Hans Dominik
Die Macht der Drei
Hans Dominik

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I

Das Mysterium von Sing-Sing! Spezialtelegramm: Sing-Sing, 16. Juni, 6 Uhr morgens. Dreimal auf dem elektrischen Stuhl! Dreimal versagte der Strom! Beim dritten Mal zerbrach die Maschine. Der Delinquent unversehrt.«

Gellend schrien die Neuyorker Zeitungsboys die einzelnen Stichworte der Sensationsnachricht den Tausenden und aber Tausenden von Menschen in die Ohren, die in der achten Morgenstunde des Junitages von den überfüllten Fährbooten ans Land geworfen wurden und den Schächten der Untergrundbahnen entquollen, um an ihre Arbeitsstätten zu eilen. Fast jeder aus der tausendköpfigen Menge griff in die Tasche, um für ein Fünfcentstück eines der druckfeuchten Blätter zu erstehen und auf der Straße oder im Lift die außergewöhnliche Nachricht zu überfliegen.

Nur die wenigsten in der großstädtischen Menge hatten eine Ahnung davon, daß an diesem Tage weit draußen im Zuchthaus des Staates New York eine Elektrokution auf die sechste Morgenstunde angesetzt war. Solche Hinrichtungen interessierten das Neuyorker Publikum nur, wenn berühmte Anwälte monatelang um das Leben des Verurteilten gekämpft hatten oder wenn bei der Hinrichtung etwas schief ging. Es geschah wohl gelegentlich, daß ein Delinquent lange Viertelstunden hindurch mit dem Strom bearbeitet werden mußte, bis er endlich für das Seziermesser der Ärzte reif war. Und auch unter dem Messer war dann noch bisweilen der eine oder der andere wieder schwer röchelnd erwacht.

Aber die Yankees hatten niemals allzuviel Aufhebens von solchen Vorkommnissen gemacht. Schon damals nicht, als das Land noch von Präsidenten geleitet wurde, die man alle vier Jahre neu erwählte. Viel weniger jetzt, wo es unter der eisernen Faust des Präsident-Diktators Cyrus Stonard stand. Unter der Faust jenes Cyrus Stonard, der nach dem ersten verlorenen Kriege gegen Japan den Aufstand des bolschewistisch gesinnten Ostens gegen den bürgerlichen Westen mit eiserner Strenge niedergeschlagen und dann den zweiten Krieg gegen Japan siegreich durchgeführt hatte. Die unbeschränkten Vollmachten des Präsident-Diktators nötigten auch die amerikanischen Zeitungen zu einiger Zurückhaltung in allen die Regierung und Regierungsmaßnahmen betreffenden Notizen.

Etwas Besonderes mußte passiert sein, wenn die sämtlichen Neuyorker Zeitungen diesem Ergebnis übereinstimmend ihre erste Seite widmeten und mit der Ausgabe von Extrablättern fortfuhren. – Noch ehe die letzten Exemplare der eben erschienenen Ausgabe ihre Käufer gefunden hatten, stürmte eine neue Schar von Zeitungsboys mit der nächsten Ausgabe der Morgenblätter den Broadway entlang.

»Das Rätsel von Sing-Sing! Sing-Sing, 6 Uhr 25 Minuten. Elektrische Station von Sing-Sing zerstört. Der Verurteilte heißt Logg Sar. Herkunft unbekannt. Kein amerikanischer Bürger! Zum Tode verurteilt wegen versuchter Sprengung einer Schleuse am Panamakanal!«

»Sing-Sing, 6 Uhr 42 Minuten. Der Verurteilte entflohen! Die Riemen, mit denen er an den Stuhl gefesselt war, zerschnitten!«

»Sing-Sing, 6 Uhr 50 Minuten. Ein Zeuge als Komplice! Allem Anschein nach ist der Delinquent mit Hilfe eines der zwölf Zeugen der Elektrokution entflohen.«

»Sing-Sing, 7 Uhr. Letzte Nachrichten aus Sing-Sing. Im Auto entflohen!! Ein unglaubliches Stück! Durch Augenzeugen festgestellt, daß der Delinquent, kenntlich durch seinen Hinrichtungsanzug, in Begleitung des Zeugen Williams in ein vor dem Tor stehendes Auto gestiegen. Fuhren in rasender Fahrt davon. Jede Spur fehlt. Gefängnisverwaltung und Polizei ratlos.«

Mit kurzem scharfen Ruck blieb ein Auto stehen, das in den Broadway an der Straßenecke einbog, wo das Flat-Iron Building seinen grotesken Bau in den Äther reckt. Der Insasse des Wagens riß einem der Boys das zweite Extrablatt aus der Hand und durchflog es, während das Auto in der Richtung nach der Polizeizentrale weiterrollte. Ein nervöses Zucken lief über die Züge des Lesenden. Es war ein Mann von unbestimmtem Alter. Eine jener menschlichen Zeitlosen, bei denen man nicht sagen kann, ob sie vierzig oder sechzig Jahre alt sind.

Vor dem Gebäude der Polizeizentrale hielt der Wagen. Noch ehe er völlig stand, sprang der Insasse heraus und eilte über den Bürgersteig der Eingangspforte zu. Seine Kleidung war offensichtlich in einem erstklassigen Atelier gefertigt. Doch hatten alle Künste des Schneiders nicht vermocht, Unzulänglichkeiten der Natur vollständig zu korrigieren. Ein scharfer Beobachter mußte bemerken, daß die rechte Schulter ein wenig zu hoch, die linke Hüfte etwas nach innen gedrückt war, daß das linke Bein beim Gehen leicht schleifte.

Er trat durch die Pforte. Hastig kreuzte er die verzweigten Korridore, bis ihm an einer doppelten Tür ein Policeman in den Weg trat. Der typische sechsfüßige Irländer mit Gummiknüppel und Filzhelm.

»Hallo Sir! Wohin?«

Ein unwilliges Murren war die Antwort des eilig Weiterschreitenden.

»Stop, Sir!«

Breit und massig schob der irische Riese sich ihm in den Weg und hob den Gummiknüppel in nicht mißzuverstehender Weise.

Heftig riß der Besucher eine Karte aus seiner Tasche und übergab sie dem Beamten.

»Zum Chef, sofort!«

Mehr noch als das herrisch gesprochene Wort veranlaßte der funkelnde Blick den Policeman, mit großer Höflichkeit die Tür zu öffnen und den Fremden in ein saalartiges Anmeldezimmer zu geleiten.

»Edward F. Glossin, medicinae doctor« stand auf dem Kärtchen, das der Diener dem Polizeipräsidenten MacMorland auf den Schreibtisch legte. Der Träger des Namens mußte ein Mann von Bedeutung sein. Kaum hatte der Präsident einen Blick auf die Karte geworfen, als er sich erhob, aus der Tür eilte und den Angemeldeten in sein Privatkabinett geleitete.

»Womit kann ich Ihnen dienen, Herr Doktor?«

»Haben Sie Bericht aus Sing-Sing?«

»Nur, was die Zeitungen melden.«

»Bieten Sie alles auf, um der Entflohenen habhaft zu werden. Wenn die Polizeiflieger nicht ausreichen, requirieren Sie Armeeflieger! Ihre Vollmacht langt doch für die Requisition?«

»Jawohl, Herr Doktor.«

»Die Flüchtigen müssen vor Einbruch der Dunkelheit gefaßt sein. Das Staatsinteresse erfordert es. Sie haften dafür.«

»Ich tue, was ich kann.« Der Polizeichef war durch den ungewöhnlich barschen Ton des Besuchers verletzt, und dies Gefühl klang aus seiner Antwort heraus.

Dr. Glossin runzelte die Stirn. Antworten, die nach Widerspruch und Verklausulierungen klangen, waren nicht nach seinem Geschmack.

»Hoffentlich entspricht Ihr Können unseren Erwartungen. Sonst . . . müßte man sich nach einem Mann umsehen, der noch mehr kann. Lassen Sie nach Sing-Sing telephonieren! Professor Curtis soll hierherkommen. Ihnen in meiner Gegenwart Bericht über die Vorgänge erstatten.«

Der Präsident ergriff den Apparat und ließ die Verbindung herstellen.

»Wann kann Curtis hier sein?«

»In fünfzehn Minuten.«

Dr. Glossin strich sich über die hohe Stirn und durch das volle, kaum von einem grauen Faden durchzogene dunkle Haupthaar, das glatt nach hinten gestrichen war.

»Ich möchte bis dahin allein bleiben. Könnte ich . . .«

»Sehr wohl, Herr Doktor. Wenn ich bitten darf . . .« Der Präsident öffnete die Tür zu einem kleinen Kabinett und ließ Dr. Glossin eintreten.

»Danke, Herr Präsident . . . Daß ich es nicht vergesse! 200 000 Dollar Belohnung dem, der die Flüchtlinge zurückbringt. Lebendig oder tot!«

»200 000 . . .?« MacMorland trat erstaunt einen Schritt zurück.

»200 000, Herr Präsident! Genau, wie ich sagte. Anschläge mit der Belohnung in allen Städten!«

Der Präsident zog sich zurück. Kaum hatte sich die Tür geschlossen, als plötzlich alle Straffheit aus den Zügen Dr. Glossins wich und einem erregten, sorgenden Ausdruck Platz machte. Mit einem leichten Stöhnen ließ er sich in einen Sessel fallen und bedeckte mit der Rechten die Augen, während die Linke nervös über das narbige Leder der Lehne glitt. Wie unter einem inneren Zwange kamen abgerissene Worte, halb geflüstert und stoßweise, von seinen Lippen.

»Stehen die Toten wieder auf? . . . Bursfelds Sohn! Kein Zweifel daran . . . Wer rettete ihn? . . . Wer war dieser Williams? Der Vater selbst? . . . Nur der besäße die Macht, ihn zu retten . . . Er war es sicher nicht . . . Die Riegel des Towers sind fester als die von Sing-Sing . . . Wer wüßte noch um die geheimnisvolle Macht? . . . Ah, Jane! . . . Sie könnte es offenbaren. Der Versuch muß gemacht werden . . . Unmöglich, jetzt noch nach Trenton zu fahren . . . Ich muß bis zum Abend warten . . . Ein unerträglicher Gedanke. Acht Stunden in Ungewißheit . . .«

Der Sprecher fuhr empor und warf einen Blick auf sein Chronometer.

»Ruhe, Ruhe! Noch zehn Minuten für mich.«

Einem kleinen Glasröhrchen entnahm er sorgfältig abgezählt zwei winzige weiße Pillen und verschluckte sie. Beinahe momentan wich die nervöse Spannung aus seinen gequälten Zügen und machte einer friedlichen Ruhe Platz. Seine Gedanken wanderten rückwärts. Bilder aus einer ein Menschenalter zurückliegenden Vergangenheit zogen plastisch an seinem Geiste vorüber . . . Die großen Bahnbauten damals in Mesopotamien im ersten Jahrzehnt nach dem Weltkriege. Ein kleines Landhaus am Ausläufer der Berge . . . Eine blonde Frau in weißem Kleide mit einem spielenden Knaben im Arm . . . Wie lange, wie unendlich lange war das her, daß er Gerhard Bursfeld, den ehemaligen deutschen Ingenieuroffizier, aus seinem kurdischen Zufluchtsort hervorgelockt und für die mesopotamischen Bahn- und Bewässerungsbauten gewonnen hatte. Damals, als Hände und Köpfe im Zweistromlande knapp waren.

Gerhard Bursfeld war dem Rufe zu solcher Arbeit gern gefolgt. Mit ihm kamen sein junger Knabe und sein blondes Weib Rokaja Bursfeld, die schöne Tochter eines kurdischen Häuptlings und einer zirkassischen Mutter.

Ein glückliches Leben begann. Bis Gerhard Bursfeld die große gefährliche Erfindung machte. Bis Edward Glossin, in Liebe zu der blonden Frau entbrannt, den Freund und seine Erfindung an die englische Regierung verriet . . . Gerhard Bursfeld verschwand hinter den Mauern des Towers. Sein Weib entfloh mit dem dreijährigen Knaben. In die Berge nach Nordosten. Ihre Spur war verloren. Und Edward Glossin war der betrogene Betrüger. Mit ein paar tausend Pfund speiste ihn die englische Regierung für ein Geheimnis ab, dessen Wert ihm unermeßlich schien . . .

Die Züge des Träumers nahmen wieder die frühere Spannung an. Der Klang einer elektrischen Glocke ertönte. Der Doktor erhob sich und ging straff aufgerichtet in das Kabinett des Polizeichefs.

Kurz begrüßte er den Ankömmling Professor Curtis aus Sing-Sing und fragte: »Wie ist es möglich gewesen, daß die Apparatur versagte?«

Stockend und nervös gab der Professor seinen Bericht.

»Uns allen ganz unbegreiflich! Auf 5 Uhr 30 Minuten war die Elektrokution des Raubmörders Woodburne angesetzt. Sie ging glatt vonstatten. Um 5 Uhr 40 Minuten lag der Delinquent bereits auf dem Seziertisch. Die Maschine wurde stillgesetzt und um 5 Uhr 55 Minuten wieder angelassen. Punkt 6 Uhr brachte man den zweiten Delinquenten und schnallte ihn auf den Stuhl. Er trug den vorschriftsmäßigen Hinrichtungsanzug mit dem Schlitz im rechten Beinkleid. Die Elektrode wurde ihm um den Oberschenkel gelegt. Zwei Minuten nach sechs senkte sich die Kupferhaube auf seinen Kopf. Im Hinrichtungsraum stand der Gefängnisinspektor mit den zwölf vom Gesetz vorgeschriebenen Zeugen. Der Elektriker des Gefängnisses hatte seinen Platz an der Schalttafel, den Augen des Delinquenten verborgen. 6 Uhr 3 Minuten schlug er auf einen Wink des Scherifs den Schalthebel ein . . . Ich will gleich bemerken, daß dies die letzte authentische Zeitangabe aus Sing-Sing ist. Um 6 Uhr 3 Minuten sind alle Uhren in der Anstalt mit magnetisierten Eisenteilen stehengeblieben. Die weiteren Zeitangaben in den Zeitungen stammen vom Neuyorker Telegraphenamt . . .«

Dr. Glossin wippte nervös mit einem Fuß. Der Professor fuhr fort.

»In dem Augenblick, in dem der Elektriker den Strom auf den Delinquenten schaltete, blieb die Dynamomaschine, wie von einer Riesenfaust gepackt, plötzlich stehen. Sie stand und hielt ebenso momentan auch die mit ihr gekuppelte Dampfturbine fest. Mit ungeheurer Gewalt strömte der Frischdampf aus dem Kessel gegen die stillstehenden Turbinenschaufeln. Es war höchste Zeit, daß der Maschinenwärter zusprang und den Dampf abstellte.

Während alledem saß der Delinquent ruhig auf dem Stuhl und zeigte keine Spur einer Stromwirkung. Erst später ist mir das eigenartige Verhalten des Verurteilten wieder in die Erinnerung gekommen. Er schien mit dem Leben abgeschlossen zu haben. Aber sobald er in den Hinrichtungsraum geführt wurde, kehrte eine leise Röte in seine bis dahin todblassen Züge zurück. Als die Maschine das erstemal versagte, glaubte ich die Spur eines befriedigten Lächelns auf seinen Zügen zu bemerken. Gerade so, als ob er diesen für uns alle so überraschenden Zwischenfall erwartet habe.

Als die Maschine zum zweitenmal angelassen wurde, verstärkte sich diese rätselhafte Heiterkeit. Er verfolgte unsere Arbeiten, als ob es sich für ihn nur um ein wissenschaftliches Experiment handle.

Beim dritten Mal kam das Unglück. Die Maschinisten hatten die Turbine auf höchste Tourenzahl gebracht. Sie lief mit dreitausend Umdrehungen, und die elektrische Spannung stand fünfzig Prozent über der vorgeschriebenen Höhe. Es gab einen Ruck. Die Achse zwischen Dynamo und Turbine zerbrach. Die Turbine, plötzlich ohne Last, ging durch. Ihre Schaufelräder zerrissen unter der ins Ungeheuere gesteigerten Zentrifugalkraft. Der Kesselfrischdampf quirlte und jagte die Trümmer unter greulichem Schleifen und Kreischen durch die Abdampfleitung in den Kondensator. Als der Dampf abgestellt war, fühlten wir alle, daß wir haarscharf am Tode vorbeigegangen waren . . .«

Der Polizeichef flüsterte ein paar Worte mit dem Doktor. Dann fragte er den Professor. »Haben Sie eine wissenschaftliche Erklärung für die Vorgänge?«

»Nein, Herr! Jede Erklärung, die sich beweisen ließe, fehlt. Höchstens eine Vermutung. Die Magnetisierung sämtlicher Uhren deutet darauf hin, daß in den kritischen Minuten ein elektromagnetischer Wirbelsturm von unerhörter Heftigkeit durch die Räume von Sing-Sing gegangen ist. Es müssen extrem starke elektromagnetische Felder im freien Raum aufgetreten sein. Sonst wäre es nicht zu erklären, daß sogar die einzelnen Windungen der großen Stahlfeder in der Zentraluhr vollständig magnetisch zusammengebacken sind. Ein fürchterliches elektromagnetisches Gewitter muß wohl stattgefunden haben. Aber damit wissen wir wenig mehr.«

Eine Handbewegung des Doktors unterbrach die wissenschaftlichen Erörterungen des Professors.

»Wie war die Flucht möglich?«

Der Bericht darüber war lückenhaft. »Als die Turbine im Nebenraum explodierte, suchten alle Anwesenden instinktiv Deckung. Ein Teil warf sich zu Boden. Ein Teil flüchtete hinter die Schalttafel. Etwa zwei Minuten dauerte das nervenzerreißende Heulen und Quirlen der Trümmerstücke in der Dampfleitung. Als endlich der Dampf abgestellt und Ruhe eingetreten war, merkte man, daß der Delinquent verschwunden war. Die starken Ochsenlederriemen, die ihn hielten, waren nicht aufgeschnallt, sondern mit einem scharfen Messer durchschnitten. Die Flucht mußte in höchster Eile in wenigen Sekunden ausgeführt worden sein. Erst zehn Minuten später wurde es bemerkt, daß auch einer der Zeugen fehlte.«

Das war alles, was Professor Curtis berichten konnte.

Dr. Glossin zog die Uhr.

»Ich muß leider weiter! Leben Sie wohl, Herr Professor.« Er trat, von dem Polizeichef begleitet, auf den Gang.

»Wenden Sie alle Maßregeln an, die Ihnen zweckmäßig erscheinen. In spätestens drei Stunden erwarte ich Meldung, wie es möglich war, daß ein falscher Zeuge der Elektrokution beiwohnte. Geben Sie telephonischen Bericht! Wellenlänge der Regierungsflugzeuge! Ich gehe nach Washington.«

Ein Läuten des Telephons im Zimmer des Präsidenten rief diesen hinweg. Unwillkürlich trat Dr. Glossin mit ihm in den Raum zurück.

»Vielleicht eine gute Nachricht?«

Der Präsident ergriff den Hörer. Erstaunen und Spannung malten sich auf seinem Gesicht. Auch Dr. Glossin trat näher. »Was ist?«

»Ein Armeeflugzeug verschwunden. R. F. c. 1 vom Ankerplatz entführt.«

»Weiter, weiter!«

Der Doktor stampfte auf den Boden.

»Wer war es?«

Er drang auf den Präsidenten ein, als wollte er ihm den Hörer aus der Hand reißen. MacMorland hatte seine Ruhe wiedergefunden. Kurz und knapp klangen seine Befehle in den Trichter.

»Der Staatssekretär des Krieges ist benachrichtigt? . . . Gut! So wird von dort aus die Verfolgung geleitet werden. Wie sehen die Täter aus? . . . Hat man irgendwelche Vermutungen? . . . Wie? Was? . . . Englische Agenten? Sind das leere Redensarten, oder hat man Anhaltspunkte? . . . Was sagen Sie? Allgemeine Meinung . . . Redensarten! Die Herren Chopper und Watkins werden gleich herauskommen und die Nachforschungen leiten. Ihren Anordnungen ist Folge zu leisten!«

Der Präsident eilte zum Schreibtisch, warf ein paar Zeilen aufs Papier und übergab sie seinem Sekretär. Dann wandte er sich seinen Besuchern zu.

»Ein ereignisreicher Morgen! Innerhalb weniger Stunden zwei Vorfälle, wie sie mir in meiner langen Dienstzeit noch nicht vorgekommen sind . . . Die Meinung, daß die Engländer dahinterstecken, scheint mir nicht ganz unbegründet zu sein. R. F. c. 1 ist der neueste Typ der Rapid-Flyers. Erst vor wenigen Wochen ist es geglückt, durch eine besondere Verbesserung die Geschwindigkeit auf tausend Kilometer in der Stunde zu bringen R. F. c. heißt die verbesserte Type. c. 1 ist das erste Exemplar der Type. Ich hörte, daß es erst vor drei Tagen in Dienst gestellt wurde. Die nächsten Exemplare brauchen noch Tage, um für die Probefahrt fertig zu werden. Der Gedanke, daß die englische Regierung sich das erste Exemplar angeeignet hat, liegt natürlich sehr nahe . . . Es sei denn . . .«

»Was meinen Sie, Herr Präsident?«

Die Stimme Glossins verriet seine Erregung.

»Es sei denn, daß . . .« MacMorland sprach langsam wie tastend . . . »daß ein Zusammenhang zwischen der Entführung des Kreuzers und der Flucht jenes Logg Sar bestände. Was meinen Sie, Herr Professor?«

»Ich bin versucht, das letztere für das Richtige zu halten. Es ist ganz ausgeschlossen, mit gewöhnlichen Mitteln ein Luftschiff wie R. F. c. 1 von dem streng bewachten Flugplatz am hellichten Tage zu entführen.«

»Was ist Ihre Meinung, Herr Doktor?«

»Ich . . . ich übersehe die ganze Sachlage zu wenig. Trotzdem, Herr Präsident, werden Sie guttun, sich umgehend mit dem Kriegsamt in Verbindung zu setzen und Ihre Maßnahmen für beide Fälle im Einvernehmen und engsten Zusammenwirken mit diesem zu treffen. Guten Morgen, meine Herren.«

* * *

MacMorland und Professor Curtis waren allein im Saale des Polizeipräsidiums zurückgeblieben.

