Hans Dominik
Der Brand der Cheopspyramide
Hans Dominik

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Vierzig Kilometer von der friesischen Küste entfernt liegt die kleine Insel Warnum in der Nordsee. Eigentlich nur eine große Hallig. In vergangenen Jahren die Heimat einiger 121 weniger Fischer. Dann kamen die Riggers-Werke, kauften die Insel und verlegten dorthin ihre riesigen Laboratorien für das Studium der Atomenergie.

Seit jener Zeit war das Werk auf Warnum das Lieblingskind, aber auch das Schmerzenskind des Generaldirektors Harder.

»Ich gehe auf einige Wochen nach Biarritz.« Mit diesem Worten hatte er sich neulich in Berlin von Physikern des Werkes verabschiedet. Wer von Berlin nach Biarritz will, der muß nach Süden fliegen. Warnum in der Nordsee liegt nicht an seinem Wege. Als aber die Privatjacht des Generaldirektors, die ihn und Mette nach Biarritz bringen sollte, am Bismarckdamm aufstieg und den Kiel nach Süden reckte, ergriff er das Telephon und befahl dem Piloten, den Kurs über Warnum zu nehmen und dort zu landen.

Der Gedanke, daß nicht nur der eine, der Tote, das erreicht hatte, was dort immer noch vergeblich erstrebt wurde . . . nein, weit mehr noch der andere viel quälendere, daß nun auch der zweite . . . der Lebende, es besaß, der Gedanke raubte ihm die Ruhe bei Tag und den Schlaf bei Nacht. Der Gedanke trieb ihn noch einmal hierhin, bevor er zur Erholung nach Süden flog.

Leicht senkte sich der große graue Vogel auf die leise atmende See und schwamm, bis er dicht neben der Mole von Warnum lag. Taue wurden festgemacht und Planken herangeschoben.

Und dann stand Harder zwischen seinen Physikern und Ingenieuren, die ihn längst weit im Süden wähnten. In ihrer Begleitung schritt er durch die weiten Hallen, von Station zu Station, von Prüffeld zu Prüffeld. Hörte ihre Berichte, und immer düsterer wurde sein Blick, immer faltiger seine Stirn.

»Wie stark das Feld hier?«

Der Oberingenieur warf einen kurzen Blick auf den Zeiger eines Meßinstrumentes.

122 »Vier Millionen Gauß, Herr Generaldirektor.«

»Zu wenig! . . . Zu wenig!« Harder stieß es zwischen den Zähnen hervor. »Die Veränderungen? Was haben Sie beobachtet? Wie verhält sich das Eisen in diesem Felde?«

»Starke Atomveränderungen, Herr Generaldirektor. Chrom, Titan, Kalzium sicher nachgewiesen. Die Heliumlinien bei der Spektraluntersuchung unverkennbar . . .«

»Das ist nicht genug, Herr Doktor. Das genügt mir nicht . . . bei weitem nicht . . . das muß ganz anders werden.«

»Herr Generaldirektor, wir haben trotz mancher . . . ich muß es offen aussprechen, recht schwerer Bedenken die Feldstärke in einem anderen Stand weitergetrieben. Dort drüben in Stand sechzehn.«

»Wie weit? . . . Wie stark ist das Feld?«

»4,2 Millionen Gauß, Herr Generaldirektor.«

»4,2 Millionen . . . und die Erfolge?«

»Der Gehalt des behandelten Eisens an dem von mir genannten Stoffe ist dort erheblich stärker. Es ist außer Zweifel, daß in diesem stärkeren Felde mehr Eisenatome aufgebrochen werden. Wir hatten dort in chemisch reinem Eisen, nachdem es fünf Minuten im Felde war, einen Chromgehalt von fünfzehn Prozent.«

»Und dann? . . . und was weiter? Was war nach zehn und zwanzig Minuten? Bitte, Herr Doktor, halten Sie mit Ihrer Wissenschaft nicht hinter dem Berge.«

»Der Chromgehalt nahm weiter langsam zu, Herr Generaldirektor. Aber nicht mehr so schnell wie in den ersten Minuten des Versuches.«

Harder schlug mit der Faust auf einen Werktisch, daß die Gläser und Retorten auf ihm durcheinanderfielen und in Splitter gingen. Die Adern seiner Stirn schwollen drohend an.

