Hans Dominik
Geballte Kraft
Hans Dominik

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Ein Vortrag, eine Vorführung und eine Sitzung (1866/67)

Auf der Schloßfreiheit in Berlin werden die Buden für den Weihnachtsmarkt aufgeschlagen. Adventstimmung herrscht in der preußischen Hauptstadt. Früh ist der Dezemberabend hereingebrochen; Schneeflocken wirbeln um die Gaslaternen, sinken zu Boden und vergehen schnell auf dem Pflaster der Bürgersteige. Besonders schnell vor dem Hause Markgrafenstraße 94, aus dessen Toren am Ende der sechsten Abendstunde die Belegschaft der Telegraphenbauanstalt herausströmt. Mechaniker, Meister, Büroangestellte, die nun Feierabend haben.

Verlassen liegen die Werkräume, nur der Kesselheizer, dem auch die Wartung der kleinen Hoppeschen Säulendampfmaschine obliegt, durfte noch nicht nach Hause gehen. Er hält das Feuer auf den Rosten in Gang. Unverändert läuft die Dampfmaschine, und auch die lange Transmissionswelle dreht sich in unermüdlichem Spiel weiter. Freilich läuft sie jetzt leer. Die Drehbänke und Bohrmaschinen, die sie während des langen Werktages trieb, stehen still.

Wieder wirft der Heizer ein paar Schaufeln Kohlen unter den Kessel, holt die Glut mit der Feuerkrücke so zusammen, daß die neue Kohle nur langsam durchbrennen kann; nach einem Blick auf das Manometer setzt er sich auf einen Schemel neben der Maschine. Während er sich einen frischen Priem in die Backentasche schiebt, überlegt er sich noch einmal, was Meister Müller ihm vor einer Stunde gesagt hat: Das Feuer nach Werkschluß aufbänken! Den Druck halten! Um 7 Uhr bereit sein, schnell mehr Dampf zu machen! . . . Ein merkwürdiger Auftrag, denkt er bei sich, und döst dann ruhig vor sich hin. Ihm kann's ja schließlich gleich sein, was der Herr Dr. Siemens heute abend noch vorhat. Genügend Dampf wird schon da sein, wenn er gebraucht wird.

Zur gleichen Zeit empfängt Werner Siemens in dem dreifenstrigen Saal neben seinem Arbeitszimmer die Gäste, die er für diesen Abend geladen hat. Als erster erscheint Johann Christian Poggendorff, Geheimrat, Professor und Senior der philosophischen Fakultät der Universität in Berlin, in Begleitung seines jüngeren Kollegen, des Professor Rieß. Beide sind der heutigen Einladung mit besonderem Interesse gefolgt, denn für beide ist die Erforschung der elektrischen Erscheinungen ja Lebensaufgabe. Schon vor mehr als einem halben Jahrhundert hat Poggendorff das Multiplikatorprinzip entwickelt und damit ein Galvanometer von früher ungekannter Empfindlichkeit geschaffen. Fast ebensolange gibt er die Annalen der Physik und Chemie heraus, in deren Bänden jeder naturwissenschaftliche Fortschritt verzeichnet ist, der in dieser langen Zeitspanne erreicht wurde. Durch grundlegende Messungen der elektrischen Stromwärme hat Professor Rieß in neuerer Zeit von sich reden gemacht.

Werner Siemens geht dem 20 Jahre älteren Poggendorff entgegen und geleitet ihn zu einem bequemen Lehnstuhl. Herzlich begrüßt er auch Rieß, um sich dann den nächsten Gästen zuzuwenden. Da kommen, auch wieder zusammen, gleich zwei Mitglieder der Königlichen Akademie der Wissenschaften, die Professoren Magnus und Du Bois-Reymond, und kurz danach Professor Dove, der Meteorologe, und Professor Quincke, beide Dozenten an der Berliner Universität. Es ist eine Gesellschaft von berühmten Gelehrten, die Herr Doktor Siemens für diesen Abend in die Telegraphenbauanstalt gebeten hat, und mit großer Pünktlichkeit sind sie seiner Einladung gefolgt; keiner der Herren hat heute von der Wohltat des akademischen Viertels Gebrauch gemacht. Gespannt sind sie alle auf das, was sie hier hören und sehen sollen. Mit der Erzeugung elektrischer Ströme ohne Verwendung permanenter Magnete will Dr. Siemens sie bekanntmachen.