»Ein lebhafter Tag heute!«

MacMorland sprach die Worte mit einer gewissen Erleichterung. Der Vorfall mit dem Flugzeug mußte die Sorge der Regierung auf einen anderen Punkt lenken.

Professor Curtis griff sich mit beiden Händen an den Kopf. »Der zweite Vorfall ist beinahe noch mysteriöser als der erste. Bedenken Sie! . . . Der neueste schnellste Kreuzer der Armee. Auf einem Flugplatz hinter dreifachen, mit Hochspannung geladenen Drahtgittern. Schärfste Paßkontrolle. Fünfhundert Mann unserer Garde als Platzbewachung. Es geht mir über jedes Verstehen, wie das geschehen konnte.«

Der Polizeichef war mit seinen Gedanken schon wieder bei dem Falle, der sein Ressort anging.

»Warum war dieser Logg Sar zum Tode verurteilt? Wir von der Polizei wissen wieder einmal nichts. Sicherlich ein Urteil des Geheimen Rats.«

Der Professor nickte.

»In dem Einlieferungsschein für Sing-Sing stand: ›Zum Tode verurteilt wegen Hochverrats, begangen durch einen verbrecherischen Anschlag auf Schleusen am Panamakanal.‹ Die Unterschrift war, wie Sie richtig vermuteten, die des Geheimen Rats.«

»Ich will gegen diese Institution nichts sagen. Sie hat sich in kritischen Zeiten bewährt, in denen das Staatsschiff zu scheitern drohte. Aber . . . Menschen bleiben Menschen, und bisweilen scheint es mir . . . ich möchte sagen . . . das heißt, ich werde lieber nicht . . .«

Professor Curtis lachte.

»Wir Leute von der Wissenschaft sind immun. Sagen Sie ruhig, daß dieser Logg Sar die Panamaschleusen wahrscheinlich niemals in seinem Leben gesehen hat, und daß der Geheime Rat ihn aus ganz anderen Gründen zum Teufel schickt.«

MacMorland fuhr zusammen. Die Worte des Professors waren schon beinahe Hochverrat. Aber Curtis ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

»Lassen wir den Delinquenten. Er ist doch längst über alle Berge. Aber brennend gern möchte ich etwas Genaueres über Doktor Glossin erfahren. Sie wissen, man munkelt allerlei . . .«

MacMorland überlegte einen Augenblick.

»Wenn ich nicht überzeugt wäre, daß ich auf Ihre unbedingte Verschwiegenheit rechnen könnte, würde ich selbst das wenige, was ich weiß, für mich behalten. Um mit dem Namen anzufangen, so habe ich begründete Zweifel, ob es der seiner Eltern war. Seinen wahren Namen kennt außer ihm selbst vielleicht nur der Präsident-Diktator. Seinen Papieren nach ist er Amerikaner. Aber als ich zum erstenmal seine Bekanntschaft machte, glaubte ich bestimmt, starke Anklänge schottischen Akzents in seiner Sprache zu bemerken.«

»Wann und wo war das?« fragte Curtis gespannt.

»Die Gelegenheit war für Dr. Glossin nicht gerade ehrenvoll. Vor zwanzig Jahren. Während des ersten japanischen Krieges. Ich hatte einen Posten bei der politischen Polizei in San Franzisko. Kalifornien war von japanischen Spionen überschwemmt. Die Burschen machten uns Tag und Nacht zu schaffen. Es war auch klar, daß ihre Unternehmungen von einer Stelle aus geleitet wurden. Einer meiner Beamten brachte mir den Doktor, den er unter höchst gravierenden Umständen verhaftet hatte. Aber es war ihm schlechterdings nichts zu beweisen. Hätten wir damals schon den Geheimen Rat gehabt, wäre die Sache wahrscheinlich anders verlaufen. So blieb nichts weiter übrig, als ihn laufen zu lassen. In der nach unserer Niederlage ausbrechenden Revolution soll er . . . ich bemerke ›soll‹ . . . ein Führer der Roten gewesen sein. Zu beweisen war auch hier nichts. Jedenfalls war er einer der ersten, die ihre Fahnen wechselten. Als Cyrus Stonard an der Spitze des in den Weststaaten gesammelten weißen Heeres die Revolution mit blutiger Hand niederschlug, war Dr. Glossin bereits in seiner Umgebung. Er muß dem Diktator damals wertvolle Dienste geleistet haben, denn sein Einfluß ist seitdem fast unbegrenzt.«

MacMorland unterbrach seinen Bericht, um sich dem Ferndrucker zuzuwenden.

»Hallo, da haben wir weitere Meldungen über R. F. c. 1. Versuchen Sie Ihren Scharfsinn, Herr Professor. Vielleicht können Sie das Rätsel lösen. Der Bericht lautet: ›R. F. c. 1 stand um sieben Uhr morgens zur Abfahrt bereit. Drei Monteure und ein Unteroffizier waren an Bord. Der Kommandant stand mit den Ingenieuren, die an der Fahrt teilnehmen sollten, dicht dabei. Zwei Minuten nach sieben erhob sich das Flugschiff ganz plötzlich. Seine Maschinen sprangen an. Es flog in geringer Höhe über einen neben dem Flugplatz liegenden Wald. Etwa fünf Kilometer weit. Man nahm auf dem Platz an, daß die Maschinen versehentlich angesprungen seien und die Monteure das Flugzeug hinter dem Wald wieder gelandet hätten. Ein Auto brachte den Kommandanten und die Ingenieure dorthin. Vom Flugzeug keine Spur. Die Monteure in schwerer Hypnose behaupten, es habe nie ein Flugzeug R. F. c. 1 gegeben. Sie sind zurzeit in ärztlicher Behandlung.‹«

MacMorland riß den Papierstreifen ab und legte ihn vor den Professor auf den Tisch.

»Das ist das Tollste vom Tollen. Was sagen Sie dazu?«

Der Polizeichef lief aufgeregt hin und her. Auch Professor Curtis konnte sich der Wirkung der neuen Nachricht nicht entziehen.

»Sie haben recht, Herr Präsident. Es ist ein tolles Stück. Aber Gott sei Dank fällt es nicht in das Ressort von Sing-Sing und geht mich daher wenigstens beruflich nichts an. Es wird Sache der Armee sein, wie sie ihren Kreuzer wiederbekommt. Lieber noch ein paar Worte über Doktor Glossin. Ich hatte schon viel von ihm gehört. Heute hab ich ihn das erstemal gesehen. Wo wohnt er? Wie lebt er? Was treibt er?«

»Sie fragen viel mehr, als ich beantworten kann. Hier in Neuyork besitzt er ein einfach eingerichtetes Haus in der 316ten Straße. Daneben hat er sicher noch an vielen anderen Orten seine Schlupfwinkel . . .«

»Ist er verheiratet?«

»Nein. Obgleich er keineswegs ein Verächter des weiblichen Geschlechts ist. Mir ist manches darüber zu Ohren gekommen . . . Na, gönnen wir ihm seine Vergnügungen, wenn sie auch manchem recht sonderlich vorkommen mögen.«

»Hat er sonst gar keine Leidenschaften?«

»Ich weiß, daß er Diamanten sammelt. Auserlesene schöne und große Steine.«

»Nicht übel! Aber ein bißchen kostspielig das Vergnügen. Verfügt er über so große Mittel?«

MacMorland zuckte mit den Achseln.

»Es entzieht sich meiner Beurteilung. Ein Mann in seiner Stellung, mit seinem Einfluß kann wohl . . . lieber Professor, ich habe schon viel mehr gesagt, als ich sagen durfte und wollte. Lassen wir den Doktor sein Leben führen, wie es ihm beliebt. Es ist am besten, so wenig wie möglich mit ihm zu tun zu haben. Da Sie gerade hier sind, geben Sie mir, bitte, über die Vorgänge in Sing-Sing einen kurzen Bericht für meine Akten. Wir können nachher zusammen frühstücken.«

* * *

Wie griechischer Marmor glänzten die Mauern des Weißen Hauses zu Washington in der grellen Mittagsonne. Aber ein dunkles Geheimnis barg sich hinter den schimmernden Mauern. Lange und nachdenklich hafteten die Blicke der Vorübergehenden auf den glatten, geraden Flächen des Gebäudes. Die politische Spannung war bis zur Unerträglichkeit gestiegen. Jede Stunde konnte den Ausbruch des schon lange gefürchteten Krieges mit dem englischen Weltreich bringen. Die Entscheidung lag dort hinter den breiten Säulen und hohen Fenstern des Weißen Hauses.

In dem Vorzimmer des Präsident-Diktators saß ein Adjutant und blickte aufmerksam auf den Zeiger der Wanduhr. Als diese mit leisem Schlag zur elften Stunde ausholte, erhob er sich und trat in das Zimmer des Präsidenten.

»Die Herren sind versammelt, Herr Präsident.«

Der Angeredete nickte kurz und beugte sich wieder zum Schreibtisch, wo er mit dem Ordnen verschiedener Papiere beschäftigt war. Ein Mann mittleren Alters. Eine Art militärischen Interimsrockes umschloß den hageren Oberkörper. Auf einem langen, dünnen Halse saß ein gewaltiger Schädel, dessen vollkommen haarlose Kuppel sich langsam hin und her bewegte. Aus dem schmalen, durchgeistigten Aszetengesicht blitzten ein Paar außerordentlich große Augen, über denen sich eine zu hohe und zu breite Stirn weit nach vorn wölbte.

Das war Cyrus Stonard, der absolute Herrscher eines Volkes von dreihundert Millionen. Als er sich jetzt erhob und langsam, beinahe zögernd der Tür zuschritt, bot er äußerlich nichts von jenen Herrscherfiguren, die in der Phantasie des Volkes zu leben pflegen. Nur das geistliche Kleid fehlte, sonst hätte man ihn wohl für eine der fanatischen Mönchsgestalten aus den mittelalterlichen Glaubenskämpfen der katholischen Kirche ansehen können.

Er durchschritt das Adjutantenzimmer und betrat einen langgestreckten Raum, dessen Mitte von einem gewaltigen, ganz mit Plänen und Karten bedeckten Tisch ausgefüllt war. In der einen Ecke des Saales standen sechs Herren in lebhaftem Gespräch. Die Staatssekretäre der Armee, der Marine, der auswärtigen Angelegenheiten und des Schatzes. Die Oberstkommandierenden des Landheeres und der Flotte. Sie verstummten beim Eintritt des Diktators. Cyrus Stonard ließ sich in den Sessel am Kopfende des Tisches nieder und winkte den anderen, Platz zu nehmen.

»Mr. Fox, geben Sie den Herren Ihren Bericht über die auswärtige Lage.«

Der Staatssekretär des Auswärtigen warf einen kurzen Blick auf seine Papiere.

»Die Spannung mit England treibt automatisch zur Entladung. Seitdem Kanada sich mit uns in einem Zollverband zusammengefunden hat, sind die Herren an der Themse verschnupft. Die Bestrebungen im australischen Parlament, nach kanadischem Muster mit uns zu verhandeln, haben die schlechte Laune in Downing Street noch verschlechtert. England sieht zwei seiner größten und reichsten Kolonien auf dem Wege natürlicher Evolution zu uns kommen. In Australien geht die Entwicklung langsamer vor sich, seitdem der japanische Druck verschwunden ist. Aber auch dort ist sie unaufhaltbar, wenn es der englischen Macht nicht vorher gelingt, uns niederzuwerfen . . .«

Ein spöttisches Lächeln glitt über die Züge des Flottenchefs.

»In Asien und Südamerika stoßen unsere Handelsinteressen schwer mit den englischen zusammen. Der letzte Aufstand im Jangtsekiangtale war mit englischem Gelde inszeniert. Die afrikanische Union hält bei aller Wahrung ihrer politischen Selbständigkeit wirtschaftlich fest zu England und läßt nur englische Waren hinein. Unser letzter Versuch, einen Handelsvertrag mit der afrikanischen Union abzuschließen, ist gescheitert. Meines Erachtens treiben die Dinge einer schnellen Entscheidung entgegen. Die Entführung von R. F. c. 1 gibt einen geeigneten Anlaß. Seit zwei Stunden tobt unsere Presse gegen England.«

Cyrus Stonard hatte während des Vortrages mechanisch allerlei Schnörkel und Ornamente auf den vor ihm liegenden Schreibblock gezeichnet.

»Wie denken Sie über die Entführung des R. F. c. 1?«

Er heftete seine Augen auf den Flottenchef Admiral Nichelson.

»In der Nähe der Station sind zwei englische Agenten ergriffen worden. Sie leugnen jede Teilnahme.«

»Es gibt Mittel, solche Leute zum Reden zu bringen.«

»Sie hatten den Strick um den Hals und schwiegen.«

»Es gibt wirksamere Mittel . . . Wie lange kann sich R. F. c. 1 in der Luft halten?«

»Die Tanks waren für zwölf Stunden gefüllt. Genug, um in voller Dunkelheit zu landen, wenn es nach Osten geht. Unsere Kreuzer über dem Nordatlantik sind avisiert. Eine Landung in England müßte noch bei Helligkeit erfolgen und würde gemeldet werden.«

»Sie halten es für sicher, daß die Entführung auf Betreiben der englischen Regierung erfolgt ist?«

»Ganz sicher!«

»Hm! . . . der Gedanke liegt nahe . . . vielleicht zu nahe . . . Und die anderen Herren? . . . meinen dasselbe . . . hm! Hoffentlich, nein sicherlich haben sie unrecht.«

Die Staatssekretäre sahen den Diktator fragend an.

»Der letzte Gamaschenknopf sitzt noch nicht! Ich werde erst losschlagen, wenn ich weiß, daß er sitzt. Das heißt, meine Herren . . .« Die Stimme des Sprechenden hob sich. »R. F. c. 1 mag in Gottes Namen in England landen. Für unser Volk wird es verborgen bleiben, bis es so weit ist.«

»Wie weit ist die Verteilung unserer U-Kreuzer durchgeführt?«

»Die ganze Kreuzerflotte liegt auf dem Meridian von Island vom 60. bis zum 30. Breitengrad gleichmäßig verteilt.«

Admiral Nichelson erhob sich, um die Lage der Kreuzerflotte an einem großen Globus zu demonstrieren.

»Wo stehen die Luftkreuzer?«

»Die leichte Beobachtungsflotte zwischen Island und den Färöer. Die Panzerkreuzer liegen seit drei Tagen auf dem grönländischen Inlandeis.«

»Die G-Flotte . . .«

»Die Schiffe auf Grönland sind damit ausgerüstet.«

Nur dieser Staatsrat wußte um das Geheimnis, daß die neuen Luftkreuzer mit Bomben versehen waren, die nach dem Abwurfe Milliarden und aber Milliarden von Pest- und Cholerakeimen in die Luft wirbelten. Man hatte noch keine Gelegenheit gehabt, den Bakterienkrieg im großen auszuprobieren. Aber die amerikanischen Fachleute versprachen sich viel davon.

»Die P-Flotte . . .«

Ein sardonisches Lächeln lief über die sonst so unbeweglichen Züge des Diktators, als er das Wort aussprach. Seit mehr denn Jahresfrist lagen englische Banknoten im Betrage von Hunderten von Milliarden Pfund Sterling in den geheimen Gewölben des amerikanischen Staatsschatzes. Von der Tausendpfundnote an bis hinab zu den kleinsten Beträgen. Alles so vorzüglich gefälscht und nachgedruckt, daß die Bank von England selbst diese Noten für echt halten mußte. Die Aufgabe der P-Flotte war es, sofort bei Kriegsausbruch diese Unmengen englischen Papiergeldes über die ganze Welt zu zerstreuen, wo Engländer Handel trieben und englisches Geld Kurs hatte. Die Tätigkeit dieser Flotte mußte das englische Geldwesen in wenigen Tagen vollkommen zerrütten. Aber die P-Flotte war noch ein schwereres Staatsgeheimnis als die G-Flotte. Die englischen Agenten hatten nur herausbekommen, daß sie für Propagandazwecke bestimmt sei und im Falle eines Krieges in großen Massen die zuerst von Woodruf Wilson in die Kriegführung zivilisierter Nationen eingeführten Traktätchen über den feindlichen Linien abzuwerfen hätte.

»Die P-Flotte übt zwischen Richmond und Norfolk«, sagte Admiral Nichelson trocken.

Jedermann im Saale wußte, daß dieser Standort fünfzehn Flugminuten von den Gewölben des Staatsschatzes entfernt war.

Cyrus nahm das Wort von neuem.

»Wie lange wird es noch dauern, bis unsere Unterwasserstation an der afrikanischen Küste vollkommen gesichert ist? Die Frist ist bereits seit einer Woche abgelaufen.«

Bei diesen nicht ohne Schärfe gesprochenen Worten erhob sich der Flottenchef unwillkürlich.

»Die Schwierigkeiten waren größer als vorauszusehen war, Herr Präsident.«

»Können Sie ein bestimmtes Datum angeben?«

»Nein. Doch dürfte es auf keinen Fall länger als bis zum Ablauf dieses Monats dauern.«

»Hm . . . dann also, meine Herren . . . dann wird man R. F. c. 1 zur geeigneten Zeit in England landen sehen.«

Ein Adjutant trat ein und flüsterte dem Präsidenten ein Wort ins Ohr.

»Gut, ich komme.«

Der Präsident erhob sich, die Sitzung war beendet.

* * *

Aus dem blauen Mittagshimmel schoß ein silbern schimmernder Punkt auf das Weiße Haus in Washington zu, wurde größer, zeigte die schnittigen Formen eines Regierungsfliegers und landete sanft auf dem Dach des Gebäudes.

Als einziger Passagier verließ Dr. Edward F. Glossin die Maschine. Den linken Fuß beim Gehen leicht nachziehend, schritt er an den martialischen Gestalten der Leibgarde vorbei. Auf den Treppenabsätzen und in den Korridoren standen die baumlangen blonden Kerle aus den westlichen Weizenstaaten in ihren malerischen Uniformen. Sie hielten die Wache um den Präsident-Diktator wie früher die Grenadiere der Potsdamer Garde um die preußischen Könige oder die Eisenseiten um Oliver Cromwell.

Im Vorzimmer traf der Doktor den Adjutanten des Diktators und ließ sich melden. Nur eine knappe Minute, und der Diktator trat aus dem Sitzungssaale und stand vor ihm. Nach flüchtigem Gruß hieß er ihn in sein Arbeitszimmer mitkommen.

»Wer ist Logg Sar?«

Dr. Glossin fühlte die unbestimmte Drohung, die in der Frage lag, und trat einen Schritt zurück.

»Logg Sar ist . . . Silvester Bursfeld.«

Tiefes Erstaunen malte sich auf den Zügen Stonards.

»Bursfeld . . . der im englischen Tower gefangen saß?«

»Nein, sein Sohn. Der Vater hieß Gerhard.«

»Mein Gedächtnis ist gut. Sie haben mir von einem Sohne Gerhard Bursfelds nie gesprochen. Warum nicht?«

»Ich weiß es selbst erst seit drei Monaten.«

»Und ich erfahre es erst heute?«

Cyrus Stonard trat dicht an den Doktor heran. Ein Blick traf ihn, der sein Gesicht noch eine Nuance blasser werden ließ.

»Erklären Sie!«

»Es war vor ungefähr drei Monaten . . . Ich hielt mich einige Zeit in Trenton auf, um in meinem Laboratorium im Hause einer Mrs. Harte an einem Versuch zu arbeiten. Eines Tages kommt ein junger Ingenieur, der in den Staatswerken von Trenton beschäftigt ist, zu Mrs. Harte und erkundigt sich nach ihren Familienverhältnissen. Dabei stellt sich heraus, daß der verstorbene Mann der Mrs. Harte ein Stiefbruder von Gerhard Bursfeld war.«

»Ihre Erzählung scheint darauf hinauszuwollen, daß der junge Ingenieur der Sohn von Gerhard Bursfeld ist. Warum nannte er sich Logg Sar?«

»Auf Logg Sar lauten seine Papiere. Für die Welt und für ihn beruht alles andere auf Vermutungen. Für mich ist der Beweis erbracht.«

»Liefern Sie ihn mir!«

»Sie erinnern sich an meinen früheren Bericht über die Sache, Herr Präsident. Heute kenne ich seine Fortsetzung. Nachdem Gerhard Bursfeld die unfreiwillige Reise nach England gemacht hat, verschwindet er für immer im Tower. Sein Weib flieht mit ihrem kleinen Knaben in die kurdischen Berge. Unterwegs schließt sie sich einer Karawane an: Kaufleute, Priester und was sonst in Karawanen nach Mittelasien zieht. Die junge Frau ist den Strapazen des langen Weges nicht gewachsen. Irgendwo auf der Strecke zwischen Bagdad und Kabul wurde sie bestattet. Ein tibetanischer Lama, der in sein Kloster zurückkehrt, nimmt sich der Sterbenden an. Ihm übergibt sie ihren Knaben, macht ihm zur Not dessen Namen verständlich . . .«

»Etwas schneller, wenn's beliebt, Herr Doktor!«

»Der Lama nimmt den Knaben mit in sein Kloster Pankong Tzo und erzieht ihn in den Lehren Buddhas. Als der Knabe vierzehn Jahre alt ist, besucht eine Expedition schwedischer Gelehrter das Kloster. Der junge Europäer fällt auf. Von einem der Mitglieder der Expedition, dem Ethnologen Olaf Truwor, wird er mit nach Schweden genommen, wird mit dessen Sohn zusammen erzogen, wird wie dieser Ingenieur . . .«

Cyrus Stonard hatte während des Berichtes mechanisch allerlei Arabesken gemalt, wie es seine Gewohnheit war. Jetzt warf er den Bleistift unwillig auf das vor ihm liegende Papier.