»Und das nennen Sie nach meinen Anordnungen handeln, Herr Doktor? Habe ich nicht ausdrücklich bei unserer letzten Zusammenkunft gesagt, daß wir schnell und zielbewußt 123 weiterkommen müssen? . . . Habe ich Ihnen damals nicht die Gründe auseinandergesetzt, weswegen das für uns unter allen Umständen notwendig . . . geradezu eine Lebensfrage für die Riggers-Werke ist? Schnell und zielbewußt habe ich gesagt, Herr Doktor. Hier ist weder von Schnelligkeit noch von einem Ziel etwas zu merken.«

Der Gescholtene schwieg. Er wußte aus langer Erfahrung, daß in diesem Zustande mit dem Generaldirektor nicht gut Kirschen essen war.

»Das ist Ihre größte Feldstärke, Herr Doktor?«

»So ist es, Herr Generaldirektor.«

Harder drehte sich kurz auf dem Absatz herum und ging in das Konferenzzimmer.

»Bitte, Herr Doktor, die anderen Herren auch hierher!«

In kurzer Zeit war der ganze Stab des Warnum-Werkes um den Generalgewaltigen versammelt. Mit finsteren Blicken musterte er die Versammelten. Sie senkten den eigenen Blick davor, denn sie sahen, daß das Barometer auf Sturm stand. Dann sprach er. Rauh und abgebrochen kamen die Worte von seinen Lippen.

»Meine Herren! Für das, was ich heute hier gesehen habe, gibt es nur zwei mögliche Erklärungen. Unfähigkeit . . . oder Feigheit«

Ein dumpfes Murren ging durch die Runde.

»Jawohl, Feigheit, meine Herren. Die Möglichkeit besteht, denn an einen solchen Grad von Unfähigkeit kann ich kaum glauben.«

Wieder wollten sie aufbegehren, und wieder traf sie ein Blick, der alles schweigen ließ.

»Ich sagte Ihnen bereits in Berlin, daß der theoretische Wert der Feldstärke bei fünf Millionen Gauß liegt. Sie haben hier die technischen Mittel, um diese Feldstärke zu erreichen. Warum wurde sie noch nicht erreicht. Bitte, Herr Doktor.« Er wandte sich an den Oberingenieur. »Bitte, 124 Herr Doktor, wollen Sie oder will einer der anderen Herren mir darauf eine klare Anwort geben.«

Ein drückendes Schweigen. Dann raffte sich der Oberingenieur zur Antwort zusammen.

»Sie sagten selbst, Herr Generaldirektor, bei unserer letzten Konferenz in Berlin, daß Montgomery die Atomenergie vielleicht schon mit schwächeren Feldern gewonnen hat. Deshalb . . .«

»Ich sagte: vielleicht, Herr Doktor. Ich stellte es als eine entfernte Möglichkeit hin, daß sich das Ziel vielleicht schon früher erreichen ließe.

Wenn das aber nicht der Fall ist . . . und Sie sehen doch, daß es nicht der Fall war . . . dann mußten Sie eben die Feldstärken sofort erhöhen. Mit allen Mitteln erhöhen, bis die erwarteten Erscheinungen sich zeigten. Anstatt dessen tasten Sie ganz vorsichtig innerhalb sicherer Grenzen umher, in denen nichts passiert . . . nach der Theorie ja auch nichts passieren kann. Aber natürlich, die Angst um das liebe Leben . . . es könnte vielleicht schneller Energie entfesselt werden, als erwartet . . . das veranlaßt die Herren, gegen meine klaren Anweisungen zu handeln.«

Harder hatte sich bei den letzten Worten erhoben. Hoch reckte sich seine Gestalt, seine beiden Fäuste stemmten sich auf den Konferenztisch. »Wir müssen kämpfen, meine Herren, wenn wir unser Ziel erreichen wollen. Solche Kämpfe sind nicht immer ungefährlich . . .«

Eine Idee schoß ihm durch das Gehirn. Eine historische Erinnerung . . . die Anrede Friedrichs des Großen an seine Offiziere vor der Schlacht bei Leuthen.

