld nicht. Die eine Zigarre wurden von den beiden je zur Hälfte geraucht.]

[Später entfallen: Aber Amatus überließ großmütig seinem Freunde Willhelm den ganzen Genuß.]

Oben im Walde, hinter dichtem Unterholz versteckt, lag ein freier, fest getretener Spiel- und Turnplatz. Während die jungen Herren unten am Strande ein Bad nahmen, gingen hier die Mädchen zärtlich umschlungen auf und ab, wie Backfische tun, die sich Geständnisse machen oder Geständnisse entlocken wollen.

»Rissa, findest du nicht, daß mein Vetter nett ist?«

»Ja, er hat sehr kavaliermäßig uns mit Kuchen traktiert.«

»Meinst du nicht, daß er hübsch ist?«

»O ja … warum nicht?«

[Später entfallen: »Wie gefällt dir mein Bruder?«

»Gut! Er hat ja auf das Wohl der Damen kräftig angestoßen und getrunken.«]

Plötzlich legte Klarissa [später ergänzt: , den Spieß umkehrend,] die Hand auf Sillys linke Brustseite. »Laß mich fühlen, ob es klopft, und sieh mir fest in die Augen! Magst du Wilhelm gern leiden?«

Das rundliche Gesicht wurde nicht rot, wie erwartet worden. »Er ist ein braver Mensch.«

»Liebst du ihn nicht Silly?«

»Er … er liebt ja euer Dienstmädchen …«

»Himmlischer Herrgott! Wie kommst du darauf? Sie ist fünfundzwanzig Jahre alt.« Klarissa lachte über den gräßlichen Einfall.

Keins der beiden Mädchen wußte, was es hätte wissen wollen.

»Komm, wir wollen einmal, wie in jungen Jahren, unsinnig sein!« Die Erwachsene raffte ihr Kleid zusammen, netzte die Fingerspitzen mit der Zunge und umfaßte die Stange des Turnrecks. »Hier kommt niemand.«

Sich emporziehend, schwang sie die Füße senkrecht in die Höhe und sich selbst um die Stange. Mehrmals machte sie geschickt den Aufzug und kopfüber den Niederschwung.

Plötzlich klatschte es im Gebüsch: »Bravo, bravo!«

Von Zorn- und Schamflammen übergossen, [später anders: lief Fräulein Reder von dannen und bis zum Wasser hinunter.] [Später entfallen: ergriff Fräulein Reder nicht die Flucht, sondern stürzte dahin, wo die Zweige sich regten.

Asmus sah ihr ins Gesicht und sein Grinsen erstarb. »Ich … ich habe nichts gesehen …«

»Nein, aber du Lurenbock wolltest …da! Nimm das!«

Watsch, hatte der Bravoschreier eine Maulschelle erhalten.

Er wischte die Backe und zog den Mund in einen schrägen Winkel. »Du … das will ich dir gedenken.«

Die andern kamen vom Bade und fragten ihn: »Hast du Zahnweh?«

Er schüttelte knurrend den Kopf. Eine Zeitlang war die Harmonie gestört; aber schnell verfliegen die Wolken der Jugend.]

Auf der Heimfahrt, welche lang währte, da sie gegen den Wind ankreuzen mußten, überließ Amatus dem Vetter [später anders: Freunde] das Steuerruder und saß Klarissa gegenüber. Sie sangen Burschenlieder, meistens nur anderthalb oder drittehalb Verse, und trällerten den Schluß als Lied ohne Worte.

[Später entfallen: Oft warf der Steuermann über Sillys Schulter beobachtende Blicke. Wie jener die Zollinspektor-Tochter anguckte!]

Klarissa sang übermütig mit und stimmte zuletzt ein Lied an, das wunderbar schwermütig über das wogende Wasser schwoll.

»Mein Liebchen, wir saßen zusammen
Traulich im leichten Kahn,
Die Nacht war still, und wir schwammen
Auf weiter Wasserbahn.«

Amatus lauschte verzückt zur Sängerin empor. »Von wem ist das Lied?«

»Ich glaube, Heinrich Heine steht im Notenbuch darunter.«

»O, noch einen Vers!«

Sie ließ sich nicht nötigen.

»Die Geisterinsel, die schöne,
Lag dämm'rig im Mondesglanz;
Dort klangen liebe Töne,
Und wogte der Nebeltanz.«

Der Sekundaner Junker hauchte: »Das ist ergreifend schön!«

»Sela!« sagte hinter ihm eine ironische Stimme, und der Steuermann blickte in die Luft, »Ach, unser roter Wimpel hat sich im Tau festgewickelt … wer wagt in den Mast hinaufzuklettern?«

Amatus wollte sich in seiner Seemannsgröße zeigen und sprang auf die Bank.

»Tu es nicht!« flehte die Kousine vergebens.

Er kletterte schon an dem dünnen, schwanken Maste empor.

»Halt dich gut fest!«

Obgleich [später: Als] das Boot [später entfallen: noch] fünf Faden vom Röhricht des Ufers war, stieß [später: warf] der Steuermann das Ruder [später entfallen: weit] über Backbord [später entfallen: – und glitt nicht ein boshaftes Lächeln über sein breites Gesicht?]

Das Boot drehte sich wie ein Kreisel und ging, weil das Steuer [später: ungeschickt und] zu weit geworfen war, über »Stag«. Die Segel klatschten. Plötzlich schlugen sie über!

Ein Schrei! Amatus verlor Halt und Hände und wurde in weitem Bogen ins Wasser geschleudert.

Silly kreischte: »Er kann nicht schwimmen! [Später ergänzt: O Gott]!«

Asmus [später anders: Der Steuermann] ließ vor Schreck das Steuer fahren, und das Boot trieb.

Wilhelm starrte wie ein Blödsinniger nach der Stelle, wo der über Bord Gefallene bis zur Brust knetend in der Flut stand, als wenn er Wasser trete.

»Er kann nicht schwimmen!« Es klang wie ein Geheul.

»Du Schafskopf, steure doch auf ihn zu!« Das klang wie ein Gedonner. Klarissa rief es, streifte den Kleiderrock [später ergänzt: im Nu] herunter und sprang in das plumpsende, platschende Wasser.

Ach, ihre Heldentat wäre nicht nötig gewesen, denn hier war's nicht tief genug zum Ertrinken, aber der Grund [später ergänzt: war] sehr schlammig.

Nun sie einmal drin war, reichte sie Amatus die Hand, [später ergänzt: und] beide kneteten und wateten, bis sie das Boot erreichten.