»Glauben Sie im Ernst, Herr Doktor, daß irgendein Anwalt in den Staaten auf Ihre Erzählung hin einen Erbschaftsprozeß übernehmen würde?«

»Nur noch einen kurzen Augenblick Geduld, Herr Präsident. Die Kette schließt sich Glied an Glied. Auf einer Rheinreise, die er nach dem Abschluß seiner Studien macht, wird Logg Sar von einem alten Ehepaar angesprochen, dem seine überraschende Ähnlichkeit mit Gerhard Bursfeld auffällt. Die alten Leute sind mit Gerhard Bursfeld verwandt, haben ihn genau gekannt und sind von dieser Ähnlichkeit ebenso frappiert . . . wie ich es war, als Logg Sar mir das erstemal vor die Augen trat. Ich glaubte damals, Gerhard Bursfeld so vor mir zu sehen, wie er dreißig Jahre früher in Mesopotamien vor mir gestanden hat. Die alten Leute machen Logg Sar darauf aufmerksam, daß ein Stiefbruder Gerhard Bursfelds in Trenton lebt. Logg Sar findet im weiteren Laufe seiner Ingenieurkarriere eine Stellung in den Trentonwerken. Er erinnert sich der Mitteilungen der alten Leute und spricht bei Mrs. Harte vor. Ihr Mann ist tot. Ein Bild von Gerhard Bursfeld findet sich im Hause. Die Ähnlichkeit ist überzeugend.«

Cyrus Stonard blickte den Erzähler durchdringend an.

»Sie tischen mir da eine sehr romantische, aber wenig beglaubigte Geschichte auf. Es fehlt nur noch das berühmte Muttermal, und die Sache könnte in Harpers Weekly stehen. Herr Doktor, ich wünsche von Ihnen schlüssige Beweise und keine Phantastereien. Haben Sie irgendeinen wirklichen Beweis, daß Logg Sar und Silvester Bursfeld identisch sind?«

Dr. Glossin spielte seinen Trumpf aus.

»Ein Wort schließt die Kette: Logg Sar.«

»Was soll das heißen?«

»Logg Sar bedeutet im Tibetanischen das Jahresende. Den letzten Tag des Jahres. Den Tag, den die christliche Kirche dem Silvester geweiht hat. Die sterbende Mutter hat dem fremden Priester verständlich zu machen versucht, was der Name ihres Kindes bedeutet. Das Jahresende. Der christliche Name wurde vergessen. Seine tibetanische Übersetzung ergab den neuen Namen, unter welchem der Knabe in Pankong Tzo verblieb.«

»Das ist kein Beweis für mich, Herr Doktor. Und ich glaube . . . für Sie auch nicht.«

Dr. Glossin trat einen Schritt näher an den Diktator heran.

»Mein letzter Beweis, ein zwingender Beweis! Er kennt das Geheimnis seines Vaters. Es ist ihm überkommen, er hat es ausgebaut in einem Maße, daß . . .«

Die feinen Flügel der Adlernase des Diktators zitterten. Zwei lotrechte Falten zogen sich zwischen seinen Augenbrauen zusammen, als er den Satz des Doktors vollendete:

». . . daß er unser werden oder verschwinden muß, wie seinen Vater die Engländer verschwinden ließen.«

»Das erstere ist wohl nicht mehr möglich.«

»Nach dem Experiment in Sing-Sing . . . ich glaube, daß Gründe vorhanden sind, die mir gestatten, Ihr Konto damit zu belasten, Herr Doktor! Finden Sie einen Weg, auf dem sich die andere Möglichkeit bewerkstelligen läßt?«

Cyrus Stonard warf dem Doktor einen Blick zu, der diesen erschauern ließ. Ein Wink des Diktators, und er war selbst aus der Liste der Lebenden gestrichen, fand vielleicht schon in wenigen Stunden selbst sein Ende auf dem Stuhle in Sing-Sing.

Cyrus Stonard ließ die Lider sinken und fuhr ruhig fort: »Wie sind Sie hinter sein Geheimnis gekommen?«

Der Doktor schöpfte tief Atem und begann stockend zu erzählen:

»Sein Gesicht war mir vom ersten Tage an verhaßt. Auch sonst hatte ich Grund . . . seine Anwesenheit im Hause Harte unangenehm zu empfinden . . .«

»Hm! Hm . . . so . . . weiter!«

»Er bat mich, mein Laboratorium in meiner Abwesenheit benutzen zu dürfen. Ich erlaubte es ihm. Beim Fortgehen sorgte ich dafür, daß zehntausend Volt an den Tischklemmen lagen, während der zugehörige Spannungsmesser nur hundert Volt anzeigte. Ich kam wieder, um eine Leiche zu finden, und sah ihn unversehrt aus dem Hause treten. Das Lächeln eines Siegers auf den Lippen, der soeben einen großen Erfolg errungen hat. Da wußte ich, daß Silvester Bursfeld der rechte Sohn seines Vaters ist. Er mußte wissen, daß ich ihm die Falle gestellt hatte. Ich durfte mich nicht mehr vor seinen Augen zeigen. Drei Tage später verschwand er . . . Unauffällig, wie es üblich ist. Spezialgericht. Elektrokution. Ich glaubte, der Fall sei erledigt. Was weiter geschah, wissen Sie, Herr Präsident.«

»Haben Sie in seinen Papieren gründlich nachgesucht?«

»In jedem Winkelchen. Es sind keine Aufzeichnungen über die Erfindung vorhanden. Ich war dreimal in seinen Räumen. Jedes Stück Papier wurde umgedreht und studiert.«

»Sie haben selbst gesucht . . . Lassen Sie unsere Polizei suchen! Die versteht es vielleicht besser . . . Zum zweiten Punkt unserer Besprechung. Wer hat R. F. c. 1 genommen?«

»Ich würde sagen, sicherlich englische Agenten, wenn ich nicht . . .«

»Wenn Sie nicht . . .«

»Wenn ich nicht nach den Vorgängen dieses Morgens fürchten müßte, daß Silvester Bursfeld allein oder mit Komplicen in unserem schnellsten Kreuzer nach . . . nach Schweden oder nach Tibet fährt.«

»Allein ist ausgeschlossen! Komplicen? Wer sind sie?«

»Ich weiß es nicht . . . Bis jetzt noch nicht. Einer dieser Komplicen ist bestimmt der Zeuge Williams. Von dem dritten, der das Auto steuerte, wissen wir nur, daß er braunhäutig ist . . .«

»Es ist anzunehmen, daß die drei zusammenbleiben werden. Drei sind leichter in der Welt zu finden als einer. Nehmen Sie die politische Polizei zu Hilfe und suchen Sie. Das Finden liegt in eigenstem Interesse . . . Suchen Sie, Herr Doktor Glossin!«

Dr. Glossin stand in unsicherer Haltung vor dem Diktator. Zum erstenmal hatte er die ihm anvertrauten, so ungeheuer weitreichenden Vollmachten für die Zwecke einer Privatrache angewendet. Die Blankette und Vollmachten, die er in den Händen hielt, machten es ihm leicht, den jungen Ingenieur aufheben zu lassen. Bis dahin war alles in Ordnung.

Aber daß er den Gefangenen sofort auf den elektrischen Stuhl brachte, entsprach nicht der Staatsräson. Solche Leute bewahrte Cyrus Stonard nach bewährter Methode an festen Orten auf und suchte hinter ihre Schliche zu kommen. Dr. Glossin raffte sich zusammen.

»Ich bitte Sie, den Entschluß über Krieg oder Frieden um etwa fünf Stunden aufzuschieben. So lange, bis ich wieder hier bin.«

»Warum?«

»Weil ich dann sicher sagen kann, ob Logg Sar und seine Gefährten das Flugschiff genommen haben oder nicht.«

»Und wenn es mir aus anderen Gründen gefiele, daß englische Agenten das Schiff genommen haben? Die Zeit ist reif! Der Zwischenfall könnte mir gelegen kommen.«

»Ich beschwöre Eure Exzellenz. Keine bindenden Entschlüsse, bevor wir nicht klar sehen.«

»Was klar sehen?«

»Wohin die Erfindung gegangen ist. Logg Sar im Bunde mit England . . . dann können wir den Kampf nicht wagen.«

Der Diktator schüttelte abweisend das Haupt.

»Der Sohn wird sich hüten, sich mit den Mördern seines Vaters zu verbinden.«

»Ich hoffe es. Aber Sicherheit ist mehr wert als Vermutung. In wenigen Stunden kann ich Sicherheit haben. Hat er R. F. c. 1 nicht genommen, so ist er noch in den Staaten, und wir haben die Möglichkeit, ihn zu fassen. Solange er frei ist, bleibt er eine Macht, die wir fürchten müssen.«

Ein Schweigen von zwei Minuten. Dann sagte Cyrus Stonard: »Ich erwarte Ihre Mitteilung im Laufe der nächsten drei Stunden. Unsere Presse soll ihre Invektiven gegen England bis auf weiteres unterlassen. Versuchen Sie auf jede Weise, des Erfinders habhaft zu werden. Vermeiden Sie Differenzen mit anderen europäischen Staaten. Wir wollen dem Gegner keine Bundesgenossen werben.«

Eine Handbewegung des Präsident-Diktators, und Dr. Glossin war entlassen.

* * *

Hinter dichten Bäumen verborgen, efeuumsponnen, stand in der Johnson Street zu Trenton das Häuschen, welches Mrs. Harte mit ihrer Tochter Jane bewohnte. Die Nähe der großen Staatswerke konnte man hier vollkommen vergessen. Die roten Backsteinhäuser der Straße lagen ausnahmslos in geräumigen Gärten. Die Straße selbst war reichlich zehn Minuten von den Werken mit ihrem geräuschvollen Verkehr entfernt. Sie lag auf der entgegengesetzten Seite des Ortes und mündete in einen schönen, von Nordwesten her direkt an das Städtchen stoßenden Laubwald.

Mrs. Harte war Witwe. Ihr Mann hatte den Tod als Ingenieur in den Staatswerken gefunden. Auf eine schlimme Weise. Ein Dampfrohr platzte und erfüllte seinen Arbeitsraum mit überhitzten Dämpfen. Frederic Harte war nach dem Unfall ruhig nach Hause gekommen und hatte sein Weib schonend auf seinen Tod vorbereitet. Sie glaubte, er spräche im Fieber. Erschrocken war sie auf ihn zugeeilt und hatte seine rechte Hand ergriffen. Hatte mit Entsetzen spüren müssen, wie das Fleisch der Finger sich von den Knochen löste, tot und weich, vom überhitzten Dampf gekocht, in ihren eigenen Händen verblieb.

»Es tut nicht mehr weh . . . Ich habe keine Schmerzen«, hatte Frederic Harte sie mit einem weltentrückten Lächeln getröstet, sich ruhig an seinen Schreibtisch gesetzt und seine letzten Verfügungen getroffen. Zwei Stunden später verlor er das Bewußtsein. Nach abermals einer Stunde war er tot. »Totale Verbrennung der ganzen Oberhaut, Erstickung infolge fehlender Hautatmung«, sagte der Arzt der verzweifelten Frau.

Das furchtbare Ereignis hatte Mrs. Gladys Harte niedergeschmettert. Monate hindurch fürchtete man für ihren Verstand. Nur ganz allmählich erholte sie sich von diesem Schlage. Doch in demselben Maße, wie ihre geistigen Kräfte sich wieder hoben, nahmen die körperlichen ab. Jetzt war sie fast den ganzen Tag an den Rollstuhl gefesselt, in der Pflege ihrer einzigen Tochter Jane.

Der seltsame Unglücksfall hatte über die nähere Umgebung hinaus Aufsehen erregt. Wenige Tage danach war ein Neuyorker Arzt Dr. Glossin nach Trenton gekommen. Aus wissenschaftlichem Interesse bat er um nähere Aufschlüsse über die letzten Stunden des Heimgegangenen. Mit großer Teilnahme bemühte er sich um die beiden von ihrem Schmerz ganz niedergeworfenen Frauen. Er machte Jane Harte ein hohes mehrjähriges Mietangebot auf das Laboratorium, das sich Frederic Harte in dem Hause eingerichtet hatte. Im Bewußtsein ihrer unsicheren pekuniären Lage hatte Jane ohne Bedenken zugesagt. Als die Mutter sich wieder erholt hatte, billigte sie das Abkommen mit dem Doktor gern, zumal dieser selten kam und sich nur immer für kurze Zeit in dem Laboratorium zu schaffen machte.

Es wurde anders, als Logg Sar in diesen kleinen Kreis trat. Nach dem, was der junge Mann vorbrachte, war er ein Verwandter der beiden Frauen. Aber der lebendige Verkehr der Gegenwart ließ alle alten Erinnerungen und verstaubten Beziehungen schnell in den Hintergrund treten. Mr. Logg Sar oder, wie er hier bald gerufen wurde, Silvester wurde ein lieber Gast im Hause Harte. Nur Dr. Glossin schien darüber nicht erbaut zu sein. Wohl blieb er jederzeit höflich und gestattete Silvester bereitwillig, das Laboratorium zu benutzen. Aber die Gegenwart des Doktors allein wirkte störend und erkältend.

Es kam, wie es das Schicksal mit den beiden jungen Menschen vorhatte. Aus dem Bewußtsein der Verwandtschaft erwuchs eine leichte Zuneigung und aus dieser eine immer tiefer und inniger werdende Herzensgemeinschaft. Silvester Bursfeld hätte vollkommen glücklich sein können, wenn Dr. Glossin nicht gewesen wäre. Nicht nur während seiner Anwesenheit, sondern auch noch an den nächsten Tagen war das Wesen Janes stets verändert. Sie zeigte dann eine so sonderbare Kälte und Zurückhaltung, daß Silvester oft an ihrer Liebe verzweifeln wollte. Erst nach Tagen stellte sich wieder das alte trauliche Benehmen ein, ohne daß ihr diese Veränderlichkeit selbst zum Bewußtsein zu kommen schien.

Ein Zufall brachte Silvester die Lösung des Rätsels. Eines Tages fand er Jane im Laboratorium schlafend auf einem Stuhle. Trotz aller seiner Bemühungen erwachte sie erst nach einer Viertelstunde und leugnete dann, geschlafen zu haben. Da war sich Silvester seiner Sache sicher. Zweifellos brauchte Dr. Glossin Jane zu irgendwelchen hypnotischen Experimenten. Mißbrauchen nannte es Silvester. Er behielt seine Entdeckung für sich, nahm sich aber vor, den Doktor zur Rede zu stellen. Es kam anders. Wenige Tage danach war Silvester verschwunden, ohne vorher von einer Reise gesprochen, ohne Abschied genommen zu haben.

Es war die vierte Nachmittagstunde des sechzehnten Juni. Vor der Tür im Schatten des alten Nußbaumes saß Mrs. Harte in ihrem Lehnstuhl, neben ihr in einem Korbsessel zurückgelehnt Jane. Das Köpfchen mit dem gleichmäßigen Profil in das Kissen gelehnt, auf welches das lichtblonde Haar reich und schwer niederfiel. Die Sonnenstrahlen drangen durch das Gezweig des alten Baumes und malten auf Haar und Wangen wechselnde Reflexe. Ein reizvolles Bild. Aber alles an dieser Erscheinung war wie hingehaucht. Man konnte vor solcher Zartheit erschrecken, die bei Menschen wie bei Blumen nur den vergänglichsten Blüten eigen ist.

Jane Harte beschäftigte sich mit einer Stickerei. Ihre schlanken Finger setzten geschickt Stich neben Stich und formten in schwerer Seide das Muster einer roten Rose. Aber ihre Gedanken waren nicht bei dieser Arbeit. Ihre Miene verriet, daß eine Sorge, ein Kummer sie drückte. Die Schatten unter den Augen sprachen von durchwachten Nächten, die Blässe ihrer Wangen steigerte noch das Ätherische ihrer ganzen Erscheinung. Mit einem Seufzer ließ sie die Arbeit sinken.

»Heute ist eine Woche vergangen, seit Silvester zum letztenmal bei uns war.«

»Du machst dir vielleicht unnötige Sorge, mein Kind. Ich denke, er hat eine plötzliche Reise unternehmen müssen . . . vergaß es in der Eile, uns zu benachrichtigen.«

»Vergessen?«

Ein bitterer Zug zuckte um Janes Mund.

»Jane, was hast du?«

»Laß, Mutter! Ich weiß, daß man in den Werken ebenfalls keine Erklärung für sein plötzliches Verschwinden hat. Man glaubt dort . . . und ich fürchte es . . . eine innere Stimme gibt mir die Gewißheit, daß er das Opfer eines Unglücksfalles oder vielleicht . . . eines Verbrechens geworden ist.«

Sie barg ihr Gesicht in die Hände und versuchte vergeblich, die fließenden Tränen zurückzuhalten.

»Unmöglich, Kind. Der harmlose, freundliche Mensch. Wer sollte ihm übelgesinnt sein? Außer uns verkehrte er mit niemand im Orte. Wie wäre es, wenn wir Dr. Glossin um Rat fragten. Er hat doch für diesen Nachmittag sein Kommen in Aussicht gestellt. Vielleicht kann er uns helfen.«

Jane ließ die Hände sinken.

»Dr. Glossin?«

Ein Zucken ging über ihre Züge. Ihre Augen öffneten sich weit, und ein Beben lief durch den schlanken Körper.

»Dr. Glossin . . . Ja . . . Er!«

Beinahe überlaut kam es von ihren Lippen. Grübelnd ruhten ihre Blicke auf dem dichten Blättergewirr über ihr. Die Gedanken jagten sich hinter ihrer Stirn. Sie versuchte einen ganz momentan und instinktartig aufgetauchten Verdacht zu ergründen . . . Vergeblich. Sie fand keinen Zusammenhang. Der gespannte Ausdruck ihrer Züge wich dem einer Enttäuschung. Was war das, was da einen Augenblick ganz klar vor ihrer Seele stand und sich dann wieder verwirrte und verdunkelte, so daß alle Zusammenhänge verlorengingen?

Das Einschnappen der Gartentür klang dazwischen und ließ sie auffahren.

»Ah, Dr. Glossin!«

Schreck und Erwartung kämpften in ihren Mienen.

»Sie riefen mich, meine liebe Miß Jane. Da bin ich. Womit kann ich Ihnen helfen?«

»Sie kommen zur rechten Zeit, Herr Doktor«, wandte sich Mrs. Harte an den Besucher. »Seit einer Woche ist Mr. Logg Sar verschwunden. Wir stehen vor einem Rätsel. Helfen Sie uns, es zu lösen.«

Janes Blick hing unverwandt an dem Gesicht des Doktors. Ihre Augen blickten so fragend und angstvoll, als würde von dieser Stelle aus über ihr eigenes Leben entschieden.

»Ja, helfen Sie uns, Herr Doktor«, schloß sie sich der Bitte der Mutter an.

Es war klar, daß die beiden Frauen noch keine Ahnung von der Affäre in Sing-Sing hatten, und Dr. Glossin handelte danach.

»Oh, Mr. Logg Sar ist verschwunden? Da wäre es doch wohl das einfachste, wenn man sich an die Polizei wendete. Freilich müßte man glaubhaft machen, daß der begründete Verdacht eines Verbrechens vorliegt, denn sonst . . . man reist viel in den Staaten, und eine achttägige Abwesenheit eines jungen unabhängigen Mannes wäre noch kein Grund, den polizeilichen Apparat in Bewegung zu setzen.«

Dr. Glossin hatte seine Züge in der Gewalt. Jane, die ihn gespannt beobachtete, merkte keine Veränderung an ihnen, während er ruhig fortfuhr: »Ich will mich selbst mit der Polizei in Verbindung setzen, aber . . . aber vielleicht hat Mr. Logg Sar triftige Gründe . . .«

»Herr Doktor! Was soll das heißen?«

Jane rief es mit fliegender Hast. Sie schaute den Besucher mit großen, klaren Augen an. Doch nur auf Sekunden. Vor dem magnetischen Fluidum, welches aus den funkelnden Augen des Doktors auf sie überströmte, senkten sich ihre Augenlider schwer und furchtsam.

»Ich bin nur gekommen, um eine Kleinigkeit, die ich bei meinem letzten Hiersein vergaß, aus dem Laboratorium zu holen. Ich muß gleich wieder abreisen.«

Im Umdrehen suchte er nochmals den Blick Janes zu fassen, den diese beharrlich zu Boden gerichtet hielt. Einen Augenblick nur dauerte der stumme Kampf. Dann schaute das Mädchen besiegt zu dem Manne empor. Ihre Blicke versenkten sich ineinander.

»Eine kleine halbe Stunde, dann ist mein Geschäft erledigt.«

Der Doktor schritt dem Hauseingang zu.

»Bring mich ins Haus, liebe Jane. Die Sonne ist hinter dem Dach verschwunden. Mir wird kühl.«

Während Jane die herabgesunkene Decke um sie schlug, strich ihr die Mutter liebkosend über das bleiche Gesicht.

»Mein Liebling, es wird noch alles gut werden.«

»Möchtest du recht haben, liebe Mutter.«

Ruhig, fast eintönig sprach Jane die Worte. Im Hause bettete sie die Kranke auf einen Diwan und wandte sich zum Flur. Leise schloß sie die Tür und stand wie mit sich selbst kämpfend einen Augenblick still. Dann schritt sie dem Laboratorium zu.

Dr. Glossin kam ihr entgegen und führte sie zu einem bequemen Stuhl. Der suggestive Befehl war auf die Minute genau ausgeführt. Noch einmal versuchte sie es, sich zu erheben, aber es gelang ihr nicht. Eine unüberwindliche Kraft fesselte sie an ihren Sitz. Ihr Mund öffnete sich, als wolle sie rufen. Dr. Glossin streckte die Hände über Janes Haupt aus, und kein Ton kam von ihren Lippen. Ohne Kraft und Willen ließ sie ihren Kopf auf die Rückenlehne sinken. Sie war in jenem rätselhaften Zustand, in dem das körperliche Auge geschlossen ist, während die Seele Dinge wahrnimmt, die räumlich oder zeitlich in weiter Ferne liegen. Dr. Glossin zog seine Hand zurück und fragte: »Wo hat Logg Sar die Aufzeichnungen über seine Erfindung gelassen?«

Die Züge Janes strafften sich. Sie schien etwas zu suchen und schwer oder unvollkommen zu finden. Ihre Lippen öffneten sich und formten Worte einer fremden Sprache.

»Om mani padme hum.«

Eintönig wiederholte sie die vier Worte. Dr. Glossin hörte sie und verstand den Sinn nicht. Mit größter Konzentration stellte er die Frage noch einmal, gab er Befehl, das Versteck der Aufzeichnungen zu nennen. Die Antwort bestand immer wieder in diesen vier Worten, die ganz mechanisch, fast maschinenmäßig wiederholt wurden, wie wenn etwa ein Phonograph den gleichen Text ein dutzendmal herunterspielt.

