Hans Dominik
Die Macht der Drei
Hans Dominik

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II

Und es kam der Tag, an dem sich in Linnais drei Menschen stumm umarmten. Der Tag, an dem die große Erfindung vollendet war.

Tage angespanntester Arbeit in Laboratorium und Werkstatt lagen hinter ihnen. Was jetzt kam, die Arbeit in der Werkstatt, um die Konstruktionen auszuführen, war körperlich leichtes Spiel, geistige Erholung.

Die Hauptarbeit hatte Silvester getan. Hindernisse, die immer wieder unvermutet auftauchten, hatte sein erfinderisches Genie bewältigt. Wenn bei den anderen die Zweifel laut oder leise sich regten, hatte er das Problem mit unbeirrbarer Zuversicht von einer neuen Seite angefaßt. Erik Truwor sah die Arbeit nicht ohne Sorge, denn Silvester war körperlich nicht eben der stärkste. Es kam wohl vor, daß er die Hände auf das in der Entdeckerfreude übermäßig pochende Herz pressen mußte, daß er mit wankenden Knien Minuten ruhen mußte, bevor der Kampf weiterging.

Nach einer letzten durcharbeiteten Nacht warf Silvester mit glückselig stolzem Lächeln seine Feder hin. Das Heureka des siegreichen Forschers kam über seine Lippen. Dann sank er zusammen und fiel in einen tiefen, todähnlichen Schlaf.

Mit liebevollen Händen betteten sie den Zusammengesunkenen auf seinem Lager.

Atma hielt dort die Wacht.

Erik Truwor litt es nicht länger in den engen Räumen. Mit übervollem Herzen stürmte er hinaus, um allein und im Freien seiner Gedanken und Pläne Herr zu werden.

Gedanken und Pläne von unerhörter Kühnheit, die seit Wochen in ihm brodelten, zerrissen und sich von neuem zusammenballten, wollten sich jetzt verdichten und Gestalt annehmen. Schon eine Stunde stürmte er durch den tiefen Wald und wußte nicht, wie er dorthin gekommen war. Auf steilen Grashalden ging es bergan. Geröll und Felsblöcke zwangen ihn, seine Schritte zu verlangsamen. Als er die Höhe erreichte, rang er nach Atem. Tief unter ihm lag der Strom. Sein Rauschen drang nur noch gedämpft herauf. Dichte Nebelschwaden zogen an den Talwänden. Ein frischer Wind pfiff über die Höhen. Erik Truwor nahm den Hut vom Kopf und ließ sich die erhitzte Stirn kühlen. Er ließ sich auf einem Felsblock am Rande des Abhanges nieder. So saß er lange still und starr wie der Stein unter ihm.

Die lauten und verworrenen Stimmen der vergangenen Nächte begannen zusammenzuklingen zu einer klaren, starken Melodie. Zu einem unnennbaren Hochgefühl voll Zuversicht, Ruhe und Kraft, das von ihm ausströmte und ihm entgegenströmte aus den stummen Steinhalden, dem dunklen Grün der Föhren, den Spitzen der fernen Bergkämme.

In diesem Augenblick umspannte sein Geist weite Räume und Zeiten, verknüpfte das Gegenwärtige mit dem Vergangenen und Zukünftigen. Die Erinnerungen an Pankong Tzo wurden lebendig. Die geheimnisvollen Lehren und Sprüche, immer wieder mit der gleichen Überzeugung und Gläubigkeit vorgetragen und immer wieder zweifelnd von ihm aufgenommen. Jetzt war die Stunde gekommen, die ihm der Abt in Pankong Tzo mit lächelnder Zuversicht vorausgesagt.

Die Stunde der Wandlung! Die Stunde, die sein irdisches Dasein in zwei Leben teilte.

Als er vor Tagen die Tragweite von Silvesters Erfindung erkannte, als er die Möglichkeit erblickte, mit ihrer Hilfe der Welt neue Gesetze, seine Gesetze vorzuschreiben, hatte ihn die Größe des Gedankens erschreckt und niedergedrückt. Jetzt war es entschieden.

Das Schicksal hatte aus dem Alten in Pankong Tzo gesprochen und ihn zu seinem Werkzeug erkoren.

Mit festen Schritten ging er den Weg nach Linnais zurück. Siegesgewiß. Von der Idee an seine Mission erfüllt und getragen.

Aus langem stärkenden Schlummer war Silvester erwacht. Erfindung . . . Strahler . . . Konstruktionen, alles das lag traumhaft hinter ihm.

Jetzt, wo die gewaltigste Arbeit getan, seine Schöpfung vollkommen war, kehrten seine Gedanken ungehemmt zu früheren Dingen zurück. Sie gingen nach Trenton. Sie flogen zu Jane.

Er verstand sich selbst nicht mehr. Wie war es möglich, daß er in diesen Tagen der Arbeit Jane so vollkommen vergessen konnte. Hatte ihn das Problem verzaubert? War ein anderer Einfluß wirksam? Er wußte keine Antwort darauf.

Er sah seine Verlobte. Sah sie in dem kleinen Hausgarten ihre Lieblinge, die Blumen, pflegen. Er erblickte sie im traulichen Beisammensein im Lichtschein der Lampe. Er sah, wie beim Sprechen ein rosiger Blutschimmer ihre zarten Wangen färbte und wie ihre Augen aufstrahlten. Er sah sie in stillen Abendstunden in leichtem schwebenden Gang an seiner Seite durch die Felder gehen.

Dann sah er Dr. Glossin, und Sorge beschlich ihn. Er mußte zu Jane, mußte sie schützen, mußte sie in Sicherheit bringen. Liebe und Furcht mischten sich in seinen Gedanken.

Mit Ungeduld erwartete er die Rückkehr Erik Truwors. In fliegender Hast trug er ihm seine Pläne und Wünsche vor. Die Erfindung war vollendet. Die Ausführung war eine Kleinigkeit. Wenn sie ohne seine Mitwirkung etwas länger dauerte, was verschlug das.

Mit unbewegter Miene hörte Erik Truwor die Wünsche Silvesters.

»Um eines Weibes willen willst du fahnenflüchtig werden?«

»Fahnenflüchtig? Was soll dieses Wort von deiner Seite? Aus Janes Munde wäre es berechtigt.«

»Und unsere Mission?«

Erik Truwor sprach es mit starker Stimme.

»Mission? Meine Aufgabe ist erfüllt. Das sagt mir mein Innerstes. Die Erfindung ist vollendet. Was ich zu geben hatte, habe ich gegeben. Die Werkstattarbeit geht ohne mich. Was kommt es auf ein paar Tage früher oder später an?«

»In ein paar Tagen können Tausende von Männern fallen, Tausende von Frauen Witwen werden. In ein paar Tagen kann mehr Elend entstehen, als in Jahrzehnten wieder gutzumachen ist.«

»Du siehst schwarz. Erwartest du schon in nächster Zeit den Kriegsausbruch?«

»Gewiß! Täglich, stündlich können die ersten Schüsse fallen. Deshalb muß der Apparat so schnell wie möglich fertiggestellt werden. Wir sind ausgeruht. Nichts hindert uns, sofort an die Arbeit zu gehen.«

Silvester stand stumm. Widerstreitende Gefühle kämpften in seinem Inneren. Er sah Jane in den Händen Glossins. Er sah Schlachtfelder, bedeckt mit Toten und Verwundeten . . . Ehre und Gewissen zwangen ihn, seine Liebe zum Opfer zu bringen. Er tat es mit blutendem Herzen.

»Aber . . .« Die tiefe Erregung spiegelte sich in seinen Augen wider . . . »Aber woher nimmst du die Gewißheit, daß der Krieg schon in allernächster Zeit ausbrechen wird? Dein Glaube gründet sich doch nur auf Mutmaßungen.«

Wortlos deutete Erik Truwor auf den Inder.

»Du, Atma! Du sagst es?«

»Ich sagte, was ich in den stillen Nächten sah, in denen ihr arbeitetet. Ich sah die blanken Schwerter in den Händen der feindlichen Brüder, bereit zum Töten.«

Silvester senkte betroffen das Haupt. Die Voraussagen Atmas waren untrüglich. Er wendete sich ab, um seine innere Bewegung zu verbergen. Da fühlte er die Arme des Inders sich um seine Schultern legen.

»Der Krieg wird nicht kommen, bevor sich der Mond vollendet. Als ich in der vergangenen Nacht an deinem Lager wachte, sah ich, wie die Schwerter sich in ihre Scheiden zurücksenkten. Die Hände der Männer blieben am Griff.«

»Was sagst du, Atma? Der Krieg ist aufgeschoben?«

Erik Truwor trat näher an den Inder heran. Er hielt den Papierstreifen des Telegraphenapparates zwischen den Fingern.

»Aufgeschoben. Das würde die veränderte Sprache in diesen Telegrammen erklären.«

»Aufgeschoben, bis der Mond sich erneut. Wir haben Zeit. Zeit, deinen Willen zu tun, und Zeit, die Wünsche Silvesters zu erfüllen.«

Erik Truwor traf die Entscheidung. Für achtundvierzig Stunden brauchte er die Hilfe Silvesters noch, um alle Teile der neuen Konstruktion so weit fertigzumachen, daß er sie dann selbst nur zusammenzusetzen brauchte.

Sein Befehl war zwingend. Vergeblich suchte Silvester dagegen zu kämpfen. Atma nahm die Partei Erik Truwors.

»Zwei Tage und zwei Nächte, Silvester. Dann haben wir hier getan, was zu tun ist, und holen das Mädchen.«

Mit einem Seufzer fügte sich Silvester dem Willen seiner Freunde. Von neuem begann ein Arbeiten, ein Schmieden, Feilen und Schleifen. Stahl und Kupfer gewannen neue Formen, und in achtundvierzig Stunden wuchsen die Teile, die den neuen großen Strahler bilden sollten.

* * *

Doktor Glossin saß im Gebäude der englischen Admiralität vor einem dickleibigen, verstaubten Aktenstück und wandte Blatt um Blatt.

Da lag auf vergilbtem Papier, von seiner eigenen Hand geschrieben, die kurze Mitteilung, durch die er damals die Aufmerksamkeit des englischen Distriktskommissars auf Gerhard Bursfeld lenkte. Das Briefchen hatte von dort den Weg zu den nebligen Ufern der Themse gefunden, und hatte seine Wirkung getan. Die folgenden Schriftstücke sprachen davon.

Der Bericht eines anderen Distriktskommissars an den Oberkommissar, daß eine Bande räubernder Eingeborener den Ingenieur Bursfeld entführt hätte. Mitteilungen über die Mobilmachung von Militär. Eine Expedition zur Befreiung des Entführten. Nebenher die Mitteilung, daß das Sommerhaus Bursfelds bei der Entführung in Flammen aufgegangen wäre. Ein Bericht, daß man den Wiedergefundenen an Bord des Kleinen Kreuzers »Alkyon« gebracht habe, daß seine Gattin und sein Kind nirgend aufzufinden seien. Bis dahin konnten die Berichte in jeder Zeitung stehen. Die englische Regierung spielte darin die Rolle des Befreiers, und nichts verriet, daß der Überfall bestellte Arbeit gewesen war. Dann wurden sie ernsthafter und waren nicht mehr für die Öffentlichkeit geeignet.

Die Überführung Bursfelds in den Tower. Seine erste Vernehmung über seine Erfindung. Seine Weigerung, irgend etwas zu sagen. Wiederholte Vernehmungen im Laufe der nächsten vier Wochen. Stets das gleiche negative Ergebnis.

Dann kam das letzte Schriftstück im Bündel. Die Mitteilung, daß man Gerhard Bursfeld in der fünften Woche seiner Gefangensetzung tot auf seinem Lager gefunden habe. Nach einem Gutachten des amtierenden Arztes am Herzschlag verschieden.

Dr. Glossin atmete auf. Die Last einer dreißigjährigen Vergangenheit fiel ihm vom Herzen. Gerhard Bursfeld war tot. Er war gestorben, ohne daß die englische Regierung etwas von seinem Geheimnis erfahren hatte. Dr. Glossin suchte in seiner Erinnerung das wenige zusammen, was er seinem Freunde damals entlockt hatte: Die Behauptung der theoretischen Möglichkeit, an einem Orte erzeugte Energie ohne materielle Verbindungen an einer beliebigen anderen Stelle zu konzentrieren. Ein kleiner Versuch, bei welchem eine fünfhundert Meter entfernte Dynamitpatrone explodierte, als Bursfeld mit einem kleinen Apparat ein paar Manöver ausführte. Die strikte Weigerung des Freundes, irgend etwas Weiteres zu sagen.

Die beiden Worte »Telenergetische Konzentration« hämmerten dem Doktor in den Schläfen. Gerhard Bursfeld hatte die Worte gebraucht. Er war einem Geheimnis auf der Spur gewesen, welches dem besitzenden Staate die Weltherrschaft sicherte. Jedes Sprengstofflager konnte man mit diesem Mittel aus der Ferne sprengen. Die Patrone im Flintenlauf des einzelnen Soldaten ebensogut explodieren lassen wie das Riesengeschoß in den großen Rohren der Flottengeschütze.

Ein großes, gelbes Kuvert bildete den Schluß des Aktenstückes. Es enthielt die wenigen Papiere, die man bei der Leiche des Inhaftierten gefunden hatte. Seinen Paß und ein kleines Notizbuch mit Bleistiftaufzeichnungen. Mit einem Schauer blickte Dr. Glossin auf die ihm so vertrauten Schriftzüge. Kurze Notizen über den damaligen Dienst in Mesopotamien. Abgerissene Worte über den Überfall und die Entführung. Dann die Tragödie im Tower. Das weiße Papier des Notizbuches war zu Ende, und Gerhard Bursfeld hatte die letzten Mitteilungen in deutscher Sprache zwischen die gedruckten Zeilen des Kalendariums gekritzelt. So waren sie wohl der Aufmerksamkeit seiner Wächter entgangen.

»Donnerstag, den 13. Mai. Sichere Nachricht, daß Rokaja und Silvester tot sind.«

»Sonnabend, den 15. Mai. Sie versuchen, mir meine Erfindung durch Hypnose zu entreißen.«

»Sonntag, den 16. Mai. Ich habe heute nacht im Schlaf gesprochen . . . Zeit, ein Ende zu machen. Ich entrinne ihnen doch. Eine Luftblase in eine Vene geblasen, ich bin frei . . . Heute noch, bevor die Nacht kommt. Rokaja . . . Silvester . . . ich sehe euch wieder.«

Damit brachen die Mitteilungen ab.

Dr. Glossin überlegte. Sie hatten dem Gefangenen natürlich jedes gefährliche Stück abgenommen. Aber ein Mann wie Gerhard Bursfeld wußte immer noch hundert verschiedene Wege und Mittel zu finden, sich eine Vene anzuschlagen und Luft einzublasen. Der Herzschlag, den der Bericht als Todesursache angab, war dem Doktor Glossin vollkommen klar.

»Ich habe in der letzten Nacht gesprochen.« Nur diese Worte bereiteten ihm Beklemmungen. Gerhard Bursfeld war schwer zu hypnotisieren. Es war anzunehmen, daß er den hypnotischen Einfluß gespürt . . . während des Schlafes empfunden, sich instinktiv zur Wehr gesetzt hatte und darüber erwacht war. So konnte es sein. Doktor Glossin suchte sich einzureden, daß es so gewesen sein müsse. Aber ein leiser Zweifel blieb übrig.

Lord Maitland trat in den Raum, um nach seinem Gast zu sehen.

»Haben Sie alles gefunden, was Sie suchten?«

»Ich ersah zu meinem Bedauern, daß meine damaligen Bemühungen, der britischen Regierung einen Dienst zu erweisen, vergeblich waren . . . Leider. Die Welt hätte heute ein anderes Gesicht, wenn es gelungen wäre. Gerhard Bursfeld besaß das Mittel, die Welt aus den Angeln zu heben. Er hat es mit ins Grab genommen.«

Dr. Glossin sprach die Worte langsam und beobachtete jeden Zug und jede Miene des Lords. Aber dessen Antlitz blieb völlig unverändert.

»Ich habe den alten Akt auch durchgesehen. Unsere Regierung hat sich damals viel Mühe um den Fall gemacht. Wie Sie sehen, ganz umsonst. Es hat oft solche Leute gegeben, die sich einbildeten, Gott weiß was erfunden zu haben. Sie hätten den armen Narren ruhig bei seinem Bahnbau sitzen lassen können. Jedenfalls bin ich erfreut, Ihnen in dieser Angelegenheit gefällig gewesen zu sein. Ich bitte Sie, über mich zu verfügen, wenn Sie weitere Wünsche haben.«

Dr. Glossin dankte. Er wäre Seiner Lordschaft aufs äußerste verbunden und hätte keine weiteren Wünsche. Wenn Seine Lordschaft jemals einen Gegendienst . . .

Er überschwemmte Lord Maitland mit einer Flut von Höflichkeitsfloskeln. Sie gingen ihm von der Zunge, ohne daß er ihren Sinn überhaupt merkte. Dabei aber erteilte er seinem Gegenüber mit größter Anstrengung einen suggestiven Befehl.