»Meine Herren, ist etwa einer unter Ihnen, der sich scheut, diese Gefahren auf sich zu nehmen, der kann noch heute ohne jeden Tadel von mir seine Entlassung . . . oder seine Versetzung in ein anderes Werk erhalten.«

125 Schweigen in der Runde. Es meldete sich niemand. Nach einer langen Minute fuhr Harder fort.

»Von denen aber, die hier bleiben . . . an der großen Aufgabe weiterarbeiten wollen, von denen verlange ich, daß meine Anordnungen ohne jedes Zögern . . . ohne jede Abweichung von den gegebenen Befehlen durchgeführt werden. Die Anordnung lautet: Die theoretische Feldstärke von fünf Millionen Gauß ist schnellstens zu erreichen. Mit dieser Feldstärke sind die Arbeiten weiterzuführen. Ihren umgehenden Bericht darüber, Herr Doktor, erwarte ich in Biarritz.«

Ein kurzer herrischer Abschiedsgruß an die Versammlung. Harder schritt über die Mole seinem Flugschiff zu.

Da stand Mette im hellen Schein der Vormittagssonne im leichten Jachtkostüm. Die Hand schützend über den Augen, blickte sie nach Westen, wo dicht an der Kimme wie ein blauer Hauch die Düne von Barsum zu erkennen war. Weit zurück flogen ihre Gedanken bis zu jenem Sommer, zu jener Sturmfahrt nach Barsum, wo ihr Schicksal wurde.

Die Schritte ihres Vaters rissen sie aus dem Sinnen.

Schweigend schritt sie an der Seite des Vaters zum Flugschiff.

* * *

Fürst Iraklis stand vor dem Kalifen im Königsschlosse zu Madrid.

»Mein Herr hat Hoffnung, daß Ibn Ezer Erfolg haben wird?«

Abdurrhaman erhob sich und schritt ungeduldig hin und her.

»Die Hoffnung ist gering, Murad. Recht gering leider. Ich ließ ihn nach Fez kommen und habe ihn gehört.

Natürlich . . . ihn erfüllt ganz der Gelehrtenehrgeiz. Er wird sich die größte Mühe geben. Aber . . . und das ist das Schlimme . . . er sagte es offen, wenn nicht ein gütiges Geschick ihm zur Seite steht, wenn es ihm nicht gelingt, das 126 Geheimnis Elias Montgomerys im ersten Angriff zu ergründen, dann wird er wahrscheinlich lange, lange Zeit brauchen.

Inzwischen ist zu befürchten, daß das Problem von anderer Seite, zum Beispiel in Deutschland, gelöst wird. Ein Teil des Erfolges wäre damit hinfällig.«

»Ich hoffe, mein Herr sieht zu schwarz. Mein Herz vertraut auf Ibn Ezer. Was er bisher geleistet hat, läßt mich auf ihn vertrauen.

Jedenfalls . . . den Vorteil hat der Streich für uns gehabt . . . wir haben die Möglichkeit, uns in absehbarer Zeit der Kräfte der Atomenergie zu bedienen, während Europa nur noch auf die Erfolge . . . die unsicheren Erfolge der Riggers-Werke hoffen darf. Das Kräfteverhältnis hat sich damit doch sehr zu unseren Gunsten verschoben.«

Abdurrhaman nickte zustimmend. Der Fürst fuhr fort:

»Wir mußten fürchten, daß es den europäischen Gelehrten, englischen und deutschen, doch in absehbarer Zeit gelingen würde, den Apparat Montgomerys in Tätigkeit zu setzen. Schon war ein englischer Regierungsantrag so gut wie beschlossen, die Gelehrten der Riggers-Werke heranzuziehen, ihnen die Lösung des Geheimnisses zu überlassen.«

Der Kalif unterbrach ihn.