Erwartungsvolle Stille herrscht in dem Raum, als Werner Siemens an den Tisch tritt, auf dem ein kleiner Apparat, eben jenes von Meister Müller im August dieses Jahres gebaute Maschinchen, steht, und seinen Vortrag beginnt. Zustimmend nicken besonders die Physiker unter den Eingeladenen, als er zum Anfang die von Ampère entdeckten elektro-dynamischen Grunderscheinungen aufführt, aber schließlich ist das, was er bisher vorträgt, für die Anwesenden nichts Neues. Doch mit verstärkter Aufmerksamkeit horchen sie auf, als er nun auf das Prinzip einer neuen von ihm gefundenen Konstruktion eingeht.

Während seiner letzten Worte hat er beide Hände auf das Maschinchen, das vor ihm auf dem Tisch steht, gelegt, und spricht nun weiter, indes seine Finger über die Windungen der Elektromagnete gleiten:

»Der geringe Grad von Magnetismus, welcher auch im weichsten Eisen stets zurückbleibt, genügt, um bei wieder eintretender Drehung des Ankers das progressive Anwachsen des Stromes im Schließungskreis von neuem einzuleiten. Es bedarf daher nur eines einmaligen kurzen Stromes einer Kette durch die Windungen des festen Elektromagnetes, um den Apparat für alle Zeit leistungsfähig zu machen.«

Eine Bewegung geht durch die Zuhörenden. Das also ist das Neue, was sie heute hier erfahren. Man braucht keine Batterien und keine permanenten Magnete mehr, um Strom zu erzeugen. Die Maschine, die einmal gearbeitet hat, wird auch später infolge des geringfügigen in ihrem Eisen zurückbleibenden Magnetismus immer wieder richtig arbeiten. Sie wird sich gewissermaßen selbst erregen und schon nach wenigen Minuten volle Stromstärke geben.

Den Kopf in die Hand gestützt, starrt Du Bois-Reymond vor sich hin. Es ist ihm anzumerken, wie er das eben Gehörte innerlich verarbeitet. Poggendorff und Rieß stecken die Köpfe zusammen und tauschen flüsternd ein paar Worte aus, während Dr. Siemens in seinem Vortrag fortfährt:

»Der von den kommutierten, gleichgerichteten Strömen umkreiste feststehende Magnet muß eine hinreichende magnetische Trägheit haben, um auch während der Stromwechsel den in ihm erzeugten höchsten Grad des Magnetismus ungeschwächt beizubehalten, und die sich gegenüberstehenden Polflächen der beiden Magnete müssen so beschaffen sein, daß der feststehende Magnet stets durch benachbartes Eisen geschlossen bleibt, während der bewegliche sich dreht. Diese Bedingungen werden am besten durch die von mir vor längerer Zeit in Vorschlag gebrachte und seitdem von mir und anderen vielfältig benutzte Anordnung der Magnetinduktoren erfüllt. Der rotierende Elektromagnet besteht bei derselben aus einem um seine Achse rotierenden Eisenzylinder, welcher mit zwei gegenüberstehenden, der Achse parallel laufenden Einschnitten versehen ist, die den isolierten Umwindungsdraht aufnehmen. Die Polenden einer größeren Zahl von Stahlmagneten oder im vorliegenden Fall die Polenden des feststehenden Elektromagnetes umfassen die Peripherie dieses Eisenzylinders in seiner ganzen Länge mit möglichst geringem Zwischenraum.

Mit Hilfe einer derartig eingerichteten Maschine kann man, wenn die Verhältnisse der einzelnen Teile richtig bestimmt sind und der Kommutator richtig eingestellt ist, bei hinlänglich schneller Drehung in geschlossenen Leistungskreisen Ströme von solcher Stärke erzeugen, daß die Umwindungsdrähte der Elektromagnete durch sie in kurzer Zeit bis zu einer Temperatur erwärmt werden, bei welcher die Umspinnung der Drähte verkohlt. Bei anhaltender Benutzung der Maschine muß diese Gefahr durch Einschaltung von Widerständen oder durch Mäßigung der Drehungsgeschwindigkeit vermieden werden.«