»Wenn du etwas von der Erfindung weißt, so sage es.« Er hütete sich mit Gewalt, dabei selbst an die Erfindung zu denken, denn er kannte die Gefahr, daß diese Gedanken auf sein Gegenüber mitwirkten und als dessen eigene reproduziert wurden.

Lord Maitland blieb ruhig. Er erwiderte die Höflichkeiten Amerikas mit denen Englands. Die Redensarten der einen Seite waren genau so belanglos wie die der anderen. Da wußte Dr. Glossin, daß Gerhard Bursfeld sein Geheimnis mit ins Grab genommen hatte.

* * *

Die Bedingung, an die Erik Truwor sein Versprechen geknüpft hatte, trieb Silvester zu fieberhafter Tätigkeit an. Er achtete kaum der Zeiteinteilung und arbeitete die Tage und die hellen Nächte, nur getrieben von dem einen Wunsch, den neuen Apparat fertig zu haben und dann zu holen und zu sich zu nehmen, was ihm das Teuerste war.

In rastloser Arbeit schaffte er, bis das letzte Stück gegossen, die letzte Speiche geschmiedet, die letzte Schraube geschnitten war. Da ließ er den Drehstahl aus der Hand sinken und wandte sich zu Erik Truwor: »Wenn du wüßtest, in welcher Verzweiflung ich hier gestanden und gearbeitet habe, wenn du meine jetzige Freude verstündest. Doch du . . . du . . .«

»Du . . .? Du weißt nicht, was Liebe heißt, wolltest du sagen.«

Silvester hörte den bitteren Unterton, der in den sarkastischen Worten lag.

»Du, Erik? Du, auch du . . .«

Silvester schwieg. Er sah die tiefen Falten, welche die Stirn Erik Truwors furchten. So hatte auch Erik Truwor, der gegen alle Anfälle des Lebens gefeit schien, ein Geheimnis, einen verborgenen Kummer.

»Verzeih, Erik, wenn ich ungewollt eine Wunde berührte, von der ich nicht wußte. Ich glaubte nicht, daß dein Stahlherz je Frauenliebe verspürte.«

»Kein Mann wird mit stählernem Herzen geboren. Der es besitzt, hat es nach bitterer Enttäuschung und Entsagung erworben. Die Wunde ist verharscht . . .«

Wie mit sich selbst sprechend, fuhr er leise fort: »Ganz verharscht und geheilt seit dem vorgestrigen Morgen. Ohne Bewegung und ohne Bedauern kann ich heute von einer Zeit erzählen, wo ich der glücklichste Mensch auf Erden war . . . und dann der unglücklichste . . . Es war während meines Pariser Aufenthalts.

Die Verleumdung wagte sich an mein Ideal heran.

Ich forderte den Verleumder und traf ihn tödlich. Dann ging ich zu meiner Verlobten. Ich forderte Aufklärung. Ihre Rechtfertigung ging an meinem Herzen vorbei. Ich gab ihr den Ring zurück. Ging fort von Paris, durchirrte die Welt.

Es hat vieler Jahre bedurft, bis ich die Ruhe wiederfand. Heute denke ich anders darüber. Wenn ich heute . . . Warum davon noch sprechen.

Heute gilt es Mannestat! Was mich heute bewegt, was mir Herz und Hirn erfüllt, schaltet jeden Gedanken an ein Weib aus.

Es gilt einen Wurf, der unsere Welt umgestalten soll . . . Wenn du wieder zurück bist, wenn dein Herz frei von der Sorge ist, will ich dir sagen, wozu das Schicksal uns bestimmt hat.«

»Wenn ich zurück bin, Erik. Jetzt denke an dein Versprechen. Ich habe getan, was ich tun sollte.«

Bevor Erik Truwor zu antworten vermochte, sprach Atma: »Es ist nicht gut, das Mädchen in der Hand der Gewalt zu lassen.«

Atma saß zurückgelehnt. Seine Augen blickten weitgeöffnet in die Ferne. Die Pupillen zogen sich eng und immer enger zusammen. Seine Hände ruhten auf einem tibetanischen Rosenkranz.

»So sah er aus, als er mir riet . . . nein, befahl, nach Trenton zu gehen.«

Erik Truwor flüsterte es Silvester zu. Nach einigen Minuten erschütterte ein tiefer Atemzug die Brust des Regungslosen. Seine Pupillen bekamen wieder ihre natürliche Weite. Er sprach: »Die feindliche Kraft ist am Werke. Glossin hat den dritten Ring. Er sinnt auf Böses. Wir müssen den Ring holen . . . und das Mädchen.«

Erik Truwor widersprach. Was solle der Ring? Auf die Männer käme es an. Die wären zusammen!

»Welchen Auftrag gab dir Jatschu?«

Atma stellte die Frage tibetanisch, und Erik Truwor antwortete in der gleichen Sprache: »Er sagte: Suchet den dritten Ring!«

»Das sagte er? Also müssen wir ihn suchen. Die Wege des Lebens sind tausendfach verflochten. Was dir Nebensache erscheint, wird zur Hauptsache, wenn das Rad sich dreht. Erst den Ring! Dann das Mädchen und dann . . . alles andere. So ist es bestimmt. So wird es geschehen.« Atma hatte es leise und monoton, noch unter der Einwirkung des kataleptischen Zustandes gesprochen. Aber ein zwingender Wille ging von den Worten aus. Unter dem Zwange gab Erik Truwor seine Einwilligung.

»So sei es denn. Ihr beide mögt gehen, den Ring und das Mädchen holen. Ich bleibe hier und baue den Strahler. Brecht morgen mit dem frühesten auf. Tut, was ihr tun müßt . . .«

»Noch diese Nacht. In einer Stunde. Eile tut not.«

Soma Atma sagte es. Der Inder, der lange Tage und Wochen untätig verbringen konnte, der Stunden hindurch, in die Betrachtungen seiner Lehre versenkt, wie eine Bildsäule saß, während Erik Truwor und Silvester mit Anspannung aller Kräfte arbeiteten, der sonst so tatenlose Inder war jetzt ganz Willen und Tat.

»In einer Stunde brechen wir auf. Die Maschinen sind nachzusehen. Das Schiff muß hierhergebracht werden. Den kleinsten Strahler müssen wir mitnehmen. Wir könnten ihn brauchen.«

Atma befahl, und die Freunde gehorchten seiner Weisung.

In einer Stunde läßt sich viel tun. Was Menschenkraft zu tun vermag, geschah in dieser Zeit. Das Flugschiff lag auf der Wiese vor dem Truworhaus. Die letzten Vorbereitungen wurden getroffen. Dann ein kurzer Händedruck, und ein silberner Stern schoß in die Wolken.

Die hohe Gestalt Erik Truwors blieb allein auf dem Feld zurück. Die Strahlen der Mitternachtsonne umströmten ihn. Er stand und sah, wie die Sonne vom tiefsten Stand ihres Bogens in Mitternacht sich hob und stieg.

Langsam schritt er seinem Hause zu und überdachte die alte Weissagung. Sie verhieß Gewaltiges. Sie gab ihm, der oft willens gewesen, das Leben wie ein unbequemes Gewand abzutun, wieder Daseinszweck.

Er trat in das Haus und ging in die Bibliothek. Den alten Schweinslederfolianten ergriff er, der dort abseits von den anderen Büchern in einer Truhe lag.

Die Geschichte seines Geschlechtes. Auf vergilbtem Pergament die handschriftlichen Aufzeichnungen seiner Ahnen und Urahnen. Zurückgehend bis in das zehnte Jahrhundert. Jede große europäische Bibliothek hätte diesen Folianten mit Gold aufgewogen. Er schlug die alte so oft gelesene Stelle auf. In diesem Teile war der Foliant lateinisch geschrieben. Ein schwerfälliges, frühmittelalterliches Latein. Der Schreiber brauchte lateinische Worte, aber altnordischen Satzbau. Er schilderte die Ereignisse, die sich zweihundert Jahre früher, um die Mitte des zehnten Jahrhunderts, begeben hatten.

»Da schickten die Slawen von Sonnenaufgang eine Gesandtschaft zum Stamme Ruriks. Die sprach: Sendet uns Männer, die uns beherrschen, denn wir können uns nicht selbst regieren. Keiner will dem anderen gehorchen. Zwietracht verheert das Land . . .«

Ein Truwor war damals nach Rußland gegangen. Männer aus Nordland hatten das zwieträchtige Slawenvolk regiert und geeint. Vor tausend Jahren. Die Weltgeschichte wiederholt sich nicht wörtlich. Aber sie wiederholt sehr oft ein altes Thema mit freien Variationen.

Die Eintragungen in diesem Buche gingen bis in die Gegenwart. Als letzte Bemerkung stand dort, von Eriks Hand geschrieben, der Tod Olaf Truwors eingezeichnet. Seitdem stand das Geschlecht der Truwor auf zwei Augen. Auf den beiden Eriks, die jetzt suchend in die helle Nacht blickten, als wollten sie kommende Jahre durchspähen.

Je länger sich Erik Truwor in die Erfindung Silvesters vertiefte, desto gewaltiger erschien ihm die Macht, die sie gewährte. Immer wieder suchte er mit nüchternen Gründen gegen das Überwältigende der Idee anzukämpfen. Es schien ihm unmöglich, daß eine Erfindung einem einzigen Menschen die unbeschränkte Macht über die ganze Welt verleihen solle. Und doch gelang ihm die Widerlegung nicht.

Er griff sich an die Stirn, als wolle er einen Traum verscheuchen, der ihn narre. Er versuchte es zum zehnten- und zwölftenmal von einer anderen Seite aus, und immer wieder brachte ihn die Schlußkette an das nämliche Ziel.

Er konnte der Welt seine Befehle mitteilen. Elektromagnetisch in Form drahtloser Depeschen. Der Strahler ersetzte jede drahtlose Station.

Die Welt konnte seine Befehle mißachten. Er konnte Strafen auf die Mißachtung setzen, und er war in der Lage, schwer zu strafen. Ganze Regierungen konnte er einäschern. Die Sprengstofflager feindlicher Staaten zur Explosion bringen. Eiserne Waffen elektromagnetisch unbrauchbar machen.

Alles konnte er. Nur einen schwachen Punkt hatte seine Macht. Er war ein einzelner, war ein sterblicher Mensch gegen Millionen anderer Menschen. Ein Schuß konnte ihn töten. Eine Bombe konnte ihn mit seinem Hause vernichten. Nie durfte er selbst an die Öffentlichkeit treten, nie durften seine Gegner seinen Aufenthalt erfahren. Seine Macht war übermenschlich, solange sie geheimblieb und vom unbekannten Orte aus wirkte. Sie wurde angreifbar, sobald die Gegner ihren Sitz und Ursprung errieten.

Erik Truwor ließ die vergilbten Pergamentblätter des alten Folianten durch die Finger gleiten. Kam vom Pergament zum Büttenpapier und schließlich zu einem Schuß glatten Maschinenpapiers, den Olaf Truwor dem Buche eingeheftet hatte.

Wenige Zeilen in der charakteristischen Handschrift seines Vaters: »Mit seltener Hartnäckigkeit hat sich in unserer Familie die Sage erhalten, daß ein Sproß unseres Stammes der Welt noch einmal Gesetze geben wird. Ein Harald Truwor hat den Glauben an die Legende Anno 1542 mit seinem Kopf bezahlt. Ich habe es immer vermieden, von dem alten Spuk zu sprechen. Hoffentlich kommt die Sage jetzt endlich zur Ruhe.«

Erik Truwor mußte trotz seiner ernsten Stimmung lächeln. Es war ihm schon klar, wie solche Sagen sich fortpflanzen. In den Dienerstuben wurde davon gesprochen. So hatte er selbst als Kind davon gehört, und die Erinnerung war bis heute haftengeblieben. Auch ohne die Aufzeichnungen seines Vaters hätte er darum gewußt. Etwas anderes erschien ihm wichtiger. War die Sage begründet? Bestimmte das Schicksal die Taten und Leistungen des einzelnen wirklich auf Jahrtausende im voraus? Die Frage quälte ihn, und er konnte die Antwort nicht finden.

* * *

Reynolds-Farm, an drei Seiten von steilen Felsen und bewaldeten Anhöhen umgeben, liegt eingebettet in ein Meer von Grün. Die letzten Bäume des Waldes berühren mit ihren Kronen beinahe die Dächer der Gebäude. Einzelne Rinnsale, die aus den Felsen hervorquellen, vereinigen sich nahe der Besitzung zu einem stattlichen Bach. Kurz vor der Farm ist er gezwungen, seinen Lauf zu ändern und sich einen bequemeren Weg durch die breiten Wiesenflächen zu bahnen, die sich nach der Ebene an die Besitzung anschließen.

In einem blaßblauen, leichten Gewand, den Kopf von einem großen Schattenhut überdacht, schritt Jane über den schmalen Brettersteg, der den Bach überbrückte. Leichtfüßig begann sie die steinige Anhöhe hinaufzusteigen, auf deren Gipfel eine einzelne riesige Buche ihr Blätterdach weit ausbreitete. Es war ihr Lieblingsort. Zwischen den rippenartig ausgehenden Wurzeln des gewaltigen Stammes hatte sie ein Plätzchen gefunden, wo sie wie in einem Lehnsessel ruhen konnte. Von hier aus vermochte sie wie aus der Vogelschau Reynolds-Farm und die weite grüne Grasfläche zu überblicken.

Wie anders als in Trenton, wo Qualm und Dunst der großen Staatswerke stets über dem Orte lagen. An den Stamm des Baumes zurückgelehnt, ließ Jane die frische Morgenluft um die Stirn wehen, während ihr trunkenes Auge über die weite grüne Landschaft schweifte. Wie glücklich hätte sie hier sein können. Wie wäre die Mutter in diesem milderen Klima aufgelebt, vielleicht ganz gesundet . . . und Silvester? . . . Wo war er? Lebte er noch? Warum kam kein Lebenszeichen von ihm? . . . Trübe Schatten senkten sich auf ihre Stirn. Sie atmete unruhig. Ein Seufzer hob ihre Brust. Mit ganzer Seele klammerte sie sich an den Gedanken, daß er bald kommen und sie holen möchte.

Dr. Glossin? . . . Gewiß, er war stets liebevoll und zuvorkommend zu ihr. Aber immer wieder tauchten verworrene Gedanken in ihr auf. Beunruhigend, warnend, trübten sie das Gefühl der Dankbarkeit. Der Zwiespalt quälte sie oft so, daß sie den Gedanken erwog, die Farm für immer zu verlassen. Doch wohin? Und würde sie Silvester finden, wenn sie nicht mehr in Reynolds-Farm weilte?

Um sich von dem Grübeln zu befreien, griff sie zu einem Buch, das sie der Bibliothek des Doktors entnommen hatte, und begann zu lesen. Doch nicht lange. Dann entsank es ihren Händen, und ein wohltätiger Schlummer umfing sie. Sie überhörte die Schritte des Doktors, der nach ihrem Weggange gekommen und von Abigail nach der einsamen Buche geschickt worden war.

Glossin stand vor ihr und betrachtete entzückt diese wie von Bildnerhand geschaffene Gestalt, dies edel und weich gezeichnete Gesicht mit den rosigen Farben und dem sanften Mund. Er kniete neben ihr nieder, ergriff behutsam ihre Hand und fuhr fort, sie mit seinen Blicken zu umfassen. Dies alles gehörte jetzt ihm, wie er meinte. Gehörte ihm für immer. Niemand würde es ihm mehr streitig machen können.

Dr. Glossin war ein Mann von eiserner Willenskraft und ungewöhnlicher Beharrlichkeit. Das einzige Kraftlose an ihm war sein Gewissen. Tiefere Herzensbedürfnisse hatte er bisher nicht gekannt. Wollte es der Zufall, daß ein weibliches Wesen vorübergehend die Leidenschaft in ihm weckte, hatte er es sich mit allen Listen einer gewissenlosen Moral willig gemacht. Wären die Mauern von Reynolds-Farm nicht stumm gewesen, sie hätten über manche Tragödie Aufschluß geben können, die irgendwo begann und hier ihren Abschluß fand.

Nur eine große Leidenschaft hatte Dr. Glossin in seinem Leben gehabt. Damals, als Rokaja Bursfeld seinen Weg kreuzte.

Als er Jane Harte zum erstenmal sah, hatte er das gute Medium für seine hypnotischen Versuche in ihr erblickt, ein wertvolles Mittel für die Ausführung seiner Pläne. Nur deshalb hatte er an ihrem Schicksal Interesse genommen. Bis er sich durch Silvester Bursfeld in ihrem Besitze bedroht sah und die Flamme einer plötzlichen Leidenschaft in dem alternden Mann aufloderte.

Oft hatte er seine Schwäche verwünscht, ohne doch dieser Leidenschaft Herr werden zu können. Daß das Mädchen ihn, der dem Alter nach recht gut ihr Vater sein konnte, nicht aus vollem Herzen liebte, ja vielleicht nie lieben würde, wußte er. Aber der Gedanke, Jane sein Eigen zu wissen, ließ alle Bedenken schwinden.