»Ja, Murad! Ich weiß es. Midhat Pascha meldete es. Berichtete zu meiner großen Freude auch immer wieder, daß man in England noch nicht den leisesten Verdacht hat, daß der Apparat in unserer Hand. Das heißt, man rät, besonders in der Presse, unter den vielen Interessenten auch auf uns, aber außer diesen Vermutungen hat man nicht den geringsten greifbaren Beweis, daß wir da irgendwie im Spiele sind. Jolanthe von Karsküll hat wieder einmal gute Arbeit geleistet. Ich will sie sehen, ihr meinen Dank abstatten.«

Der Fürst warf einen Blick auf die Uhr.

»Meine Nichte dürfte zurückgekommen sein . . .

Darf ich . . .?«

127 »Bitte, mein lieber Fürst!«

Einen Augenblick später trat Jolanthe ein. Das Auge des Kalifen ruhte mit ungeheuchelter Bewunderung auf der hohen, stolzen Gestalt, die in dem dunkelherabfließenden Gewand gleich einem Bild in altvenezianischem Stil in dem geschnitzten Türrahmen erschien. Er eilte auf sie zu und beugte sich tief über ihre Hand.

»Wie soll ich Ihnen danken, gnädige Baronin?«

»Sire, Sie beschämen mich durch Ihre große Gnade, die ich kaum verdiene.«

»Baronin Jolanthe, Ihnen allein verdanken wir diesen Erfolg.« Der Kalif legte ihren Arm in den seinen und führte sie zu dem Sessel am Kamin. Sprach dann weiter. »Sie haben mir eine große . . . eine ungeheure Last von der Seele genommen, Baronin. Seit dem Tode Elias Montgomerys mußte ich Europa wieder fürchten. Wären die englischen Gelehrten hinter das Geheimnis des Apparates gekommen, Europa hätte das wirtschaftliche Übergewicht gehabt. Das allein schon eine schwere Gefahr für uns, der zu begegnen unmöglich. Aber nicht nur das. Die Atomenergie wird bei weiterer Entwicklung auch eine furchtbare militärische Waffe werden. Diese Waffe in der Hand Europas, und die Tage unseres militärischen Übergewichts und unserer Herrschaft in Spanien wären gezählt. Oh, ich unterschätze die Größe des Dienstes nicht, den Sie unserer Sache . . . den Sie mir erwiesen haben. Aber ich weiß nicht, wie ich Ihnen den schuldigen Dank dafür abstatten kann.«

Auf Jolanthes Wangen schien ein Widerschein des Kaminfeuers zu brennen. Mit rascher Hand schob sie den Kaminschirm zwischen sich und die Glut, ihr Antlitz damit beschattend.

»Ich danke Eurer Majestät für die liebenswürdigen Worte . . . Sie dürfen überzeugt sein, daß mir die Freude über den glücklichen Erfolg allein genügt, um mich für jede Mühe völlig zu entschädigen.«

128 Wieder flog es wie dunkle Glut über ihre Wangen, während sie die Worte sprach.

»Als ein geringes Zeichen meiner freundlichen Gesinnung, die ich für Sie, teuerste Baronin, im Herzen trage, will ich meine Einwilligung für eine Verbindung zwischen meinem Bruder, dem Prinzen Ahmed, und Ihrer Schwester Modeste geben.«

Ein heller Freudenschein glitt über das Gesicht Jolanthes.

»Sire, die Gnade, die so unverhofft . . .«

Sekundenlang hatte die gewohnte Selbstbeherrschung sie verlassen. Mit Mühe unterdrückte sie einen Ausdruck jubelnder Freude, vergaß ganz die Unterredung mit Modeste.

Abdurrhaman versenkte seine Blicke in die Jolanthes.