Der Doktor ließ die Frage fallen und stellte eine andere.

»Wo ist Logg Sar jetzt? Können Sie ihn sehen? Können Sie hören, was er spricht?«

Abgebrochen und stoßweise kamen die Worte von Janes Lippen: »Ich sehe . . . Wolken . . . ein Schiff . . . ein Flugschiff . . . Logg Sar! Er trägt ein dunkles Kleid. Zwei Männer sind bei ihm . . . Das Schiff landet . . . Viel Heidekraut. Die Männer verlassen das Schiff . . . Das Schiff verschwindet. Logg Sar geht über die Heide . . . Es wird neblig. Ich sehe nichts mehr.«

Atemlos hatte Dr. Glossin Wort für Wort aufgefangen.

»In welchem Lande sind sie? Wo liegt das Land?«

»Ein Land im Norden . . . dunkle Tannen und Heidekraut . . . ein Haus an einem Fluß. Die Nebel steigen . . . Ich sehe nichts mehr . . .«

Dr. Glossin zwang sich zur Ruhe. Er wußte aus früheren Erfahrungen, daß es vergeblich war, weiterzufragen, wenn das Bild sich verschleierte. So setzte er die Nachforschung in anderer Richtung fort. Viel Hoffnung auf einen Erfolg hatte er nicht. Wenn die Vision schon bei Vorgängen abbrach, die, wenn auch weit entfernt, in der Gegenwart stattfanden, war wenig Aussicht, zeitlich zurückliegende Dinge zu erblicken. Aber er beschloß, den Versuch zu machen.

»Gehen Sie in Logg Sars Wohnung!«

»Ich gehe . . . die Johnson Street, die Washington Street . . . ich bin in dem Hause . . . ich trete in das Zimmer . . .«

»Blicken Sie sich genau um! Sind alle Gegenstände vorhanden? Oder fehlt etwas? Wurde in der letzten Zeit etwas aus dem Zimmer genommen? Blicken Sie rückwärts.«

Jane hob die Hände, als ob sie sich in einem dunklen Raum vorwärts tastete.

»Ich sehe . . . Logg Sar ist fortgegangen. Eine Person kommt. Ich erkenne sie. Es ist Dr. Glossin. Er sucht und findet nichts . . . Er geht wieder fort. Zwei andere Männer kommen. Der eine . . . ein Riese, blond, mit blauen Augen. Der andere dunkel. Ein Neger? . . . Nein, ein dunkler Mann. Sie suchen. Sie nehmen . . . Om mani padme hum . . . Om mani padme hum.«

Der Doktor ballte erregt die Hände.

»Om mani padme hum? . . . Schon wieder die sonderbaren Worte. Was bedeuten sie? Geben sie den Schlüssel? Wie finde ich die Lösung? . . . Verdammt, daß die Zeit so knapp ist! In drei Stunden muß der Diktator seinen Bericht haben.«

»Om mani padme hum«, kam es automatisch von Janes Lippen.

»Was nehmen die zwei? Strengen Sie sich an! Versuchen Sie, deutlich zu sehen. Was nehmen die beiden Männer?«

»Papierstreifen . . . ich sehe eine kleine Handmühle . . . das Bild wird trübe. Die Nebel steigen.«

»Eine Mühle?«

Dr. Glossin zerbrach sich den Kopf. Eine Mühle? Was konnte Logg Sar für eine Mühle haben? Bei der Durchsuchung seines Zimmers hatte Dr. Glossin allerlei asiatische Erzeugnisse gesehen . . . vielleicht eine buddhistische Gebetmühle? Gab etwa der rätselhafte Spruch die Lösung nach dieser Richtung?

Dr. Glossin wußte, daß er es heute nicht mehr erfahren würde. Er legte die Hand aufs neue auf Janes Stirn. Im Augenblick vollzog sich eine Veränderung in ihrem Aussehen. Ihre Züge entspannten sich, und wie eine tief Schlafende saß sie in dem Stuhl. Der Arzt ließ sie zehn Minuten in dieser wohltätigen Ruhe. Dann strich er ihr wieder über die Augen und das Haar. Ein Strom mächtigen Willenfluidums drang durch die Nerven seiner Finger. Jane schlug die Augen auf und schien es für die selbstverständlichste Sache von der Welt zu halten, daß sie hier im Laboratorium saß.

»Ich bitte Sie, Miß Jane, lassen Sie alles machen, was Sie für notwendig halten, und legen Sie mir die Rechnungen bei meinem nächsten Besuch vor. Ich möchte, daß das Laboratorium in gutem Zustande gehalten wird.«

»Jawohl, Herr Doktor. Es soll alles nach Ihren Wünschen besorgt werden.«

Jede Erinnerung an den vorangegangenen Zustand des Hellsehens war bei Jane geschwunden. So befahl es die retroaktive Suggestion, die Dr. Glossin ihr bei der letzten Berührung erteilt hatte. Sie verließ das Laboratorium mit dem Bewußtsein, eine einfache geschäftliche Unterredung mit dem Doktor geführt zu haben. Aber auch jede Sorge um Logg Sar, ja jede Erinnerung an ihn war wie weggewischt. Sie stand für den kommenden Tag unter dem suggestiven Befehl Glossins, war in jenem Zustande, der Silvester früher so oft zur Verzweiflung gebracht hatte. Der Doktor war sicher, daß sie vor dem Ablauf der nächsten vierundzwanzig Stunden kein Interesse mehr an dem Schicksal des Verschwundenen nehmen würde. Obwohl sie ihn liebte, wie es Glossin mit Furcht und Eifersucht beobachtet hatte, obwohl sie sich als Silvesters Verlobte betrachtete, wovon Dr. Glossin noch nichts wußte.

Der Arzt blieb allein zurück.

»Drei Männer sind es. Ein dunkler dabei . . . das stimmt mit unseren Beobachtungen . . . Drei Personen sollen den Kraftwagen in Sing-Sing bestiegen haben . . . Sie sind im Luftschiff entflohen. Es ist kein Zweifel, daß es R. F. c. 1 war . . . Die anderen waren in seiner Wohnung und haben die Aufzeichnungen geholt und mitgenommen. Hier bricht die Spur ab. Ich werde sie an einem anderen Ende wieder aufnehmen . . . Telenergetische Konzentration . . . Gerhard Bursfeld kannte das Geheimnis. Sein Sohn hat es wiedergefunden. Vererbung . . . Zufall . . . Schickung? Wer weiß?«

Dr. Glossin erhob sich mit einem Ruck von dem Schemel.

»Wir müssen klar sehen, bevor Cyrus Stonard den Schlag wagt. Es wäre unmöglich, wenn die Gegner das Geheimnis besitzen.«

* * *

Mit zweihundertachtzig Metern in der Sekunde schoß R. F. c. 1 Kurs Nordwest zu Nord über den Lorenzgolf dahin. Land und See lagen dreißig Kilometer unter dem Rapid Flyer. Automatisch arbeiteten die Benzolturbinen des Kreuzers, und selbsttätig regulierte die einmal eingestellte Steuerung den Kurs und die Höhenlage.

Nur drei Personen befanden sich im Flugschiff im Zentralraum. In einem Korbsessel, leicht ausgestreckt, die Gestalt eines etwa Dreißigjährigen. Die Farbe seines Haupthaares war nicht zu erkennen. Es war ganz kurz geschnitten, wie rasiert. Die Farbe des Antlitzes zeigte eine Nuance in das Gelblich-Rötliche, wie man sie an Menschen der weißen Rasse kennt, die lange in den Tropen gelebt haben. Die hohe Stirn wies auf geistige Bedeutung. Ein schwarzer Anzug von eigenartig schlotterigem Schnitt umschloß die Glieder.

Ein anderer machte sich an den Hebeln und Reguliervorrichtungen zu schaffen, die von der Zentrale aus den Gang der Turbinen beeinflußten. Er war blond, blauäugig, von nordischem Typus. Eine jener hochgewachsenen reckenhaften Gestalten, wie man sie bis auf die Gegenwart in den Tälern von Darlekarlien bis hinauf zum Ulea und Tornea findet.

Ein Dritter durchspähte am Ausguck der Zentrale mit scharfem Glase den Raum unter dem Flugzeug. Braunhäutig, auch in seiner europäischen Tracht als indisches Vollblut kenntlich.

Die Unterhaltung wurde in wechselnder Sprache geführt. Bald schwedisch, bald deutsch. Bald wurde von allen Dreien fließend und geläufig ein reines Tibetanisch gesprochen und bald wieder Englisch. Sie wechselten die Sprache in irgendeinem Satze der Unterhaltung, wie gerade irgendein Wort den Anstoß dazu gab.

Silvester Bursfeld war es, der noch im Hinrichtungsanzug mit kahl geschorenem Schädel in dem Sessel ruhte.

Erik Truwor, der Schwede aus altem, warägischem Dynastengeschlecht, bediente die Hebel für die Maschinen und die Steuerung. Noch in der ernsten bürgerlichen Kleidung, in der er als Zeuge zu der Elektrokution gegangen war.

Soma Atma, der Inder, stand spähend am Ausguck. Jetzt ließ er das Glas sinken und wandte sich den beiden anderen zu.

»Wir sind durch! Der letzte amerikanische Kreuzer ist hinter uns aus dem Gesichtsfeld entschwunden.«

»Wir sind durch!« Erik Truwor wiederholte die Worte und stellte die automatische Steuerung fest ein. Mit frohem Lächeln wandte er sich zu Silvester Bursfeld.

»Das schwerste Stück liegt hinter uns! Ich denke, Logg Sar, wir sind in Sicherheit. Wir fahren im schnellsten Flugschiff der Welt. Ein zweites Schiff der Type existiert noch nicht. Jetzt haben wir Ruhe und können sprechen.«

Der Schwede trat ganz nahe an den Sitzenden heran und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Wir sind in Sicherheit, Logg Sar. Noch wenige Stunden, und wir stehen auf schwedischem Boden. Armer Freund! Sie haben dir böse mitgespielt. Wir haben es ihnen vergolten. Sie werden in Sing-Sing noch lange an den heutigen Tag denken. Du mußt ihn möglichst schnell vergessen.«

Silvester Bursfeld sammelte sich, bevor er stockend zu antworten begann. Die ungeheure Erregung der letzten vierundzwanzig Stunden führte jetzt zu der unausbleiblichen Reaktion.

»Weißt du, was es heißt, mit dem Leben abschließen zu müssen? Den Tod, einen schimpflichen und qualvollen Tod unaufhaltsam heranrücken zu sehen?«

Der Sprecher schauderte zusammen.

»Die Stunden werde ich nie vergessen. Plötzlich gefangen . . . eine Farce von einem Gericht . . . zum Tode verurteilt. Im Besitze des Rettungsmittels und unfähig, es anzuwenden . . . dann erblickte ich dich unter den Zeugen. Unsere Blicke trafen sich, und ich wagte ganz leise zu hoffen . . . Haben die anderen das Geheimnis gefunden?«

Erik Truwor hatte eine faustgroße Messingkapsel zwischen den Händen, ein reichverziertes, mit winzigen Glöckchen behangenes zylindrisches Gebilde. Er hielt die Kapsel in der Linken und drehte mit der Rechten mechanisch einen Knopf.

»Sie haben es nicht entdeckt. Nach dem ersten Besuche des Dr. Glossin kamen wir in deine Räume. Ich suchte, und Atma fand. Er sah den Tschosor . . .«

Der Schwede fiel bei dem tibetanischen Worte wieder ins Tibetanische.

»Atma öffnete die Gebetmühle und sah, daß der Text auf den Streifen nicht vom Kleinod im Lotos sprach. Wir lasen deine Anweisung. Einen halben Tag brauchte ich, um sie zu verstehen. Noch einen halben Tag, um die versteckten Teile zu finden und wieder zusammenzubauen. Dann hatten wir den Strahler! In seinem Besitze, in der Kenntnis des Geheimnisses war es uns leicht, die Maschine zu sprengen.«

Mit zitternden Händen griff Silvester Bursfeld nach der Gebetmühle und streichelte sie liebkosend.

»Das Geheimnis ist gerettet. Alles, was ich darüber schrieb, steht auf den Bändern. Ich will ihnen . . .«

Zorn und Erregung malten sich auf seinen Zügen.

»Ich will ihnen Brände und Stürme schicken, daß sie . . .«

Erik Truwor hob beschwörend die Rechte. Ein goldener Schlangenring von alter indischer Arbeit gleißte am vierten Finger. Ein Stein schimmerte darin in wundersamem Farbenspiel. Bald glänzte er tiefgrün, und dann wieder, wenn ein Strahl der elektrischen Lampe ihn traf, sandte er blutrotes Rubinlicht aus.

Atma trat hinzu. Der gleiche Ring erglänzte an seiner Hand wie an der seines Gefährten. In Überraschung und Staunen weiteten sich die Augen Silvesters. Zwischen den beiden Ringen wanderten seine Blicke hin und her und hafteten dann auf dem leeren Ringfinger der eigenen Hand.

»Die drei Ringe des Tsongkapa . . . Die alte Prophezeiung . . . Vom Anfang des Bogens der Wille . . . Vom Ende das Wissen . . . von Mitternacht . . . mein Ring fehlt . . .«

War es das Flimmern der Steine, war es der strahlende Blick des Inders, Silvester Bursfeld hielt stockend inne und schloß die Augen zu tiefem Schlaf.

Atma kehrte auf seinen Beobachtungsposten zurück.

Erik Truwor hantierte am Empfangsapparat der telegraphischen Station. Mit schnellen Blicken überflog er die Zeichen des aus dem Apparate quellenden Streifens. Dann ein Wink an den dunklen Gefährten. Der schob und drehte das schimmernde Aluminiumrad der selbsttätigen Steuerung, bis die schwarze Marke genau über der Spitze des nordweisenden Kreisels stand, der die Steuerung betätigte. In weit ausholendem Bogen gehorchte das Flugschiff der Steuerung und schoß über Labrador hin nordwärts gerichtet auf den Pol zu.

Der Schwede wies auf die Telegrammstreifen.

»Amerikanische Kreuzer auf Grönland und über Island. Wir müssen über den Pol gehen, um die Sperre zu meiden.«

Atma hörte, und ein stärkerer Glanz leuchtete in seinen großen strahlenden Augen.

»Gezwungen?«

»Gezwungen!«

Der Inder nahm die alte Weissagung da wieder auf, wo Silvester, in den Schlaf fallend, gestockt hatte.

». . . Von Mitternacht kommt die Macht.«

Erik Truwor erschauerte. Er kannte die Weissagung. Der Moment trat ihm vor die Augen, als der greise Abt von Pankong Tzo ihm den Ring auf den Finger schob und dazu nur die Worte sprach: »Das ist der dritte!«

Es ging um die alte, so schwer deutbare Prophezeiung, an der sich die Ausleger seit siebenhundert Jahren versuchten. Erik Truwor war ein moderner Mensch. Er beherrschte das Wissen der Gegenwart, kannte als Ingenieur die Naturwissenschaft seiner Zeit. So hatte er den Ring genommen und hatte ihn mit den Blicken des Naturforschers betrachtet. Der Stein, eine Abart des Chrysoberyll, ein gut geschliffener Alexandrit, der die Eigenschaft besitzt, in natürlichem Lichte grün, in künstlichem rot zu leuchten. Die Prophezeiung . . . eine jener vielen aus der Vorzeit überkommenen dunklen Weissagungen, die man in jedem Jahrhundert auf die Ereignisse der Zeit zu deuten versucht. Erik Truwor wollte ihr skeptisch gegenüberstehen und brachte es doch nicht fertig. Zu sehr klangen die Worte des Tsongkapa mit alten dunklen Überlieferungen zusammen, die in seinem Vaterhaus umgingen. Zu sehr auch brachten sie in seinem Gemüt eine Saite zum Mitschwingen, die wohl nur leise angeschlagen zu werden brauchte, um zu klingen. Schon einmal sollten die Truwors vor mehr als tausend Jahren den Völkern in den weiten Steppen Rußlands einen Herrscher gegeben haben. Aber über diese geschichtliche Überlieferung ging die Legende hinaus, daß es nicht das letztemal gewesen sein sollte. Ein dunkles Grenzgebiet tat sich hier auf. Ein Ineinanderfließen grauer Vergangenheit und ferner Zukunft.

Erik Truwor hätte lächeln mögen, wenn er nicht im fernen Osten Dinge gesehen hätte, die ihm das Lachen verlegten. Dinge, für die das eherne Kausalitätsgesetz seine Wirkung zu verlieren schien. Erscheinungen, bei denen Zeit und Raum ihre Ausdehnung verloren. War es blinder Zufall oder war es irgendeine Fügung, daß sie jetzt infolge der erzwungenen Abweichung vom kürzesten Kurs direkt vom Pol her genau aus Mitternacht in ihre Heimat stoßen mußten?

». . . Aus Mitternacht kommt die Macht«, sagte die alte Weissagung. Er entsann sich ihrer jetzt Wort für Wort.

»Vom Anfang des Bogens kommt der Wille«, das ließ sich auf Atma, den im fernen Osten Geborenen, deuten, der die Fähigkeit der Willensübertragung, der telepathischen Fernwirkung in übermenschlichem Maße besaß.

»Vom Ende das Wissen.«

Das mochte wohl auf den Mann gehen, der dort ruhig im Stuhle schlummerte und Erfindungen von so gewaltiger Tragweite gemacht hatte.

»Von Mitternacht kommt die Macht.« Wörtlich ließ es sich jetzt auf sie alle drei zusammen deuten . . .

Die Steuerung des Kreuzers wurde von Minute zu Minute unsicherer. Der steuernde Kreisel, dessen Achse an jedem Punkte der Erde auf den Polarstern weist, stand jetzt genau senkrecht.

Erik Truwor blickte durch die Scheiben nach unten. Wo die Wolken einen Durchblick ließen, wurden unendlich ausgedehnte Eis- und Schneeflächen sichtbar. Der Kreuzer stand genau über dem Pol. Wohin immer er jetzt fuhr, er mußte nach Süden fahren und aus Mitternacht kommen.

Mit fester Hand griff der Schwede in die Speichen der Steuerung. In weitem Bogen schwenkte das Schiff um einen Winkel von fünfundvierzig Grad und schlug den Kurs auf die Ostecke von Spitzbergen ein. Minuten verstrichen. Dann nahm der steuernde Kreisel ganz allmählich eine schräge Lage an. Die automatische Steuerung begann wieder zu arbeiten, und Erik Truwor konnte zur drahtlosen Station zurücktreten.

Atma wies ihm stumm den Papierstreifen, der inzwischen viele Meter lang unter dem Schreibrad hervorgequollen war . . . Aufregende Depeschen aus Amerika. Der Krieg mit England so gut wie sicher. Kühle Auslassungen von Washington. Dann wieder siedend heiße Telegramme der amerikanischen Presse. R. F. c. 1 spielte die Hauptrolle darin.

Die amerikanischen Wachtflieger sollten seine Landung in Schottland beobachtet haben. Der Äther war voll von gefährlichen Nachrichten.

Erik Truwor las, während die Stunden der Fahrt sich summten. Endlich hatten sie das offene Meer unter sich. Das Nordkap kam in Sicht. Gebirge, Fjorde, weite Flächen . . . alles noch in bläulichem Nebel verschwommen. Jetzt schoß der Flieger mit starkem Gefälle nach unten. Seine Geschwindigkeit nahm ab, als er in die dichteren Luftschichten eindrang. Dann senkte er sich mit stehenden Maschinen im Gleitflug und stand auf einer weiten, nur mit Heidekraut bewachsenen Fläche still.

Atma trat auf den Schläfer zu und strich ihm leicht über die Augen. Silvester Bursfeld erwachte und erhob sich erfrischt. Der magnetische Schlaf hatte die Spuren der erlittenen Anstrengungen und Leiden verwischt. Nur noch das kurze Haar und der ominöse Anzug erinnerten daran, daß er vor zehn Stunden zum Tode geführt werden sollte.

Als Erster sprang Erik Truwor aus dem Schiff und stand fest und sicher auf dem heimatlichen Boden. Sorglich half er Silvester beim Verlassen des Fliegers.

»Willkommen auf heimatlichem Boden! Willkommen, Silvester, im alten Schweden, in unserem Linnais! Ein neues Leben beginnt heute für uns alle. Deine Erfindung, Silvester, ist größer, als du selbst vielleicht denkst und ahnst. Das Schicksal hat uns viel gegeben. Wir werden uns der Gabe würdig zeigen müssen.«

Soma Atma war als der letzte aus dem Flugschiff gesprungen. Seine Frage unterbrach den Gedankenflug Erik Truwors.

»Wohin mit dem Flugschiff? Hier darf es nicht stehen. Die Luft hat Augen.«

Silvester Bursfeld trat näher und strich liebkosend über die silbern schimmernde Wand des Schiffes. An den Körper einer Schwalbe erinnerte sein Rumpf. Schmal und schnittig, daß die Luft es noch sanft umstrich, wenn es mit Flintenkugelgeschwindigkeit durch den Äther dahinschoß. Der Rumpf vom langausgezogenen Steuerschwanz bis zum Motorkopf kaum zwölf Meter lang. Die Schwingen zu ebener Erde jetzt zusammengefaltet und an den Rumpf gelegt wie die Flügel einer ruhenden Schwalbe. In der dünnen Atmosphäre, in dreißig Kilometer Höhe, da reckten sich diese blanken Flächen aus, streckten sich von innen her gespreizt weit nach beiden Seiten, bis sie fünfzig Meter klafterten.

Auf leichten Rädern stand der zierliche Rumpf mit angefalteten Schwingen.

»Die Yankees sollen das Schiff nicht wieder haben! Ein Andenken sind sie mir für den elektrischen Stuhl schuldig.«

Silvester knurrte es unwillig vor sich hin.

»Du hast recht. Wir können die Maschine selbst gebrauchen. Moralische Verpflichtungen haben wir nach deinem Abenteuer nicht mehr. Das Schiff findet Platz in der Odinshöhle.«

Silvester Bursfeld trug an einem Riemen an der rechten Hüfte einen kleinen Kasten aus poliertem Zedernholz. Er ergriff ihn, wie man nach einem Krimstecher greift. Einige Griffe an ein paar Stellschrauben des Apparates, und wie von Geisterhänden berührt, begann das Flugschiff auf dem ebenen Heideboden langsam voranzurollen. So gemächlich, daß seine drei bisherigen Passagiere ihm im bequemen Schritt zu folgen vermochten. Etwa wie ein gut dressierter Hund lief es vor ihnen her, während Silvester Bursfeld es mit seinem Apparat verfolgte wie ein Photograph ein Objekt, das er auf die Platte bannen will.