Werner Siemens spricht weiter. Er geht auf die Unzulänglichkeit der permanenten Stahlmagnete ein und hebt die Vorzüge der Elektromagnete hervor. Er erwähnt die Kompromißlösung eines englischen Mechanikers, der die Elektromagnete eines Induktors mit dem Strom eines anderen Induktors erregt, der seinerseits mit gewöhnlichen Stahlmagneten versehen ist, und weist auf die Umständlichkeit und Unzuverlässigkeit dieser Anordnung hin. Dann aber setzt er die Kurbel des kleinen Induktors auf dem Tisch in Bewegung. Sie scheint sich nur schwer drehen zu lassen. Offensichtlich muß Dr. Siemens sich dabei anstrengen – und gleichzeitig sehen seine Gäste, wie ein Galvanometer ausschlägt, wie der Zeiger weiter und immer weiter über die Skala hingleitet, sehen, wie der Vortragende einen Regelwiderstand betätigt und dadurch den Galvanometerzeiger wieder zurückzwingt. Sie sehen ihn mit Anstrengung an der Kurbel arbeiten, und nun hält es sie nicht länger auf ihren Plätzen. Sie eilen zu dem Tisch hin. Sie wollen die Vorgänge aus nächster Nähe beobachten, und gern überläßt Siemens bald dem einen, bald dem anderen die Kurbel und beschränkt sich darauf, den Widerstand zu regulieren, je nachdem einer schneller oder langsamer an der Kurbel dreht.

Fünf Minuten . . . zehn Minuten . . . eine Viertelstunde vergehen darüber. Jeder ist über den schweren Gang der kleinen Maschine erstaunt und wundert sich fast noch mehr darüber, daß sie einer Drehung in umgekehrter Richtung fast gar keinen Widerstand entgegensetzt, einer Drehung freilich, bei der das Galvanometer sich nicht rührt, ein Anzeichen dafür, daß dabei auch kein Strom erzeugt wird.

Die sechs Männer, die sich hier um dies erste Versuchsmaschinchen drängen, sind ausnahmslos Physiker und Chemiker, Professoren an der Berliner Universität, zum Teil auch Mitglieder der Akademie der Wissenschaften, Gelehrte von Rang und Ruf, aber trotzdem ist ihnen das Gesetz von der Erhaltung der Energie, das Julius Robert Mayer schon vor 24 Jahren aufstellte, doch noch nicht so stark in Fleisch und Blut übergegangen, daß sie die Vorgänge sofort klar zu erkennen vermögen. Sie befühlen das Maschinchen; sie stellen fest, daß die Magnetwicklungen warm geworden sind, daß die Drähte des Regulierwiderstandes sogar glühend heiß sind; aber daß ihre eigene Muskelarbeit sich hier erst in elektrische Energie und danach in Wärme umsetzt, kommt ihnen noch nicht voll zum Bewußtsein. Selbst Professor Rieß, der einen Apparat zur Messung der Elektrowärme ersonnen hat, vermag die Phänomene, die ihm hier geboten werden, nicht gänzlich zu überschauen. Nur die eine Tatsache steht fest, daß es durch die neue Maschine möglich geworden ist, mechanische Arbeit in Elektrizität umzusetzen, ohne dabei permanente Magnete zur Hilfe nehmen zu müssen.

Ein Weilchen läßt Werner Siemens sie unter sich debattieren und ihre Meinungen über das eben Gesehene austauschen, dann ergreift er wieder das Wort:

»Ich möchte Sie bitten, meine Herren«, sagt er, »mit mir in die Werkstatt zu gehen. Sie können dort einen größeren Induktor bei der Arbeit sehen.«

Einen größeren Induktor? . . . Bei der Arbeit? . . . Die Worte verfehlen ihre Wirkung nicht. Voller Erwartung folgen die Geladenen Dr. Siemens über einen Flur in einen Werkstättenraum. Unwillkürlich weiten sich ihre Augen, als sie dort eine Maschine erblicken, die zwar äußerlich dem eben vorgeführten Apparat gleicht, ihn aber an Größe um das Vier- bis Fünffache übertrifft.

»Lassen Sie Dampf aufmachen, Meister Müller«, beauftragt Dr. Siemens einen Mann, der bei dieser Maschine steht, und wendet sich dann wieder an seine Gäste.

»Hier brauchen wir uns nicht mit der Kurbel abzuquälen, meine Herren.« Noch während er es sagt, bewegt er einen langen Hebel, durch den der Riemen, der von der Maschine zur Transmission führt, von der Losscheibe auf die Festscheibe gerückt wird. Der Riemen setzt sich in Bewegung, der Anker dieses großen Induktors beginnt zu rotieren.