In großen Augenblicken sind die Menschen ungeniert. Sie stülpte schnell den Rock über den Kopf und sagte: »Himmel, und wie sehen wir aus! Alles klebt und klatscht an mir.«

Bald versuchte Klarissa über das Abenteuer zu lachen [später entfallen: , aber sandte dem jungen Berg einen spöttischen Blick zu. »Du mußt dich auf der Schiffahrtsausstellung in Flensburg als Steuermann prämiieren lassen.«]

Asmus [später anders: Wilhelm] wurde witzig: »Gott o Gott, Amatus, wenn du ertrunken wärest – wie würde deine Mutter dich verhauen haben!«

Junker war bis in die Knochen abgekühlt und wünschte beim Badehause ans Land gesetzt zu werden.

Beim Aussteigen neigte er sich über Klarissa und flüsterte: »Das werde ich dir nie vergessen.«

Silly fing die Worte auf und betrachtete eifrig die Ballaststeine im Boote.

Monika sah den durchnäßten Sohn und rief: »Mein Gott! Du hast mit Segeln gesegelt, und ihr seid gekentert.«

Er erzählte kleinmütig den Hergang und sollte zur Strafe ins Bett und drei grosse Tassen Kamillenthee [später: Kamillentee] trinken.

Als er die erste geschluckt hatte, sagte Friedline: »Darf ich ihm nicht sein Abendbrot bringen? Mein Bruder ist gut.«

»Meinst du?«

»Ja, ich weiß es, Mutter, ich kann an der Stimme hören, was in dem Menschen ist … sind die Guten nicht auch das, was die Sehenden schön nennen?«

»Nicht immer, mein Kind.«

»Ich glaube, daß mein Bruder der hübscheste von allen Sekundanern ist.«

Die Mutter lächelte. »Ja, er ist recht schmuck, aber auch ein bißchen lang und lapsig geworden … doch das verwächst sich.«

Die zwei letzten Straftassen wurden dem schmucken Sekundaner in Gnaden erlassen. – – –

In der Kastanienallee am Hafen wanderten Klarissa und Silly im Schnellschritt hin und zurück, und die Kleine mußte oft Trab–trab machen, um Tritt zu halten. Einerseits wollte der Durchnäßte sich warm laufen, anderseits, um nicht von den Leuten gesehen zu werden, die Dunkelheit des Augustabends abwarten.

»Fühlst du dich warm?«

Klarissa lachte. »Ja, mollig wie in einer nassen Einpackung … ich will der langen Stine keinen unnötigen Schreck bereiten, sondern mich in meine Kammer schleichen … morgen früh um vier Uhr wird gewaschen und gebügelt.«

Die löschenden Arbeiter gingen müde von Bord. In der Allee tauchte das erste Liebespärchen auf und setzte sich auf eine Bank.

Die beiden Mädchen gingen mit einem verstohlenen Seitenblick vorüber, und die Erwachsene raunte: »Ob die sich wohl hinter unserm Rücken küssen werden?«

Silly sah tiefernst empor. »Rissa, sag mir die Wahrheit … möchtest du einen Mann küssen?«

»Warum nicht? Einen mit einem langen Leutnantsschnurrbart«, lautete die leichtfertige Antwort.

»Du flunkerst … Rissa … warum sprangst du ins Wasser?«

»Weil ich doch schwimmen kann und glaubte, daß Junker in Gefahr sei [später: der Junker sei in Gefahr].«

Sie sah errötend hinweg.

Sillys Augen waren leicht verschleiert. »Sag mir die Wahrheit … du … du liebst Amatus …«

Ein Seufzer klang. »Ach, er ist ja zwei Jahre jünger als ich.« Noch ein Seufzer! »Silly, sieh mich an … und sag du es erst … du liebst deinen Vetter …«

»Ja … ich glaube, ich liebe ihn … und du, Rissa?«

»Ich mag ihn sehr gern leiden.«

Was taten die beiden Mädchen nun? Sie fielen sich um den Hals und küßten sich sehr und weinten ein wenig.

»Silly, ist das nicht entsetzlich, daß wir beide ihn lieben?«

Die kleine Berg machte einen Schluchzer. »Jetzt haben wir einander unser Herzensgeheimnis anvertraut … das darf kein Mensch erfahren, und er am wenigsten.«

»Nein, um Gottes willen! Wir müssen einander schwören, daß wir es nie verraten … auch nicht, wenn wir uns erzürnen sollten.« [Später ergänzt: So Klarissa.]

Silly ging noch weiter: »Auch nicht, wenn wir Feindinnen würden.«

Sie leisteten mit einem Händedruck den Eidschwur und verstummten im feierlichen Gefühl der Stunde, bis Silly nachdenklich den Finger an die Lippen legte.

»Aber du! Wenn wir beide ihn lieben, müssen wir ja eigentlich Feindinnen werden und uns hassen.«

Klarissa ließ zwei dicke Tränen fallen. »Wir müssen noch einmal schwören, daß wir einander immer lieben wollen.«

Kaum war dieser Schwur bekräftigt, als die Kleine schnell sagte: »Dann darf aber auch keine von uns ihn heiraten.«

»Nein, eben nicht! Wir müssen uns gegenseitig ein heiliges Gelübde ablegen – und dabei an Gott denken – und geloben, daß wir ihn heimlich lieben, aber nie heiraten dürfen.«

»Niemals!«

Sie reichten sich zum Gelübde die Hände, sahen ergriffen zu dem Stern empor, der durch die Baumwipfel schimmerte, und küßten sich mit blassen Lippen.

Fräulein Reder gelangte, ungesehen von den Argusaugen der Stiefmutter, in die Kammer und das Bett, in dem sie lange wach lag und weinte. – – – – –

Es längten sich die Abende, und Hans Junker ermahnte: »Mutter, könntet ihr nicht etwas länger die schöne Schummerstunde halten?«

»Nein, Nichtstun ist eine falsche Sparsamkeit.«

Auf dem Tische brannte die neue Rundbrennerlampe, die Monika auf einer Auktion erstanden hatte.

Der Sohn kam nach Hause und antwortete auf die inquisitorische Frage, wo er so lange gewesen sei, daß er dem Sohne des Rittmeisters beim Aufsatz geholfen habe.

»Warum hilfst du ihm?«

»Aus Freundschaft.«

Es geschah wohl mehr, um ein Taschengeld zu verdienen; und die Nachhilfe bestand darin, daß er dem Sohne des Rittmeisters und dem des Gutsbesitzers die Aufsätze diktierte. Alle drei Wochen, wenn der böse Aufsatz kam, war Amatus ein willkommener Gast in den vornehmen Häusern, in der Zwischenzeit aber wurde der Verkehr suspendiert. Er merkte es wohl, lachte bissig und ließ sich die Nachhilfestunden bezahlen.

Das war ein vom Vater ererbter Zug.