Dr. Glossin beugte sich über Janes Hand, die in der seinen ruhte, und preßte die Lippen darauf. Mit einem leichten Ausruf des Schreckens fuhr Jane aus ihrem Schlummer empor. In der ersten Überraschung schenkte sie der sonderbaren Stellung des Arztes keine Beachtung.

»Ah, Sie, Herr Dr. Glossin! . . . Oh, wie freue ich mich, daß Sie gekommen sind. Sie werden mich undankbar schelten, aber ich muß es Ihnen sagen, die Einsamkeit in Reynolds-Farm bedrückt mich.«

»So wünschen Sie, daß ich häufiger komme, daß ich länger bleibe . . . für immer bei Ihnen bleibe, Jane?«

Jane senkte errötend den Kopf. Die fürsorgliche Liebe, die aus den Worten des Doktors klang, setzte sie in Verwirrung. Sie wollte sagen, daß er sie falsch verstanden habe, daß sie aus Reynolds-Farm weg wolle. Und brachte doch die Worte, die undankbar klingen mußten, nicht über die Lippen.

Von seiner Leidenschaft verblendet, glaubte Dr. Glossin, daß Janes Zurückhaltung ihr nur als Schutzwehr gegen ein wärmeres Gefühl dienen sollte.

»Jane! Darf ich, soll ich immer bei Ihnen bleiben?«

Sie antwortete nicht sogleich. Ihre Hand zuckte in der seinen. Ein Ausdruck flehender Hilflosigkeit kam über ihr Gesicht.

»Ich weiß nicht«, sagte sie tonlos. »Es ist . . .« – sie legte die Hand aufs Herz –, »es ist so fremd hier.«

»Nicht hier allein. Überall in der Welt! Wo der eine ist, soll auch der andere sein. Jane, sehen Sie mich an. Ich will offen mit Ihnen sprechen. Ich verlange nach einem Heim, einem Weib, einer Friedensstätte. Der Blick Ihrer Augen, der Ton Ihrer Stimme, Ihre geliebte Nähe, sie werden mir alles bringen. Wert bin ich Ihrer nicht, ja, ich weiß, es ist unedel, wenn ich Ihr blühendes junges Leben an das meine ketten will. Aber ich kann nicht anders, und, Jane, ich liebe Sie, liebe Sie mehr, als ich Ihnen sagen kann. Wollen Sie mir folgen, wohin ich auch gehe, als mein Liebstes auf Erden, als mein Weib? . . . Sie sprechen das Wort nicht, Jane? Sie entziehen mir Ihre Hand und wenden sich ab von mir?«

Glossin schwieg. Seine Stimme war während der letzten Worte immer leiser geworden, sein Atem ging schwer. Er richtete sich auf und starrte auf Jane, welche die Hände vor das Gesicht geschlagen hatte und weinte. Er war enttäuscht und überrascht, aber nicht abgeschreckt, nicht entmutigt.

»Verzeihen Sie mir, Jane. Ich habe Sie mit meiner stürmischen Werbung erschreckt. Ich will Ihnen Zeit lassen, mir die Antwort zu finden. Sie werden mich näher kennen- und liebenlernen.«

»Nein, Nein! Ich liebe Sie nicht, ich werde Sie nie lieben!«

Jane rief es und brach in neue Tränen aus, in leidenschaftliche, unaufhaltsame Tränen. Glossin wurde totenbleich.

»Ist das die Antwort? Haben Sie kein Verständnis für das, was ich leide, kein Gefühl, kein Mitleid?«

Seine Augen flammten unheimlich auf, seine Brust arbeitete heftig. Die Leidenschaft übermannte ihn. Er warf sich ihr zu Füßen nieder und flehte um Erhörung.

»Nein, ich will Sie nicht länger hören.«

Jane war aufgesprungen und wich abwehrend vor dem Doktor zurück.

»Ich will nicht . . . will nicht«, und ehe er Zeit hatte, sich zu erheben, hatte sie sich umgewendet und eilte in fliegender Hast den Abhang hinunter.

Mit einem Ausruf, halb Seufzer, halb Fluch, starrte ihr Glossin nach . . . Was beginnen? Mit innerer Qual durchlebte er den Auftritt in Gedanken noch einmal. Und dann überkam ihn mit wütender Scham das Bewußtsein, daß er verschmäht war.

Er schlug sich mit geballter Faust vor die Stirn, als wollte er alle bösen Gewalten hinter ihr wieder erwecken.

»Tor, der ich war! Welcher Teufel verblendete mich? Diesem Logg Sar gilt ihre Liebe, nicht mir. Er soll mir nicht entgehen, und wenn die Hölle mit ihm und seiner Erfindung im Bunde stände!«

So schnell, als es ihm möglich war, eilte er dem Hause zu. Ohne Zaudern trat er in Janes Stübchen.

Dr. Glossin sah durch die halbgeöffnete Tür, die zu dem Schlafzimmer führte, daß Jane vor einer Handtasche kniete und Kleider und Wäsche hineinpackte.

»Ah, wie ich dachte. Doch nein, mein Kind, nicht wie du willst, sondern wie ich will. Und ich will dich an Reynolds-Farm ketten, fester, als Wächter und Gitter es vermöchten.«

Er streckte die Hand gegen sie aus und trat langsam auf sie zu. Jane drehte sich um und öffnete den Mund, als wolle sie einen lauten Schrei ausstoßen. Doch kein Laut kam über die Lippen, die sich langsam wieder schlossen.

»Der Morgenspaziergang wird Sie müde gemacht haben, liebe Jane. Legen Sie sich auf den Diwan, und ruhen Sie bis zum zweiten Frühstück. Wir werden es gemeinsam in der Laube am Bach einnehmen, und danach werde ich mich zur Abreise rüsten. Wird es Ihnen leid tun, wenn ich wieder fortgehe?«

»O sehr, Herr Doktor! Ich werde traurig sein, wenn ich wieder allein bin . . . ohne Sie.«

Glossin nickte, ein bitteres Lächeln grub sich um seinen Mund. Er trat an das Ruhebett, auf das sich Jane mit geschlossenen Augen niedergelegt hatte, heran und setzte sich an dem Rande nieder. Er fühlte ihren warmen Atem. Der Duft ihres üppigen Haares, ihres jugendschönen Körpers umschwebte ihn. Ihre halbgeöffneten Lippen schienen nach Küssen zu verlangen. Er öffnete die Arme, als wollte er sie umschlingen. Doch die Vernunft siegte. Er wandte das Gesicht weg und eilte, ohne sich umzudrehen, hinaus. Seine Lippen preßten sich aufeinander, als habe er einen bitteren Trunk getan.

* * *

Seit zwei Stunden saßen die Ministerpräsidenten Deutschlands, Frankreichs und Rußlands im Auswärtigen Amt in der Wilhelmstraße zusammen. Sie hatten sich hier getroffen, um sich über eine gemeinsame Haltung in dem zu erwartenden englisch-amerikanischen Konflikt zu verständigen. Doktor Bauer, der Vertreter Deutschlands. faßte das Ergebnis der langen Unterhaltung noch einmal kurz zusammen.

»Die Sympathien . . . oder vielleicht sage ich besser die Antipathien . . . für die beiden Gegner sind in den von uns vertretenen Ländern ziemlich gleichmäßig verteilt. Wir haben keinerlei Grund, uns von dem einen oder dem anderen ins Schlepptau nehmen zu lassen. Wir sind an Amerika verschuldet, und England wird uns wahrscheinlich die Annullierung unserer amerikanischen Schulden als Belohnung für eine Gefolgschaft in Aussicht stellen. Wir sind uns klar darüber, daß dies Versprechen, so vorteilhaft es klingen mag, keineswegs ein günstiges Geschäft für unsere Staaten bedeutet. Wir müßten unsere Länder den englischen Heeren für den Durchzug öffnen und fast sicher auch beträchtliche Opfer an Gut und Blut für eine Sache bringen, die keines unserer Länder interessiert . . .«

Der baltische Baron von Fuchs, der Vertreter Rußlands, nickte schweigend mit dem mächtigen Schädel. Er gedachte der Zeit vor vierzig Jahren, als sein Vaterland sich als erstes europäisches Reich für englische Interessen verblutete. Der hitzigere Franzose platzte mit einem Zwischensatz heraus.

»C'est ça . . . wir bluten, und England erntet.«

Der Deutsche fuhr fort: »Ich rekapituliere weiter. Es ist für uns auch wirtschaftlich vorteilhafter, die unbedingte Neutralität zu wahren und für die beiden kriegführenden Parteien mit allen Kräften zu liefern. Die Industriegemeinschaft, welche die französische und deutsche Industrie seit fast einem Menschenalter verbindet, wird die Abmachungen über die Preise für Kriegsmaterial aller Art erleichtern. Um auch Einheitlichkeit mit der russischen Industrie zu sichern, wird so schnell wie möglich ein Industrieausschuß der drei Länder gebildet. Die beiden Kriegführenden müssen uns jeden Preis bewilligen. Wir werden die Preise so stellen, daß wir unsere Schulden loswerden und darüber hinaus verdienen. Das, meine Herren, wären die ersten beiden Punkte unserer Abmachungen. Unbedingte Neutralität und Lieferung an beide Teile zu vereinbarten Preisen. Es ist drittens die Möglichkeit erörtert worden, daß der eine oder andere der beiden Gegner unsere Neutralität nicht respektiert. Dann ist der Casus foederis gegeben. Unsere drei Länder werden jeden Neutralitätsbruch durch einen der Kriegführenden mit vereinten Kräften abwehren.«

»Das sind unsere Abmachungen.« Der Baron von Fuchs sagte es langsam und bedächtig.

Das war der Kern der Sache: »Neutral bleiben, verdienen und einig sein.« So präzisierte es der Marquis de Villaret noch einmal in drei Schlagworten.

»Dann, meine Herren, werde ich, Ihre Zustimmung vorausgesetzt, ein Kommuniqué für die Abendblätter ausgeben lassen. Der telegraphische Bericht wird für Moskau und Paris noch zurechtkommen. Das Kommuniqué wird nur den Beschluß der Neutralität und die feste Entschlossenheit, diese mit allen Mitteln zu bewahren, enthalten. Die wirtschaftlichen Abmachungen bleiben vorläufig unerörtert.«

Der Baron von Fuchs und der Marquis de Villaret bestiegen ihre vor dem Amte wartenden Kraftwagen.

Allerlei Volk hatte sich vor dem Amte versammelt. Alte Veteranen aus dem Weltkriege, die noch die Erinnerungszeichen eines Kampfes auf der Brust trugen, der der jüngeren Generation wie eine Sage aus alter Mythenzeit klang. Blühende Jugend, die nichts mehr von den Hunger- und Elendsjahren Deutschlands wußte. Dazwischen Männer in bestem Alter. Vertreter der Industrie und des Handels. Repräsentanten großer Werke und Häuser. Sie verlauerten hier am Straßenrande vor dem eisernen Gitter ihre Stunden, die sie sich sonst minutenweise mit Gold bezahlen ließen. Die Nachricht von der Konferenz der drei Ministerpräsidenten hatte ganz Berlin, ganz Deutschland und ganz Europa in Aufregung gebracht. Dr. Bauer begleitete seine auswärtigen Kollegen bis an den Wagenschlag, und während er ihnen zum Abschied noch einmal die Hand schüttelte, sagte er: »Unbedingte Neutralität.« Er sprach es so laut, daß die Nahestehenden es deutlich verstehen konnten. Wie ein Lauffeuer ging das Wort die Straße hinauf. Es lief die Linden entlang und flatterte von Mund zu Mund durch die Leipziger Straße. »Unbedingte Neutralität!« . . . »Wir bleiben neutral!« . . . »Wir lassen uns von keinem an den Schlitten fahren!« . . . »Die Brüder sollen ihre Sache selber besorgen!« . . .

So flogen die Worte zwischen den Straßenpassanten hin und her.

»Das einzig Vernünftige, was unsere Regierung tun konnte.«

»Selbstverständlich, das einzig Richtige. Wir schonen unsere Knochen und verdienen unser Geld.«

Ein Kaufmann rief es an der Ecke der Behren- und Wilhelmstraße dem anderen zu.

»Haben Sie schon gehört, Herr Geheimrat, wir bleiben absolut neutral.«

Ein Bankdirektor sagte es einem höheren Beamten aus dem Ministerium.

»Ich hörte es. Aber ich denke an die Zukunft. Einer von den beiden muß siegen. Dem Sieger gehört dann die ganze Welt. Wir auch, Herr Direktor.«

»Nicht so pessimistisch, Herr Geheimrat. Die Kämpfenden werden sich furchtbar schwächen. Wie die beiden Löwen in der Sahara, die sich bis auf die Schwanzspitzen aufgefressen haben. Die Welt gehört dann uns, Herr Geheimrat.«

»Der Himmel mag es geben.«

Der Geheimrat ging weiter. Er war so ziemlich der einzige, der Bedenken hatte. Schon erschienen die ersten Extrablätter und verkündeten die Entschließung der Regierung.

An den Fernsprechern standen die Vertreter der auswärtigen Zeitungen und Industriewerke und teilten den Beschluß nach dem Rheinland, nach Westfalen, Schlesien und Danzig mit. Die Industrie wartete seit Wochen auf das Stichwort, nach dem sie auftreten sollte. Jetzt war es gefallen.

* * *

Reinhard Isenbrand, der Chef der großen Essener Stahlwerke, saß mit den vier Generaldirektoren der Werke zu intimer Besprechung versammelt.

»Meine Herren, wir müssen für unsere Werke zu der politischen Lage Stellung nehmen. Ich glaube nicht mehr, daß sich die weltgeschichtliche Auseinandersetzung zwischen England und der Union aufhalten läßt. Der Wetterzeichen sind zu viele, als daß ich noch an eine friedliche Entspannung glauben könnte.«

Der junge energische Chef der Werke machte eine kurze Pause und blickte seine Mitarbeiter an. Unbedingte Zustimmung lag auf den Mienen von Philipp Jordan, der das Auslandgeschäft der Firma unter sich hatte. Zustimmend nickte der kaufmännische Generaldirektor Georg Baumann. Sie überschauten die politische Lage vollkommener als Professor Pistorius, der Chefkonstrukteur, und Fritz Öltjen, der Schöpfer der neuen Edelstahlfabrikation. Die beiden Techniker hatten noch die leise Hoffnung einer friedlichen Verständigung, wo die Kaufleute bereits eine unaufschiebbare Auseinandersetzung mit Waffengewalt erblickten.

Reinhard Isenbrand fuhr fort: »Nehmen wir den Konflikt als sicher an, so ist die Stellung Deutschlands und Europas zu ihm das Nächstwichtige . . . für uns das Wichtigste. Nach meinen Berliner Informationen wird Europa neutral bleiben. Die Pressestimmen, die sich seit einigen Tagen mit der Annullierung der europäischen Amerikaschulden durch ein siegreiches England befassen, halte ich für bestellte Arbeit. Eine direkte Beteiligung Europas an diesem Kriege wäre selbstmörderisch. Sie wäre überhaupt nur an der Seite Englands denkbar, aber dann wäre unser Land den Einwirkungen der amerikanischen Kriegsmittel fast wehrlos preisgegeben. Ich glaube, wir brauchen die Möglichkeit einer direkten Beteiligung am Kriege überhaupt nicht ernsthaft zu erörtern. Desto mehr aber unsere Maßnahmen als neutraler Staat.

Es ist klar, daß wir beide Parteien beliefern können, ohne unsere Neutralität zu verletzen. Die Sentimentalität haben wir Gott sei Dank verlernt. Mögen im Publikum Sympathien für diese oder jene Seite hier oder dort vorhanden sein. Für uns ist es reines Lieferungsgeschäft. Eine Möglichkeit, durch intensive Arbeit unsere Volkswirtschaft zu heben . . . die letzten Spuren vergangener Kriegsjahre zu tilgen.

Auch über die Transportfrage brauchen wir uns den Kopf nicht zu zerbrechen. Wir liefern frei ab Essen. Wie die Besteller die Ware von dort weiterschaffen, ist ihre eigene Sache. Sind die Herren der gleichen Meinung?«

Philipp Jordan erbat das Wort.

»Die Transportfrage ist für England sehr einfach. Es bringt die Fabrikate auf dem Landwege und durch den Kanaltunnel bequem auf die Insel. Bis Calais deckt die Neutralität die Transporte. Von dort der Unterseetunnel . . . wenn er nicht wider Erwarten von amerikanischer Seite zerstört wird.

Für die Transporte nach Amerika kommen U-Boote und Flugschiffe in Betracht. Ich hörte, daß die Union mit zwanzig Prozent Verlust aller Sendungen auf dem Luftwege durch den Kaperkrieg rechnet. Der Satz ist in ihren Kalkül eingestellt.