»Ich werde Ihnen zuerst elektrisches Bogenlicht vorführen«, fährt Werner Siemens fort und manipuliert an dem Stellrad einer Bogenlampe, bis ihre beiden Kohlestifte zusammenlaufen. Der Stromkreis des großen Induktors wird dadurch geschlossen. Schon in der nächsten Sekunde klingt ein Brummen von seinem Anker auf. Ein Galvanometer schlägt weit aus. Sein Zeiger würde über die Skala hinausgleiten, wenn Doktor Siemens nicht im gleichen Augenblick die Kohlestifte der Lampe ein wenig auseinanderzöge. Hell glänzt es zwischen ihren Spitzen auf. Ein starker Lichtbogen bildet sich zwischen ihnen, im Augenblick ist der ganze Raum, in dem bisher nur eine trübe Gasflamme brannte, von sonnenhellem Licht erfüllt.

Auch diese würdigen Gelehrten können bei dem Anblick ein staunendes Ah! nicht unterdrücken. Zwar haben sie alle bei gelegentlichen Vorführungen dies Licht schon gesehen – mit Batterien oder auch mit einer magnetisch-elektrischen Maschine wurde es erzeugt –, aber dieser hier mit neuen Mitteln erzeugte mächtige Lichtbogen, der ruhig und stetig brennt, reißt sie doch zur Bewunderung hin.

Schon bereitet Werner Siemens einen anderen Versuch vor. Ein Voltameter, ein Glasgefäß mit zwei eingeschmolzenen Platinelektroden, füllt er mit leicht angesäuertem Wasser und bringt es in Verbindung mit dem Induktor, während er gleichzeitig die Bogenlampe ausschaltet. Nur noch das Gaslicht erhellt den Raum, aber auch bei seinem Schein kann man jetzt deutlich sehen, wie es von den Elektroden aufperlt, wie in ständigem Fluß Blasen in die Höhe steigen und sich in dem oberen geschlossenen Teil des Gefäßes, aus dem sie das Wasser verdrängen, Gase ansammeln. Die Wasserzersetzung ist in vollem Gang. Der elektrische Strom, der von dem Induktor herfließt, zerlegt das Wasser in seine beiden gasförmigen Bestandteile, in Sauerstoff und in Wasserstoff.

Das ist zwar kein so glänzendes Experiment wie die Erzeugung des Bogenlichtes, aber besonders die Chemiker unter den Anwesenden interessiert es höchstlich, denn es beweist ja, daß die neue Maschine auch für die Durchführung elektro-chemischer Prozesse geeignet ist. Was Davy und andere vor Jahrzehnten unter Einsetzung mächtiger galvanischer Batterien im kleinen durchzuführen versuchten, das wird man mit dieser Maschine vielleicht bald im großen ausführen können.

Während die Chemiker unter den Anwesenden diese Möglichkeit noch erörtern, ist Dr. Siemens, unterstützt von Meister Müller, schon mit dem Aufbau eines dritten Versuches beschäftigt. Zwischen zwei Isolatoren hat er einen meterlangen starken Eisendraht ausgespannt. Nun bringt er den mit dem Induktor in Verbindung und entfernt die Drähte von dem Voltameter. Dort hört die Gasentwicklung sofort auf, aber der Eisendraht wird heiß. Schon glüht er mattrot und gleich danach kirschrot auf. Immer mehr Regulierwiderstand nimmt Werner Siemens aus dem Stromkreis heraus. Stärker brummt der Induktoranker. Etwas langsamer scheint die Transmissionswelle zu laufen, die ihn antreibt, und immer stärker erglüht der Eisendraht. In blendend weißem Lichte erstrahlt er jetzt. Fast ist es wieder so hell in dem Raum wie vor kurzem, als die Bogenlampe brannte. Schwer keucht die Transmission. Mit Gewalt zieht sie den Riemen zum Induktor mit sich. Jetzt nimmt Siemens den letzten Vorschaltwiderstand heraus, da geht die Weißglut des Eisendrahtes für einen Moment in Blauglut über, und dann verspritzt und verpufft er zu Eisendampf. Nur die Gasflamme leuchtet noch.

Minuten verstreichen, bevor die Augen sich nach dem blendenden Licht des versprühenden Eisens wieder an die Gasflamme gewöhnen und wieder etwas zu erkennen vermögen. Dann kommt Gespräch auf. Man diskutiert über das, was man eben mit erlebt hat. Möglichkeiten werden erörtert, in Rede und Gegenrede Theorien verteidigt und bestritten. Erst nach geraumer Zeit vermag Dr. Siemens sich Gehör zu verschaffen und bittet noch einmal um Aufmerksamkeit für einen letzten Versuch.