Unter der Rundbrennerlampe hatte er sich in ein aus der Gymnasialbibliotek entliehenes Buch vertieft. Monika teilte mit dem Sohne die Unterhaltungslektüre, so daß sie abends nach Bettzeit aufsaß.

Amatus rief [später ergänzt: plötzlich] indigniert: »Was soll das heißen?«

Unvermutet hatte die Mutter ihm das Buch vor der Nase zugeklappt. »Das ist halt nichts für dich und viel Häßliches darin.«

»So–o! Heinrich Heine gehört zu den Klassikern, so gut wie Schiller und Goethe … frage den Lehrer, der mir das Werk gegeben! Übrigens lese ich nur das Schöne und nicht das Schlimme.«

Die Klassizität des ungöttlichen Heine schlug Monika so, daß sie die Finger zurückzog.

Mit heißhungrigem Herzen und verschlingenden Augen genoß er [später: der Jüngling] die Gesänge des lieblich lockeren Lyrikers und wußte viele Vers auswendig.

An einem Mittwoche vergoldete matter Herbstsonnenschein die grau verschrumpften Blätter des Pappeltals. Just zum Schwermütigsein das geeignete Wetter!

»Komm, Friedline, wir wollen spazieren«, sagte der Bruder.

Der Blinden war die geringe Freude groß und beglückend.

»Nun blühen keine Blumen mehr«, sagte sie.

»Ja, doch!« Er brach eine Spätaster ab, die durch das Gitter des Nachbargartens guckte.

Die Schwester hatte für seine Stimmungen einen feinen Instinkt. »Woran denkst du?«

»Ich dachte eigentlich daran, daß ich unglücklich bin.«

»Unglücklich?«

In seinem Lieblingsdichter webend und lebend, deklamierte er:

»Mir träumte einst von wildem Liebesglühn,
Von hübschen Locken, Myrten und Resede,
Von süßen Lippen und von bittrer Rede,
Von düstrer Lieder düstren Melodien.«

»Versteht du das?«

»Nein, das scheint mir Quatsch … wie können süße Lippen bittre Rede führen?«

»Ach, seitdem Klarissa für mich ins Wasser sprang, redet sie mit ihren süßen Lippen wenig mit mir und weicht mir aus … aber warum? Vielleicht hat sie zu Hause Schelte bekommen … daran bin ich doch nur indirekt schuld.«

Die Blinde zog in einer unbewußten Eifersuchtsanwallung, zu welcher Untugend sie einzig neigte, die Augenbrauen zusammen. »Magst du die Reder?«

Er antwortete nicht, sondern fragte: »Weißt du, was heiße, leidenschaftliche Liebe ist? Wie könntest du …«

»Ja, ich verliebe mich in die Stimme.«

Vor Erstaunen stand er still. »Was? Du bist verliebt gewesen?«

»Ich bin es noch« erwiderte sie unerschütterlich.

»Friedline!« schrie er.

Sie lachte schelmisch. »Ich bin in dich und deine Stimme verliebt und will nie einen andre lieben.«

Ein Lächeln der vollsten und reinsten Befriedigung umspielte seine Lippen. »Aber mich kannst du nicht heiraten.«

»Heiraten ist etwas Häßliches …«

»Etwas Häßliches?« Er wäre am liebsten als Untersekundaner zum Standesamt gefahren.

»Wer mag mit einem fremden Menschen … [später ergänzt: immer] zusammenwohnen? Ich liebe nur meinen Bruder.«

Amatus wurde großmütig. »Nach acht oder neun Jahren bin ich so weit, daß ich heiraten kann.«

»Dann bist du Pastor …«

»Um Gottes willen … nach acht Jahren bin ich Doktor oder dergleichen und nehme mir natürlich eine Frau, aber stelle gleich die Bedingung, daß meine blinde Schwester bei mir bleibt … du bekommst ein feines Stübchen, ißt mit uns am Tische und … spielst mit den Kleinen.«

»Mit den Kleinen?«

Erst als Friedline [später ergänzt: errötend] kicherte, verzog auch er die ernsten Mienen.

Die Blinde, die alle traurigen Gedanken in der Brust versteckte, aber nichts Fröhliches bei sich behalten konnte, erzählte der Mutter von des Bruders Edelmut und verschwieg das übrige.

Monika blickte gerührt auf die Straße hinab, wo der Gute und Gepriesene stand und mit einer drallen, weißschürzigen Person [später ergänzt: eifrig] sich unterhielt. »Warum steht er nun da und quatscht mit Reders Dienstmädchen? Das ist unpassend.«

Karoline fragte [später ergänzt: ihn]: »Weshalb kommen Sie nicht abends, wenn die Herrschaften aus sind?«

Der Sekundaner sprach sehr gedämpft: »Nein, ich wage mich nicht in die Höhle der langen Stine … sie soll mich nicht wieder bei den Haaren herausschmeißen … aber es ist ein merkwürdiger Zufall, daß Klarissa niemals abends um acht Uhr, wenn ich vom Pastor komme, den Torweg passiert … verstehen Sie mich, Karoline?«

Sie zeigte die Zähne und lachte breit. »Ich verstehe doch deutsch durch die Blume … Sie meinen ein richtiges Rendeswuz [später: Rendezvous] … ja ich will schon das Fräulein anticken.«

Frau Junker öffnete das Fenster und rief [später ergänzt: energisch] ihren Sohn, und die mütterliche Magd ging heim, um Klarissa anzuticken. – – –

Der gute Sohn und Bruder kam eines Mittags in schlechter Stimmung zu Tisch.

»Hast du eine Dummheit gemacht in der Schule?«

»Nein, eine niederträchtige Dummheit hat der Doktor Konrad begangen … im deutschen Aufsatz haben die beiden Esel, denen ich Einleitung, Disposition und Ausführung diktiert habe, »gut« bekommen und ich selber nur »fast gut«, obgleich ich ihnen doch natürlich nur einen verdünnten und verschlechterten Aufguß meiner Gedanken gegeben habe … ist das nicht unerhört?« Der Zorn des Sekundaners war mit seiner Klugheit durchgegangen.

Die Mutter schalt den Sohn, welches ihre Pflicht war, obgleich das »fast gut« auch sie nicht wenig wurmte. »Du Schlingel weißt wohl, daß andern die Aufsätze zu machen verboten ist.«

»Ich werde nie mehr so dumm sein, Mutter.«

»Ich glaube nicht, daß Doktor Konrad ungerecht ist.«

»Ich glaub' es für uns beide und weiß warum … Onkel Karl hat ihn bearbeitet.«

»Was sagst du?« rief sie.