Aber die Transportfrage ist nicht unsere Sorge. Sie ist nicht einmal die Hauptsorge der Kriegführenden. Beide Parteien werden vielfach nur kaufen, um die Ware für den Gegner zu sperren, und werden sie ruhig hier im Lande lassen.«

»Dann die Frage der Preise?«

Reinhard Isenbrand sagte es mit einem Blick auf Georg Baumann.

»Die Preise sind durch die deutsch-französische Industriegemeinschaft festgelegt. Nach unten, nicht nach oben . . .«

Georg Baumann legte die Hand auf eine starke Preisliste.

»Hier sind die Grundpreise für Stahl und alle Stahlfabrikate. Wir haben in der Gemeinschaft verhandelt und für den Fall des Kriegsausbruches einen sofortigen Aufschlag von 300% in Aussicht genommen.«

»Was sollen wir verkaufen?«

Die Frage des Chefs war allgemein gestellt. Professor Pistorius ging an ihre Beantwortung.

»Das wird in der Hauptsache von der Länge des bevorstehenden Krieges abhängen. Für kurze Kriegsdauer Halbfabrikate. Bei längerer Kriegsdauer Fertigfabrikate. Sachverständige rechnen damit, daß 40% sämtlicher Luftstreitkräfte in den ersten zehn Kriegstagen vernichtet sein werden. Es wird alles davon abhängen, ob der Krieg so lange dauert, daß ein Ersatz des verlorenen Materials in Frage kommt. Die Amerikaner suchen durch die Masse zu ersetzen, was ihnen an Qualität abgeht. Sie arbeiten fieberhaft am Ausbau ihrer R. F. c.-Flotte. Inzwischen ist unser Typ ausgebildet, der die anderthalbfache Geschwindigkeit entwickelt. Die Kriegführenden werden uns jeden Motor der neuen Type zu jedem Preise aus den Händen reißen . . .«

Ein Klingelzeichen der pneumatischen Post auf dem Seitentisch. Ein Briefchen sprang aus der Kapsel. Es war an Philipp Jordan adressiert. Reinhard Isenbrand runzelte unwillkürlich die Brauen. Die Konferenz sollte nicht gestört werden.

Jordan riß den Umschlag auf.

»Das Wettrennen hat begonnen. Mein Vertreter meldet mir, daß Mr. Stamford als Bevollmächtigter von Cyrus Stonard bei ihm ist. Er will unsere gesamte Rohstahlerzeugung ab Kokille kaufen. Fest für zwei Jahre. Zweitausend Dollar die Tonne.«

»Alle Wetter. Der Herr aus Amerika hat es eilig.«

Der Ruf entfuhr Fritz Öltjen, der um seinen Stahl besorgt war.

»Wird nicht gemacht.« Isenbrand sagte es kurz und knapp. »Nur feste Mengen zum Konventionspreise.«

Jordan schrieb die Antwort nieder und schickte sie durch die pneumatische Post zurück.

Professor Pistorius äußerte sich über die voraussichtliche Dauer des Krieges. Vier Jahre von 1914 bis 1918 der große Europäische Krieg. Zwei Jahre der erste Japanische Krieg. Neun Monate der zweite. Die Reihe konvergierte stark. Nach dieser Voraussetzung mußte auch der kommende Krieg kurz sein.

Schon wieder meldete sich der pneumatische Apparat. Eine neue Mitteilung an Jordan. Mr. Stamford wollte eine Million Tonnen Rohstahl fest kaufen. Es war ein Auftrag von zwei Milliarden Dollar. Cyrus Stonard gab sich nicht mit Kleinigkeiten ab. Nahm man als das Wahrscheinliche an, daß seine Agenten zur gleichen Stunde bereits in allen anderen europäischen Stahlwerken verhandelten, so mußte er für rund fünfzig Milliarden Dollar kaufen. Öltjen überschlug die Produktionsziffern der Industriegemeinschaft. Baumann kalkulierte. Jordan schrieb die Frage nach der Art der Zahlung.

Die Antwort kam in einer Minute zurück.

»Gute Dollarschecks. Zahlbar bei den besten Banken des Kontinents.«

Reinhard Isenbrand wechselte einen Blick mit Jordan.

»Der Dollar wird fallen. Wir brauchen reale Werte. Verpfändung amerikanischer Bodenschätze. Von Erzgruben und Petroleumquellen im Werte von zwei Milliarden. Sonst machen wir das Geschäft nicht.«

Die Antwort flog in das Postrohr. Professor Pistorius sprach weiter:

»Unsere Fabrikation ist zu mehr als 99% eine Friedensfabrikation. Aber wir haben zwei Spezialitäten, die auch für den Krieg in Betracht kommen. Flugzeugmotoren. Dann unsere durch Kreisel stabilisierten Unterwasserboote für Handelstransporte. Unsere Stabilisierung ist besser als die der Kriegsboote der streitenden Mächte.«

Wieder ein Zeichen der Pneupost. An Philipp Jordan. Aber diesmal von einem anderen Vertreter. Mr. Bellhouse verhandelte für England über die sofortige Lieferung von hunderttausend Motoren. Preise der Industriegemeinschaft. Zahlbar in Gold.

Noch bevor die Herren darüber einen Beschluß fassen konnten, warf das Rohr einen neuen Brief aus. Mr. Stamford lehnte die Verpfändung amerikanischer Bodenschätze ab. Offerierte dafür den Betrag in deutscher, in der Union gemachter Anleihe mit Golddeckung.

Reinhard Isenbrand lehnte ab.

»So reich sind wir vorläufig noch nicht, daß wir unsere eigenen Anleihen zurücknehmen können. Verpfändung oder keinen Stahl!«

Das englische Angebot war einer Diskussion wert.

Der nächste Brief betraf Mr. Stamford. Er holte drahtlos neue Informationen von Washington ein. Würde in einer Stunde neues Angebot machen.

Der englische Antrag war gut. Aber er war noch besser, wenn er nach Kriegsausbruch kam. Dann traten die 300% Zuschlag automatisch ein. Auch die Vollmachten Isenbrands waren durch die Industriegemeinschaft beschränkt. Wurde jetzt abgeschlossen, geschah es wahrscheinlich zu Preisen, die schon in wenigen Tagen weit überholt sein konnten.

Das Rohr warf ein neues Briefchen in den Raum. An den Chef selbst.

»Meine Herren, in diesem Augenblick meldet unser Berliner Vertreter: ›Die Regierungen von Rußland, Deutschland und Frankreich haben unbedingte Neutralität beschlossen. Sich gegenseitigen Schutz derselben verbürgt!‹ Es ist so gekommen, wie ich es vermutete. Für die Abschlüsse folgende Gesichtspunkte: Die Valuten beider Kriegführenden werden stürzen. Lieferung daher nur gegen Zahlung in deutscher Währung. Oder gegen Verpfändung von Bodenschätzen. Gold ist mit Vorsicht in Zahlung zu nehmen. Sein Kurs ist Schwankungen unterworfen. Wenn die Abschlüsse vor Kriegsausbruch getätigt werden, ist für alles nach dem Ausbruch zu liefernde Material der Aufschlag der Industriegemeinschaft einzusetzen.

Das große Wettrennen um die Erzeugnisse unserer Arbeit hat begonnen. Ich hörte, daß der linksstehende Teil unserer Arbeiterschaft proenglisch gegen den Gewaltherrscher Stonard ist. Sorgen Sie für Aufklärung. Wir haben jetzt nicht Politik zu treiben, sondern nur für unsere Volkswirtschaft zu arbeiten und zu verdienen. Geben Sie mir Bericht, sowie sich etwas von Wichtigkeit ereignet. Im Anschluß an größere Aufträge ist die Vermehrung der Belegschaft und der Ausbau der Werke sofort in Angriff zu nehmen.«

* * *

In der Dunkelheit der kurzen Sommernacht senkte sich R. F. c. 1 aus der Höhe auf den Wald von Trenton hinab. Noch lagen die großen Staatswerke leblos in der Finsternis, die Wege und Stege des Ortes und erst recht des Waldes waren menschenleer. Silvester Bursfeld kannte das Gehölz von seinem früheren Aufenthalt. Einen tiefen grabenartigen Einschnitt zwischen alten Eichen, der das Flugschiff bequem aufnehmen konnte, so daß sein Rumpf selbst in nächster Nähe unsichtbar in der Bodenfalte steckte. Zu allem Überfluß rafften sie das vorjährige Laub zusammen, das hier in hoher Schicht auf dem Boden lag, und bestreuten den Körper des Schiffes damit.

Als zwei harmlose und unauffällige Wanderer schritten Silvester Bursfeld und Atma der Stadt zu. Im Scheine der Morgendämmerung gingen sie an den ersten Häusern des Ortes vorbei und näherten sich ihrem Ziele. Sie kamen zu früh. Viel zu früh, denn die Uhr der nahen Kirche verkündete eben erst die vierte Morgenstunde. Silvester Bursfeld brannte vor Ungeduld. Er gab erst Ruhe, als sie vor dem wohlbekannten Hause in der Johnson Street standen. Mit sehnsüchtigen Blicken betrachtete er die grünumsponnenen Fenster des Gebäudes. Am liebsten wäre er kurzerhand über den Zaun gestiegen und hätte die Bewohner aus dem Schlafe alarmiert.

Die unerschütterliche Ruhe Atmas brachte ihn wieder zur Besinnung.

»Ruhig, Logg Sar. Keine Übereilung. Wenn das Mädchen noch hier ist, werden wir sie auch in drei Stunden aufsuchen können.«

Die Worte des Inders warfen neue quälende Zweifel in die Seele Silvesters. »Wenn das Mädchen noch hier ist.« Was meinte Atma damit? Wo sollte Jane anders sein als bei ihrer Mutter? Wußte Atma irgend etwas und wollte es nicht sagen? Die Pein der Ungewißheit übermannte ihn. Seufzend folgte er dem Inder und ließ sich neben ihm auf einer Bank in den nahen Parkanlagen nieder. Langsam und bleiern schlichen die Stunden. Vom Kirchturm schlug es fünf, sechs und nach weiteren qualvollen sechzig Minuten sieben Uhr. Silvester sprang auf.

»Jetzt ist es Zeit. Um sieben Uhr ist Jane stets munter, schon in der Wirtschaft tätig.«

Nach wenigen Minuten stand er vor dem Gitter und schellte. Der schrille Ton der elektrischen Glocke war in der Morgenstille deutlich zu vernehmen. Aber im Hause blieb alles ruhig. Dreimal, viermal wiederholte Silvester das Schellen, ohne daß sich etwas geregt hätte.

Atma war ihm nur langsam gefolgt. Bedächtig, als wolle er das erste Wiedersehen der Liebenden nicht stören. Jetzt stand er neben Silvester, deutete mit der Hand auf eine Stelle der Hauswand.

»Sieh!«

Eine kleine weiße Tafel hing dort im Efeugewirr der Hauswand. Im unsicheren Licht der Morgendämmerung war sie den Blicken Silvesters entgangen. Jetzt war sie deutlich zu erkennen und auch zu lesen. Die triviale alltägliche Mitteilung, daß das Haus zu vermieten, das Nähere im Nachbarhause zu erfahren sei. Silvester spürte, wie seine Knie zitterten und ihm den Dienst versagten. Er mußte sich auf den Inder lehnen.

»Ich ahnte es, daß wir das Mädchen hier nicht finden würden. Aber wir werden es finden und werden es nach Europa bringen.«

Diese wenigen mit Überzeugung gesprochenen Worte Atmas gossen neue Kraft in Silvesters Seele. Er folgte dem Gefährten, der zum Nachbarhause ging, dort Einlaß begehrte und auch fand.

Die Herren wünschten das zur Vermietung stehende Nachbarhaus zu sehen. Aber gern . . . Es könne sofort geschehen.

An der Seite Atmas schritt Silvester durch die ihm so wohlbekannten Räume. Dort stand der Nähtisch am Fenster. An ihm saß Jane, als er sie das letztemal vor seiner Verhaftung sah. Die Stickerei, an welcher sie damals arbeitete, lag auch jetzt noch dort. Geradeso, als ob die Stickerin eben erst aufgestanden sei. Wenn jemand ein Haus verließ, um seinen Wohnsitz woanders zu nehmen, dann würde er sicherlich die Arbeit dort nicht so liegenlassen. Silvester Bursfeld konnte eine Bemerkung nicht unterdrücken.

»Es ging alles so schnell«, erklärte der jugendliche Führer. »Mr. Glossin brachte Miß Jane in seinen Kraftwagen und fuhr sofort mit ihr weg. Sie hatte nur wenig Gepäck bei sich.«

Silvester hatte genug gesehen. Durch einen Blick verständigte er sich mit Atma.

Ob die Herren die Wohnung mieten wollten?

Vielleicht . . . sie würden es sich überlegen. Im Laufe des Nachmittags wiederkommen. Ein kurzer Abschied, und die Freunde gingen die Johnson Street entlang. Silvester schritt wie im Traum dahin. Mechanisch wiederholten seine Lippen wohl hundertmal die letzten Worte des Inders: »Wir werden das Mädchen finden und sicher nach Europa bringen.« Die eintönige Wiederholung gab ihm allmählich das innere Gleichgewicht zurück. So folgte er Atma, der den Weg zum Bahnhof einschlug.

»Wohin wollen wir, Atma? Was wird aus unserem Schiff?«

»Das Schiff liegt gut versteckt. Nach Neuyork wollen wir. Den Doktor Glossin fragen, wo das Mädchen ist.«

Silvester erschrak.

»Das heißt, den Kopf in den Rachen des Löwen legen.«

Atma blieb unbewegt und erwiderte gleichmütig: »Du trägst den Strahler an der Seite. Verbrenne ihn zu Asche, wenn er dir Böses tut. Aber verbrenne ihn erst, wenn er mir geantwortet hat.«

* * *

Dr. Glossin stand im Privatkabinett des Präsident-Diktators. Cyrus Stonard schob einen Stoß Briefe beiseite und ließ seinen Blick einen kurzen Moment auf dem Doktor ruhen.

»Was haben Sie in der Affäre Bursfeld festgestellt?«

»Über den Vater, daß er seit vielen Jahren tot ist.«

»Kennen die Engländer sein Geheimnis?«

»Ich bin überzeugt, daß sie nichts davon wissen. Als Gerhard Bursfeld fühlte, daß ihm sein Geheimnis auf hypnotischem Wege entrissen werden sollte, hat er sich selbst getötet. Ich habe prominente Leute in England befragt . . . Sie wissen von nichts.«

Ein Schimmer der Befriedigung glitt über die durchgeistigten Züge des Diktators.

»Dann . . . meine ich, können wir losschlagen, sobald die Unterwasserstation an der ostafrikanischen Küste in Dienst gestellt ist.«

»Wir können es, Herr Präsident, wenn wir es nur mit England zu tun haben.«

Der Diktator blickte verwundert auf.

»Mit wem sollten wir es sonst noch zu tun bekommen?«

Dr. Glossin zögerte mit der Antwort. Nur stockend brachte er die einzelnen Worte heraus: »Mit den Erben Bursfelds . . .«

Cyrus Stonard zerknitterte den Entwurf einer Staatsdepesche.

»Den Erben . . . die Sache scheint sich zu komplizieren. Neulich war es nur einer. Der famose Logg Sar, der so merkwürdig aus Sing-Sing entwischte und unser bestes Luftschiff mitnahm. Wer ist denn jetzt noch dazugekommen?«

»Zwei Freunde, die auf Gedeih und Verderb mit Silvester Bursfeld verbunden sind.«

»Drei Leute also. Drei einzelne schwache Menschen. Sie glauben im Ernst, daß drei Menschen unserem Dreihundert-Millionen-Volk gefährlich werden könnten? Herr Dr. Glossin, Sie werden alt. In früheren Jahren hatten Sie mehr Selbstvertrauen.«

Die Worte des Präsident-Diktators trafen den Arzt wie Peitschenhiebe. Er erblaßte und errötete abwechselnd. Dann sprach er. Erst stockend, dann fließender und schließlich mit dem Feuer einer unumstößlichen inneren Überzeugung: »Herr Präsident, ich habe vor dreißig Jahren gesehen, wie Gerhard Bursfeld mit einem einfachen Apparat, nicht größer als meine Hand, auf große Entfernungen Dynamit sprengte. Ich sah, wie er Patronen in den Läufen weit entfernter Gewehre zur Explosion brachte, und wie er fliegende Vögel in der Luft verbrannte . . . Ich staunte, ich hielt es für Zauberei, und . . . Gerhard Bursfeld lachte und sagte, es wäre der erste Anfang einer neuen Erfindung. Ein schwacher Versuch, dem ganz andere, viel größere folgen würden.«

»Gerhard Bursfeld ist seit langen Jahren tot. Sie sagten es eben selbst. Seine Erfindung wurde mit ihm begraben.«

Cyrus Stonard sagte es. Es sollte abweisend klingen, aber seiner Stimme fehlte die sichere Entschiedenheit, die ihr sonst eigentümlich war.