Nun war das Ende der Hochebene erreicht. Mit steilem Gefälle führte der Weg mehrere hundert Meter in die Tiefe zum Torneaelf hinab. Sich selbst überlassen, mußte die Maschine auf diesem Pfade ins Rollen kommen, mußte umschlagen oder zerschellen. Aber war sie bisher wie ein Hund gelaufen, so kletterte sie jetzt wie eine Gemse. Vorsichtig wand sie sich auf dem schmalen Pfade dahin . . . und jetzt . . . Silvester Bursfeld neigte seinen Apparat nach oben, und die schwere Maschine hob sich vom ungangbaren Pfade in die Luft. Während ihre Propeller stillstanden, während ihre Schwingen dicht gefaltet am Rumpf lagen, gaukelte sie wie ein Schmetterling vor den Wanderern dahin, die den engen Pfad hinabstiegen. Nun bogen sie seitlich vom Wege in ein Gewirr von Blöcken und Heidekraut am Abhange ein. Noch wenige hundert Meter, und eine dunkle Öffnung gähnte am Hange.

Silvester Bursfeld arbeitete mit seinem Apparat wie ein Künstler. Er hob und senkte, drehte und richtete ihn, kam im Bogen schließlich gerade vor jene Öffnung zu stehen. Vor ihm schwebte das schwere Flugschiff.

In langsamer vorsichtiger Wendung kehrte es seine Spitze der Öffnung zu. Jetzt tauchte es in die Dunkelheit, und jetzt war es verschwunden. Silvester folgte ihm, während Erik Truwor einen Handscheinwerfer in Tätigkeit setzte, der die Höhle mit blendendem Licht erfüllte.

Noch etwa hundert Meter Weg in der geräumigen, hier von der Natur in das Urgestein gesprengten Höhle. Eine kurze Schwenkung nach links. Das Flugschiff verschwand hinter gewaltigen Basaltsäulen. Wie Silvester jetzt den Strahler senkte, senkte sich auch das Schiff. Seine Räder berührten den Boden und nun stand es sicher und unbeweglich auf der ebenen, mit trockenem Sand bedeckten Basis der Höhle. Silvester Bursfeld setzte die Schrauben seines Apparates auf die Nullstellung und ließ ihn wieder auf seine Hüfte hinabgleiten.

»So! Hier wird es niemand entdecken! Wenigstens nicht, wenn die Leute in der Gegend noch denselben Respekt vor der Odinshöhle haben wie früher.«

»Sie haben ihn. Die Schäfer und Waldläufer hier glauben immer noch, daß allerhand Geister in der Höhle hausen.«

Erik Truwor sagte es lachend.

»Selbst am lichten Tage machen sie einen Bogen um die Höhle. So leicht wagt sich niemand hinein, so breit und offen ihr Eingang auch daliegt. Sie haben Respekt davor, und sollte er nachlassen, so haben wir das Mittel, ihn wieder aufzufrischen.«

Er deutete dabei auf den Strahler an Silvesters Seite. Aus dem Dunkel der Höhle traten die drei wieder an den sonnigen Tag. Sie folgten dem Pfade flußabwärts und erreichten das alte Stammhaus der Truwors, das hier aus Birken und Föhren hervor auf den Torneaelf hinabschaute.

* * *

»Britannia rules the waves, Britannia rules the winds.« Aus Hunderttausenden von Kehlen drang die alte Melodie mit neuem Text und brauste über die blauen Wasser des Solent. Die Flotte der leichten englischen Luftstreitkräfte war plötzlich am Himmel sichtbar geworden. Ihr Erscheinen bildete den Auftakt und Anfang der großen Wettbewerbe, die am 11. Juni von der Aeronautical Federation of G. B. und dem Imperial Aero Club über dem Meeresarm zwischen der Insel Wight und der englischen Küste veranstaltet wurden. In Geschwadern zu je hundert kamen die Flugzeuge angeschossen. Tauchten irgendwo in der Ferne aus dem Blau des Himmels oder des Ozeans auf. Bildeten zu hundert in der Luft ein lateinisches V wie die Zugvögel und hielten die Figur genau geschlossen, während sie allerlei Evolutionen vollführten.

Geschwader auf Geschwader tauchte auf, bis es schließlich ihrer tausend waren. Bis hunderttausend Flugzeuge in einer dichten Wolke den Azur des Firmaments mit dem silbernen Schimmer blanken Leichtmetalles durchsetzten.

Die Menge, welche schwarz die Ufer und Klippen des Solent umsäumte, sang spontan das alte Lied. Unbekümmert von aller politischen Spannung waren die Massen hierher gepilgert, um ein sportliches Schauspiel zu sehen. Aber der Anblick der unüberwindlichen englischen Luftflotte führte zu diesem elementaren Ausbruch patriotischen Gefühles. Geschickt hatten es die Regierenden verstanden, dem Empfinden der Menge Rechnung zu tragen und sich gleichzeitig von der Schlagfertigkeit und Alarmbereitschaft der Luftflotte zu überzeugen. Das Singen, das Schwenken von Tüchern und Hüten nahm kein Ende, solange noch ein Flugzeug zu sehen war. Dann . . . so plötzlich wie die Flotte auftauchte, war sie auch wieder verschwunden. Von Yarmouth bis zum Atlantik, von den Orkneys bis zu den Kanalinseln stand sie wieder über den Küsten wie ein geschlossener Hornissenschwarm. Bereit, jeden Gegner auf dem Wasser und in der Luft mit giftigem Stachel anzufallen und zu vernichten.

Ein Teil des Uferfeldes war von der Menge frei gehalten worden. Hier lagen die Luftjachten, in denen die vornehmen Mitglieder der veranstaltenden Klubs zu dem Schauspiele gekommen waren. Dort schwer und breit, mit überreichem Zierat beladen, goldglänzend die Jacht des Radscha von Rankure. Wenige Meter davon entfernt die wundervollen Flugschiffe der Norfolks, Sommersets, der Cecils und vieler anderer. In der Mitte von allen diesen der gestreckte Leib einer Aluminiumjacht. Sie gehörte dem Vierten Lord der britischen Admiralität, Seiner Herrlichkeit Lord Horace Maitland auf Maitland Castle.

Lord Horace Maitland hatte in seiner amtlichen Stellung die Verwaltung der Luftstreitkräfte unter sich. Er gehörte dem Präsidium des Imperial Aero Club an, und der große Empfangssalon seiner Jacht bildete den Treffort für alle diese Aristokraten der Geburt und des Geldes, deren Flugschiffe das Feld bedeckten.

Der Salon der Jacht bot durch große Zellonspiegelscheiben nach drei Seiten hin freien Ausblick. Nur die vierte Wand war massiv. Zwei schmale Türen führten zu den Privat- und Wirtschaftsräumen des Flugschiffes. Den mittleren Teil der Wand nahm eine Gruppe von Palmen und Blattpflanzen ein. Ein gewaltiger Löwenkopf aus schwerer Bronze war etwa in Brusthöhe an der Wand befestigt und warf einen Strahl frischen Wassers in ein Muschelbecken zwischen den Palmen. Sessel und Tische waren dazwischen gruppiert.

Hier saß die Herrin der Jacht, Lady Diana Maitland, im Kreise ihrer Besucherinnen. Wie die Herren ausnahmslos im Klubanzug erschienen waren, so trug auch Lady Diana den Sportdreß des Aeroklubs. Schlank und rank erschien ihre jugendliche Gestalt in dem fußfreien Rock und dem enganschließenden Jackett aus marineblauem Tuch. Mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgten auch die Damen die Vorgänge in den Lüften, mit besonderem Interesse Lady Diana selbst. Immer wieder hob sie den Feldstecher empor, um sich keine Einzelheit entgehen zu lassen. Ihre dunklen Augen blitzten erregt. Eine leichte Röte lag auf ihren Wangen. Jeder Nerv in ihr vibrierte, als ob sie selbst an den Wettkämpfen dort oben teilnähme. Ein Beobachter hätte unschwer feststellen können, daß ihr Temperament und Wesen nicht englisch waren, daß nicht allein ihre Eigenschaft als Gattin des Luftministers sie besonders an diesen Vorführungen interessierte, sondern daß ihre anders geartete Natur die Freude an den aufregenden Kampfspielen viel stärker zu erkennen gab, als es bei den Damen ihrer Umgebung der Fall war, deren schwerflüssiges englisches Blut auch hier die gewohnte kühle Reserve wahrte.

Die letzten Flieger der englischen Wehrmacht waren am Horizont verschwunden. Alle Gäste wußten, daß man das eben gesehene Schauspiel den Anordnungen des Lords zu verdanken hatte, und sie hielten mit ihrer Anerkennung nicht zurück.

»Brillant,« knurrte Kommodore Morison, »schade, daß die Amerikaner nicht dabei waren. Würden es sich danach überlegen, mit uns anzubinden.«

»Die Amerikaner werden nicht kommen«, bemerkte Mr. Pykett, der australische Baumwollkönig, trocken.

»Wetten, daß sie kommen?« fiel ihm der Viscount Robarts ins Wort. Viscount William Robarts, der nie eine Gelegenheit vorübergehen ließ, eine Wette zu riskieren.

»Ich glaube doch nicht«, meinte Mr. Pykett.

Der Viscount zog die Uhr. »Zehn Pfund darauf, daß das erste amerikanische Boot in fünf Minuten hier ist.«

Lord Horace Maitland stand dicht dabei. Ein Zucken lief über die scharf geschnittenen Züge seines glatt rasierten Gesichtes. Er kannte Amerika und die Amerikaner. Heute war er ein angehender Vierziger. Seit drei Jahren Inhaber des Lordtitels und der damit verbundenen Einkünfte. Aber die Lordschaft war ganz unverhofft durch eine Reihe von Todesfällen an ihn gekommen. Die vorangehenden zehn Jahre hatte er als einfacher Mr. Clinton in den Vereinigten Staaten gelebt. Nicht sehr begütert. Genötigt, im Strome des Lebens zu schwimmen und den Kampf ums Dasein zu führen. Damals, es waren jetzt fünf Jahre her, hatte er Diana, die eine berühmte Sängerin an der Chikagoer Metropolitan-Oper war, geehelicht, hatte noch zwei Jahre mit ihr in den Staaten gelebt, bis die Pairie an ihn fiel. Er brachte in die Stellung des englischen Aristokraten die Lebens- und Menschenkenntnis eines amerikanischen Kaufmannes mit. Was Wunder, daß er bald auch im politischen Leben eine Rolle spielte und verhältnismäßig jung das verantwortliche Amt eines Lords der Admiralität bekleidete.

Weniger leicht war es seiner Gattin gemacht worden, in der englischen Gesellschaft festen Fuß zu fassen. Schon bei ihren ersten Schritten fühlte sie instinktiv eine von Mißtrauen nicht freie Zurückhaltung heraus, die der gewesenen Sängerin galt. Der Ton der Gesellschaft war wenigstens von seiten des weiblichen Teils auf vorsichtige Duldung eingestellt. Aber Lady Diana Maitland, die polnische Magnatentochter, war keinen Augenblick gewillt, sich nur dulden zu lassen. Ein stiller, zäher Kampf begann. Schritt für Schritt eroberte sich Lady Diana die Stellung, die ihr nach dem Range ihres Gatten und ihrer Geburt zukam. Und wenn sie heute als eine der ersten Damen des englischen Highlife dastand, so verdankte sie es in erster Linie den eigenen geistigen und körperlichen Vorzügen. Ihre Ehe galt nicht nur als mustergültig, sondern als glücklich, wenn ihr Nachkommenschaft auch bisher versagt war.

Viscount Robarts wiederholte sein Angebot.

»Zehn Pfund darauf, daß das erste amerikanische Boot um viertel elf hier ist.«

Mr. Pykett nahm die Wette an.

»Hundert Pfund dagegen, daß um viertel elf kein amerikanisches Boot hier ist. Fünfzig Pfund dagegen, daß bis Mittag überhaupt keins kommt.«

Die Gedanken Lord Maitlands jagten einander, Mr. Pykett gehörte dem australischen Parlament an. Er mußte genau die Fäden kennen, die sich zwischen Amerika und Australien spannen. Es hatte sicher seine Gründe, wenn er auf das Nichterscheinen der Amerikaner wettete. Aber Lord Maitland empfing auch von Viertelstunde zu Viertelstunde die Telegramme aus Amerika, und er fand, daß die aufreizende Sprache der Yankeepresse in den Morgenstunden an Schärfe verloren hatte. Wollte man England einwiegen, um es dann um so sicherer überfallen zu können? Oder hatte sich Cyrus Stonard besonnen und die Auseinandersetzung aufgeschoben? Er fand keine sichere Antwort auf diese Fragen.

Seine Betrachtungen wurden unterbrochen. Ein Punkt, der in den letzten Sekunden am Horizont sichtbar geworden war, hatte sich schnell vergrößert. Aus unendlicher Höhe stieß er herab und wuchs in jeder Sekunde, bis er sich breit und massig auf die blauen Fluten des Solent legte. Dort wogte das Luftschiff im Spiele der Wellen leicht auf und ab, rasselnd gingen die Anker in die Tiefe und legten den mächtigen Rumpf fest. Flatternd stieg das Sternenbanner am Heck hoch, und wie durch Zauberei spannte sich in wenigen Sekunden der bunte Schmuck der Flaggenparade längs über das Schiff. Cheerrufe aus der Menge begrüßten den ersten Transatlantik, dem in wenigen Minuten zwei weitere folgten.

Mr. Pykett schrieb ruhig einen Scheck über 150 Pfund aus und legte ihn in die Hände des Viscount Robarts. Während er das tat, stellte er sich im stillen die gleichen Fragen wie Lord Maitland. Warum ließ Cyrus Stonard noch Passagierboote hinüber? Hatte er sich im letzten Augenblick besonnen und die Auseinandersetzung aufgeschoben?

»Graf Zeppelin« auf dem Flug über den Südatlantik. Ein Pionier des transatlantischen Luftverkehrs.

Die Atmosphäre war mit Politik geladen. Auch das Gespräch der Damen beeinflußte sie. In einer Pause der Gespräche hörte man deutlich die wohlklingende Stimme der Lady Diana:

»Wie sollten England und Amerika miteinander fechten? Die gemeinsame Sprache verhindert es ja. Sie ist das stärkste Band, das Menschen aneinanderbindet.«

Die Viscounteß Robarts nickte zustimmend. »Ich könnte es nicht begreifen, wie Englishspeakers sich gegenseitig morden sollten.«

Die Damen glaubten nicht an die Möglichkeit eines Krieges. Aber sie wußten auch wenig von der Politik und Staatsräson eines Cyrus Stonard.

Draußen begann der Wettbewerb der Tauchflieger. Von großen Höhen schossen die Flugschiffe herunter, durchschnitten klatschend die Wasserfläche, zogen noch eine kurze Spur quirlenden Propellerwassers hinter sich her und waren dann verschwunden. Als Unterseeboote setzten sie ihre Fahrt fort. Nach den Bedingungen des Wettbewerbes mußten sie unter Wasser eine lange Strecke zurücklegen, eine in fünfzig Meter Tiefe verankerte Boje aufnehmen und innerhalb vorgeschriebener Zeit an einer bestimmten Stelle wieder auftauchen.

Do X nach der Überquerung des Atlantik im Hafen von New York. Ein Vorläufer der großen »Transatlantiks«.

Um die Amerikaboote tummelten sich die Zollbarkassen. Die Zollabfertigung dauerte nur kurze Zeit. Schon setzten die Transatlantiks selbst Motorboote aus. Einzelne der soeben Angekommenen gingen an Land, um hier Freunde und Bekannte zu treffen.

Der Weg für die Tauchflieger war lang. Deshalb schob das Programm ein Wettfliegen mit motorlosen Flugzeugen ein. Nach dem pomphaften Schauspiel der Luftflotte und dem dämonischen der Tauchflieger kam die Idylle. Von der höchsten Spitze der Uferklippen segelten die einzelnen Flieger ab. Wie die Schmetterlinge gaukelten sie mit geblähten Tragflächen in der Luft. Hingen oft fast bewegungslos an derselben Stelle, um dann plötzlich die Flügel zu recken und sich wie die Albatrosse in weiten Kreisen in die Höhe zu schrauben.

Viscount Robarts suchte, mit wem er eine neue Wette auf den Segelflug eingehen könne. Die übrigen Gäste Lord Maitlands verfolgten durch scharfe Gläser die immer höher steigenden Segler. Auf der Bordtreppe der Maitlandjacht wurden Schritte vernehmbar. Neue Gäste kamen. Sir Arthur Vernon, der Vorgänger Lord Maitlands in der Admiralität. Er führte einen Fremden in diesen Kreis ein.

»Herr Dr. Glossin aus Trenton in den Staaten . . .«

Während der Eingeführte sein Kompliment machte, fuhr Sir Arthur zu Lord Maitland gewendet kaum hörbar fort: ». . . Ein alter Freund von mir . . . Kann vielleicht helfen, die Krise zu lösen.«

Die wenigen Worte genügten, um dem Amerikaner einen Empfang zu sichern, dessen Herzlichkeit noch um eine Note über die übliche englische Gastfreundschaft hinausging.

Dr. Glossin widmete sich besonders der Herrin der Jacht. Zu ihrem Staunen lenkte er das Gespräch sehr bald auf solche Orte und Personen, die sie als Sängerin kennengelernt hatte, ohne doch ihren früheren Beruf mit einem Worte zu erwähnen.

Lady Diana wurde durch das Gespräch gefesselt und doch wieder innerlich abgestoßen. Sie spürte bei jedem Satz einen geheimnisvollen Doppelsinn und konnte sich dem Einfluß dieses Gastes doch nicht entziehen. Eine innere Stimme warnte sie, sich den Mann zu nah kommen zu lassen, und unter einem unwiderstehlichen Zwange brachten ihre Lippen gleichzeitig eine freundliche Einladung nach Maitland Castle zutage. Eine Einladung, die Lord Maitland dringend unterstützte. Es lag ihm daran, mit diesem einflußreichen Amerikaner in Fühlung zu bleiben.

Dr. Glossin dankte für die Aufforderung. Er nahm sie mit Vorbehalt an. Vorerst habe er noch in London zu tun. Danach würde er gern nach Maitland Castle kommen, Krieg und Kriegsgefahr . . . er lachte darüber. Das amerikanische Volk denkt nicht daran, sich mit den stammverwandten Briten in einen Krieg einzulassen. Preßzänkereien bedeuteten noch lange keinen Krieg.

Lord Maitland ging gerade auf das Ziel los. Die Aufregung der amerikanischen Presse sei durch die Entführung eines Flugzeuges hervorgerufen worden. Die amerikanische Presse habe behauptet, daß die Engländer es entführt hätten. Ob der Zwischenfall klargestellt sei.

Dr. Glossin wurde wortkarg. Die Entführung des Flugschiffes sei noch nicht völlig aufgeklärt. Bestimmte Beobachtungen deuteten aber auf eine bestimmte Spur. Er vermied es, hier in der Gegenwart so vieler Gäste mehr zu sagen. Aber Lord Maitland verstand, daß der Amerikaner ihm unter vier Augen mancherlei mitzuteilen habe, Dinge, die jedenfalls die größte Diskretion verlangten.

Draußen nahmen die Konkurrenzen ihren Fortgang. Das Zwischenspiel der Segelflieger war beendet. Der Viscount Robarts hatte es zu seinem Leidwesen vorübergehen lassen müssen, ohne eine Wette unterbringen zu können. Unbelebt dehnte sich die Fläche des Solent. Aber mit den Stoppuhren in der Hand warteten die Preisrichter. Und jetzt . . . Wirbelnd schoß es wie ein Fisch aus dem Wasser, reckte im Augenblick des Auftauchens zwei kräftige Schwingen und flog in die Höhe. Der erste Flugtaucher war angekommen. Den Bedingungen der Konkurrenz entsprechend, stieg er bis auf zehntausend Meter Höhe, ging dann im Gleitflug nieder und legte sich ruhig auf das Wasser. Noch während er niederging, stieg bereits das zweite Boot aus dem Wasser in die Höhe. In kurzen Intervallen folgten die anderen Wettbewerber. Die Konstruktionen gaben sich gegenseitig kaum etwas nach. Die wenigen Sekunden, die das eine Boot etwa länger als das andere nach seiner Boje auf dem Grunde hatte suchen müssen, gaben den Ausschlag.

Jeder von den Zuschauern hier in der Jacht begriff, daß England in diesen Flugtauchern eine neue wirksame Waffe besaß. Diese Maschinen konnten in gleicher Weise U-Boote und Flugzeuge angreifen. Sie konnten den Ort des Kampfes nach eigenem Belieben über oder unter dem Wasser suchen.

Lord Maitland stand mit dem Doktor Glossin an einem der Fenster.

»Eine glänzende Erfindung! Ich denke, Sie werden Ihrem Präsidenten davon zu erzählen haben.«

Dr. Glossin lächelte höflich. Die Pläne der Flugtaucher waren längst in Washington.

»Es gibt etwas anderes, was uns gegenwärtig größere Sorge macht.«

Lord Maitland blickte fragend auf.

»Mein Lord, hörten Sie jemals etwas von telenergetischen Konzentrationen?«

Lord Maitland blickte so naturgetreu verdutzt auf, daß Dr. Glossin einsah, der Lord wisse wirklich nichts davon. Wenn aber der Vierte Lord der britischen Admiralität von dieser Sache nichts wußte, dann war beinahe sicher anzunehmen, daß auch die Admiralität und die englische Regierung keine Kenntnis davon hatten. Das mußte aber zweifelsfrei festgestellt werden, bevor Cyrus Stonard losschlug. Darum war Dr. Glossin hier in England, und darum hatte Cyrus Stonard das schon gezückte Schwert noch einmal in die Scheide zurückgestoßen.