[Später entfallen: »Asmus sitzt weit hinter mir … das hat das Kalb ins Auge geschlagen …] Doktor Konrad verkehrt beim Onkel und wird mit Niersteiner traktiert … man fühlt es instinktiv, wenn ein Lehrer beeinflußt wird.«

»Geh mir mit deinen Instinkten!« Die Mutter wies ihn ab und widersprach nicht weiter.

Hatte nicht der Emeritus sie vor einigen Tagen auf der Straße angeredet und geäußert: »Er wird doch nicht etwas bequem, weil er spielend lernt … die Lehrer meinen, daß er noch mehr leisten könne … halten Sie dem Leichtfuß, der jetzt in die Flegeljahre kommt, die Leine recht stramm!« Da hatte sie ihren Sohn dem Wohltäter gegenüber verteidigt – und da war ihr ein leiser Verdacht aufgestiegen, den Amatus jetzt laut in Worten ausgesprochen.

Der Sekundaner war trotzdem so dumm, andern die Aufsätze zu machen. Das Taschengeld, das er von den Eltern nicht erhielt, verschaffte er sich auf diese Weise und vertat nicht seinen sauren Verdienst, weder in süßem Kuchen, noch in bairisch bittrem Bier. Nein, er hatte ein Vermögen von vier Mark erspart und im Zeichenbesteck, welches seine heimliche Sparbüchse war, verwahrt. Diese Summe war für einen großen Zweck bestimmt, von dem er nicht einmal Friedline etwas anvertraute.

Mitten in dem häßlich-gräßlichen Nebelmonat sprang die Knospe jener feuerroten Wunderblume der ersten Liebe in seinem [später: dem] Herzen [später ergänzt: des Sekundaners]. Während die Wildgänse schreiend durch die Lüfte zogen und die kahlen Haselhecken dicke Nebeltränen tropften, ging er in Sehnen und Schwermütigkeit auf dem menschenleeren Königswege. Wenn das süße Leid am ärgsten brannte, brach aus seinem Auge eine Zähre, die aber – wie ein kleiner, auf Feuer geschütteter Wasserguß – den hellen Minnebrand nicht löschte, sondern schürte.

In der Schummerstunde schnitt die Mutter Butterbröte. Er saß dicht am Fenster, und über den Pappeln war der Abendstern der Venus aufgegangen.

Leise las er:

Und wüßten sie meine Wehe,
Die goldenen Sternelein,
Sie kämen aus ihrer Höhe
Und sprächen Trost mir ein.

So tief ergriffen ihn die [später ergänzt: elegischen] Worte, daß zwei nasse Fäden über seine Wange flossen. Was riß ihn rauh und roh aus Tränen und Träumen? Die Mutter, die von hinten kam, zerrte am Haarschopf sein Haupt empor.

»Der dumme Bengel heult wahrhaftig! Nun ist es genug der Jugendeselei … sonst schnappst du mir noch über von Heinescher Verrücktheit. Ich nehm' das Buch, das du in die Bibliothek zurückträgst, an mich. Jetzt aber mach dich fertig und marsch! Du sollst dem Pastor, der sich nicht wohl fühlt, die Zeitung zwischen fünf und sechs vorlesen … Gott behüte den alten [später ergänzt: ,guten] Mann!«

Der Pastor lag auf dem Sofa und sagte mehr als einmal: »Das kannst du überschlagen.«

Die Mutter fragte bei der Rückkehr [später ergänzt: sehr] gespannt ihren Sohn, und dieser berichtete: »Es steht nicht gut, denn er konnte nicht die ganze Zeitung verdauen und ließ mitten in den Verwickelungen der Balkanhalbinsel abbrechen.«

Monika betete am Abend brünstig für den Greis, daß der Herr zehn Jahre zur Länge seines Lebens legen möge. –

Karoline hatte mehrmals die Tochter des Rederschen Hauses angetickt, ohne daß die mütterliche Dienstmagd verstanden worden wäre. Zuletzt redete sie deutsch und deutlich: »Der Junker ist ein netter Mensch … ich würde ihn nicht laufen lassen, sondern für alle Fälle an der Hand behalten … als Reserve.«

»Pfui!« sagte Klarissa, die an der Reserve-Moral [später ergänzt: schweren] Anstoß nahm.

»So? [Später ergänzt: Den wollen Sie nicht!] Sie müssen vielleicht einmal den Kohl essen, in den Sie jetzt pfuien und spucken … dann werd' ich Sie daran erinnern, Fräulein.«

Das [später ergänzt: mißverstandene] Fräulein machte einen schiefen Mund und sah träumerisch, tief und entsagungsvoll in die Luft.

Sie [später: Klarissa] vermied ängstlich, zwischen acht und neun Uhr den Torweg zu betreten. Ihr war unbekannt geblieben, daß die Vorlesung verlegt worden war; und als sie einmal ahnungslos aus dem Hofe kam, stellte Amatus Junker sich mitten in ihren Weg. Männlich finster war sein Antlitz, männlich fest seine Lippen.

Sie redete ihn mit Sie an und der trivialen Frage: »Wie geht es Ihnen?«

Das war zu viel für sein Gemüt, und seine vorbedachte Rede wurde zum unbedachtsamen Gestammel: »Klarissa … weißt du noch … weißt du noch?«

»Was soll ich wissen?«

»Als das Licht ausgeblasen wurde und ich dich fragte: Liebst du mich?«

Sie erhob abwehrend die Hände. »O, man will doch nicht, wenn man erwachsen ist, an seine dummen Kinderstreiche erinnert werden.«

»Kin–kin–kinderstreiche? Ich kam … um vor dir zu knieen.«

Ihr Mund stand zwischen Greinen und Weinen. »Quäle mich nicht! Ich habe einen Eid geleistet, daß ich nie heirate …«

»Deiner Stiefmutter?«

»Nein, daß ich nie heirate.«

Er schleppte die schlaffen Arme [später ergänzt: bittend] empor. »Klarissa, laßt uns unglücklich lieben!«

Der natürliche Menschenverstand der Erwachsenen kam zu sich selber [später ergänzt: und sagte]: »Unsinn … die lange Stine kommt!«

Das nur an die Wand gemalte Schreckgespenst scheuchte ihn nicht von hinnen. »Ich gehe nicht, bis in deinem Auge ein Schimmer der Hoffnung mir leuchtet …«

Da machte sie sich böse. »Was bildest du dir ein … ich bin zwei Jahre älter, und du … noch nicht einmal konfirmiert, sondern …«

»Was bin ich?« fragte er [später ergänzt: tonlos].

»Ein … ein dummer Junge …«

Das grauenhafte Wort »Dummerjunge« war ihrer Zunge entsprungen. Die dem Schüler und Studenten allerschlimmste Verbalinjurie zerschmetterte seine Seele, die aus allen Wolken in die Tiefen des Weltschmerzes stürzte. »Die Teufel, die nennen es Höllenleid, die Menschen, die nennen es Liebe.« So sagte er sich vor [später: murmelte er vor sich hin] auf dem Nachhausewege.