»Das Geheimnis ist nicht mehr begraben. Es war eingesargt, aber es ist wieder auferstanden. Logg Sar . . . Silvester Bursfeld hat die Entdeckung von neuem gemacht und . . . er muß sie bedeutend vervollkommnet haben. Der Vater sprach von der Möglichkeit, durch telenergetische Konzentration an jeder Stelle des Erdballes Millionen von Pferdestärken auf engstem Räume zu fesseln. Er sprach davon, daß seine Erfindung jedem Kriege ein Ende bereite. Der Sohn tritt in die Fußstapfen des Alten. Zu dritt sitzen sie in Schweden am Torneaelf und bauen an der Erfindung weiter. Gelingt es ihnen, sie so zu entwickeln, wie der Vater es vorhatte, dann . . .«

Cyrus Stonard hatte sich erhoben. Mit der ausgestreckten Rechten gebot er dem Arzte Schweigen.

»Sprechen Sie es nicht aus, was mein Ohr nicht hören darf. Sie nannten den Ort, an dem die Erfinder ihre . . . bedenklichen Künste treiben. Sie kennen ihn genau?«

»Genau. Ein abgelegenes Haus an den Ufern des Tornea . . . Acht Kilometer von Linnais entfernt.«

»So befehle ich Ihnen, diese drei Erfinder zu vernichten . . . Aber gründlich. Das bitte ich mir aus. Nicht wieder Pfuscharbeit wie neulich in Sing-Sing. In vierzehn Tagen ist die Unterwasserstation kriegsbereit. Ich erwarte bis dahin Ihre Meldung, daß mein Befehl vollzogen ist. Unauffällig . . . und gründlich.«

Doktor Glossin war entlassen. Die Gebärde des Diktators war nicht mißzuverstehen. Er ging mit schwerem Herzen. Ein unklares Gefühl lastete auf ihm.

Während das Regierungsschiff ihn in eiligster Fahrt von Washington nach Neuyork brachte, suchte er des dumpfen dunklen Gefühles dadurch Herr zu werden, daß er seine narkotischen Pillen nahm und einen halbstündigen künstlichen Schlaf genoß. Aber als er durch die Straßen Neuyorks schritt, war das Gefühl wieder da und wurde von Minute zu Minute stärker.

Der Doktor betrat das Haus in der 317ten Straße. Der Lift brachte ihn in das zehnte Stockwerk. Sein Diener nahm ihm Stock und Hut ab, und dann saß er in dem bequemen Schaukelstuhl seines Wohnzimmers und begann zu überlegen. Mit einer Objektivität, als ob es sich um eine dritte fremde Person handle, analysierte er seine Empfindungen und kam nach zehn Minuten zum Ergebnis, daß er Furcht habe.

Dr. Edward Glossin, der Mann mit dem weiten Gewissen, der über Leichen hinweg sich jeden Weg erzwang, hatte zum erstenmal in seinem Leben Furcht. Cyrus Stonard hatte ihm den Auftrag gegeben, drei Menschen zu beseitigen. Ein einfacher Auftrag im Vergleich mit so manchem anderen. Das Rezept war simpel und oft bewährt. Man nahm ein Luftschiff mit einem Dutzend kräftiger Polizisten oder Soldaten, fuhr bei Dunkelheit nach Linnais, umstellte das Haus, verhaftete die Gesuchten und schlug sie bei der Verhaftung tot, weil sie Widerstand leisteten. Ganz einfach war die Sache. Der Doktor hatte sie öfter als einmal praktisch ausprobiert.

Doch diesmal hatte Dr. Glossin Angst. Ein inneres Gefühl warnte ihn, mit Silvester Bursfeld und seinen Freunden anzubinden . . . Aber der Befehl des Diktators. Wenn Cyrus Stonard befahl, gab es nur zwei Möglichkeiten: Zu gehorchen oder die Strafe für den Ungehorsam zu erleiden.

Dr. Glossin sann hin und her, wie er sich aus dem Dilemma ziehen könne. Ausgehoben mußte das Nest in Linnais werden. Die Gefahr, daß man sich die Finger dabei verbrannte, war nach seiner sicheren Überzeugung vorhanden. Aber nur ein inneres Gefühl sagte ihm das. Äußerlich sah das Unternehmen ziemlich harmlos aus. Man mußte es einem Dritten plausibel machen. Aber wem? Wer hatte noch ein Interesse, die Erfindung und die Erfinder vom Erdboden zu vertilgen?

So würde es gehen! Eine Möglichkeit tauchte in seinem Gehirn auf.

Natürlich! Das war der richtige Weg. Die Engländer hatten genau soviel Interesse am Untergange Silvester Bursfelds und seiner Freunde wie die Amerikaner.

Dr. Glossin durchdachte die weiteren Schlußfolgerungen und Ausführungen des Planes mit immer größerer Schwierigkeit. Es wollte ihm nicht mehr recht gelingen, die Schlüsse der Kette richtig aneinanderzureihen. Er spürte ein fremdartiges Ziehen in den Nackenmuskeln. Ein dumpfer Druck legte sich um seine Schläfen. Er hatte das Gefühl, als ob sein Wille ihm nicht mehr selber gehöre, sondern einem fremden Zwange folgen müsse. Mit Gewalt suchte er sich zusammenzuraffen. Er wollte aus dem Lehnstuhl aufstehen. Aber schwer wie Blei waren ihm Hände und Füße.

Mit verzweifelter Anstrengung gelang es ihm schließlich, die Hand von der Stuhllehne loszulösen und bis zum Kopfe zu bringen. Er fühlte, daß seine Stirn mit feinen Schweißperlen bedeckt war.

Der Stuhl stand in der Ecke des Arbeitzimmers. Die Türöffnung zum Nebenraum befand sich unmittelbar daneben. Sie hatte keine Türflügel, sondern war durch einen dichten Vorhang von Perlenschnüren geschlossen. Die Besucher, welche zu Dr. Glossin kamen, wurden von seinem Diener immer zuerst in dieses Zimmer geführt.

Der Arzt spürte, wie ein übermächtiger fremder Wille seinen eigenen zu unterjochen drohte. Und er fühlte auch, daß der Strom des fremden Fluidums von jener Türöffnung her auf ihn eindrang. Verschwommen und dunkel erinnerte er sich, die Hausglocke vor irgendeinem unermeßbaren Zeitraum läuten gehört zu haben. Ein Willenstrom, viel stärker und mächtiger als sein eigener, stand im Begriff, ihn zu unterjochen.

Der erste Angriff mußte in jenen Minuten erfolgt sein, in denen er so ganz in seinen Plänen und Kombinationen über den Befehl des Diktators versunken war. Während sich seine Gedanken auf diesen Plan konzentrierten, hatte er dem fremden Angriff eine gute Fläche geboten. Sonst hätte er die Wirkung wohl früher spüren müssen, hätte sich sofort dagegen zur Wehr setzen können. So war sie ihm erst zum Bewußtsein gekommen, als es schon beinahe zu spät war. Erst das Erlahmen seiner eigenen selbständigen Schlußfähigkeit hatte ihn den fremden Angriff deutlich fühlen lassen, aber da war die Lähmung durch den fremden Willen schon weit gediehen.

Dr. Glossin kämpfte wie ein Verzweifelter. Alles, was er noch an Willensfähigkeit besaß, ballte er in den einzigen autosuggestiven Befehl zusammen:

»Ich will nicht . . . Ich will nicht . . .«

Unaufhörlich formte er den kurzen Satz im Gehirn, und empfindlich beinahe wie ein körperlicher Schlag traf ihn jedesmal der Gegenbefehl der fremden Kraft: »Du sollst . . . Du mußt . . . Du wirst . . .«

Die Minuten verstrichen. Die feine Porzellanuhr auf dem Kaminsims schlug ein Viertel. Dr. Glossin hörte den Schlag deutlich und raffte sich zu erneuter Anstrengung zusammen. Wenn es ihm nur gelingen wollte, aufzustehen . . . Ganz unmöglich.

Dr. Glossin strengte sich an, freie Bewegungen zu machen. Er blickte auf seine Knie. Er versuchte, den Muskelgruppen seiner Beine den Befehl zu geben, daß sie seinen Körper erheben sollten. Und spürte schon im gleichen Augenblick, daß der fremde Befehl »Du mußt« mit verstärkter Heftigkeit auf sein Ich hämmerte, daß er seine ganze Persönlichkeit ohne Deckung ließ, sobald er ein einziges seiner Glieder besonders beeinflussen und zur Bewegung zwingen wollte.

Stärker wurde das schmerzliche Ziehen in der Gegend des Genicks. Der körperliche Schmerz griff weiter und verbreitete sich über die ganze linke Gesichtshälfte, über die Seite seines Körpers, welche dem Perlenvorhang zugewendet war. Dr. Glossin fühlte, daß er bald erliegen müsse, wenn es ihm nicht gelänge, den Körper zu drehen und Angesicht zu Angesicht dem fremden Willen entgegenzutreten.

Schon wieder war über dem stummen, erbitterten Ringen eine Viertelstunde verstrichen. Die Uhr schlug zweimal. Dr. Glossin hörte sie nur noch wie aus der Ferne, so wie man etwa beim Einschlafen noch undeutlich und nur verworren die letzten Geräusche empfindet. Mit einer verzweifelten Anstrengung konzentrierte er den Rest der ihm noch gebliebenen Willensenergie in einen einzigen Befehl. Und der schon zu drei Vierteln gelähmte Körper gehorchte diesem Aufgebot an Willenskraft. Mit einem einzigen kurzen Ruck warf der Arzt sich in dem Stuhl herum, so daß sein Antlitz in voller Breite dem Perlenvorhang zugewendet war. Einen Augenblick schien es, als wolle die Muskelbewegung und die eigene Aktion den fremden Einfluß brechen. Aber nur einen Augenblick. Während Dr. Glossin seinem Körper den Befehl erteilte, sich umzudrehen, war sein ganzes Ich dem fremden Angriff schutzlos preisgegeben. Der Moment ohne Deckung hatte genügt. Mit einem Seufzer ließ er den Kopf auf die Brust sinken, die Augen weit geöffnet.

Durch den Perlenvorhang trat Atma in das Zimmer bis dicht an den Schlafenden heran. Auch er sah erschöpft aus. Silvester Bursfeld, der ihm auf dem Fuße folgte, bemerkte es mit Erschrecken. Der Inder trat an den Schlafenden heran und strich ihm über die Augen und die Stirn. Silvester bemerkte, wie der Inder seiner eigenen Erschöpfung Meister zu werden versuchte, wie er sich selbst gewaltsam zwang und von neuem ganze Ströme seines eigenen Willenfluidums in den Körper des Schlafenden gleiten ließ. Dann trat er zurück und ließ sich auf einen Sessel fallen. Auf einen Wink von ihm trat Silvester Bursfeld hinter eine Portiere, so daß er den Blicken Glossins entzogen war.

Wieder verstrichen Minuten. Die Uhr hob an und schlug dreimal. Da kam Bewegung und Leben in die schlummernde Gestalt. Dr. Glossin richtete sich auf wie ein Mensch, der aus tiefem Schlafe erwacht. Er fuhr sich über die Stirn, als müsse er seine Gedanken sammeln. Dann begann er mit sich selbst zu sprechen.

»Was wollte ich . . . Ach ja . . . den Ring muß ich holen. Er ist im Banktresor . . .«

Er warf einen Blick auf die Uhr.

»Dreiviertel . . . Ich komme gerade noch vor Kassenschluß zurecht. Aber ich muß mich eilen.«

Straff und rüstig erhob er sich aus dem Stuhl und schritt durch den Vorhang hindurch. Er ging an Atma vorüber, als ob der Inder Luft wäre, und verließ die Wohnung.

Silvester hörte die Tür ins Schloß fallen und trat hinter dem Vorhang hervor.

»Wo geht er hin? . . . Was hat er vor?«

»Er geht nach seiner Bank. Er wird den Ring holen und hierherbringen.« Atma sprach es leise und mit matter vibrierender Stimme. Die Anstrengung dieses hypnotischen Duells zitterte noch in ihm nach.

»In einer halben Stunde wird er wieder hier sein. Bis dahin haben wir Ruhe.«

»Und der Diener?«

»Er schläft in seinem Winkel auf dem Flur. Glossin hat Befehl, ihn nicht zu vermissen.«

»Du glaubst, daß Dr. Glossin gutwillig hierher zurückkommt?«

Atma blickte gleichmütig vor sich hin.

»Der Körper Glossins ging hinaus. Seine Seele ist gefesselt. Mein Wille lenkt seinen Körper.«

»Warum fragtest du nicht nach dem Aufenthalt von Jane?«

»Erst den Ring und dann das Mädchen. Laß mir Ruhe. Ich bin erschöpft. Ich brauche neue Kräfte, wenn Glossin zurückkommt.«

Der Inder lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Die Muskeln seiner Glieder erschlafften. Er schien jetzt selbst ein Schlafender zu sein. Es blieb Silvester Bursfeld nichts anderes übrig, als zu warten.

Unruhig schritt er in dem Raume hin und her. Weiter krochen die Minuten. Zehn Minuten . . . eine Viertelstunde . . . zwanzig Minuten. Er hörte, wie die Tür geschlossen wurde. Dr. Glossin war zurückgekommen. Er blieb auf dem Flur stehen. Unschlüssig, als ob er etwas suche. Dann hörte Silvester, wie er den Spazierstock hinstellte. Gleich darauf trat er durch den Perlenvorhang in das Arbeitszimmer. Ohne von den beiden Besuchern Notiz zu nehmen, ging er auf den Schreibtisch zu, ließ sich vor ihm auf dem Sessel nieder, zog ein winziges Päckchen aus der Brieftasche und begann, es auszupacken. Das Seidenpapier raschelte zwischen seinen schmalen, wohlgepflegten Fingern. Nun kam der Ring zum Vorschein. Ein schwerer goldener Ring. Ein Meisterwerk alter indischer Goldschmiedekunst, genau von der gleichen Form wie derjenige an der Hand Atmas und mit dem gleichen Chrysoberyll geziert. Er hielt den Ring in der Hand und blickte nachdenklich auf den Stein.

Der Ausdruck auf seinen Zügen wechselte. Von Minute zu Minute. Bald glich er einem Träumenden, schien ganz geistesabwesend zu sein. Dann wieder glitt der Schimmer eines Verstehens und Begreifens über seine Züge.

Jetzt machte er Anstalten, sich selbst den Ring auf den Ringfinger der Rechten zu schieben.

Atma sah es, und seine Augen weiteten sich. Mit vorgebeugtem Halse saß er da, und jeder Teil seines Körpers vibrierte vor innerer Spannung.

Dr. Glossin stand im Begriff, die ihm im schwersten Kampfe aufgezwungene hypnotische Suggestion aus eigener Kraft zu durchbrechen. Der Befehl lautete, den Ring zu holen und zu übergeben. Schon das Zögern auf dem Flur war nicht ganz in der Ordnung. Er sollte vergessen, daß er einen Diener besaß. Einen Augenblick hatte er dort trotzdem gewartet, ob der Bediente ihm nicht Stock und Hut abnehmen würde. Das kurze Zögern hatte dem Inder die Gefahr verraten.

Jetzt griff er zum stärksten Mittel. Er strich ihm mit beiden Händen über die Schläfen und Augen.

Die Wirkung zeigte sich sogleich.

Die Bewegung der Linken, die den Ring auf den rechten Ringfinger schieben wollte, wurde langsamer. Dicht vor der Fingerspitze kam sie ganz zur Ruhe.

Dr. Glossin saß mit vorgebeugtem Oberkörper an seinem Schreibtisch. Beide Ellbogen waren auf die Tischplatte aufgestützt. Die Rechte streckte den Ringfinger vor. Die Linke spielte kaum einen Zentimeter entfernt mit dem breiten Goldreif vor der Fingerspitze. Es sah aus, als ginge vom Ringfinger eine magnetische Kraft aus, die den Reif heranholen wolle, und als wirke unsichtbar, aber gewaltig eine zweite Kraft im Raume, welche die linke Hand immer wieder zurückriß, sooft sie sich zu nähern versuchte. So ging das Spiel leise hin und her, zitternd durch lange Minuten.

Silvester sah es, und siedende Angst kroch ihm zum Herzen.

»Wenn Glossin den Ring auf den Ringfinger schiebt, sind wir verloren.«

Es herrschte vollkommene Stille im Zimmer. Nur das Ticken der Uhr war zu vernehmen. Aber Silvester empfand die Worte so deutlich, als habe sie ihm irgendeine Stimme laut vorgesprochen.

Er versuchte, sich das Unsinnige des Gedankens klarzumachen. Was konnte es denn für eine Wirkung haben, wenn Dr. Glossin wirklich den Ring auf den Finger brachte? Er faßte nach dem Strahler, den er an der Seite trug. Versagte die Kunst Atmas, so besaß er die Macht und das Mittel, den Menschen dort in einer Sekunde in Atome zu zerreißen, zu verbrennen, in ein Häufchen Asche und eine Dampfwolke aufzulösen. Aber dann . . . ja dann würde er auch niemals erfahren, wohin dieser Teufel die arme Jane verschleppt hatte.