Besaß England das Geheimnis Gerhard Bursfelds, so durfte Amerika den Angriff nicht wagen. Im anderen Falle konnte der Schlag mit guter Aussicht auf ein Gelingen geführt werden.

Die Konkurrenzen gingen ihrem Ende entgegen. Im Wettbewerb um den Höhenflug errang ein Fahrzeug den ersten Preis, welches sich unter Zuhilfenahme der Raketenwirkung ausströmender Pulvergase bis zu einer Höhe von 100 Kilometer erhoben hatte. Aber die Konkurrenten um den Schnelligkeitspreis blieben weit hinter der amerikanischen Type R. F. c. zurück.

Dann war die Konkurrenz beendet. Während die Volksmassen in Wasserbooten und Bahnen den Städten zuströmten, erhoben sich die Jachten in die Lüfte. Der indische Radscha steuerte geradeswegs dem Bergstock des Himalaja zu. Die Jacht des Lords Maitland flog nach Maitland Castle. Dr. Glossin fuhr im Kraftwagen des Sir Vernon nach London.

* * *

Die Schollen fielen auf den Sarg, der die sterbliche Hülle von Glady Harte barg. Ihr Leben war ruhig erloschen, wie die Flamme einer Lampe, der das Öl fehlt. Das Ende war seit Monaten vorauszusehen. Es war vielleicht durch die Aufregungen beschleunigt worden, die das Schicksal Silvesters in das stille Haus in der Johnson Street brachte.

Jane stand in einem kleinen Kreise Leidtragender an der offenen Gruft. Hier kam ihr erst ganz zum Bewußtsein, wie einsam sie in diesen letzten Jahren gelebt hatten. Nur wenige Personen gaben der Toten das Geleit. Freunde des verstorbenen Mannes, wie dieser in den Staatswerken angestellt. Einige Frauen dabei.

Jane war ihnen von Herzen dankbar, daß sie jetzt noch einmal gekommen waren, der Toten die letzte Ehre zu erweisen. Sie fühlte sich grenzenlos einsam und verlassen. Während sie Beileidsworte hörte und Hände drückte, dachte sie daran, daß sie jetzt allein in das leere Haus in der Johnson Street zurückkehren müsse, und daß . . . auch Silvester von ihr gegangen sei.

Ein krampfhaftes Schluchzen erschütterte ihren Körper. Sie drohte umzusinken, als Dr. Glossin zu ihr trat, sie stützte und behutsam von dem Grabe fortführte. Sorgsam geleitete er sie durch die breiten Wege des Friedhofes, der in voller Junipracht grünte und blühte, als ob es keinen Tod und kein Sterben auf der Welt gäbe.

Willenlos ließ Jane es geschehen. Jeder Mensch, der sich ihrer annahm, war ihr in ihrem augenblicklichen Zustande willkommen. Um wieviel mehr Dr. Glossin, der solange in ihrem Hause verkehrte, der ihre Mutter genau gekannt hatte, der versprochen hatte, ihr über Silvester Nachrichten zu bringen!

Sie stieg vor dem Friedhof in seinen Kraftwagen und ließ sich von ihm in die Wohnung in der Johnson Street geleiten. Und hier im Anblick der altvertrauten und heute so ganz verwaisten Räume kam ihr Schmerz von neuem zum Ausdruck. Fassungslos sank sie auf einen Sessel und drückte das Taschentuch vor die Augen.

Dr. Glossin ließ sie einige Minuten gewähren. Dann legte er ihr sanft die Hand auf das Haupt.

»Meine liebe Miß Jane, versuchen Sie es, sich zu fassen. Ich weiß, es hat wenig Zweck, Ihnen in dieser Stunde trostreich zuzusprechen. Haben Sie Vertrauen zu mir. Folgen Sie meinem Rat. Nehmen Sie meine Hilfe an, und alles wird gut werden.«

Jane ließ das Tuch sinken und blickte auf. Ein neues Gefühl durchrieselte sie. Ihre Tränen versiegten. Die Welt erschien ihr nicht mehr so vollkommen leer und trostlos.

»Sie sind der einzige nähere Bekannte, Herr Doktor, den wir hatten, den ich jetzt noch habe.«

»Sagen Sie: der einzige Freund! Lassen Sie sich von mir beraten. Sie müssen aus der alten Umgebung heraus. Aus den Räumen, in denen jedes Stück Sie an Ihren großen Verlust erinnert.«

Jane würgte tapfer die wiederaufsteigenden Tränen zurück und nickte zustimmend.

»Sie haben wohl recht, Herr Doktor! Doch wohin soll ich gehen?«

»Lassen Sie das meine Sorge sein. Die Hauptsache ist, daß Sie sofort für ein paar Wochen in eine andere Umgebung kommen. Ich besitze in Kolorado am Ausgange des Gebirges eine Farm. Da haben Sie andere Luft, andere Gesichter und werden schneller das seelische Gleichgewicht wiedergewinnen. Sie sind dort mein Gast, solange es Ihnen gefällt. Mein Personal steht zu Ihren Befehlen, und ich selbst werde gelegentlich . . . sooft wie möglich . . . hoffentlich recht oft die Zeit finden, Sie zu sehen, mich von Ihrem Wohlbefinden zu überzeugen.«

Dr. Glossin sprach langsam und eindringlich. Jane hörte ihm ruhig zu. Zuerst noch leise widerstrebend. Ein Gedanke ging ihr durch den Sinn.

»Ich werde nicht hier sein. Silvester wird mich suchen und nicht finden.«

Dr. Glossin erriet den Gedanken auch unausgesprochen.

»Ich werde die Zwischenzeit benutzen, um über den Verbleib von Mr. Logg Sar etwas in Erfahrung zu bringen. Auch werde ich inzwischen alle Ihre Angelegenheiten hier ordnen. Briefe und was sonst hierherkommt, wird Sie in Reynolds-Farm erreichen. Dort wird die frische Bergluft des Felsengebirges Ihre blassen Wangen bald wieder röten.«

Für einen väterlichen Freund sprach Dr. Glossin ein wenig zu eifrig und lebhaft. Aber Jane achtete nicht darauf. Die Worte des Arztes hatten ihre letzten Bedenken besiegt. Ihr Aufenthalt würde bekannt sein. Alle Nachrichten würden sie an der neuen Stelle erreichen. Recht gute hoffentlich und auch recht bald. Sie nahm die Vorschläge und die Einladung Glossins an.

Der hatte es sich in der letzten Stunde reiflich und nach allen Seiten hin überlegt. Daß er Jane aus einer ganzen Reihe von Gründen mit sich nehmen und unter seinem Einfluß behalten wollte, stand bei ihm fest. Daß er zur Erreichung dieses Zieles seinen hypnotischen Einfluß auf Jane ausnutzen mußte, war ebenfalls sicher. Nur wie weit er diesen Einfluß anwenden solle, darüber war er sich zweifelhaft. Sollte er so weit gehen, ihr überhaupt jede Erinnerung an die tote Mutter wegzusuggerieren? Damit fiel auch für Jane das Gefühl der Verlassenheit und der Grund fort, ihm zu folgen und sich unter seinen Schutz zu stellen. Er mußte dann noch einen Schritt weitergehen und sie durch die Hypnose ganz an sich ketten.

Es widerstand ihm, Jane als einen willenlosen Automaten mit sich zu nehmen. Er wollte aus einer eigentümlichen Stimmung heraus, daß Jane ihm freiwillig und in einem natürlichen Schutzbedürfnis folge. Aber er mochte auch keine ständig Jammernde und Klagende um sich sehen. So wählte er den Mittelweg. Durch seinen suggestiven Einfluß verstärkte er ihr Schutzbedürfnis und milderte ihren noch so frischen und heftigen Schmerz über den Todesfall.

Der Kraftwagen brachte sie nach dem Flughafen. Dem großen umfriedeten Platz, auf dem die Flugschiffe der verschiedenen Staatslinien ankamen und abfuhren. Jane kannte den Ort. Zu Lebzeiten der Mutter war sie öfters von hier nach Philadelphia oder Milwaukee gefahren. Hatte damals bemerkt, daß reiche Leute hier auch ihre eigenen Schiffe landen ließen. Jetzt führte sie Dr. Glossin zu einer kleinen, aber ansprechenden Privatjacht. Er bemerkte ihr Staunen.

»Steigen Sie ein, meine liebe Miß Jane. Wundern Sie sich nicht allzusehr, daß wir ein besonderes Schiff zur Verfügung haben. Ich mußte es in Neuyork mieten, um noch rechtzeitig nach Trenton zu kommen.«

Jane dankte dem Arzte mit einem warmen Blick. Wie freundlich von ihm, daß er keine Unkosten scheute, um in dieser Zeit bei ihr zu sein, ihr helfen zu können. Von ihm geleitet, betrat sie die Kabine des Flugschiffes, welches sich sofort erhob, um die Fahrt nach dem Westen zu beginnen. Dr. Glossin ließ sich Jane gegenüber nieder.

»Gestatten Sie mir, meine liebe Miß Jane, daß ich Ihnen Ihren zukünftigen Aufenthaltsort ein wenig schildere. Reynolds-Farm heißt mein Besitztum in Kolorado. In früheren Jahrzehnten war es auch wirklich einmal eine Farm mit ausgedehnten Äckern und Stallungen, mit Scheunen und Speichern. Eine richtige Farm, wie sie im Buche steht. Heute ist es ein ruhiges Landhaus in einem nach Osten offenen Tale der Felsenberge gelegen. Bergluft, Tannenduft und Ruhe. Vollkommene Ruhe, wie wir Großstadtmenschen sie bisweilen nötig haben, wie sie auch Ihnen wohltun wird.«

Jane hatte mit steigendem Interesse zugehört. Schon die Ortsveränderung, die schnelle Fahrt, die sie jede Stunde so viele Meilen von ihrem alten Aufenthaltsort entfernte, gab ihren Gedanken eine andere Richtung, ließ sie minutenlang ihren Schmerz vergessen.

»Aber Sie können selbst nur selten dort sein, Herr Doktor. Wer ist dort auf Ihrer Farm? Wer hält das Anwesen in Ordnung? An wen werde ich mich zu halten haben?«

»Vor allen Dingen an meine gute alte Abigail, ein altes schwarzes Faktotum, das dort das Haus in Ordnung hält.«

Jane nickte zustimmend. Als Amerikanerin war sie es gewöhnt, daß schwarze Dienerinnen es in den Häusern der Weißen zu angesehenen Vertrauensstellungen brachten. Als Amme kam solche schwarze Frau zu den Kindern, blieb als Wärterin bei ihnen, sah sie zu Männern heranwachsen und blieb in ihren alten Tagen immer noch die schwarze Mammy.

»Ein gutes, altes, anhängliches Tier! Ihre Schönheit läßt zu wünschen. Dafür ist sie treu und fleißig, sie wird Ihnen jeden Wunsch von den Augen ablesen . . .«

Es kam Jane nicht zum Bewußtsein, daß es dort vielleicht noch einsamer sein könnte als in Trenton. Der suggestive Einfluß des Doktors erstickte jedes aufsteigende Bedenken.

Das Schiff eilte der sinkenden Sonne nach, bis es sich selbst zu senken begann und die Kette der Felsenberge von Denver bis Cheyenne am gelbglühenden Westhimmel stand. Es landete auf einer freien grasbewachsenen Ebene. Dr. Glossin hatte wohl recht. Hier wehte eine andere Luft als in Trenton, wo die großen Werke trotz aller Fortschritte und Verbesserungen immer noch recht viel Ruß und Staub in die Atmosphäre warfen.

Frische, harzgetränkte Bergluft. Mit voller Brust sog Jane die leichte Brise ein.

Das Flugschiff war dicht neben der Farm gelandet. Auf dem Wege zum Hause kam ihnen schon eine alte Negerin entgegen. Von jener abschreckenden Häßlichkeit, die alte Negerweiber gewöhnlich auszeichnet. Dabei von einer unterwürfigen Vertraulichkeit, die auf langjährige Dienste schließen ließ.

»Guten Tag, Mister Doktor. Die alte Abigail hat alles fertiggemacht. Das Supper ist fertig. Die Zimmer sind fertig . . .«

Ein breites Grinsen ließ ihre Mundwinkel bis in die Nähe der Ohren wandern, während sie versuchte, dem Doktor die Hand zu küssen.

Dr. Glossin schob sie zurück.

»Gut, Abigail. Ich erwartete es nicht anders. Meine Nichte Miß Harte wird einige Zeit auf der Farm wohnen. Du wirst ihr genau so zu Diensten sein wie mir und dafür sorgen, daß sie sich wie zu Hause fühlt.«

Die Alte hatte während dieser Worte Jane prüfend betrachtet. Sie schien mit dem Ergebnis ihrer Prüfung zufrieden zu sein, denn sie wandte sich jetzt an Jane und versuchte, auch ihr die Hand zu küssen.

»Laß das, Abigail!«

Dr. Glossin sagte es mit einer eigentümlichen scharfen Betonung. Die Schwarze trat zurück und folgte dem Doktor und seiner Begleiterin die kurze Strecke bis zum Farmhofe.

Jane fühlte sich nach dem schweren Leid der vergangenen Tage fast leicht und frei. War es der Einfluß des Doktors, war es wirklich die veränderte Umgebung, sie begann wieder mit Hoffnungen in die Zukunft zu blicken. In ruhigen Stunden hatte sie schon früher der Möglichkeit ins Auge geblickt, daß die Mutter ihr bald einmal entrissen werden könnte. Jetzt war es geschehen, und sie versuchte es, sich mit dem Geschehenen abzufinden.

So trat sie am Arm Glossins in das neue Heim. Der Doktor geleitete sie in den Empfangsraum, gab Abigail dann einen Wink, sie in ihre eigenen Räume zu geleiten. Ein Halbblutboy schaffte die Koffer aus dem Flugschiff dorthin. Wäsche, Garderobe, alle notwendigen Gegenstände für den täglichen Gebrauch. Jane hatte sich auf einem Stuhl am Fenster niedergelassen und blickte in die dämmernde Abendlandschaft hinaus. Ihre Gedanken weilten bei Silvester.

Die Nachricht von Sing-Sing war natürlich auch in das stille Haus nach Trenton gedrungen und hatte die beiden Frauen aufs äußerste erschreckt. Wohl lasen sie, daß er gerettet worden war. Aber die Tatsache allein, daß er sich des Hochverrats schuldig gemacht haben sollte, daß er in voller Form zum Tode verurteilt worden war, wirkte niederschmetternd. Jane sowohl wie ihre Mutter hatten vollkommen den Kopf verloren, bis ein alter Freund des Vaters sie aufrichtete. Joe Miller war damals zu ihnen gekommen. Fand sie verzagt und lachte.

»Sorge um Logg Sar? . . . Vollkommen überflüssig . . . Alle Wetter, da hat was dazwischengepfeffert und den Schleichern und Angebern das Konzept verdorben. Habe zwar keine Ahnung, was es gewesen ist. Bin aber sicher, daß es prachtvoll gewirkt hat. Angst brauchen Sie jedenfalls um Logg Sar nicht zu haben. Ich meine, der könnte jetzt sogar ganz ruhig in Neuyork spazierengehen. Seine Feinde würden sich bei einem neuen Angriff noch viel mehr blamieren.«

Diese Worte wirkten tröstlich auf Jane. Das Wunderbare des Geschehnisses nahm sie gefangen. Durch eine unbekannte mächtige Hilfe war Silvester der Gefahr im letzten Augenblick entrissen worden. Seitdem hoffte sie auf seine Wiederkehr, hatte das sichere Gefühl, daß die Macht, die ihn das erstemal schützte, auch jeden weiteren Anschlag zunichte machen würde.

Die geschwätzige Abigail riß sie aus ihren Sinnen. Welches Kleid die Lady anziehen wolle. Ob sie sich zum Supper nicht schmücken wolle. Der Herr Doktor liebe geschmückte Damen beim Supper. Vielleicht würde er ihr sogar . . .

Die Mundwinkel der Schwarzen rückten wieder bis an die Ohren. Jane bemerkte das Mienenspiel nicht. Nur langsam kehrten ihre Gedanken in die Wirklichkeit zurück.

Anziehen . . . Das einfache schwarze Kleid, das sie trug, schien ihr das richtige . . . Schmücken, am Begräbnistage ihrer Mutter . . . Sie gab ihr den Auftrag, die Garderobe in den Schränken unterzubringen, und verließ den Raum, um nach unten zu gehen.

Abigail machte sich daran, den Auftrag zu vollziehen. Stück für Stück nahm sie aus den Koffern. Dabei murmelte sie allerlei vor sich hin:

»Hoho, mein Täubchen . . . sehr einfach, zu bescheiden. Keinen Samt, keine Seide. Nur so einfach . . . ist nicht der Geschmack von Mister Doktor . . . Liebt feine Damen . . . gelbe, rote Seide. Keine schwarzen Kleider . . .«

Sie begann die Wäsche in die Fächer zu legen und fuhr in ihrem Selbstgespräch fort:

»Wirst dich ändern müssen, mein Täubchen! Waren schon andere vor dir hier. Haben es auch gemußt. Taten alles, was Mister Doktor wollte, wenn Mister Doktor sie anguckte . . . anguckte mit den großen, heißen Augen.«

Ihre Worte gingen in ein Kichern über, während sie die letzten Stücke in die Kasten einräumte.

Inzwischen war Jane in den Speiseraum gekommen. Der junge Halbblutdiener servierte. Glossin wartete, bis er den Raum verlassen hatte, bevor er die Unterhaltung begann.

»Meine liebe Miß Jane, meine Kur beginnt schon zu wirken. Sie sehen viel besser aus als heute früh.«

»Sie mögen recht haben, Herr Doktor. Die Reise hat mich auf andere Gedanken gebracht. Ich könnte beinah zufrieden sein, wenn ich . . . Gewißheit über das Schicksal unseres Freundes Silvester hätte.«

»Seien Sie zufrieden, meine liebe Miß Jane, daß unser Freund der Gefahr entronnen und jetzt nach menschlichem Ermessen in Sicherheit ist. Wenn Sie ihm etwas bedeuten, wird er gewiß von sich hören lassen.«

»Er wird . . . er muß . . . er soll . . .«

Jane stieß die Worte heftig hervor. Dr. Glossin schwieg, als ob ihn dieser Gefühlsausbruch erschreckt hätte.

»Verzeihen Sie meine Heftigkeit, Herr Doktor. Ich sorge mich um das Schicksal eines Abwesenden und habe Ihnen noch nicht einmal für Ihre Güte gedankt.«

Wenn Dr. Glossin bei allen diesen Reden etwas empfand, so verstand er es jedenfalls meisterhaft, seine Gefühle zu verbergen. Keine Muskel in seinen Zügen zuckte, während er die Konversation ruhig weiterführte. Er sprach von Janes Zukunftsplänen. Eine längere Erholung hier, dann eine Reise nach Europa. Dort müßten ja auch noch Verwandte ihres Vaters leben.

»Ich hörte, Herr Doktor, wir sollen Krieg mit England bekommen. Da kann doch niemand nach Europa fahren.«

Dr. Glossin nickte abwesend.

»Zeitungsgeschwätz, meine liebe Miß Jane. Wir denken nicht an Krieg. Ich selbst fahre morgen wieder nach Europa. War vorgestern erst in England. Man spricht allerlei vom Kriege, weil die Zeitungen uns nervös machen. In Wirklichkeit denkt kein Mensch daran.«

»Ich entdecke immer neue Seiten an Ihnen, Herr Doktor. Ich dachte, daß Sie nur zwischen Neuyork und Trenton zu tun haben. Dann haben Sie plötzlich noch dies schöne Besitztum in Kolorado, und jetzt höre ich gar, daß Sie zweimal in der Woche nach Europa fahren. Es muß schön sein, so in der Welt herumzukommen.«

»Wenn man zu seinem Vergnügen reisen kann. Nicht, wenn man es wie ich als Pflichtmensch von Berufs wegen tun muß.«

Ein leichter Seufzer entrang sich den Lippen des Arztes.

»Ich hoffe, Miß Jane, in kurzer Zeit werde ich auch etwas Ruhe finden. Dann fahren wir gemeinschaftlich nach Europa, und ich zeige Ihnen die Schönheiten der Alten Welt.«

Er hob sein Glas mit altem schweren Kaliforniawein und trank Jane zu.

»Auf baldige gemeinschaftliche glückliche Fahrt.«

Das Mahl ging seinem Ende entgegen. Dr. Glossin benutzte die letzte Viertelstunde, um Jane ihr Leben für die nächsten Tage auszumalen.

»Wir haben hier Pferd und Wagen. Sie können Ausfahrten unternehmen. Bobby . . .« – er wies auf den Diener – »kann nicht nur servieren, er ist auch ein geschickter Fahrer. Er kennt die schönsten Wege in der Umgebung. Benutzen Sie die kleine, aber gute Bibliothek im Herrenzimmer . . . Ich vergaß, sie ist verschlossen. Darf ich Ihnen den Schlüssel . . . nein, noch besser. Ich werde sie Ihnen an Ort und Stelle zeigen.«

Er geleitete Jane in das anstoßende Zimmer und schloß selbst die verglasten Regale auf, welche mehrere hundert mit gutem Geschmack ausgesuchte Werke enthielten.

»Das ist die Hauptsache, meine liebe Jane, daß Sie sich nicht in den müßigen Stunden von Gedanken und Erinnerungen übermannen lassen.«

Dr. Glossin hatte bei den letzten Worten ihre Hände ergriffen. Ohne daß er ein Wort weitersprach, spürte Jane, daß er für heute Abschied von ihr nahm, fühlte gleichzeitig, wie in verstärktem Maße Ruhe und Wunschlosigkeit über sie kamen.

Dr. Glossin schritt durch den Vorraum des Hauses, um zu seinem Flugschiff zu gehen. Wenn er am nächsten Morgen wieder in England sein wollte, hatte er Grund zur Eile. Abigail trat ihm in den Weg. Verschmitzt grinsend.

»Darf die neue Lady ausgehen, Mister Doktor?«

Es lag eine ganze Geschichte in dieser Frage. Wie viele mochten hier gewesen sein, denen man den Ausgang verweigert hatte. Glossin warf der Negerin einen Blick zu. Ganz langsam hob er den rechten Arm. Die Schwarze krümmte sich vor dem drohenden Schlage.