Klarissa lief in die kalte Kammer hinauf und legte das weinende Haupt ins Kissen. Sie hatte sich hart machen müssen, aber warum nicht das Harte in schonende, sanftmütige Worte gekleidet? Darum klagte sie, darum quälte sie sich.

Frau Junker bemerkte die Blässe ihres Sohnes und deutete sie falsch. »Nimm's dir nicht zu Herzen, mein guter Amatus! Ich bete täglich für den Pastor, und Gott wird ihn noch ein paar Jahre erhalten.«

Der blasse Jüngling antwortete verbissen: »Mutter, ich muß zu Ostern konfirmiert werden … ich werde zu lang und von allen ausgelacht.«

»Nein, das hat noch gute Zeit.« –

Am nächsten Abend saß Amatus an dem Bette des Greises, und die Pfeife mußte auf den Wunsch desselben mehrmals angezündet werden, aber [später nach dem Verb] erlosch dem kraftlos saugenden Lippen. Der an Altersschwäche Erkrankte schläferte viel und hörte wenig von dem letzten Weltberichte und der Balkanhalbinsel.

Der Schlaf [später ergänzt: , ja der Schlaf,] hat ihn allmählich bezwungen, bis er nicht mehr erwachte.

Amatus vergoß die reinsten Zähren, die Menschenaugen weinen können, die der Dankbarkeit. Alles, was er geworden war, erreicht und gewonnen hatte, war er durch diesen Mann, der als ein Werkzeug in der Hand der Vorsehung sein Leben in neue Bahnen geleitet.

Die Frage, was nun werden würde, warf der Vater zuerst auf [später am Satzende], welcher ein langes Gesicht machte. »Ließ die Witwe nichts davon verlauten, daß sie in Zukunft das Schulgeld bezahlen werde?«

»Nein, sie sagte, daß sie sich einschränken müsse, weil die Pension wegfalle, aber der Hardesvogt werde es natürlich für eine Ehrenpflicht halten.«

Hans sprach bündig: »Monika, du mußt zu deinem Bruder gehen und ihn an die Ehrenpflicht erinnern.«

Sie erwiderte noch bündiger und bestimmter: »Ich gehe nicht zu meinem Bruder … lieber kargen wir uns die 24 Taler vom Munde ab.«

Hans hopste. »Schmachten und hungern sollen wir … [später ergänzt: nein,] eher gebe ich Amatus in die Apothekerlehre.«

Außerhalb des Hauses redete er vertraulich auf seinen Sohn ein. »Weißt du, daß die Apotheker 300 Prozent in die Tasche stecken? Ja, du machst dich schon ganz nett und kannst dich sehen lassen. Dir wird es nicht schwer fallen, eine gute Partie einmal zu machen … du heiratest eine reiche Frau und kaufst die Bärenapotheke für 100 000 Mark.«

»Nein Vater, ich heirate nie und will kein Pillendreher werden … noch lieber Seemann!«

»Soso! Jaja! In deiner Mutter steckt der große Bergsche Geist, aber du hast von mir den gesunden Menschenverstand, der auf dem Boden der realen Tatsachen bleibt, wie der Amtsrichter sich ausdrückt. Geh, ohne der Mutter etwas zu sagen, einfach zum Onkel und bitte ihn, das Schulgeld zu bezahlen!«

»Wenn er aber nein sagt?«

Hans kicherte schlau. »Er kann nicht nein sagen, weil er eben auch den Bergschen Größengeist besitzt, der sich als den Großmütigen aufspielen muß.«

Amatus entschloß sich zu dem Bittgang und stand vor dem Spiegel. Sah er wirklich [später ergänzt: so] gut aus, wie der Vater – allerdings in berechnender Absicht – angedeutet hatte? Eingehend und von allen Seiten betrachtete er sein Konterfei und kam zu der betrübsamen Selbsterkenntnis, daß in diese dünne, eckig schmale, überall zu lange Mannsfigur, an der nur die Röcke und Hosen zu kurz geraten waren, weder Klarissa noch irgend ein Weib sich verlieben konnte [später: könnte]. Das sagte er sich mit einem unsagbar kläglichen und klein machenden Gefühl.

Als er mittags aus der Klasse eilte, stand der Gymnasialdirektor auf dem Flure und winkte ihm. Immer hat ein Schüler irgend eine Kleinigkeit auf dem Gewissen und wird bei solchem Anruf erröten.

Aber trocken verkündete der Direktor: »Das Lehrerkollegium hat beschlossen, dir von Ostern ab einen Freiplatz zu gewähren.«

O, das Glück, das immer wenig Worte macht! Der Sekundaner setzte sich in einen Schnellauf, bei dem die langen, ungeliebten Beine ihm zu statten kamen, und nahm in Sprüngen die Treppe der niedrigen Dachwohnung, in die er große Freude hineintrug. Nur er allein durfte nicht von Herzen froh sein, weil er unglücklich liebte und schwermütig sein mußte.

Nicht als Bittsteller, als Triumphator begab er sich nachmittags in die Hardesvogtei, um sein Glück zu melden. Der Oheim war abwesend [später entfallen: , und Vetter Asmus hantierte auf dem Flur mit einer Salonbüchse.

»Ich muß im Garten Krähen schießen und kann dich dabei nicht gebrauchen«].

»Wo ist Silly?« [später ergänzt: fragte er das Dienstmädchen]

»Sie liegt oben festgebunden.«[später: festgebunden«, lautete die Antwort.]

Eine verblüffte Frage: »Festgebunden?«

Ein gleichmütiges Nicken. »Ja, das dumme Ding will bucklig werden … darum muß sie in einer Art von Hängematte gerade ausgestreckt und immer fest mit dem Rücken liegen [später entfallen: … wollen wir hinauf und sie ulken?«].

Sillys Gesicht war noch [später ergänzt: immer] rundlich, aber nicht rotglühend wie ein Apfel, sondern von der Bleichsucht, dieser bösen Backfischkrankheit, angegilbt wie eine Quitte. Schnell und sittsam zog sie die Bettdecke bis ans Kinn und freute sich über den Besuch des Vetters, den sie errötend grüßte. Unerträglich war die steife Lage in den Gurten, darin sie mit möglichst geringer Bewegung beharren sollte, [später entfallen: und] unleidlich die fürchterliche Langeweile. Weil ihre rechte Schulter zu hoch nach hinten hinaus wollte, hatte der Hausarzt diese Tortur verordnet, die er eine von ihm neu entdeckte, orthopädische Kur benannte.