Er ließ die Hand vom Strahler. Er begriff, daß der Sieg Atmas über Glossin notwendig war, sollte sein weiteres Leben noch Wert für ihn haben.

Tausendfach waren die Fäden der Leben miteinander verflochten. Das hatte ihn Kuansar in Pankong Tzo gelehrt. Äußere Vorgänge, scheinbare Zufälligkeiten waren oft zuverlässige Zeiger, die das Spiel viel größerer Kräfte dem Sehenden deutlich zeigten. Und nun kam ihm klare Erkenntnis. In dem winzigen Raume dort zwischen Ring und Fingerspitze kam der Kampf zweier Mächte um die Weltherrschaft zum Ausdruck. Jeder Versuch, von seiner Seite einzugreifen, war zwecklos. In diesem Kampfe mußte er ein stiller Zuschauer bleiben, mußte abwarten, wie das Geschick sich erfüllen würde.

Der Kampf ging zu Ende. Dr. Glossin ließ den Ring auf die Tischplatte fallen. Silvester wollte hinzutreten und ihn nehmen. Ein Wink Atmas scheuchte ihn zurück. Der Inder hatte sich erhoben und war dicht an den Tisch herangetreten. Silvester sah, daß er den letzten Rest seiner gewaltigen telepathischen Kraft zusammenraffte, um dem Gegner seinen Willen aufzuzwingen. Und nun trat die Wirkung ein. Dr. Glossin wickelte den Ring wieder in das Seidenpapier, verschnürte das Päckchen, erhob sich und trat dicht an Atma heran. Ruhig hielt er ihm das Paketchen hin und sagte mit eintöniger Stimme: »Hier bringe ich den Ring.«

Atma nahm das Paketchen in Empfang und begann es langsam und gemessen wieder aufzumachen. Dr. Glossin war nach der Übergabe an seinen Schreibtisch zurückgegangen. Dort saß er ruhig und schaute wie geistesabwesend auf die Schreibmappe.

Atma nahm den Ring und schob ihn selbst Silvester über den Ringfinger der Rechten. Breit und kühl legte sich das Gold des massiven Reifens um das Fingerglied. Silvester fühlte neue Zuversicht in sein Herz dringen, als er den Ring wieder an der Stelle fühlte, an der er ihn so lange Jahre getragen hatte. Alle Ängstlichkeit war geschwunden. Die Zuversicht auf sicheren Sieg erfüllte ihn.

Die Stimme Atmas riß ihn jäh aus diesen Gedanken und Gefühlen.

»Wo ist Jane Harte?«

Der Inder sprach es, während sein Blick sich in den des Doktors bohrte.

Ein kurzes Zucken durchlief die Glieder des Arztes. Es schien, als wolle er sich noch einmal aufbäumen. Aber sein Widerstand war gebrochen. Der Ausdruck einer trostlosen Müdigkeit trat auf seine Züge, während seine Lippen die Antwort formten.

»Auf Reynolds-Farm in Elkington bei Frederikstown.«

Silvester sog die Antwort Wort für Wort wie ein Verdurstender ein. Frederikstown in Kolorado. Den Flecken Elkington kannte er sogar durch Zufall. Die Farm würde sich finden lassen. Jetzt waren alle Schwierigkeiten überwunden. Noch eine kurze Spanne Zeit, und er würde Jane wiedersehen, würde sie im schnellen Flugschiff allen feindlichen Gewalten entziehen.

Atma stand vor dem Arzt. Mit zwingender Gewalt gab er ihm seine letzten Befehle.

»Du wirst bis vier Uhr schlafen. Wenn du aufwachst, wirst du alles vergessen haben. Den Ring, Logg Sar und Atma.«

Der Kopf Dr. Glossins sank auf seine Arme und die Tischplatte nieder. Er lag in tiefem Schlafe.

»Um vier weckst du deinen Herrn.« Im Vorbeigehen sagte es Atma zu dem Diener, der auf dem Flur schlummernd in einem Sessel saß. Flüchtig strich er ihm dabei über Stirn und Augen. Dann schlug die Wohnungstür hinter den Freunden ins Schloß.

* * *

Enttäuscht und verbittert hatte Glossin Reynolds-Farm an jenem Tage verlassen, an dem Jane seinen Antrag abwies. Aber auch Jane war durch diese Erklärung erschüttert und aus einer trügerischen Ruhe aufgescheucht. Sie brauchte jemand, auf den sie sich stützen, dem sie sich anschmiegen konnte. Nach dem Tode ihrer Mutter war ihr Glossin solche Stütze geworden. Ein väterlicher Freund, dem sie vertraute. In ihrem natürlichen Schutzbedürfnis zu vertrauen versuchte, soweit ein instinktives, ihr selbst unerklärliches Mißtrauen es zuließ.

Die Werbung Glossins hatte das Verhältnis mit einem Schlage zerstört, hatte Jane von neuem in schwere seelische Kämpfe gestürzt. Das Gefühl tiefster Verlassenheit übermannte sie von neuem. Was blieb ihr nach alledem noch auf dieser Erde? Die Mutter tot . . . Silvester verloren und verschollen . . . Glossins Freundschaft falsch?! . . .

Dazu die Gesellschaft dieser alten Negerin, deren Anblick und Wesen ihr von Tag zu Tag widerlicher wurde. Das Grinsen der alten Abigail hatte jetzt einen besonderen Inhalt und Ausdruck gewonnen, der Jane erschreckte und peinigte. Dazu Redensarten der Schwarzen, die ihr zwar größtenteils unverständlich blieben. Aber auch das wenige, das sie verstand und erriet, erschreckte sie.

Sie verließ das Haus nicht mehr. Die Spaziergänge und Wagenfahrten der früheren Wochen unterblieben. Mit müdem Hirn suchte sie die Fragen zu beantworten.

Was sollte aus ihr werden? Was hatte Glossin mit ihr vor? Weshalb hatte er sie gerade hierher gebracht? . . . Was sollte sie weiter beginnen? . . . Wenn sie irgendwo eine Stellung annähme . . . Eine untergeordnete Stellung . . . irgendwo . . . nur fort von hier . . . fort! . . . Wäre sie doch in Trenton geblieben! Kein Brief, kein Lebenszeichen aus Trenton hatte sie jemals erreicht.

Fort! . . . Fort! . . . Warum war sie nicht schon längst fort? . . . Warum hatte sie nicht gleich nach der Werbung Glossins die Farm verlassen?

Wie oft hatte sie sich diese Frage schon vorgelegt. Und jedesmal war sie an einen Punkt gekommen, wo sie keine Antwort auf die Frage fand. Warum nicht? Wie viele Versuche hatte sie schon gemacht, Reynolds-Farm zu verlassen. Warum hatte sie das Vorhaben niemals ausgeführt?

Wie ein schwerer Alpdruck lag es auf ihr. Warum nicht . . . Sie wurde doch nicht gefangengehalten? Nicht einmal bewacht oder kontrolliert.

Sie brauchte doch nur ihr Köfferchen zu packen und das Haus zu verlassen. Nur bis zum nächsten Dorfe zu gehen, um in Sicherheit zu sein. Sogar ungesehen von Abigail konnte sie das Haus verlassen. Denn das hatte sie schon bald nach ihrer Ankunft hier entdeckt, daß das alte Negerweib der Flasche zugetan war. Gleich nach dem Auftragen des Mittagsmahles verschwand die Alte, und öfter als einmal hatte Jane sich selbst um das Abendessen kümmern müssen. Sie wußte, daß Abigail Stunden hindurch besinnungslos irgendwo in einem Winkel lag. Lange Stunden, in denen sie, von niemand verhindert, das Haus verlassen konnte.

Weshalb hatte sie es nicht getan? Weshalb tat sie es nicht heute?

Ihr Antlitz, so schön und jugendlich, aber blaß durch Kummer und Aufregung, erhielt einen tatkräftigen Zug. Die Falten zu den Mundwinkeln vertieften sich, ihre Augen bekamen ein neues Feuer. Alle Lebensenergien in ihr drängten zur Tat.

Mit einem plötzlichen Ruck erhob sie sich von ihrem Sitz und schritt nach dem Schlafkabinett. Hastig ergriff sie ein paar der notwendigsten Kleidungstücke und begann sie in den kleinen Handkoffer zu stopfen. Und erinnerte sich zur gleichen Zeit, wie oft sie das gleiche schon früher versucht hatte und niemals damit zum Ziele gelangt war. Heute ging es viel besser. Kleiderschicht fügte sich auf Kleiderschicht, und mit einem Seufzer der Befriedigung drückte sie den Bügel des Handkoffers zusammen. So weit war sie früher noch niemals gekommen.

Jetzt nur noch zuschließen! Der Schlüssel befand sich in ihrer Handtasche dort auf dem Tische. Sie entnahm ihn der Tasche, wandte sich wieder dem Koffer zu und fühlte, wie die alte Lähmung von neuem über sie kam. Wie Blei wurden ihr die Füße. Nur mit Mühe konnte sie die wenigen Schritte vom Tisch zum Koffer zurücklegen. Endlich war es gelungen, aber nun lag das Blei in ihren Armen. Sie versuchte es, den Schlüssel in das Schloß zu schieben . . . Da fiel er klirrend auf die Diele.

Einen Augenblick starrte sie hoffnungslos auf das kleine blinkende Eisen, das da vor ihr auf der Zimmerdiele lag. Dann durchzuckte ein Schluchzen ihren Körper. ». . . Warum . . . kann ich . . . nicht? . . . Warum . . . o Gott! . . . Warum . . .«

Sie fiel vornüber auf die Tasche und blieb Minuten hindurch regungslos liegen . . . Eine Macht, ein Einfluß, ihr selbst unerklärlich und unfaßbar, verhinderte sie, dieses offene und unbewachte Haus zu verlassen . . . Sie ging in das andere Zimmer und warf sich auf ihr Ruhebett.

»Die Qual! . . . Warum . . . muß ich diese Qualen leiden? . . . Wo bleibst du, Silvester? . . . Mutter, ach wäre ich bei dir! . . . Wäre ich mit dir gestorben!

Sterben . . . jetzt noch sterben? . . . Unterhalb des Hauses . . . da bildet der Bach einen kleinen See . . . da kann ich sie finden . . . die Ruhe . . . die Erlösung von aller Qual . . .«

Sie raffte sich von ihrem Lager empor.

»Ja! . . . ja . . . ja . . .«

Die Festigkeit des gefaßten Entschlusses prägte sich in ihren Mienen aus. Schnell schritt sie zur Tür, um sie zu öffnen. Mochte irgendeine unheimliche Kraft ihr die Flucht aus diesem Hause zu den Menschen hindern, die Flucht in die Ewigkeit sollte ihr niemand verbieten.

Sie griff den Türdrücker und öffnete die Tür.

Die keifende Stimme der schwarzen Abigail drang ihr ans Ohr. Offenbar war die Alte dabei, irgendeinem Besucher den Zutritt zu verwehren, vielleicht einen Hausierer abzuweisen.

»Kann ich nicht einmal sterben?« . . . Sie wollte die Tür wieder leise ins Schloß drücken . . . Da . . . ihre Hand umkrampfte den Drücker.

Welche Stimme? . . . Der Fremde . . . Mit einem Ruck riß sie die Tür auf.

»Silvester!« Ein Schrei aus tiefstem Herzen. Mit geschlossenen Augen lehnte sie an dem Türrahmen und streckte die Hand nach ihm aus.

»Silvester . . .!«

Sie sah es nicht, wie Abigail, von einem kräftigen Faustschlag getroffen, in eine Ecke flog, wie ein Mann mit Tigersprüngen die Treppe hinaufdrang, sie fühlte nur, daß sie am Herzen Silvesters ruhte, daß eine leichte, weiche Hand ihr Gesicht streichelte, daß Worte der Liebe und des Glückes ihr Ohr trafen.

* * *

Erik Truwor arbeitete allein im Laboratorium zu Linnais. Nach den Plänen Silvesters baute er den neuen Strahler zusammen. Der Apparat war viel größer als der erste, den die Freunde mit auf die Reise genommen hatten. Der neue Strahler nahm immerhin den Raum eines mäßigen Schrankes ein.

Aber er war geradezu lächerlich klein, wenn man seine Wirkungen betrachtete. Die neue Konstruktion konnte zehn Millionen Kilowatt telenergetisch konzentrieren. Diese Riesenleistung wurde nur dadurch möglich, daß der Apparat die Energie nicht mit den hergebrachten Mitteln erzeugte, sondern nur die überall im Raum vorhandene Energie freimachte.

Es drehte sich um die alte, schon von Oliver Lodge zum Anfang des Jahrhunderts aufgestellte Hypothese, daß in jedem Kubikzentimeter des äthererfüllten Raumes ein Energiebetrag von zehn Milliarden Pferdekraftstunden in latenter Form vorhanden ist. Etwa so, wie die Pulverladung einer Mine Hunderttausende von Metertonnen enthält. Der Fingerdruck eines Kindes genügt, um diese gewaltige Energie zu entfesseln. Es ist nur notwendig, daß dieser schwache Druck die Knallkapsel zur Entzündung bringt, die dann die Mine detonieren läßt.

»Das Problem der telenergetischen Konzentration ist praktisch gelöst.« Stolz und siegesgewiß hatte Silvester die Worte gesprochen. Wenige Stunden, bevor er in windender Sturmfahrt nach Westen aufbrach, um von dort sein Liebstes zu holen.

Die letzte Schwierigkeit, die noch zu lösen blieb, betraf das genaue Zielen. Es war notwendig, das entfernte Objekt, auf welches der Energiestrom gerichtet wurde, zu sehen. Erik Truwor fühlte die reine Freude eines intellektuellen Genusses, als er die Aufzeichnungen Silvesters durchlas. Die aus dem Strahler entsandte Formenenergie reflektierte zu einem winzigen Teile von der Konzentrationsstelle zum Strahler zurück und entwarf hier ein optisches Bild dieser Stelle. Jetzt, da er es las, schien es ihm beinahe trivial einfach. Eine simple Rückmeldung, wie sie in der Technik an tausend Stellen seit hundert Jahren gebräuchlich war. Nach der Theorie mußte sich auf der weißen Mattglasscheibe des neuen Strahlers ein genaues Bild des Ortes zeigen, an dem die Energie sich konzentrierte.

Er schaltete den Apparat ein. Nebel wallten auf der Scheibe hin und her. Es flimmerte durcheinander. Gestalten wollten sich bilden, doch es wurde kein klares Bild.

Noch einmal überprüfte er die Schaltung. Dann machte er sich an die Arbeit. Die Stunden verrannen. Er spürte es nicht. Die Mitternacht verstrich, und der Morgen kam. Niels Nielsen, der alte, noch vom Vater überkommene Diener, fand seinen Herrn im Laboratorium in die Arbeit versunken.

»Herr Erik, Ihr Bett blieb unberührt.«

Erik Truwor winkte ab und riß ärgerlich einen Draht heraus, den er falsch geschaltet hatte.

»Stören Sie mich nicht.« Der Diener ging.

Stillschweigend erschien er wieder und stellte eine Platte mit kalter Küche auf einen Seitentisch.

Erik Truwor hatte die Schaltung vollendet. Schaltete ein und sah noch weniger als zuvor. Ein schwerer Fehlschlag! Rastlos arbeitete er weiter.

Erik Truwor spürte Hunger. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, daß er seit vierzehn Stunden im Laboratorium arbeitete.

Automatisch begann er zu essen. Der starke schwarze Kaffee erfrischte ihn. Während er aß und trank, gewann er Distanz zu seiner Arbeit. Er fand die Kraft, völlig von neuem zu beginnen. Er prüfte die Schaltung Silvesters. Hier war eine Verbesserungsmöglichkeit.

Die sekundären Erscheinungen mußten zurückgehalten werden. Es bestand Gefahr, daß sie den gewollten Effekt überwucherten.

Erik Truwor arbeitete. Und aß in langen Pausen. Die zweite helle Nordlandsnacht brach herein.

Der Diener kam. »Vielen starken Kaffee!« Mit dem Befehl jagte ihn Erik Truwor aus dem Laboratorium. Die Vorzüge der veränderten Schaltung wurden ihm immer einleuchtender, je weiter er baute und schaltete.

Die zweite Nacht verging und der zweite Vormittag. Er zog die letzte Schraube fest und suchte seiner Aufregung Herr zu werden.

Mit zitternder Hand schaltete er den Strahler ein. Nebel zogen über die Mattscheibe.

Er regulierte an den Mikrometerschrauben. Der Nebel löste sich. Blaue und grüne Flächen wurden sichtbar.

Er mußte sich setzen. Die Knie versagten ihm. Dann ein gewaltsames Aufraffen. Ein letztes Drehen an der Feinstellung. Scharf und deutlich zeigten sich die Föhren, die zwanzig Kilometer entfernt am Unterlaufe des Tornea standen. Erik Truwor kannte die Stelle.