»Ich sage dir, du schwarzes Vieh, die junge Dame ist meine Nichte. Wehe dir, wenn du . . .«

Er ließ den Arm sinken und schritt hinaus.

* * *

Sie saßen auf der mit Waldrebe umsponnenen Veranda des Truworhauses am Torneaelf. Durch Ranken und Reben ging die Aussicht auf den hundert Meter tiefer dahinströmenden Fluß und die gegenüberliegenden, mit Tannen bestandenen Berge. Zu dritt saßen sie hier: Erik Truwor, der Schwede, Soma Atma, der Inder, und Silvester Bursfeld aus deutschem Blute.

In diesem Hause war Silvester heimisch. Hier war er zusammen mit Erik Truwor aufgewachsen, und die alten Mauern hatten die Spiele der Knaben und die Arbeit der Jünglinge gesehen. Bis dann die Studienjahre Silvester nach Deutschland führten, seine Ingenieurtätigkeit ihn in Europa und Amerika umhertrieb. Erik und Silvester widmeten sich der Technik. Die Art ihres Studiums, die Weise, wie sie die Wissenschaft trieben, war von Anfang an verschieden. Silvester versenkte sich schon als Student in die physikalischen Probleme. Er trieb die Wissenschaft um der Wissenschaft halber, von einem unersättlichen Forschungsdrang beseelt. Im Gegensatz dazu betrachtete Erik Truwor die Technik von Anfang an nur als ein Mittel zum Zweck, das menschliche Leben leichter und angenehmer zu gestalten, neue Lebensmöglichkeiten zu schaffen.

Diese verschiedenartige Auffassung der beiden Freunde kam auch äußerlich zum Ausdruck. Silvester blieb fünf Studienjahre in Charlottenburg. Erik Truwor studierte bald in Charlottenburg, bald in Genf, Paris und Karlsruhe. Etwas anderes kam hinzu. Erik Truwor war ein reicher Erbe. Silvester Bursfeld, als Pflegesohn in das Haus Truwor aufgenommen, war ohne Vermögen. Als Olaf Truwor die Augen schloß, bot Erik seinem Freunde die Hälfte der Erbschaft an. Silvester schlug es aus. Er nahm nur, was er noch während der Studienzeit für seinen Lebensunterhalt benötigte, und außerdem das Anerbieten, das Truworhaus jederzeit als sein Vaterhaus zu betrachten und zu benutzen.

Atma hatte seinen Lieblingsplatz auf einem Diwan im Hintergrunde der Veranda eingenommen. Dort saß er und gab sich seinen Meditationen hin.

Erik Truwor und Silvester saßen vorn an der Brüstung an einem Tisch. Pläne, Zeichnungen und Schriftstücke bedeckten die Tischplatte.

»Über unsere Arbeit hörte ich noch kaum, wie du, Erik, dich mit Atma zusammengefunden hast. Atma, der in Pankong Tzo mein Mitschüler war, plötzlich mit dir zusammen, in Linnais! Nur in dem Strudel der Ereignisse konnte ich es als ein etwas Selbstverständliches hinnehmen.«

»Wie ich Atma fand? Wie Atma und ich dich fanden? Eine wunderliche Geschichte. Im Frühjahr kam ich nach Pankong Tzo. Kuansar erinnerte sich meiner noch. Er führte mich zum Abte. Jatschu, ein Greis von unbestimmbarem Alter, empfing mich, blickte mich starr an und sagte: ›Das ist der Dritte.‹ Aus einem Kästchen nahm er diesen Ring und schob ihn mir auf den Finger.«

»Jatschu ist . . . er muß jetzt . . .«

Silvester versuchte das Alter auszurechnen.

»Er war beinahe neunzig, als ich von Pankong Tzo fortging. Er muß weit über hundert sein.«

»Mag sein. Er gab mir den Ring und deutete auf Atma. Atma wußte, daß du den gleichen Ring von ihm hattest. Er sagte, wir müßten dich suchen . . . Ich wollte dich wiedersehen. Atma sagte Amerika. Wir gingen nach den Staaten. Atma sagte Trenton. Wir fuhren nach Trenton. Wir fanden dich nicht, aber wir fanden Jane Harte. Sie war über dein Verschwinden besorgt.

Atma fragte sie. Du weißt, wie er zu fragen versteht. Über Zeit und Raum hinweg. Mit geschlossenen Augen las sie aus weiter Ferne das Urteil, das über dich gefällt war. Mit vier Worten sagte sie, wo deine Aufzeichnungen lagen.

Das andere war leicht. Joe Williams, eine der zwölf Zeugen, wurde im Gasthof in Sing-Sing von uns gefunden. Für tausend Dollar gab er mir seine Zeugenkarte. Mir, dem wißbegierigen Fremden, der eine Elektrokution mitansehen wollte. Ich kam in das Gefängnis. Atma hielt im Kraftwagen vor der Tür. Das war alles.«

Silvester ergriff die Hand Erik Truwors und drückte sie innig.

»Für mich wirklich alles, Erik. Kamt ihr nicht, so war ich verloren. Durch Jane . . . durch meine Jane habt ihr mich gefunden.«

»Durch deine Jane? Was ist dir Jane Harte?«

»Meine Verlobte, mein alles!«

Erik Truwor hörte schweigend zu, was Silvester erzählte. Wie er Jane kennen und lieben gelernt. Doch er vermochte es nicht, sich am Glück des Freundes mitzufreuen. Unbewußt empfand er, daß Silvester sich nicht voll der großen Aufgabe, dem weiteren Ausbau der Erfindung, widmen könne, wenn er durch Gedanken und Sorgen um seine Verlobte abgelenkt wurde.

Sein Blick suchte Atma. Ein stummes Zwiegespräch der Augen. Atma nickte und wandte sich Silvester zu. Erik Truwor sah, wie hinter der gefurchten Stirn des Inders die Gedanken arbeiteten, das Hindernis aus dem Wege zu räumen. Er sah, wie Silvester die Hand an die Stirn preßte, als wollte er eine fliehende Erinnerung festhalten . . .

Die hypnotische Kraft Atmas siegte über die Kraft der Liebe.

Erik Truwor brach das Schweigen.

»Zurück zu unserer Arbeit! Ich habe deine Pläne gesehen und deine Berechnungen untersucht. Gib mir deine Erläuterungen dazu.«

Silvester Bursfeld blickte mit der versonnenen Miene des Gelehrten auf die vor ihm liegenden Papiere.

»Es ist das Problem der telenergetischen Konzentration, dessen Lösung mir gelungen ist. Nimm an, ich hätte hier in unserem Hause eine Maschine, die tausend Pferdestärken leistet. Es ist klar, daß ich die Energie hier an Ort und Stelle zu allem möglichen verwenden kann. Aber es war bisher kein Mittel bekannt, diese Energie an einem Punkte in beliebiger Entfernung konzentriert wirken zu lassen. Bei jedem Versuche, die Energie auszustrahlen, erfuhr sie eine der Ausbreitung entsprechende Schwächung. Ein zwingender Grund liegt natürlich nicht vor. Es muß den tausend Pferdestärken ganz gleich sein, ob sie hier oder an irgendeinem anderen Punkte der Erde zur Wirkung kommen.«

Erik Truwor unterbrach ihn:

»Wenn wir hier eine Million, wenn wir hundert Millionen Pferdestärken hätten, so könntest du sie auf jedem Punkt der Erde in Erscheinung treten lassen?«

»So ist es. Auf jedem Punkte. Ich könnte die Energie an irgendeiner Stelle der australischen Wüste oder des Broadway in Neuyork auf den Raum einer Haselnuß zusammendrängen. Ich könnte sie auch in der Form ausgedehnter elektromagnetischer Felder auftreten lassen. Jede Wirkung ist möglich.«

Erik Truwor wiegte den Kopf nachdenklich hin und her.

»Hundert Millionen Pferdestärken auf den Raum einer Haselnuß . . . in den Pulverkammern kriegführender Mächte . . . das genügt für den ewigen Frieden.«

Silvester Bursfeld fuhr in seinen Erklärungen fort:

»Die Energiekonzentration bildete den Ausgangspunkt meiner Arbeit. Ich überlegte mir weiter . . . Warum soll ich die Energie erst an einem Orte erzeugen und an einem anderen wirken lassen, da doch der ganze Raum mit einem Überschwang von Energie erfüllt ist . . . Ich folgerte, es muß genügen, nur die Steuerwirkung durch den Raum zu schicken. Nur die winzigen Mengen einer besonderen Formenenergie, die an der entfernten Stelle die Raumenergie zur Explosion bringen.

Meine Überlegung war folgerichtig. Die Schlußkette zeigte nirgend ein fehlerhaftes Glied. Aber die praktische Durchführung wollte nicht gelingen.

Soweit war ich, als ich nach Trenton kam. Jede freie Stunde widmete ich dem Problem. Dr. Glossin hatte dort ein gutes Laboratorium und erlaubte mir, darin zu arbeiten. Damals wußte ich nicht, daß er ein Verräter war . . .«

»Der auch deinen Vater verraten hat.« Soma Atma sprach die Worte.

Silvester blickte auf wie ein Träumer, der plötzlich erwacht.

»Ich hörte immer, mein Vater wäre von einem aufsässigen Kurdenstamm überfallen worden. In Pankong Tzo erzählten sie es mir . . . Kuansar . . . unser alter Lehrer, sprach davon . . .«

Atma sprach in seiner ruhigen sonoren Art weiter: »Warum den klaren Spiegel einer jungen Seele trüben. Glossin, der Freund deines Vaters, war der Verräter. Die Nawutschi, die Engländer, steckten dahinter. Sie veranlaßten den Überfall, weil dein Vater das Geheimnis einer großen Erfindung besaß . . . Bis hierher ist alles klar. Dann wird die Erkenntnis unsicher.«

»Was hatte mein Vater erfunden? Wo ist er geblieben?« Erregt stieß Silvester die Fragen hervor.

»Ich sehe nichts Klares. Sicher ist, daß er nicht mehr unter den Lebenden weilt. Seit langer Zeit nicht mehr. Sonst hätte meine Seele die seine finden müssen. Seine Erfindung gab Macht. Gab große Macht. Darum ließen die Nawutschi ihn rauben.«

Erik Truwor unterbrach den Inder: »Laßt die Toten ruhen. Silvester, berichte uns weiter.«

». . . Ich sprach von Glossin. In seinem Laboratorium nahm ich meine Arbeiten wieder auf . . . Mit Vorsicht, denn seine Neugier war verdächtig. Ich vermied es, unnötige Notizen zu machen. Was ich notieren mußte, schrieb ich Tibetanisch.

Plötzlich kam der Erfolg. Über Nacht eine Eingebung. Im Traum sah ich den Strahler für die Formenergie mit greifbarer Deutlichkeit . . .«

Erik Truwor schüttelte mißbilligend den Kopf.

»Traumlösungen . . . man kennt sie. Es ist alles in Ordnung. Wacht man auf, so ist der Traum vergessen oder die Lösung unsinnig . . . Träume sind Schäume . . .«

»Nicht immer. Es kommt vor, daß die Seele im Schlaf den Körper verläßt und klar sieht.« Atma machte den Einwurf. Silvester fuhr fort: »Ich sah die Form und die Schaltung des Strahlers noch mit voller Deutlichkeit, als ich erwachte. Meinen ganzen Apparat hatte ich in einen kleinen Kasten eingebaut . . .«

»Den Mahagonikasten?«

»Eben den. Der Traum ließ mir keine Ruhe. Es war noch früh. Die Dämmerung des Sommertages begann eben erst. Um acht mußte ich in das Werk. Erst am Nachmittag konnte ich in das Laboratorium gehen. Das dauerte mir zu lange. Mit den einfachen Mitteln, die ich in der Wohnung hatte, formte ich den Strahler. Ich machte einen Versuch, und er gelang. Ein Stück Eisen auf meinem Schreibtisch stieg langsam in die Höhe. Ein Trinkglas schmolz zu einem Klumpen. Das Geheimnis war gefunden.

Am Nachmittag kam ich in das Laboratorium . . . Ich wollte einen einfachen Versuch machen. Eine elektromotorische Kraft sollte durch den Apparat zurückgeworfen werden. Ich brachte den Apparat in die richtige Stellung zu den Schaltklemmen des Experimentiertisches. Im selben Augenblick stieg dichter Qualm hinter der Schalttafel und an der Wand auf. Die schwere 10 000-Volt-Leitung des Laboratoriums glühte hellrot auf. Die Isolation verbrannte. Ich riß meinen Apparat zurück. Es war nicht mehr nötig. Die Sicherungen der Hochspannungsleitung waren bereits durchgeschlagen und hatten den Strom abgeschaltet.

Zweierlei wußte ich damals. Mein Apparat arbeitete. Und ein Schurkenstreich war versucht worden. Irgend jemand, der im Laboratorium Bescheid wußte, hatte die lebensgefährliche Hochspannung auf den Experimentiertisch geschaltet.

Drei Tage später fuhr mir auf einem Spaziergang durch den Wald ein Auto nach. Plötzlich hielt es neben mir. Im selben Augenblick war ich in den Wagen hineingezogen, gefesselt und betäubt. Erst im Gefängnis erlangte ich das Bewußtsein wieder. Als ich unter den Richtern Glossin sah, wußte ich, wer im Laboratorium geschaltet hatte . . .«

Erik Truwor sprang auf.

»Weg mit dem Hund! Wir haben die Macht, ihn zu vernichten. Sollen wir uns mit einem einzelnen aufhalten? Weg mit ihm!« Er griff nach dem Apparat.

»Mord und Brand über den Ozean! Befreien wir uns von dem Geschmeiß!«

Silvester wollte antworten, wollte als Forscher und Erfinder auseinandersetzen, daß ein genaues Zielen auf diese Entfernung noch nicht möglich sei, daß Feuer und Sturm neben einem Schuldigen tausend Unschuldige vernichten würden. Er kam nicht über die ersten Worte hinaus. Die ruhige Stimme Atmas unterbrach ihn:

»Sein Schicksal ist mit dem unseren verknüpft. Es wird sich zu seiner Zeit erfüllen . . . Noch ist die Stunde nicht gekommen. Sein Geschick ereilt ihn, wenn der Augenblick kommt . . . Er ist ein Werkzeug des Schicksals wie wir. Das Ziel wird erreicht werden . . . von uns . . . durch ihn . . . Wenn der Tag kommt, wird sich sein Schicksal vollenden . . .«

Atma sank in stilles Sinnen zurück. Erik Truwor nahm seinen Platz am Tisch ein und betrachtete den Apparat. Seine Erregung ließ nach.

»Was kannst du mit dem Strahler hier machen?«

Silvester Bursfeld ging wieder in seinem Problem auf. Nur als Physiker und Ingenieur sprach er weiter:

»Mit dieser kleinen Apparatur kann ich die telenergetische Konzentration von zehntausend Kilowatt bewirken. Für größere Energiemengen muß der Apparat größer werden.«

Erik Truwor ergriff ein Glas und beobachtete den Bergkamm auf der anderen Seite des Elf.

»Siehst du die einzelne Tanne über dem Trollstein?«

Silvester nahm das Glas. »Sie ist unverkennbar.«

»Kannst du sie verbrennen?«

Ein Lächeln ging über die Züge Silvesters.

»Wenn die Tanne in Kanada stünde, wäre es noch möglich. So ist es . . .« Er hatte während der Worte das Kästchen gerückt und ein paar Knöpfe gedreht.

Erik Truwor sah durch das Glas über den Fluß, sah, wie blauer Rauch aus der Tannenkrone aufstieg und helle Flammen aus dem Stamme aufloderten. Nach zwanzig Sekunden brannte der Baum lichterloh. Nach einer Minute war er verschwunden, in ein winziges unsichtbares Aschenhäufchen verwandelt. Aber das Feuer hatte weiter gegriffen. Auch die Kronen der benachbarten Bäume brannten. Im trockenen Juni konnte sich dort ein großer Waldbrand entwickeln. Erik Truwor sah die Gefahr.

»Der Wald brennt, Silvester. Kannst du des Feuers Herr werden?«

Silvester war in seinem Element.

»Eine gute Gelegenheit, um die Wirkung des Apparates auf den Luftdruck zu beobachten. Ich werde in einer senkrechten Linie über der brennenden Föhre Hitze konzentrieren. Die warme Luft muß mit Gewalt nach oben dringen. Kalte Luft muß von allen Seiten herbeiströmen. Der Sturm muß das Feuer löschen.«

Während er die Erklärung gab, drehte er an einem Schräubchen seines Apparates. Man konnte auch mit unbewaffnetem Auge bemerken, wie die Bäume auf dem Gebirgskamm von einem plötzlichen Sturm gepeitscht wurden. Wild bogen sich die Stämme. Hier und dort wurde eine Krone geknickt. Aber der Wirbelsturm blies den Brand glatt aus. Ein mäßiger Wind hätte das Feuer genährt. Dieser Zyklon pfiff so scharf durch das brennende Geäst, daß er die Flammen im Moment auslöschte, das rotglühende Holz abkühlte.

Eine Drehung am Schalter des Kästchens, und Ruhe herrschte wieder in der Natur. Nur der große, schwarze Brandfleck da weit drüben über dem Elf verriet, daß etwas Außergewöhnliches passiert war.

Erik Truwor hatte die theoretischen Auseinandersetzungen seines Freundes erfaßt. Er hatte nach dessen Aufzeichnungen den Apparat selbst bedient, um die Maschine von Sing-Sing zu sprengen. Und doch versetzte ihn die Wirkung wieder in tiefstes Staunen. Seine Gedanken gingen viel weiter als die des Erfinders. Silvester Bursfeld war Ingenieur und nur Ingenieur. Den reizte das physikalische Problem und seine Durchbildung. Erik Truwor umfaßte mit einem Blick die praktischen Möglichkeiten, die die Erfindung in sich barg.

Doch auch Erik Truwor war Techniker und rechnete. Zehntausend Kilowatt waren vernichtend für den einzelnen, den sie trafen. Aber sie bedeuteten nichts für hundert Millionen Menschen. Viel größere Apparate mußten zur Verfügung stehen. Viele Millionen von Kilowatt mußten auf seinen Wink an jedem Punkt der Erde wirksam werden. Nur dann würde er die Macht haben, von der die alte Weissagung des Tsongkapa sprach. Die Macht, alles Menschenleben auf Erden nach seinem Willen zu lenken.

Die Unterhaltung der nächsten Stunde wurde rein technisch geführt. Über die Abmessungen größerer Strahler, über die Mittel zu ihrer Anfertigung, über die Zeit, die ihre Herstellung brauchen würde.

Das alte Truworhaus war der geeignete Ort dafür. Sechs Jahrhunderte waren über sein Dach hingegangen. Zwei Stockwerke tief waren die geräumigen Keller in den Granit des Berges gesprengt. Meterstark die Umfassungsmauern der unteren Stockwerke aus den bei der Kellerhöhlung gewonnenen Granitbrocken gemauert. Die elektrische Leitung vom Kraftwerk des Elf brachte Licht, Wärme und Energie in jeder gewünschten Menge. Das Haus in seiner Abgelegenheit sollte die Werkstatt abgeben, in der Silvester seine Erfindung in großem Maßstabe ausführte. Nach dem unverrückbaren Willen Erik Truwors ausführen mußte.

Silvester Bursfeld hatte die Erfindung mit dem Eifer des Wissenschaftlers gemacht. Wie vielleicht auch ein Physiker eine Kanone erfinden kann, ohne an Schußwirkungen zu denken. Er hatte alle Erscheinungen der Konzentration ergründet, aber auf das genaue Zielen, das sichere Treffen vorläufig wenig Wert gelegt. Die energetische Seite des Problems interessierte seine Gelehrtennatur viel mehr als die praktische Anwendung.

Erik Truwor empfand diese Schwäche sofort. Empfand sie und zwang Silvester durch seine Forderungen und Fragen, nach einer Lösung zu suchen und sie zu finden. Wenigstens die Theorie auch eines genauen Zielens sofort zu entwickeln. Nur wenn man das entfernte Ziel sichtbar machen, die Wirkungen der Energie mit dem Auge verfolgen konnte, war die Macht der Waffe voll zur Wirksamkeit zu bringen.

Der Tatmensch zwang den Forscher zu harter, rastloser Arbeit, um die große Entdeckung noch größer zu gestalten, aus ihr das Machtmittel für seine weitreichenden Pläne zu formen. Und Silvester ließ sich zwingen. Für Stunden und Tage nahmen ihn die neuen Probleme und Lösungen so vollkommen gefangen, daß er alles andere darüber vergaß. Bis dann die Lösung gelungen war, bis sich die Nervenspannung löste und die unausbleibliche Reaktion eintrat.

* * *

Maitland Castle, der alte Stammsitz der Maitlands, beherbergte um die Zeit der Sommersonnenwende zahlreiche Gäste. Der alten englischen Sitte entsprechend, herrschte nur der Zwang der gemeinschaftlichen Hauptmahlzeit. Die übrige Zeit des Tages konnten die Gäste nach ihrem Belieben verwenden, und die Gastgeber nahmen die gleiche Freiheit für sich in Anspruch, die sie den Gästen gewährten. Sie tauchten einmal bei dieser oder jener Gruppe auf und zogen sich in ihre Privaträume zurück, sobald es ihnen gefiel.

Den dunklen Buchenweg, der schnurgerade von der Höhe des Schloßberges bis zum Gittertor am Ende des Parkes führte, kam Lady Diana Maitland entlang. Die Sonne war schon hinter den hohen Wipfeln der Bäume verschwunden. Es begann kühl zu werden.

Fröstelnd zog Lady Diana den leichten Seidenschal enger um die Schultern zusammen. Sie bog in einen Seitenweg ab, der durch ein Rosenrondell führte.

Von der anderen Seite kam ihr eine Gestalt entgegen, in der sie den Doktor Glossin zu erkennen glaubte. Unwillkürlich hemmte sie den Schritt. Ihr Gefühl riet ihr, einer Begegnung auszuweichen. Schon wollte sie stehenbleiben und sich zu der Allee zurückwenden. Doch der Gedanke, daß Dr. Glossin sie auch erkannt habe, gebot ihr, den Weg weiterzugehen, dessen Rand mit einer Einfassung der herrlichsten Rosenstöcke besetzt war.

Nun stand Dr. Glossin dicht bei ihr.