[Später entfallen: Der Bruder fragte: »Silly, weißt du, was du bekommst?«

»Von Amatus oder von dir?«

»Nein, vom lieben Gott … bekommst du einen Höcker.«

»Pfui!« sprach Amatus entrüstet.

Zu den Füßen der Schwester lag ihre schwarze Lieblingskatze als Gesellschafterin.

»Was? Das Biest liegt im Bett?« Asmus hob die fauchende Katze an dem Schwanze empor.

Silly schrie und schalt: »Asmus Tierquäler! Asmus Katzenmörder!« Sie weinte laut: »Amatus, hilf mir!«

Kalt lächelnd ließ der böse Bruder die Katze fallen und kehrte sich ab mit dem Wort: »Mich hat das unglückselige Weib vergiftet mit seinen Tränen.«

Auch er gehörte der Heinrich Heineschen Schule an, die sich am Gymnasium in Norderhafen gebildet zu haben schien.

Rachevoll rief die Schwester ihm nach: »Warte! Ich sag's … der dumme Schlingel darf die Büchse nicht anrühren, wenn der Vater nicht dabei ist.«]

Amatus setzte sich dicht ans Bett und fragte: »Warum liegst du in dieser ledernen Hängekoje … bist du krank?«

»Nein, ich kann tüchtig essen, und mir fehlt eigentlich nichts … höchstens ein paar Eisbonbons … die holst du mir nachher!«

Die holte er aber sofort, geschwind über die Straße laufend, und nahm seinen Platz wieder ein. Silly, welche die Arme auf die Bettdecke gelegt hatte, lag still und lutschte [später ergänzt: an den Bonbons].

Leicht strich er mit der Hand über ihre runde, graublasse Backe.

Die blauen Augen sahen groß zu ihm empor. »Warum streichelst du mich?«

»Kleine Silly, weil ich Mitleid mit dir habe.«

»Mitleid … ja Mitleid haben alle mit mir … tagaus und tagein muß ich in dieser greulichen Stellung liegen.«

»Darfst du gar nicht aufstehen und dich ein bißchen bewegen?« Die Frage war eine Versuchung.

Energisch stemmte sie sich in den Gurten empor. »O, ich möchte es zu gern und würde jede halbe Stunde, die ich auf und ab gehen könnte, einen Monat – nein, das ist zu viel – eine Woche meines Lebens hingeben.«

»Tu es doch! Jetzt ist niemand hier«, raunte der Versucher.

Sie lutschte nachdenklich. »Du bist hier … und sie haben mir die Kleider weggenommen.«

»Was macht das, Silly? Wir sind ja nahe Verwandte.«

Silly sah hinweg und sagte leise: »Ja, freilich, Vetter und Kousine sind wie Bruder und Schwester und können sich nicht heiraten.«

Der Gesetzeskundige anwortete mit wichtiger Miene: »Heiraten können sie sich doch.«

»Meinst du?« fragte sie unsicher.

»Ja, denn die Pröpstin ist eine Base des Propsten. Wenn du aber Bange hast vor mir, ist das Allereinfachste, daß ich verschwinde.«

»Nein, nein, lieber Amatus, dann bin ich wieder ganz allein … stell dich an die Tür und guck durch das Schlüsselloch und horch, ob jemand die Treppe hinauf kommt, und sieh nicht ein einziges Mal zurück … das mußt du mir [später ergänzt: heilig] versprechen.«

Er sagte nur: »Auf Ehrenwort!« und zog mit sechs langen Schritten auf Posten.

Die Kousine kämpfte mit der Schämigkeit einen letzten Kampf und siegte. Im weißen Nachtgewande, das vom Halse bis zu den Fußspitzen reichte, stand sie auf dem Teppich und machte unsichere Schritte. »O, mir ist so schwindelig …«

Er [später: Amatus] wagte eine halbe Schwenkung. »Soll ich zu Hilfe kommen?«

»Nein, um Gottes willen … brech nicht dein Ehrenwort! Nun wird mir schon besser … wie schön! Die Glieder zu recken, die [später ergänzt: wie] festgefroren sind!«

Während er horchte und sie auf und ab wanderte, unterhielten sie sich.

Unvermittelt und unvermutet warf Silly die Frage hin: »Hast du kürzlich Klarissa gesehen?«

»Kla–ris–sa?« Steil richtete sich der Körper vom Schlüsselloche empor.

»Sobald du sie siehst, sage ihr, daß sie mich besuchen soll!«

»Eine solche Dame redet man nicht auf der Straße an.«

Durchforschend betrachtete sie seinen Rücken. »Du … du bist so sonderbar … seid ihr böse auf einander?«

Ein hohles Haha klang durch das Schlüsselloch. »Haha, ich bin sonderbar? Nein, ich bin sehr vergnügt.«

Das unnatürliche Lachen hatte ihn verraten.

Silly machte ein kluges, tiefsinniges Gesicht und grübelte. Ach, er liebt sie, und wenn mein Rücken sich verkrümmt, bin ich [später ergänzt: doch] so, daß niemand mich mag.

Der Schmerz stärkte sie in ihrem Ringen mit einem heldenhaften Entschluß. »Amatus, ich glaube …« Da stockte ihre Stimme in der erschrockenen Erkenntnis, daß sie im Begriff sei, das gegebene Wort und Gelübde zu brechen.

»Was glaubst du?«

»Daß Klarissa gut und gar nicht hochmütig ist …«

Das schrille Geläut der Türglocke klang durch das Haus.

»Mein Vater kommt zurück!« Schnell kehrte Silly dem Posten an der Tür die Hinterfront zu. »Du! Ein einziges Mal darfst du dich umsehen.«

Er tat es mit unglaublicher Geschwindigkeit.

»Betrachte mich genau von oben bis unten, ob du – auf meinem Rücken – einen Höcker sehen kannst!«

»Liebe Silly, ich kann gar nichts sehen … dein Rücken ist so flach und senkrecht, wie der Schenkel eines Winkels von neunzig Grad.«

Diese mathematisch genaue Antwort erfüllte sie mit einer solchen Glückseligkeit, daß sie, übermütig und flüchtig die Vorderfront ihres Körpers zeigend, einen Bonbon in den Mund ihm steckte und, ins Bett hüpfend, die Decke bis zum Halse emporzog.

Der Vetter [später ergänzt: Junker] entfernte sich. Die Kousine lag getröstet und lutschte am letzten Bonbon.