Die Mattscheibe bot ein Bild, wie man es seit langen Jahren in der photographischen Kamera beobachten konnte. Doch das Bild hier wurde auf ganz andere Weise gewonnen. Es kam nicht rein optisch, sondern energetisch zustande.

Der Wurf war geglückt. Er stellte den Strahler ab und warf sich erschöpft auf das Ruhebett im Laboratorium.

Mit offenen Augen lag er dort und starrte zur Decke. Die Macht lag jetzt in seiner Hand. Die Macht, die Menschen nach seinem Willen zu zwingen. Zu Asche zu verbrennen, was ihm widerstrebte. Eine Macht, wie sie nie zuvor ein einzelner Mensch besessen hatte.

Er fühlte die furchtbare Verantwortung, die mit der Macht verbunden war . . . und dann wurden seine Gedanken sprunghaft. Die Natur forderte ihr Recht. Die Augen fielen ihm zu. Nach vierzig Stunden intensivster Arbeit verlangte der Körper Ruhe.

Es wurde nur ein fieberhafter Halbschlaf. Der Geist war zu erregt und riß den Körper mit.

Er fuhr empor. Drei Stunden hatte er im Halbschlummer gelegen. Im Augenblick war er wieder vollkommen wach. Der Schreiber der drahtlosen Station hatte in der Zwischenzeit gearbeitet. Er las die Zeichen auf dem Papierstreifen: »Haben den Ring. Gehen nach Elkington, Reynolds-Farm, Jane zu holen.«

Er rieb sich die Stirn. Jane nicht in Trenton? Aus dem Atlas entnahm er die genauen Koordinaten und richtete den Strahler. Die Nebel wogten. Jetzt ruhigere Linien. Grünes Feld. Ein Farmhof. Er regulierte und konnte jede Fuge und Maserung der Hoftür erkennen.

Eine Gestalt schritt von links her in das Bild . . . Silvester Bursfeld. So scharf und deutlich, als ob er in Greifweite stünde. Silvester kam allein und hatte nicht einmal den kleinen Strahler an der Seite.

Erik Truwor wollte dem Freunde etwas zurufen und vergaß, daß er durch tausend Meilen von ihm getrennt war.

Eine andere Gestalt hob sich auf der Bildfläche ab. Ein schwarzes, häßliches Negerweib. Erik Truwor sah, wie sie Silvester vom Hofe zu weisen versuchte, wie der Freund sie zurückdrängte und der Haustür zuschritt. Wie das Negerweib ihn zurückzustoßen versuchte. Wie der sonst so gutmütige ruhige Silvester plötzlich den Arm hob, das Weib weit von sich schleuderte und in das Haus stürmte. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloß, und Viertelstunden verstrichen.

Erik Truwor empfand eine wachsende Unruhe. Er vermißte den kleinen Strahler an der Seite Silvesters. Diese winzige, aber furchtbare Waffe, die ihn gegen jeden Angriff geschützt hätte. Und er vermißte Atma. Wo blieb der Inder? Die zweite Frage beunruhigte ihn fast ebenso stark wie die erste. Gewaltsam zwang er sich zur Ruhe.

»Sie müssen packen . . . natürlich . . . es ist ja klar, daß Jane nicht, wie sie geht und steht, nach Europa fahren kann . . . Eine Stunde Zeit gebe ich ihnen . . . dann . . .«

Er betrachtete das Dach des Farmhauses. Ob es wohl gut brennen mochte, wenn er den Strahler auf den Dachfirst wirken ließ? Die Holzschindeln sahen ganz danach aus. Rissig, von der Sonne ausgedörrt. Es mußte ein gewaltiges Feuer werden.

Dann überdachte er die Folgen. Es konnte zu gut brennen. So schnell, daß die Flammen den Ausgang sperrten, bevor die Liebenden die Gefahr erkannten. Er durfte es nicht wagen, die Säumigen durch die Gewalt der telenergetischen Konzentration aus dem Hause zu treiben. So saß er mit steigender Ungeduld. Hoffte vergebens, daß Silvester wieder erscheinen oder Atma auftreten würde.

Ein silberner Fleck am blauen Himmel erregte seine Aufmerksamkeit. Mit der Lupe betrachtete er die Stelle auf der Mattscheibe.

Kein Zweifel, es war R. F. c. 1, der Rapid Flyer, der dort heranzog. Er kannte die Formen des Flugschiffes.

Erleichtert atmete er auf.

Atma kam mit R. F. c. 1, um die Säumigen zu holen. Mochte er gesteckt haben, wo er wolle . . . Atma war da. Jetzt mußte alles zu einem guten Ende kommen.

Das Flugschiff kam schnell heran. Hinter dem Farmhaus ging es nieder. Jetzt entschwand es den Blicken Eriks. Die Silhouette des Farmhauses schob sich dazwischen.

. . . Warum landete Atma nicht auf dem Farmhofe? . . . Vielleicht war der Platz hinter dem Hause für den Wiederaufflug geeigneter.

Erik Truwor wartete . . . und sah fünf Gestalten über den Hof laufen . . . In das Haus verschwinden.

»Atma ist da . . . Atma kam zur rechten Zeit . . . Es wird noch alles gut.«

Mit diesen Worten suchte sich Erik Truwor zu beruhigen. Er hatte unter den Fünfen die Gestalt Glossins erkannt. Nach den Schilderungen, die ihm Silvester gegeben. Das Nachziehen des rechten Fußes. Der stechende Blick. Es war unverkennbar. Aber er hoffte, daß Atma mit R. F. c. 1 hinter dem Hause lag. Hoffte, daß der Inder eingreifen und die Widersacher zerschmettern würde.

Minuten verstrichen. Nicht viele.

Die Tür des Farmhauses öffnete sich.

Einer der Männer trug etwas Helles auf den Armen . . . Jane . . . bewußtlos. Ihr Antlitz war weiß. Ihr Kopf lag schlaff und kraftlos auf der Schulter ihres Trägers. Dann zwei andere. Sie schleppten Silvester. Hatten ihn gefesselt und trugen ihn wie ein Stück Holz über den Platz.

Zuletzt Dr. Glossin. Ein Lächeln der Befriedigung auf den Zügen.

Lodernder Zorn packte Erik Truwor. Er faßte den Strahler und gab Energie.

Zwanzig Meter hinter dem Doktor glühte der Sand des Hofes hell auf. Schmolz in Weißglut und strahlte Hitze.

Der Arzt warf einen Blick rückwärts und begann um sein Leben zu laufen. Mit schleifendem Fuß jagte er über den Hof und zog einen feurigen Strudel hinter sich her, denn mit der Mikrometerschraube brachte ihm Erik Truwor die Glut des Strahlers nach . . . und zerriß dabei in der Aufregung einen Draht des Fernsehers.

Das Bild erlosch. Tausend Meilen trennten Erik Truwor von Reynolds-Farm. Erst jetzt kam es ihm zum Bewußtsein.

Mit fiebernden Händen suchte er nach dem zerrissenen Draht. Er mußte sich zur Ruhe zwingen. Mußte mit unendlicher Geduld eine Schraube lösen, den Draht fassen, vorziehen und wieder festschrauben. Kostbare Minuten verstrichen darüber. Nun endlich war die Verbindung wieder hergestellt. Das Bild erschien von neuem auf der Mattscheibe. – Der Hof war leer.

Rätsel und Geheimnisse, die er nicht zu lösen vermochte. Hatte Atma eingegriffen, die Gegner vernichtet? Brachte er jetzt Silvester und Jane im Flugschiff heim?

Erik Truwor wußte es nicht. Er war verurteilt, hier zu sitzen und zu warten. Einen Schwur leistete er sich. Das Feuer des Strahlers auf Glossin niederfallen zu lassen, sobald er ihn wieder vor die Augen bekäme.

* * *

Im Walde von Elkington lag R. F. c. 1 zwischen Haselsträuchern und Brombeerranken. Wenige Schritte davon entfernt saß Atma im Gras und wartete. Seine Züge verrieten Unruhe. Er war blaß, soweit die dunkle Haut eines Inders zu erblassen vermag, und abgespannt. Die ungeheuere Anstrengung seines Kampfes mit Glossin wirkte noch in ihm nach. Er versuchte es, sich zu sammeln, neue Kraft aus den Meditationen und Selbstversenkungen seiner Religion zu schöpfen.

Die Sonne warf ihre Strahlen von Westen her schräg durch die Zweige und malte streifige Schatten auf den grünen Grund. Der Inder faßte seinen Schatten ins Auge und beobachtete, wie der dunkle Streifen ganz langsam weiterkroch. Halme, die eben noch lichtgrün schimmerten, wurden ganz allmählich dunkel und farblos. Auf der anderen Seite tauchten Spitzen und Blätter ebenso sacht und allmählich wieder in leuchtendes Sonnengold. Die Betrachtung dieser langsamen Veränderung, des steten und ruhigen Wechsels der Dinge tat Atma wohl. Sein Nervensystem fand allmählich die Ruhe wieder. Alle seine Sinne konzentrierten sich auf den wandernden Schatten und einen Steinbock, der noch etwa einen Fuß von dem Schatten entfernt war.

»Ich will warten, bis der Schatten den Stein berührt. Ist Logg Sar dann mit dem Mädchen noch nicht zurück, dann will ich gehen und sie holen.«

Er sprach es zu sich selbst, und nachdem er sich so die Zeitspanne gesetzt hatte, verharrte er regungslos, von der Sonne beschienen, in die Betrachtung des wandernden Schattens versunken und spürte, wie ihm Minute um Minute die alte Kraft und Ruhe zurückkehrte. Die Eidechsen kamen neugierig hinzu und liefen furchtlos über seine Füße. Eine Haselmaus führte dicht vor ihm ihren possierlichen Tanz auf, ohne sich um den regungslosen Körper zu kümmern. Jetzt streifte der Schatten den Stein. Soma Atma erhob sich. Erschreckt entflohen die Tiere des Waldes. Ein kurzer Blick auf das Chronometer. Zwei Stunden waren verflossen, seitdem Silvester von ihm ging, hinein nach Reynolds-Farm, das Mädchen zu holen . . . zwei Stunden. Atma erschrak. Zwanzig Minuten hätten genügen müssen. Auch dann noch, wenn die Liebenden ein langes Wiedersehen feierten.

Mit langen Schritten eilte er der Farm zu. Die Flügel der Hoftür waren nur angelehnt. Er schritt über den Hof in das Wohnhaus und fand es verlassen. Der Vorraum leer. Der große Wohnraum ohne eine lebende Seele. Aber die Unordnung verriet deutlich einen stattgehabten Kampf. Drei Stühle umgeworfen. Die Tischdecke in Falten. Ein Glas zerbrochen am Boden. Und dort Logg Sars Hut. Seine Handschuhe . . .

Während er den Raum verließ und die Treppe weiter hinaufstieg, malte sein Geist sich plastisch die Szenen aus, die sich hier abgespielt hatten während der Stunden, in denen er dort draußen im Walde ruhte, wartete und frische Kraft sammelte.

Es wäre niemals passiert, wenn er bei voller Kraft gewesen wäre. Dann hätte er mit wachem Nervensystem das kommende Unheil rechtzeitig gespürt.

Nun hatte er das Ende der Treppe erreicht. Ein turmartiger Erker bot Aussicht nach allen Seiten. Atma trat an die Scheiben, durchspähte den klaren Abendhimmel und sah in der Richtung auf Westen einen hellen Fleck seine Bahn ziehen. Ein Flugschiff . . . Zu dieser Zeit . . . in dieser Höhe. Es konnte nur von Ellington her kommen. Noch war es Zeit. In langen Sätzen sprang der Inder die Treppe hinunter und eilte dem Walde entgegen, wo R. F. c. 1 unter Ranken und Kräutern neuen Flügen entgegenharrte.

* * *

R. F. c. 2 hatte Kurs West zu Nordwest. Der Kommandant Charles Boolton stand am Ausguck. In der Kabine saß Dr. Glossin in einem der leichten bequemen Korbsessel. Seine Züge trugen die Spuren von Leiden und Kämpfen, seine Augen waren gerötet. Er machte einen übermüdeten und übernächtigen Eindruck. Ihm gegenüber in einem zweiten Sessel lag die zierliche Gestalt Janes, von tiefer Ohnmacht umfangen. In einer Ecke des Raumes, auf dem Boden, mit starken Stricken schwer gefesselt, Silvester Bursfeld. Dr. Glossin erhob sich von seinem Stuhl. Langsam, als ob jeder Schritt ihm Schmerzen bereitete, ging er durch den Raum auf die Ohnmächtige zu.

Er beugte sich über Jane und fühlte ihren Puls. Mit sanfter Gewalt brachte er ihre Lippen auseinander und flößte ihr aus einer kleinen Kristallflasche einige Tropfen einer rot schimmernden Flüssigkeit ein. Er fühlte, wie der Puls danach stärker ging, wie das Blut die Wangen der Bewußtlosen leicht rötete. Beruhigt kehrte er zu seinem Platze zurück und nahm selbst ein wenig von der Flüssigkeit. Dann ruhte sein Blick lange auf dem gefesselten Silvester.

Bedingungslose Vernichtung hatte Cyrus Stonard befohlen. Den einen der drei hatte er. Diesmal sollte er der Vernichtung nicht entgehen.

Dr. Glossin überschlug die Zeit. Noch Dreiviertelstunden. Dann war das Flugschiff über Montana. Dort am Ostabhange der Rocky Mountains hatte er einen Schlupfwinkel. Und dann . . . dann ging es mit R. F. c. 2 in sausender Fahrt nach Sing-Sing zurück. Der drahtlose Befehl, die neue Maschine dort betriebsbereit zu halten, war längst gegeben. Diesmal sollte die Vollziehung des Urteils schnell und glatt vonstatten gehen. Ohne Zeugen. Nur er wollte dabei sein und sich überzeugen, daß der Strom diesmal auch wirklich seine Schuldigkeit tat. Dann war die alte Scharte ausgewetzt. Dann konnte ihm auch Cyrus Stonard keinen Vorwurf mehr machen.

Dr. Glossin lächelte befriedigt. Die Arznei hatte ihn körperlich erfrischt. Die Hoffnung, daß seine Pläne schnell zu glücklichem Ende kommen würden, stärkte ihn.

Sein Gedankengang wurde unterbrochen. Er hörte, wie der Kommandant in das Telephon nach dem Motorraum sprach. R. F. c. 2 flog mit voller Besatzung. Es hatte außer dem Kommandanten noch einen Ingenieur und zwei Motorwärter an Bord.

Der Kommandant sprach dringlich:

»Die Umdrehung beider Turbinen ist von 8000 auf 5000 gefallen und fällt dauernd weiter. Was ist bei Ihnen los?«

Dr. Glossin wurde aufmerksam. Jetzt irgendein Motordefekt. Ein Versagen der Turbinen. Das konnte seine Pläne stören.

Eine leichte Erschütterung ging durch das Schiff. Die Spitze neigte sich etwas nach unten, und im Gleitfluge stieg es aus der gewaltigen Fahrthöhe hinab. Die Tür des Motorraumes öffnete sich. Der Ingenieur trat herein. Den Lederanzug bespritzt, Spuren von Ruß und Öl an den Händen.

»Mr. Boolton, beide Maschinen stehen. Sie drehen sich nur noch, weil der Luftzug die Schrauben rotieren läßt. Die Maschinenkraft ist weg.«

Der Kommandant fuhr auf, wie eine gereizte Bulldogge.

»In drei Teufels Namen, Wimblington, wollen Sie uns bis auf die Knochen blamieren? R. F. c. 2 ist das beste Schiff unserer Flotte. Bringen Sie die Maschinen in Gang, oder ich bringe Sie vor das Kriegsgericht.«

Der Ingenieur eilte in den Turbinenraum zurück. Er vergaß es, die Tür hinter sich zu schließen. Das Geräusch von allerlei Werkzeugen und Hantierungen drang in die Kabine. Derweil ging das Flugschiff ohne Motorkraft unaufhaltsam im Gleitflug zur Erde. Nur noch zehn Minuten, und es mußte landen, wenn die Maschinenkraft nicht wiederkam.

Der Ingenieur erschien wieder im Raum.

»Herr Kapitän, der Fehler sitzt in den Zündanlagen. Die Maschinen bekommen keinen Zündstrom.«

Der Kommandant wurde blaurot im Gesicht.

»In Satans Namen, Herr, Sie sollen die Maschinen in Gang bringen. Sie werden erschossen, wenn wir notlanden müssen.«

Mit der unangenehmen Aussicht auf den Tod durch eine Kugel verließ Wimblington den Raum. Die Dinge erfuhren dadurch keine Änderung. Die Maschinenkraft blieb aus. Der Gleitflug in die Tiefe dauerte an. Schon befand sich R. F. c. 2 in einer dichten Atmosphäre, nur noch 3000 Meter über dem Boden. Noch vor kurzem waren die Sonnenstrahlen vom Westen her klar und kräftig in den Raum gefallen. Jetzt nicht mehr dreißig, sondern nur noch drei Kilometer hoch, war das Schiff bereits im Dämmerschatten der Erde. Kommandant Boolton durchspähte zähneknirschend die Gegend und suchte einen passenden Landungsplatz für das Schiff. Er bemerkte, daß es ihm gerade noch möglich sein würde, über einen Hochwald hinwegzukommen und auf einer mäßig großen grasbestandenen Lichtung niederzugehen.