»Ich hoffe durch diese verwandtschaftlichen Bande die so herzlichen, freundlichen Beziehungen unserer Familien noch enger zu knüpfen . . . besonders Sie selbst, teuerste Baronin, noch stärker an mich zu fesseln . . . Sie, die mir so notwendig sind.«

Vergeblich versuchte Jolanthe dem Blick des Kalifen zu begegnen, darin zu lesen . . . ein flammendes Funkeln zwang sie, die Augen zu senken. Ihr Herz schlug in starken Schlägen.

»Die Mitteilung, die ich Ihnen soeben machte, Baronin Jolanthe, wollen Sie bitte als ganz vertraulich behandeln. Auch den Beteiligten gegenüber.«

Er ergriff ihre Hand und hielt sie fest in der seinen.

»Es trieb mich, wenigstens eines kleinen Teiles der Dankeslast mich zu entledigen, die mein Herz so stark beschwert. Ich will hoffen, wünschen, daß sich bald Gelegenheit finden wird, mein Herz noch stärker von der Schuld zu entlasten. Wenn das andere in Erfüllung gehen wird. Der Traum, den Apparat Montgomerys in Tätigkeit zu sehen. Dann . . .« Seine Blicke hingen fest an denen Jolanthes. Ein heißer Strom durchrann sie.

Ihre Hand zuckte. Sie entzog sie ihm.

129 »Hatte Ibn Ezer schon Gelegenheit, den Apparat zu sehen?«

»Noch nicht, Baronin. Er soll morgen den ersten Versuch daran machen.«

»Und wenn es ihm nicht gelingt, Sire, nicht sogleich gelingt?«

»Dann«, die Züge des Kalifen verfinsterten sich, »muß der Apparat nach Ägypten geschafft werden, wo Ibn Ezer alle Hilfsmittel zur Verfügung hat. Und dann . . . dann kann es vielleicht viele Monate dauern, bis das Geheimnis gelöst wird. Wir müssen uns bescheiden. Können wir vorläufig die Kräfte des Apparates nicht bedienen, so ist doch auch Europa die Möglichkeit verschlossen, das Geheimnis durch die Physiker der Riggers-Werke zu lösen.«

»Sollte es nicht möglich sein, Sire, den einen oder den anderen dieser Leute durch hohe Summen zu bestechen und sie zu gewinnen, für uns zu arbeiten?«

»Unmöglich! Diesen Deutschen ist mit Gold nicht beizukommen. Außerdem, die Zahl der Leute, die das Verfahren wirklich beherrschen können, ist gering. In erster Linie der Oberingenieur auf Warnum und natürlich der Generaldirektor Harder.

Der weilt übrigens zurzeit in Biarritz. Sie werden vielleicht Gelegenheit finden, ihn kennenzulernen, wenn Sie selbst demnächst nach Biarritz kommen.«

Jolanthe starrte sekundenlang in das verlöschende Kaminfeuer. Eine Idee war in ihr aufgezuckt. Als hätte sie die Gegenwart des Kalifen vergessen, warf sie sich in den Sessel zurück und schloß die Augen. Zitterndes Zucken der Gesichtsmuskeln verriet das angestrengte Nachdenken.

Abdurrhaman starrte mit verhaltenem Atem auf die Gestalt Jolanthes, die wie von hypnotischem Schlaf befallen regungslos in dem Sessel lag . . . endlich hob sich ihre Brust unter tiefen befreienden Atemstößen. Sie strich sich leicht mit den 130 Händen über Stirn und Schläfen, ihre Augen öffneten sich, gingen suchend in die Runde, bis sie den Blick Abdurrhamans trafen. Ein stilles, leises Lächeln legte sich über ihr Gesicht. Langsam erhob sie sich, stand vor dem Kalifen.

»Ein Plan, Sire. Ein neuer Plan. Er wird vielleicht zunächst bizarr . . . unmöglich erscheinen. Aber das Unmögliche hat mich bei großen Unternehmungen stets am meisten gereizt. Eine verzweifelte Situation erheischt verzweifelte Mittel.