In Träumen bog Amatus Junker in die Gänsegase hinein – und wäre am liebsten Luft und Duft geworden. [Später folgt Absatz] Dort kam Klarissa Reder ihm entgegen! Doch mit einer übernatürlichen [später: übermächtigen] Willensenergie faßte und festigte er sich ein Herz, quer über die Straße schießend. »Silly läßt Sie um einen Besuch bitten … das … das wollte ich nur bestellen.«

Fräulein Reder blickte scheu von der Seite und nickte. Aber in ihren Augen war ein unerklärlicher, unsichrer Schimmer.

Den Schimmer suchte er sich zu erklären, hin und her sinnend, ob das Schmerz oder Spott, Haß oder Liebe sei. Da hatte er es und bei seinem Lieblingsdichter die rechten Worte [später ergänzt: dafür] gefunden. Zu Hause deklamierte er Friedline vor:

»Wohl seh ich Spott, der deinen Mund umschwebt,
Und seh' dein Auge blitzen trotziglich,
Und seh' den Stolz, der deinen Busen hebt, –
Und elend bist du doch, elend wie ich.«

Dieweil saßen die zwei Freundinnen bei einander und sprachen von ihm und erneuerten unter Küssen und Tränen das Gelübde der ewigen Freundschaft, Jungfräulichkeit und heimlichen Liebe.

***

In der letzten Konfirmationsstunde wandte sich der Propst von Norderhafen an die vordersten Bänke [später entfallen: , trotzdem er über die erwachsenen Schülergestalten hinwegsah].

»Die Gymnasiasten haben sich vor den Bürgerschülern hervorgetan, – nämlich durch ihr bescheidenes Schweigen und ihre geistige Armut.«

Ja, die Lateinschüler waren in der Religion recht unwissend gewesen.

Am Morgen des Sonntags Palmarum nahm Monika ihren Sohn allein mit sich in die Kammer und kniete nieder und ließ ihn knieen. Sie ermahnte nicht, sondern betete laut: »Mein Gott, erhalte den Knaben fromm und gut, rein und recht! Behüte ihn, meinen Augapfel, wie deinen Apfel im Auge! Der Herr bewahre dich vor allen Versuchungen, errette dich in allen Nöten und verleihe dir Sieg in allen deinen Kämpfen! Siehe, seine Engel und Mauern sind um dich her.«

Dieses schlichte Muttergebet machte auf den Sohn einen nachhaltigeren Eindruck, als die ganze Konfirmationsvorbereitung, und er nahm den [später: einen] [später entfallen: schluchzenden] Segen in der Seele mit.

Zu Palmarum trug Amatus Junker zum erstenmal die funkelneue, grellrote Primanermütze. Sehr dankbar-demütig, aber auch ein wenig stolz schlug das Mutterherz, als sie zusammen zur Kirche gingen.

Die Schüler faßten die heilige Handlung nicht so sehr als einen kirchlichen Akt und innerlichen Vorgang auf, durch welchen ein neuer Herzensmensch angezogen werde, sondern betrachteten die Sache mehr als einen bürgerlichen Staatsakt, kraft dessen endgültig die unliebsamen Kinderschuhe abgestreift und der lange, schwarze Gehrock des erwachsenen Menschen angetan werde.

Die rote Mütze, der schwarze Gehrock und das »Sie« der Lehrer hoben Amatus' Selbstbewußtsein, so daß die Heinesche Schwermut verflog und der Weltschmerz sich in diesen Tagen zu einem kecken Lächeln erhellte.

Hatte er nicht ein gutes Recht, ein Menschen-, ein Jünglings- und Mannesrecht, zu lieben und geliebt zu werden?

An einem Sonntagnachmittage nach beendetem Mittagsschlafe ging der Gerichtsdiener in Hemdsärmeln und gähnend auf und ab.

Sanft begann er: »Kann ich vielleicht eine kleine Stunde zu Petersen gehen?«

Eine scharfe Stimme durchschnitt die sanfte: »Zu dem Schreiber Petersen, dem Saufaus?«

Hans sagte engelsmilde: »Liebe Mutter, nicht zu dem Saufaus, sondern zu Peter Petersen.«

Monika wurde mißtrauisch. »Du hast doch dem Kaufmann Petersen den Konfirmationsanzug bezahlt?«

Seine [später: Ihres Mannes] Miene wurde noch ergebungsvoller. »Der Kaufmann heißt Hans, Hans Petersen … Peter Petersen ist der Trödler in der Schlachterstraße, der ein Paar schöne, kaum gebrauchte Stiefel hat, lange, breitschnauzige, mit zwei Zoll dicken Sohlen … die kann ich spottbillig abhandeln.«

In Norderhafen hörte jeder vierte Mensch auf den Namen Petersen.

»Hans, kannst du es an dem einen freien Nachmittag nicht bei deiner Familie aushalten? Ich dachte, wir wollten alle zusammen ausgehen.«

Er krümmte in qualvollen Windungen den geschmeidigen Körper. »Liebe, liebe Mutter, die Beine sich ablaufen, um etwas Wasser zu begucken, soll das ein Vergnügen sein?«

»Nein, nach Wasser gehst du nicht.«

Schläfrig nahm Amatus das Wort: »Mutter, ich bin heute etwas abgespannt und möchte dich bitten, mich hier zu lassen.«

»Ja, du kannst meinetwegen hier bleiben und hübsch das Haus hüten, aber Väterchen geht mit Friedline und mir.«

»So!« Väterchen sank in einen Stuhl und zog eine in Papier gewickelte Rolle aus der Tasche. »Erlaubst du, Mutter?« fragte er sanft.

»Was soll ich erlauben?«

Noch sanftmütiger fuhr er [später: Hans] fort: »Daß ich einen Priem von meinem eigenen Kautabak nehme?«

»Das kannst du halten, wie du willst.«

»Danke!« sagte er demutsvoll und steckte ein dickes Stück zur Stärkung hinter die Backe.

Der Gerichtsdiener ist mit Frau und Tochter spazieren gegangen und hat das Wasser der Föhrde beschaut.

Amatus [später ergänzt: aber] hatte das ungestörte Alleinsein erreicht und hütete das Haus. Einen reiflich erwogenen Plan hatte er ausgeführt und für die Ersparnisse, die aus dem Zeichenbesteck verschwunden waren, Heines Buch der Lieder in feuerroter Leinewand mit Goldschnitt gekauft. Einen zweiten, nach langen, bangen Zweifeln gefaßten Entschluß wollte er heute in männliche Tat umsetzen, d.h. er setzte ihn zunächst in Kladde auf Papier, den Halter zerkauend und die Haare zerwühlend, und schrieb ihn dann auf einen blaßroten Briefbogen. Der, welcher im deutschen Aufsatz eine gewandte Feder führte, war mit keiner stilistischen Leistung zufrieden und malte kalligraphisch auf den Umschlag: An Fräulein Klarissa Reder.[!]

Das Brieflein sollte sein Schicksal entscheiden, und der Würfel war gefallen.