»Ich möchte Ihnen zum Schluß noch zeigen, meine Herren«, beginnt er seine Erklärung, »welchen Arbeitsaufwand der Induktor bei voller Belastung erfordert, welche beträchtliche Kraft er dann der ihn antreibenden Maschinerie entgegensetzt.«

Noch während er es sagt, schließt er die beiden freien Drahtenden des Induktors kurz. Ein tiefes Aufbrummen des Ankers, in das sich Geräusche von der Transmission her mischen. Zusehends verlangsamt der Anker seine Drehung. Auch die Transmissionswelle verringert ihre Tourenzahl; der Riemen, der sie mit dem Induktor verbindet, beginnt auf der kleineren Riemenscheibe zu rutschen; durch die dabei erzeugte Wärme nimmt die Adhäsion zwischen der Scheibe und dem Riemen wieder zu. Voll kann sich dadurch die widerstrebende Kraft des Induktors auf die Transmissionswelle auswirken. Jetzt steht auch diese fast still, und 40 Meter entfernt macht der Mann beim Dampfkessel plötzlich die Entdeckung, daß auch mit seiner Maschine etwas nicht in Ordnung ist. Sie stöhnt und keucht, aber sie vermag die Transmission nicht mehr richtig durchzuziehen.

Ein paar Minuten dauert das eigenartige Schauspiel, dann zieht Dr. Siemens die beiden Drahtenden wieder auseinander, und im gleichen Augenblick läuft die Transmission wieder mit voller Geschwindigkeit, schnellt zunächst sogar beträchtlich darüber hinaus, bis der Regulator der Dampfmaschine sich wieder eingespielt hat und allmählich alles in Ordnung kommt.

Dr. Siemens schiebt den Transmissionsriemen, der die Dynamo antreibt, auf die Losscheibe, und der Anker kommt zum Stillstand.

»Der Induktor ist ein wütender Kerl«, sagt er mehr zu sich als zu den anderen. Einzelne von diesen treten an die Maschine heran, wollen sie befühlen und ziehen im nächsten Moment die Fingerspitzen zurück, denn brennend heiß ist der eiserne Ankerzylinder. Schon bei dieser ersten Vorführung der neuen Elektromaschine müssen sie die Bekanntschaft mit der Erhitzung des Ankerkörpers machen, für die ihnen einstweilen noch jede Erklärung fehlt. Fast zehn Jahre wird es auch noch dauern, bevor man die wirklichen Gründe dafür erkannt und die technischen Mittel zu ihrer Beseitigung entwickelt hat.

An diesem Dezemberabend des Jahres 1866 macht man sich darüber noch wenig Kopfzerbrechen. Als eine Nebenerscheinung tritt diese Erwärmung der Maschine den glänzenden Experimenten gegenüber, die man hier eben gesehen hat, in den Hintergrund. Ausnahmslos sind die hier Versammelten sich darüber einig, daß man es mit einer bahnbrechenden Erfindung zu tun hat, durch die der angewandten Elektrizität – das Wort Elektrotechnik ist noch nicht bekannt – ganz neue Wege geöffnet werden. Wieder kommt eine Diskussion auf, und immer mehr kristallisiert sich dabei der Gedanke heraus: Die Erfindung muß so schnell wie möglich veröffentlicht werden, und in einer solchen Weise muß es geschehen, daß niemand dem Dr. Werner Siemens die Priorität der Erfindung streitig machen kann. Über die Art der Veröffentlichung wird man sich schnell einig. Die Königliche Akademie der Wissenschaften ist das geeignete Forum dafür. Ein wenig Sorge macht noch die Zeitfrage. Weihnachten steht vor der Tür. Die Festwochen wird man notgedrungen verstreichen lassen müssen, doch gleich in der ersten Sitzung der Akademie im kommenden Jahr muß die Veröffentlichung erfolgen. Das ist nicht nur die einstimmige Meinung der Gäste; auch Dr. Siemens tritt mit einer Dringlichkeit dafür ein, daß sich die anderen fast darüber wundern. Sie wissen freilich nicht, was ihr Gastgeber weiß oder zum mindesten doch ahnt. Daß nämlich die Zeit für diese große Erfindung reif geworden ist, und daß es vielleicht nur um Monate, vielleicht sogar nur um Wochen gehen kann, bis auch andere darauf kommen, wie das ja schon öfter als einmal mit großen, bahnbrechenden Erfindungen, beispielsweise mit dem Fernrohr, der Fall gewesen ist, das auf die Woche gleichzeitig in Holland und in Italien konstruiert wurde. –

Am 17. Januar 1867 findet die denkwürdige Sitzung der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften statt, in welcher der Ständige Sekretär der Akademie, Professor Magnus, einen Vortrag verliest, der den Titel trägt: Über die Umwandlung von Arbeitskraft in elektrischen Strom ohne permanente Magnete.