Die Aufregung des Kommandanten hatte sich auch Glossin mitgeteilt. Unruhig lief er mit kurzen Schritten in der Kabine hin und her. Sein Blick fiel auf Silvester Bursfeld. Der Gefangene hatte sich herumgeworfen, so daß er Jane sehen konnte, die immer noch in leichtem Schlummer lag. Die Blicke Glossins und Logg Sars trafen sich, und Schrecken kroch dem Doktor an das Herz.

In diesem Augenblick fühlte er, daß der Motordefekt keine zufällige Panne war. Er fühlte es, daß die unheimliche, unbekannte Macht wieder hinter ihm her war. Er hätte einen Eid darauf geschworen, daß dieselbe Kraft, die damals die Maschine in Sing-Sing lähmte, jetzt auch die Turbinen des Rapid Flyers in ihrer Arbeit anhielt. Mechanisch faßte er nach der Tasche, welche die kleine wirksame Schußwaffe barg.

R. F. c. 2 setzte auf die Grasnarbe auf. Mit vollendeter Steuerkunst hatte Kommodore Boolton das Schiff noch über die letzten Hochstämme des Waldes gebracht. Unmittelbar am Waldrande kam es zur Ruhe und wurde von den Schatten der schnell wachsenden Dämmerung umfangen. Boolton ließ das Steuer los und drehte sich um, als ein Geräusch seine Aufmerksamkeit fesselte. Wie zur Salzsäule erstarrt blieb er stehen und stierte durch die Seitenscheiben.

Ein zweites Flugschiff schoß aus der Höhe hinab, gewann Gestalt und legte sich kaum hundert Meter von R. F. c. 2 entfernt auf den Rasen. Das von Minute zu Minute unsicherer werdende Licht der Dämmerung genügte noch, um die Formen erkennen zu lassen.

Kommodore Boolton fand zuerst die Sprache wieder.

»Ich will des Teufels Großmutter heiraten, wenn es nicht R. F. c. 1 ist. Es fliegt kein anderer Bau von der Sorte in der Welt. R. F. c. 3 ist noch in der Montage.«

Der Kommandant hatte seinen Ärger vergessen. Die Neugier, wie R. F. c. 1 hier plötzlich auftauchen könne, überwog alle anderen Gefühle. Dr. Glossin stand da, die Hand an der Schußwaffe, und blickte auf das fremde Schiff.

Dort drüben regte sich nichts. Unheimliche Ruhe herrschte. Kommodore Boolton brach das Schweigen.

»Was brennt hier! Habt ihr Feuer an den Maschinen?«

Er schrie es nach dem Turbinenraum hin.

Auf die Antwort brauchte er nicht zu warten. Dicht neben ihm öffnete sich die massive Metallwand von R. F. c. 2. Das Metall glühte eine Sekunde hellrot, die nächste grellweiß und versprühte dann als Dampf. Noch bevor es Zeit hatte, zu schmelzen und wegzufließen. Die innere Holzbekleidung flammte einen kurzen Moment, aber auch sie versprühte und verschwand, bevor es zu einem richtigen Feuer kommen konnte. Nur ein letzter Brandgeruch machte sich bemerkbar.

Schon war die dem neuen Flugschiff zugekehrte Seitenwand von R. F. c. 2 in der Größe mehrerer Quadratmeter verschwunden.

Kommodore Boolton sah, wie sein gutes Schiff sich vor seinen Augen in Dampf und Nichts auflöste. Mit geballten Fäusten stürzte er erbittert auf die entstandene Öffnung zu.

. . . Und geriet in den sengenden Strahl der telenergetischen Konzentration. Im Augenblick flammten die Kleider an seinem Leibe auf. Er wollte zurück und war doch schon tot, verbrannt, in rotglühende Kohle und stäubende Asche verwandelt, bevor noch der Gedanke, daß er bedroht sei, in seinem Gehirn Wurzel fassen konnte.

Die Flamme des Strahlers fraß weiter. Schon lag die Kabine bloß. Jetzt versprühte die dem Angreifer zugekehrte Wand des Motorenraumes.

Ingenieur Wimblington war nicht gewillt, seine Maschinen ruinieren zu lassen. Seine Rechte fuhr nach der Tasche. Schon lag die Präzisionsschußwaffe in seiner Faust. Prasselnd schlugen die Geschosse gegen die Flanken von R. F. c. 1.

Das erste . . . das zweite . . . das dritte . . . das vierte ging darüber hinweg, denn der feurige Strahl faßte den Ingenieur, fraß die Waffe in seiner Hand, fraß die Hand und fraß ihn selbst, bevor er ein fünftes Mal abdrücken konnte.

Mit aufgehobenen Händen sprangen die Monteure durch die Öffnung ins Freie.

Der eine zersprühte und verglühte im Augenblick des Absprunges. Den zweiten traf der Strahl in der Zehntelsekunde, die er in der Luft schwebte. Etwas weiße Asche fiel auf den Rasen.

Dr. Glossin hatte die Katastrophe im Motorenraum nicht gesehen. Mit Aufbietung aller Kräfte hatte er in diesen Sekunden die Verschlußschrauben gelöst, die die Tür auf der Backbordseite des Flugschiffes verschlossen hielten.

Mit einem Sprunge riß er Jane an sich. Mit einem Ruck hatte er auch die Schußwaffe wieder zur Hand.

Der Schuß blitzte auf. Aus nächster Nähe war die Waffe auf Silvester gerichtet.

Schmerzlich zuckte der Getroffene zusammen. Eine kräftige Abwehrbewegung mit den eng gefesselten Händen brachte den Doktor ins Wanken. Er wäre gestürzt, hätte er nicht im letzten Moment die Waffe fallen lassen und sich an den Türpfosten geklammert.

Jetzt zeigte sich die Kraft, die in diesem mißgestalteten Körper vorhanden war.

Die bewußtlose Jane noch immer auf dem Arm, glitt Glossin von der Plattform der Kabine auf der Backbordseite zum Flugschiff hinaus und lief auf den Wald zu.

Im gleichen Augenblick, in dem Atma R. F. c. 1 verließ und in langgestreckten Sätzen auf R. F. c. 2 zustürmte. Als Glossin auf der Backbordseite den Boden berührte, sprang Atma auf der Steuerbordseite in das Schiff.

Er sah Silvester gefesselt und durchschnitt die bindenden Stricke gedankenschnell. Er ließ den Strahler in Silvesters Hände fallen, glitt im selben Moment schon zur anderen Seite des Flugschiffs hinab und stürmte dem Walde zu.

Es war hohe Zeit. Nur noch undeutlich schimmerte Janes weißes Kleid durch die Stämme. Dr. Glossin hatte einen bedeutenden Vorsprung, und die Schatten der Dämmerung wuchsen von Sekunde zu Sekunde. Aber Dr. Glossin war alt, und Atma war jung, Dr. Glossin trug eine schwere Last auf seiner Schulter, und Atma war ungehindert.

Der Vorsprung Glossins nahm von Minute zu Minute ab. Durch das Stoßen und Schütteln des Laufes war Jane wieder zum Bewußtsein gekommen und sträubte sich mit allen Kräften. Sie schlug auf den Arzt ein, warf sich wild zurück und hinderte ihn schwer.

Schon hörte er den keuchenden Atem des Inders hinter sich. Da packte ihn die Todesfurcht. Das Verhängnis kam hinter ihm. Nur noch einmal entrinnen!

Eine kleine Schlucht öffnete sich vor ihm. Er ließ Jane zu Boden gleiten, sprang in die Tiefe und lief die Bodenfalte entlang. Hier herrschte schon Dunkelheit. In seiner dunklen Kleidung war er in dem dichten Unterholz nicht mehr zu sehen. Vorsichtig schlich er von Baum zu Baum weiter, bemüht, jedes Geräusch zu vermeiden.

Atma war bei Jane stehengeblieben. Vorsichtig hob er sie auf, trug und führte sie aus dem Walde auf das freie Feld zurück, brachte sie sicher in die Kabine von R. F. c. 1 und sah dann nach Silvester.

Der lag ohnmächtig in sich zusammengesunken. Der Strahler war seinen Händen entfallen. Aus der Wunde strömte das Blut.

Atma kam nicht zu früh. Das Messer, welches vor kurzem die Fesseln durchschnitt, zertrennte jetzt die Gewandung. Die getroffene Seite lag bloß. Eine Schlagader war verletzt. Im Rhythmus des Herzschlages spritzte der rote Lebenssaft.

Es dauerte geraume Zeit, bis Atma des Unheils Herr wurde. Endlich stand die Blutung.

Die Wundränder schlossen sich. Vorsichtig trug Atma seinen Jugendgespielen in das andere Schiff und bettete ihn mit unendlicher Sorgfalt.

Jetzt wußte Atma den Freund und das Mädchen geborgen. Seine Gestalt straffte sich, und mit dem Strahler in der Hand wandte er sich dem Walde zu. In der letzten Dämmerung des entschwindenden Tages stand dort die Ruine von R. F. c. 2.

Der Strahler wirkte. Jetzt brauchte der Inder nicht mehr so sorgfältig zu zielen und zu konzentrieren. Mit Gewalt explodierten zehntausend Kilowatt in dem Wrack. Im Augenblick glühte der ganze Rumpf hellrot auf. Schnell wuchs die Hitze zu blendender Weißglut. Das Aluminium des Körpers begann zu brennen. Millionen von Funken und Sternchen warf die glühende Masse nach allen Seiten in die Luft. Dann floß sie zusammen. Eine einzige Lache geschmolzener Tonerde, wo noch vor kurzem ein vollendetes Meisterwerk menschlichen Erfindungsgeistes gestanden hatte.

Atma stellte den Strahler ab. Aber die hellrot glühende Schlackenmasse da drüben gab noch nicht Ruhe. Die Flammen sprangen auf den Waldrand über. Das dürre Gras brannte, einige Grenzbäume fingen Feuer.

Atma sah das Schauspiel, ohne etwas dagegen zu tun.

Mit schnellen Griffen ließ er die Turbinen von R. F. c. 1 angehen. Der Rapid Flyer stürmte in die Höhe. Weit hinter ihm lag der brennende Wald. Atma sah es und lächelte.

»Wenn der Wind gut steht, Glossin, dann lernst du diese Nacht doch noch . . .«

Der Rest erstarb im Brausen der Turbinen.

Atma trat an die Steuerung und setzte das Schiff auf reinen Nordkurs. Der Weg gerade über den Pol blieb der sicherste.

Auf der Wiese vor dem Herrenhause in Linnais setzte R. F. c. 2 leicht und beinahe erschütterungsfrei auf. Mit starken Armen trug Erik Truwor den wunden Freund in sein Heim, während Jane am Arm Atmas folgte.

Und dann kamen Tage banger Sorge. Die Verwundung Silvesters war nicht lebensgefährlich. Die Kugel Glossins war an einer Rippe abgeglitten und hatte nur eine Fleischwunde verursacht.

Bedenklicher war das hohe Fieber. Der alte Arzt aus Linnais schüttelte ratlos den Kopf. Keine Wundinfektion, glatt fortschreitende Heilung der Verletzung und trotzdem diese Fieberschauer, die den Kranken bis an den Abgrund der Vernichtung führten. Seine Kunst und sein Latein waren hier zu Ende.

Lange Tage und kurze, hell dämmernde Nächte folgten aufeinander, in denen Jane nicht vom Lager Silvesters wich, Atma sich mit ihr in die Pflege teilte. Atma, der die Dinge anders ansah als der schwedische Arzt. Atma, der die wildesten Fieberträume Silvesters beruhigte, wenn er ihm die Hand auf die Stirn legte.

»In der fünften Nacht wird die Entscheidung fallen.«

Atma hatte es Erik Truwor zugeflüstert, als sie den Verwundeten aus dem Rapid Flyer trugen und auf sein Lager betteten. Jane hatte die Worte gehört, so leise sie auch gesprochen wurden.

Heute war die fünfte Nacht. In dem verdunkelten Zimmer saß Jane am Lager Silvesters und bewachte jede Regung des Kranken.

Es war nach Mitternacht, und das fahle Licht des jungen Tages dämmerte durch die Schatten des Zimmers. Mit Angst und Freude bemerkte Jane eine Veränderung in den Zügen Silvesters. Es zuckte leise darin. Die geschlossenen Augenlider schienen sich heben zu wollen. Der Körper machte schwache Bewegungen.

War das der Tod? Oder war es Erwachen zu neuem Leben?

Die Sorge überwältigte Jane. Sie wollte Atma rufen, doch die Stimme versagte ihr. Rückhaltlos überließ sie sich den Gefühlen, die in ihr stürmten. Sie umschlang Silvesters Hals, sie flüsterte ihm zärtliche Worte zu und drückte ihre Lippen auf seine Stirn. Alle Instruktionen des Arztes, alle Weisungen Atmas waren in diesem Augenblick vergessen.

»Silvester, verlaß mich nicht! Silvester, bleibe bei mir!«

War es der Klang ihrer Stimme so nahe an seinem Ohr? Einen Augenblick hob er die Augenlider, als suche er mit Gewalt die Umgebung zu erkennen. Dann schlossen sie sich wieder. Der Kopf sank tiefer. Er lag ganz still und regungslos.

»Silvester!«

Ein Schrei aus tiefster Not war es. Leise sank sie neben dem Bett auf die Knie und vergrub das Antlitz in ihre Hände.

Atma war in das Zimmer getreten. Seine Augen ruhten forschend auf den Zügen Silvesters.

»Die Seele ist stärker als der Tod . . . Er ist gerettet.«

Er murmelte es leise und trat zurück.

Von neuem öffnete der Kranke die Augen. Diesmal viel freier und leichter. Und sah mit freudvollem Staunen den blonden Kopf an seiner Brust, dessen Antlitz ihm verborgen war.

»Wer . . . Was ist . . .«

Jane war aufgesprungen.

»Er lebt, er wird leben!«

Noch erkannte Silvester sie nicht.

»Wer ist . . . wer bist . . .«

»Jane, deine Jane bin ich . . . Jane ist bei dir! Gott hat uns wieder vereinigt.«

Der Schimmer des Verstehens, des Wiedererkennens flog über die Züge Silvesters.

»Jane?«

»Ja, deine Jane . . . für das ganze Leben!«

»Jane! . . . Jane!« . . . Er wiederholte den Namen, als gewähre ihm das Aussprechen höchste Seligkeit. Er hob die Arme und legte sie um Janes Hals. Er zog ihr Haupt zu sich und lehnte seine Wange an die ihre.

»Meine Jane«, sagte er so leise, daß sie wohl bemerken konnte, wie die körperliche Schwäche ihn zu übermannen drohte.

»Vor Gott schon lange und jetzt auch vor den Menschen.«

Seine Augen schlossen sich wieder, aber das selige Lächeln blieb auf seinen Lippen. Schnell und sanft schlummerte er ein.

Mit unhörbaren Schritten trat Atma neben Jane.

»Dein Geliebter schläft. Die Gefahr ist vorüber. Du armes Kind mußt auch ruhen. Komm und laß mich allein mit Silvester. Zur rechten Zeit will ich dich rufen.«

»Er schläft, er ist gerettet!« wiederholte Jane. Sie sprach es leise. Einen langen Blick warf sie auf den ruhig Schlummernden und folgte dem Inder.

Nachdem die Krisis überstanden, die Kraft des Fiebers gebrochen war, machte die Genesung Silvesters schnelle Fortschritte. Schon am dritten Tage ging er an Janes Arm über die Wege des parkartigen Gartens, der das Herrenhaus umschloß, und jede Stunde des Tages war eine Stunde des Glücks für die Liebenden. Nach einer Woche wagten sie es, den Pfad zum Ufer des Torneaelf zu wandern, berückt und entzückt von der romantischen Schönheit dieser wunderbaren Landschaft. Ein unendliches Glücksgefühl durchflutete ihre Herzen. In dem dichten Grase am Flußufer ließen sie sich nieder. Silvester lehnte seinen Kopf in Janes Schoß und schloß tief atmend die Augen.

»Wenn ich deine liebe Gestalt nicht fühlte, möchte ich glauben, es wäre nur ein schöner Traum, und würde den Himmel bitten, daß er mir ein Ende fände. Jane, du bist bei mir«, er zog ihre Hände an seine Lippen und küßte sie. »Die guten Feenhände, ihnen verdanke ich mein Leben.«

»O Silvester, wie gern wäre ich für dich gestorben, hätte mein Tod dir Rettung bringen können. Du hast so vieles, wofür du leben mußt. Ich habe nichts als dich. Was sollte aus mir werden, wenn ich dich nicht hätte.«

Ihre Arme umschlossen den Geliebten. Ihre Augen versenkten sich ineinander . . . ihre Lippen fanden sich in einem langen, langen Kuß.


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