»Ich muß gestehen, Lady Diana, daß ich selten so schöne Rosen sah wie diese hier. Sie lieben Rosen?«

»Sehr, Herr Doktor. Doch ihr Anblick ist mir lieber als ihr Geruch. Im Zimmer stört mich der berauschende Duft.«

»Oh, wie schade um die unzähligen Rosenspenden, die Ihnen allabendlich zu Füßen flogen, als Sie in der Metropolitan-Opera die Zuhörer entzückten.«

Lady Diana brach eine Rose und steckte sie in ihren Gürtel, ohne die Frage zu beantworten. Sie sprach wohl selbst gelegentlich von ihrem früheren Bühnenleben, aber sie liebte es nicht, von anderen daran erinnert zu werden.

Dr. Glossin schien den Wink nicht zu verstehen.

»Die Stunden, in denen ich Ihrer unvergleichlichen Stimme lauschen durfte, gehören zu den schönsten meines Lebens. In besonderer Erinnerung sind mir die Abende, an denen Sie mit Frederic Boyce zusammen auftraten. Nie klang mir Ihre Stimme schöner als damals.«

Ein kurzes Erröten glitt über die Züge der Lady. Solche Worte aus dem Munde eines so neuen Bekannten wie Dr. Glossin konnten nur als grobe Taktlosigkeit aufgefaßt werden, oder . . .

Sie witterte den Feind und änderte ihre Taktik.

»Sie sind ein Freund der Musik, Herr Doktor? Vielleicht auch einer der zahlreichen Rosenspender?«

Sie versuchte, ihrer Stimme einen spöttischen Unterton zu geben.

»Ich kann es nicht leugnen, Mylady, ich gehörte auch zu Ihren Verehrern. Als ich von Ihrem Abschied von der Bühne las . . . ich war damals in San Franzisko . . . war ich drauf und dran, am Tage Ihres letzten Auftretens nach Neuyork zu fliegen. Wenn ich nicht irre, war es im ›Fidelio‹, dem hohen Lied der Gattenliebe.«

»Und warum kamen Sie nicht?«

Lady Diana sagte es mechanisch. Ihre Sinne arbeiteten fieberhaft. Sie fühlte, daß dies alles nur leichtes Geplänkel war. Der Hauptangriff mußte von anderer Seite kommen . . . Aber woher?

»Warum nicht? . . . Ein seltsamer Fall hielt mich einige Tage länger fest!«

Er machte eine Pause.

»Bitte, Herr Dr. Glossin, erzählen Sie, wenn es interessant ist.«

»Interessant? . . . Für die Allgemeinheit am Ende kaum. Wohl aber für die, die es angeht. Wenn ich nicht fürchtete, unangenehme Erinnerungen zu wecken . . .«

»Wozu die Umschweife, Herr Doktor, bitte . . .«

Lady Diana wußte, jetzt würde der Schlag erfolgen. Und trotz der Ungewißheit, aus welcher Richtung er kommen würde, klang ihre Stimme ruhig und fest.

»Wenn es der Wunsch Eurer Herrlichkeit ist . . . nun wohl . . . Als die berühmte Sängerin Diana Raczinska die Ehe mit dem Sänger Frederic Boyce einging, prophezeiten Eingeweihte ein schnelles Ende dieses im Kunstrausch geschlossenen Bündnisses. Alle, welche die Spieler- und Trinkernatur von Frederic Boyce kannten. Schon nach einem halben Jahr war die Ehe derart zerrüttet, daß die Scheidung eingeleitet wurde, Diana Boyce wartete nur auf den gerichtlichen Spruch, um einen neuen Bund mit Horace Clinton einzugehen . . .«

»Sie wollten mir eine interessante Geschichte erzählen . . . und bringen alte Dinge vor, die mir bei Gott zur Genüge bekannt sind.«

»Die kurze Einleitung war notwendig, Mylady. Ich kam an jenem Abend Ihres letzten Auftretens vom Strand in San Franzisko und verirrte mich in dem Häusergewirr des Hafenviertels. Als ich an einer der Schenken vorbeikam, aus der Toben und Brüllen betrunkener Matrosen erklang, öffnete sich plötzlich die Tür. Von rohen Fäusten gestoßen, flog ein Mann die Stufen hinauf und schlug vor meinen Füßen hart auf das Pflaster.

Angewidert von dem häßlichen Auftritt, wollte ich weitergehen. Da sah ich im Laternenschimmer, wie sich eine Blutlache um den Körper des Betrunkenen bildete. Das Blut entströmte einer starken Wunde im Nacken, die wohl von einem Messerstich herrührte.

Nach einigem Suchen fand ich eine Patrouille, die den Verletzten nach der Polizeiwache brachte. Da ich den Unfall teilweise mitangesehen hatte, mußte ich meine Zeugenaussage darüber abgeben. Inzwischen hatte der Polizeiarzt dem Verwundeten einen Notverband angelegt, ihm das Gesicht von Schmutz und Blut befreit. Der Mann war . . .«

»Wer?«

Lady Diana fühlte das Blut in ihrem Herzen stocken. Sie senkte unwillkürlich das Haupt. Jetzt mußte der Schlag kommen, der . . .

». . . war Frederic Boyce, Ihr totgeglaubter Gatte.«

»Frederic . . .«

Lady Diana begann zu taumeln und wäre zu Boden gestürzt, hätte Dr. Glossin sie nicht aufgefangen.

»Fassung, Mylady! Um Gottes willen! Ich bin außer mir. Verzeihen Sie mein Ungeschick.«

Er führte die halb Bewußtlose zu einer Bank und nahm neben ihr Platz.

»Frederic . . . Frederic . . .«

Stoßweise rangen sich die Worte wieder und wieder von den blassen Lippen.

»Frederic Boyce ist tot, Lady Diana.«

»Tot?« Die Augen der Lady öffneten sich unnatürlich weit. »Sie . . . sagten . . . eben . . .«

»Frederic Boyce starb zwei Stunden später. Der Stich war tödlich.«

Ein tiefes Aufatmen. Der Körper Dianas straffte sich.

»Ist es die Wahrheit?«

Sie schaute den Doktor an, als wolle sie im Innersten seiner Seele lesen.

Der Doktor entnahm seiner Brieftasche ein Papier und überreichte es ihr.

Lady Diana schüttelte den Kopf und ließ das Blatt sinken.

»Was ist es?«

»Es ist eine Bescheinigung jenes Polizeiamtes in Frisko über den am 9. Mai 1950 erfolgten Tod von Frederic Boyce.«

Lady Diana kreuzte die Hände über ihre Brust und legte den Kopf an die Lehne der Bank. So saß sie lange. Das Bild einer weißen Marmorstatue.

»Erzählen Sie weiter, Herr Doktor.« Sie sagte es mit einer Ruhe und Festigkeit, die Dr. Glossin in Erstaunen versetzte.

»Bei dem Toten fand man keine Papiere. Meine Angaben über die Person wurden von der Polizei mit Zweifeln aufgenommen. Hatten doch vor genau zehn Tagen die Zeitungen über den Tod des Sängers Frederic Boyce im städtischen Spital berichtet. Ich blieb bei meiner Behauptung. Nachforschungen wurden angestellt. Sie ergaben, daß der im Hospital Verstorbene nicht der rechtmäßige Besitzer der bei ihm gefundenen Papiere gewesen war. Er hatte sie dem richtigen Eigentümer in der Trunkenheit entwendet. So wurde der 9. Mai als der Todestag von Frederic Boyce festgestellt.«

Dr. Glossin machte eine Pause, um die Wirkung seiner Worte auf Lady Diana abzuwarten. Vergeblich.

Lady Diana bewahrte ihre statuenhafte Ruhe.

Gereizt fuhr Dr. Glossin fort: »Es ergibt sich die eigentümliche Situation, daß Eure Herrlichkeit mit Lord Maitland oder, wie er damals noch hieß . . . mit Mr. Clinton getraut wurde, während Ihr erster Gatte noch lebte. Nach dem Gesetz kann Ihnen kaum ein Vorwurf gemacht werden, da Sie im Besitz der freilich falschen Sterbeurkunde waren. Aber . . . die Stimme der öffentlichen Meinung wiegt schwer für Angehörige des Highlife . . .«

Lauernd wartete der Sprecher auf die Wirkung seiner Worte.

»Sind Sie fertig, Herr Dr. Glossin?«

Glossin nickte stumm. Lady Diana maß ihn mit einem Blick.

»Wieviel verlangen Sie für Ihre Verschwiegenheit?«

Wie von einem Peitschenhieb getroffen fuhr der Doktor empor: »Mir das? . . . Sie wollen mir Geld anbieten . . . Hüten Sie sich. Ich vergesse eine Beleidigung niemals.«

Lady Diana nickte gleichmütig.

»Was verlangen Sie sonst, Herr Doktor?«

»Ich bitte nicht weiter in diesem Ton. Ich könnte in Versuchung kommen, das Gespräch abzubrechen . . . Nicht zu meinem Schaden.«

»Wozu erzählen Sie mir diese Geschichte, Herr Doktor?«

Glossin biß sich wütend auf die Lippen. Er glaubte, seine Schlinge gut gelegt zu haben. Ein gefälschtes Todesattest einer amerikanischen Polizeistation . . . für Dr. Glossin war die Beschaffung lächerlich einfach gewesen. Und er hatte Lady Diana damit einer wenn auch unabsichtlichen Bigamie überführt. Seine Stellung schien so stark, und trotzdem fühlte er sich in die Enge getrieben.

»Es wird der Tag kommen, Lady Diana, an dem Sie diese Worte bereuen. Der Tag, an dem Sie mir freiwillig die Hand zu einem Bündnis bieten werden. Dann werde ich Sie an den heutigen erinnern.

Heute bitte ich Sie nur um eine einfache Gefälligkeit, die Ihnen keine Mühe bereitet, für mich sehr viel bedeutet.«

Lady Diana schaute sinnend auf ihre schlanken, weißen Hände. Sie zweifelte, ob sie sie jemals dem Doktor Glossin zum Bündnis reichen würde.

Sie hatte in diesem Kampfe gesiegt. Aber innerlich war sie bewegter und erschütterter, als es äußerlich erschien. Wenn sie dem unbequemen Gast mit einer einfachen Gefälligkeit den Mund stopfen konnte, wollte sie es tun.

»Was ist es, Herr Doktor?«

»Ich muß zur Erklärung weit zurückgehen und in die Hände Eurer Herrlichkeit eine Beichte ablegen. Ich war nicht immer amerikanischer Bürger. Im Jahre 1927 lebte ich als britischer Untertan in Mesopotamien. Ein Ingenieur war dort tätig. Er machte eine Erfindung, die dem englischen Reiche gefährlich werden konnte. Ich setzte die britische Regierung davon in Kenntnis, und der Erfinder verschwand im Tower. Ihr Gemahl Lord Maitland muß darüber Bescheid wissen oder sich doch mit Leichtigkeit orientieren können. Helfen Sie mir. Ich muß wissen, ob Gerhard Bursfeld noch als Staatsgefangener im Tower lebt . . . er wäre jetzt 65 Jahre . . . oder was aus ihm geworden ist. Helfen Sie mir und seien Sie meiner Dankbarkeit versichert.«

»Gut, Herr Doktor, ich werde mit meinem Gatten sprechen. Was geschehen kann, um Ihnen die gewünschte Auskunft zu geben, soll geschehen.«

* * *

Lord Gashford, der englische Premier, hatte sein Kabinett zu einer Besprechung bitten lassen. Die Männer, welche vor dem Lande und dem Parlament die Verantwortung für den gesicherten Fortbestand des britischen Weltreiches trugen, waren im kleinen Konferenzsaal in Downing Street versammelt. Lord Gashford blickte sorgenvoll und sah überarbeitet aus. Er eröffnete die Sitzung mit einem kurzen Überblick über die politische Lage.

»Die Politik Großbritanniens hat seit zwei Jahrhunderten auf dem Grundsatze geruht, Kräfte, die dem Reiche gefährlich werden konnten, gegeneinander zu binden. Das Prinzip des Gleichgewichts, zuerst für Europa erfunden, konnte nach dem Weltkriege erfolgreich auf die überseeischen Mächte angewendet werden. Der Streit zwischen Amerika und Japan setzte uns in die Lage, Afrika von den letzten Überbleibseln europäischer Kolonien zu säubern. Leider haben diese Streitigkeiten mit dem vollkommenen Siege der nordamerikanischen Union geendet. Die Kraft der Union ist nicht mehr durch eine genügende Gegenkraft gebunden.

Das ist die Lage seit dem zweiten Frieden von San Franzisko. Unsere Politik ist bestrebt gewesen, die romanischen Staaten Südamerikas in einen Gegensatz zur nordamerikanischen Union zu bringen. Die Erfolge sind leider nur gering. Unsere Bemühungen, Japan zu stützen, haben bedauerlicherweise beklagenswerte Folgen gehabt. Kanada ist in so enge Beziehungen zur Union getreten, daß es heute nur noch formell zum Reich gehört. Australien steht im Begriff, gleichfalls Anschluß an das Zollgebiet der Vereinigten Staaten zu nehmen. Diese Umwälzungen vollziehen sich mit der Macht elementarer Ereignisse. Wenn die Union weise wäre, ließe sie die Zeit ruhig für sich arbeiten. Aber an ihrer Spitze steht eine Person von unbezähmbarem Ehrgeiz.

Wir müssen stündlich auf den Ausbruch des Krieges gefaßt sein. Wir stehen Erscheinungen gegenüber, die sich in keiner Weise irgendwie vorausberechnen lassen. Ich denke dabei an das Wort eines meiner Vorgänger vom politischen Alkoholismus. In jedem Falle müssen wir jeden Moment in der Lage sein, die Herausforderung anzunehmen und für den Bestand des Reiches zu kämpfen.«

Vincent Rushbrook, der Erste Lord der Admiralität, erhielt das Wort:

»Unsere maritimen Maßnahmen sind in erster Linie darauf gerichtet, den Seeweg nach Indien zu beherrschen. Eine Flotte von achthundert U-Booten liegt tiefgestaffelt auf dem Bogen von Lissabon nach Marokko. Ihre Basis wird durch unsere beiden großen Seefestungen von Gibraltar und Ceuta gebildet. Ihre Vorpostenboote haben auf der Länge von Island fremde U-Boote gesichtet. Seitdem . . . es sind jetzt drei Tage . . . sind unsere Boote und die Festungen in höchster Bereitschaft. Zwei Sekunden nach dem Alarm können die Rohre von Gibraltar und Ceuta feuern. Dieser Zustand läßt sich aber nicht monatelang aufrechterhalten. Die Nerven der Besatzungen leiden darunter. Meine Leute wollen lieber heute als morgen kämpfen. In vier Wochen werden sie zerrüttet sein, wenn es nicht zum Schlagen kommt.

Auf der Landenge von Suez liegt eine Flotte von 30 000 Flugzeugen. Ich sehe nicht, wie ein Gegner in das Mittelmeer eindringen könnte.«

Der Premier ergriff von neuem das Wort.

»Es ist gut, wenn die Flotte den Seeweg nach Indien sichert. Aber auch die Beherrschung des Landweges bleibt erwünscht. Warum haben wir Konstantinopel vor 20 Jahren genommen, wenn wir die Straße nicht benutzen? Die gerade Linie geht über Brüssel, Linz und Belgrad nach Konstantinopel.

Sie lieben uns nicht auf dem Kontinent. Der Russe hat leider die irrtümliche Meinung, daß wir an allem seinem Unglück seit 1904 schuld gewesen sind. Der Deutsche wird immer noch von der eigenartigen Idee beherrscht, daß wir vor 40 Jahren nicht für die Heiligkeit der Verträge gegen ihn gekämpft haben. Der Franzose, der Spanier und der Italiener sind verstimmt, weil wir sie aus Afrika entfernt haben.

Ich muß leider sagen, daß wir in den letzten 30 Jahren zu wenig Wert auf die Bildung der öffentlichen Meinung in Europa gelegt haben. Wir haben es nicht ungern gesehen, daß Rußland sich allmählich vom Bolschewismus säuberte. Es war uns bis zu einem gewissen Grade willkommen, daß Deutschland im Bündnis mit dem genesenden Rußland den Versailler Vertrag revidierte.

Wir übersahen dabei, daß durch die Verständigung zwischen Deutschland und Rußland eine Macht geschaffen wurde, die sich im Laufe der Zeit automatisch zu einer Übermacht Frankreich gegenüber entwickeln mußte. Die Folge war die Verständigung zwischen Frankreich und den beiden Oststaaten. Es kam zu der Bildung der deutsch-französischen Industriegemeinschaft.

Vom ersten Tage meiner Amtszeit an habe ich es als meine wichtigste Aufgabe betrachtet, diese Gemeinschaft zu lockern. Wir haben es versucht, den Chauvinismus in den betreffenden Ländern nach Kräften zu fördern. Leider sind die Erfolge nicht sehr bedeutend. Der große Vorteil der Industriegemeinschaft ist zu augenfällig. Immerhin müssen wir in dieser Richtung weiterarbeiten. Ich komme zu dem Ergebnis, daß England moralische Eroberungen auf dem Kontinent machen muß.«

William Chopper, der Presseminister, erbat sich das Wort:

»Für moralische Eroberungen braucht man eine gewisse Zeit. Außerdem . . . die kontinentale Presse ist in festen Händen. In Afrika und Asien können wir jeden Tag englische Zeitungen gründen. In Deutschland eine deutsche, in Frankreich eine französische Zeitung neu zu schaffen, ist sehr schwer für uns. Wir können nur den englischen Korrespondenten dieser Zeitungen durch unsere eigene Presse bestimmte Ansichten in solcher Weise einimpfen, daß sie dieselben schließlich für eigene und durchaus dem Vorteil des Kontinents dienende Ideen ansehen.«

Lord Gashford sprach weiter:

»Jede feindselige Haltung des Kontinents muß verhindert werden. Wir brauchen die volle Kraft der europäischen Industrie für uns. Sie werden auf dem Kontinent bereit sein, für beide Parteien zu liefern. Auf dem kurzen Wege über den Pol werden die amerikanischen Lastflugschiffe aus Europa an Kriegsmaterial wegschleppen, was sie kaufen können. Das muß verhindert werden. Der Kontinent darf nicht an beide Parteien liefern. Er muß ein Interesse an unserem Siege haben . . .«

Sir James Morrison, der Erste Lord des Schatzes, fiel seinem Kollegen ins Wort:

»Es gibt eine Möglichkeit . . . Alle Staaten des Kontinents schleppen die Kette amerikanischer Schulden hinter sich her. Wir müssen ihnen die Annullierung dieser Schulden versprechen. Dann haben sie ein Interesse an unserem Siege. Es wird zu überlegen sein, was sich für diese Versprechen einhandeln läßt. Lieferung von Kriegsmaterial ausschließlich an uns. Durchzugsrecht für unsere Truppen. Wenn möglich direkte Unterstützung. Ich glaube, daß sich viel mit dem Versprechen erreichen läßt . . .«

Die Verhandlung löste sich in lebhafte Einzelgespräche auf. Der Plan des Finanzministers war einleuchtend. Er war genial und wie alle genialen Sachen verblüffend einfach.

William Chopper übernahm es, die Idee mit der nötigen Vorsicht in die europäische Presse gelangen zu lassen. Es war notwendig, daß von privaten Stellen gleichzeitig in tausend Zeitungen die Möglichkeit, aus der amerikanischen Verschuldung herauszukommen, in Europa ventiliert wurde. Von drei Monaten, die er ursprünglich für die Durchführung dieser Propaganda verlangte, ließ sich der Presseminister auf zehn Tage herunterhandeln.

Lord Gashford sprach:

»Es ist widersinnig, die afrikanischen Rohstoffe und Bodenschätze erst nach England zu schaffen und hier zu verarbeiten. Wir müssen in Afrika eine Kriegsindustrie aus dem Boden stampfen. In der Umgebung der großen Kraftwerke des Sambesi und Kongo. Meine Herren, ich halte es sogar für möglich, daß die britische Regierung bei Kriegsausbruch nach Äquatoria übersiedelt.«

Betretenes Schweigen folgte dieser Mitteilung. Die englische Regierung sollte die britische Insel aufgeben, sollte London verlassen? Das war nach der politischen Tradition etwas ganz Unerhörtes.

Lord Gashford bemerkte es wohl und fühlte sich zu einer Erklärung verpflichtet.

»Es ist unseren Agenten gelungen, einen Plan unserer Gegner aufzudecken. Ich kann ihn nicht anders bezeichnen als eine Ausgeburt der Hölle. Der Diktator hat einen Teil seiner Luftflotte mit Bomben versehen lassen, durch die beim Aufschlagen Pest- und Cholerakeime in die Luft gewirbelt werden.«

Rufe des Abscheus und Entsetzens kamen aus aller Munde.

»Das ist Stonards würdig«, rief Vincent Rushbrook mit schneidender Stimme. »Möge ihn selbst die Pest befallen.« Erst nach Minuten konnte Lord Gashford fortfahren:

»Der Plan verliert bei näherer Betrachtung an Gefährlichkeit. Wir wissen genau, welche Teile der Flotte mit den G-Bomben ausgerüstet sind. Unsere Luftstreitkräfte müssen sich bei Eröffnung der Feindseligkeiten augenblicklich auf diese Schiffe stürzen und sie vernichten, bevor sie die britische Insel vergiften können. Gelingt es trotzdem einigen, unser Land zu erreichen, so sind für den betreffenden Bezirk sanitäre Maßregeln in Aussicht genommen.

Noch eins, meine Herren« – die Sätze wurden langsam unter Betonung jedes einzelnen Wortes gesprochen –, »es wäre in diesem Falle nicht zu vermeiden, daß die Krankheiten auf das Festland übertragen würden.«

»Right or wrong, my country«, kam es halblaut von den Lippen Rushbrooks, und andere Lippen flüsterten es nach. Lord Gashford sprach in der langsamen, betonten Weise weiter:

»Gemeinsames Leid knüpft feste Bande! Meine Herren . . . der Pfeil würde auf den Schützen zurückprallen . . . das war es, was ich noch mitzuteilen hatte.«

Drei Stunden später erschienen in einigen Blättern des Kontinents die ersten Betrachtungen über die Möglichkeit, die amerikanische Verschuldung loszuwerden. Der Apparat William Choppers arbeitete bereits.


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