Gespannt folgt ein Auditorium von Gelehrten, unter denen sich die besten Köpfe der preußischen Monarchie befinden, den Ausführungen des Vortragenden, denn infolge der engen Beziehungen, die zwischen der Berliner Universität und der Akademie bestehen, hat es sich in den vergangenen Wochen bereits herumgesprochen, daß man heute etwas ganz Großes und Neues hören wird; daß es sich um eine Erfindung handelt, die wohl geeignet ist, der Technik kommender Jahrzehnte die Richtung zu weisen.

Satz für Satz verliest der Vortragende die Ausführungen, die Dr. Siemens für ihn zu Papier brachte, und die sich im wesentlichen mit dem decken, was während jener ersten Vorführung im Dezember 1866 schon einmal gesagt wurde. Je weiter der Vortragende kommt, desto stärker werden die Zuhörer von seinen Ausführungen gefesselt. Zustimmendes Nicken und Äußerungen des Beifalls, sonst kaum in dieser gelehrten Körperschaft gehört, zeigen, wie stark das heute behandelte Thema alle Anwesenden in seinen Bann schlägt. Das Interesse läßt auch nicht nach, als der Redner sich über die Nachteile und Schwächen der permanenten Stahlmagnete verbreitet und von den Schwierigkeiten spricht, ihre magnetische Kraft auf eine kleine Polfläche zu konzentrieren. Beifall wird vernehmbar, als er fortfährt:

»Magnetinduktoren mit Stahlmagneten sind daher nicht geeignet, wo es sich um Erzeugung sehr starker andauernder Ströme handelt. Man hat es zwar schon mehrfach versucht, solche kräftigen magnet-elektrischen Induktoren herzustellen und auch so kräftige Ströme mit ihnen erzeugt, daß sie ein intensives elektrisches Licht gaben, doch mußten diese Maschinen kolossale Dimensionen erhalten, wodurch sie sehr kostbar wurden. Die Stahlmagnete verloren ferner bald den größten Teil ihres Magnetismus und die Maschine ihre anfängliche Kraft.«

Lastendes Schweigen herrscht wieder, als Magnus nun auf Versuche zu sprechen kommt, die man im Ausland bereits unternommen hat, um dem Übel der Stahlmagnete zu Leibe zu gehen. Jeder der Anwesenden begreift in diesen Minuten, daß auch außerhalb der preußischen Grenzen Kräfte am Werk sind, dies Problem zu lösen, und daß es eine Ehrenpflicht der Akademie ist, dem deutschen Erfinder, der zuerst eine grundsätzliche Lösung fand und praktisch ausführte, die Priorität seiner Erfindung zu sichern. Daß sie es kann, steht gottlob außer Zweifel, seitdem in der Wissenschaft der allgemein angenommene, von Arago beantragte und von der französischen Akademie optierte Grundsatz gilt, »daß ein Prioritätsrecht demjenigen zusteht, der einen neuen Gedanken zuerst in klarer, verständlicher Weise durch den Druck oder Mitteilung an eine Akademie, welche ihre Verhandlungen publiziert, veröffentlicht hat.«

Lauter Beifall erfüllt den Saal, als der Vortragende schließt:

»Der Technik sind gegenwärtig die Mittel gegeben, elektrische Ströme von unbegrenzter Stärke auf billige und bequeme Weise überall da zu erzeugen, wo Arbeitskraft disponibel ist. Diese Tatsache wird auf mehreren Gebieten derselben von wesentlicher Bedeutung werden.«

Einstimmig wird danach beschlossen, den Vortrag in den Monatsberichten der Akademie unter dem Datum des 17. Januar zu veröffentlichen. Einwandfrei ist dadurch die Erfindung des Dynamoprinzips und der Dynamomaschine für alle Zeiten als eine deutsche Meistertat festgestellt.

 


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