Als die Spaziergänger frühzeitig heimkehrten, qualmte der Primaner aus der nun erlaubten Pfeife, und die Mutter meinte: »Ich sehe, jetzt geht es dir besser, Amatus.«

»Ja, ich fühle mich sehr erleichtert.«

Am Abend suchte und fand er Gelegenheit, der treuen, mütterlichen Dienstmagd Karoline das Päckchen zur Weiterbeförderung zu übergeben.

Der sonst blinde und oft blödsinnige Zufall zeigt zuweilen eine raffiniert satanische Tücke.

Heimlich blinzelnd steckte Karoline das Paket dem Fräulein zu, das in der Kinderstube, wo es sich meistens aufhielt, mit zitternder Schere den Bindfaden zerschnitt. In maßloser Aufregung wickelte Klarissa das Buch heraus und blätterte heißrot, ohne für irgend etwas anderes Auge und Ohr zu haben, darin.

»Ah! Ein Brief! Ihr Herz hämmerte. Aber die Redliche zögerte, weil sie an das bindende Gelübde dachte.

Sie langte endlich nach der Schere – da langte ein riesenlanger Arm über ihre Schulter hinweg und riß Brief und Buch an sich.

»Du … du erhältst schon Liebesbriefe und fängst frühzeitig an, die Bahn des Lasters zu betreten … jetzt kommst du ganz gewiß aufs Gras, wie ich lange gedroht, und zu einer energischen Frau Pastorin, die dich unter die Fuchtel nehmen wird.«

Die Stiefmutter, die auf weichen Filzschuhen im Hause umherschlich, war geräuschlos gekommen und mit rauschendem Geräusch verschwunden.

Die Stieftochter aber kam in derselben Woche aufs Gras zu der energischen Frau Pastorin, welche junge Mädchen zur weiteren Erziehung und zur Ausbildung im Hauswesen bei sich aufnahm. Klarissa, die den Abschied von Norderhafen mit schwerem, aber die Verbannung vom Angesicht der Mutter mit leichtem Herzen ertrug, [später ergänzt: Klarissa,] und die anderen jungen Mädchen sprachen oft darüber, und keins von ihnen konnte sich den inneren Widerspruch reimen oder lösen: Daß sie alle zu tüchtigen Hausfrauen sich ausbilden und doch keinem Manne die allerkleinste Annäherung gestatten sollten!

War nicht die Ehe die logisch notwendige Voraussetzung der Hausfrau? Ja, voll von ungelösten Widersprüchen ist das Menschenleben!

Ahnungslos und zuversichtlich saß Amatus am Dienstage zu Beginn der deutschen Stunde, denn er war im Fache wohl beschlagen und fürchtete nicht die Rückgabe der Aufsätze. Der Direktor legte den Stapel blauer Hefte aufs Pult und fixierte ihn. Ah, so dachte der Schüler, ich hab' die erste Zensur, und mein Aufsatz soll als der beste vorgelesen werden.

Ja, es sollte vorgelesen werden.

Der Direktor verzog schräg und spöttisch den Mund. »Einer meiner jüngsten Primaner hat sich einen horazischen Extra-Aufsatz geleistet, den ich im Auszuge zum Besten geben will.«

Junkers Haupt fiel in hellem Entsetzen [später ergänzt: hinter den Rücken des Vordermanns]. Das, was der Lehrer hielt, war ja sein blaßrötliches Brieflein. Über die Brille schoß ein Blick aller Bosheit, ehe die harte Stimme mit lächerlichem Pathos las.

»Liebe, heiß und einzig geliebte Klarissa!«

Die gesamte Prima zog die Taschentücher, um das breite Grinsen zu verbergen.

»Wenn ich dich auch nicht lieben darf, so kann ich doch nicht anders, ich muß dich entsagend und unglücklich lieben. Daß du mich einmal »dummer Junge« genannt hast, habe ich aus meinem Gedächtnis gelöscht und gestrichen; meine Liebe ist so groß und echt und unendlich, daß sie alles erträgt und erduldet, vergibt und vergißt.«

Die Schüler kicherten laut. »Hoho, hihi!« Junkers Nebenmänner stießen ihn kräftig in die Rippen.

Der Direktor las weiter: »Was sind zwei Jahre Altersunterschied? Die rechte Liebe teilt alles mit dem Geliebten – ich nehme eins von deinen Jahren, und wir stehen auf gleich, Klarissa. Du hältst Großes in deiner kleinen Hand – mein ganzes Schicksal …«

Der Lehrer blinzelte boshaft über die Brille und ließ den Brief sinken. »Ich halte die Quintessenz alles [später ergänzt: jugendlichen] Blödsinns in der Hand. Meine jungen Herren! Nun lachen Sie aus vollem Halse, so laut Sie können!«

Hahaha! Hahaha! Dazwischen klang ein brummendes Bravo.

Amatus war halb bewußtlos vor Schmerz, Scham und Wut und gefühllos für die freundschaftlichen Belebungspüffe, die ihn trafen.

»Stille!« Der Direktor wurde zum strengen, energischen Schulchef. »Junker, Sie sind ein dummer Jung, den ich in dieser Weise durch Bloßstellung vor der ganzen Klasse bestraft habe, weil das am besten wirken wird. Im Wiederholungsfalle reden wir anders miteinander. Herr und Frau Zollinspektor nehmen Geschenke von Ihrer Hand nicht an … ich übergebe Ihnen das Buch … den Brief werde ich bei den Schulakten aufbewahren.«

Die Bloßstellung ist ein [später ergänzt: scharfes] Züchtigungsmittel, das stets einen Stachel hinterläßt.

Junger war verbittert und vernichtet. Hatte Klarissa abscheulichen Verrat begangen? Seine Liebe, die in den letzten krankhaften Zuckungen lag, klammerte sich an die Möglichkeit, daß sie nur unvorsichtig gewesen und den Brief nicht tief genug am Busen versteckt habe.

Schmutzige Schalen des Hohns wurden über ihn ausgegossen. Er merkte, daß die Mitschüler an seinen hinteren Rockknöpfen einen Zettel befestigt hatten, riß ihn los und las zornblaß den neu geprägten Spitznamen: Amatus Ewiglieb!

Erst mit seinen Fäusten verschaffte er sich eine einigermaßen erträgliche Existenz.

Zu Hause sah ihn die Mutter an und sagte: »Du bist so benaut … hast du im deutschen Aufsatz eine schlechte Zensur bekommen?«

»Nein, gut, wie immer.«

Aus seinen Zügen ein Lächeln herauspressend, aß er tüchtig bei Tische. Einzig und allein von allem hatte der Hunger ihn nicht in Stich gelassen.


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