Das Mittel, das zu versuchen ich vorschlage, ist, ich sage es offen, verzweifelt. Schlägt es fehl, dürften die Folgen nicht angenehm sein. Aber es wird nicht fehlschlagen, es wird gelingen, muß gelingen.«

Abdurrhaman grub seine fieberhaft glänzenden Blicke in die ruhigen, entschlossenen Züge Jolanthes.

»Teuerste Baronin! Sie spannen meine Erwartungen aufs höchste. Ein Mittel! . . . Sie wissen es? . . . Doch ehe ich höre . . . ich scheue, um einen Erfolg zu erzielen, vor nichts . . . Ihre Person aber, Baronin Jolanthe, darf dabei nicht im geringsten gefährdet sein!«

Ein flüchtiges Rot schoß über Jolanthes Gesicht, ihre Blicke gingen ausweichend zur Seite.

»Die Besorgnis um meine Person, Sire . . . dürfte nach dem Plan, den ich mir erdacht, unnötig sein. Ich selbst werde ganz im Hintergrunde bleiben.«

»Dann bitte ohne Umschweife, Baronin! Ich ertrage die Spannung nicht länger. Ihr Plan ist? . . .«

»Ist . . . das Geheimnis des Apparates durch den lösen zu lassen, dem es von allen Physikern der Welt am leichtesten gelingen würde . . . durch . . . Harder, den Generaldirektor der Riggers-Werke.«

Abdurrhaman trat einen Schritt zurück, starrte Jolanthe ratlos an.

131 »Baronin . . . Baronin Jolanthe, ich verstehe Sie nicht. Aber ich kann nicht annehmen, daß Sie scherzen. Ihre Idee ist so ungeheuerlich . . . ich weiß nicht . . .«

Der Kalif schritt schwer atmend im Gemach auf und nieder.

»Sire, darf ich bitten, mit mir zu dem Apparat zu gehen.«

Der Kalif erhob sich und folgte wortlos Jolanthe.

Im Bibliothekzimmer eine schwere Truhe maurischer Arbeit. Der Kalif öffnete, schlug den Deckel hoch. Da stand das Erbe Montgomerys. Der unscheinbare Kasten, in dem das Welträtsel der Atomenergie gelöst war.

Wie von einem inneren Drange getrieben, hob Abdurrhaman den Deckel des Apparates. Seine Augen starrten wie gebannt auf das Gewirr der Drähte und Spulen. Seine Finger glitten zag, vorsichtig über die winzigen Hebel und Schrauben. Jolanthe folgte mit leisem befriedigten Lächeln jeder Bewegung des Kalifen.

»Nun möchte ich meinen Plan kurz entwickeln, Sire. Harder ist in Biarritz. Ich werde seine Bekanntschaft machen. Wir werden zusammen Ausflüge machen. Ein Ausflug geht in die Baskischen Berge. In dem immer noch unruhigen Grenzgebiet wird die Gesellschaft überfallen und auf spanisches Gebiet entführt. Derartige Überfälle mit dem Zweck, Lösegeld zu erpressen, sind dort schon mehrfach vorgekommen. Harder wird in schonendster Weise nach einem sicheren Ort gebracht. Der Apparat ist, das muß die Voraussetzung für alles andere sein, von spanischen Patrioten entwendet, um mit seiner Hilfe Spanien zu befreien! Die erforderlichen Personen für die Rollen der spanischen Patrioten werden sich finden lassen. Das alles . . . ich habe die Einzelheiten noch nicht genügend durchdacht . . . doch das ist alles nicht schwierig.

Erst wenn das erreicht ist, beginnt die Schwierigkeit. Harder und der Apparat!

. . . trotzdem . . . ich fühle es . . . ich habe die Gewißheit, daß es gelingen wird. Der Apparat wird von den sogenannten 132 spanischen Patrioten . . . es müssen sehr gewandte Leute sein, die auch einen guten Namen tragen . . . Harder in die Hand gegeben. Wie sich Harder auch sonst zu dem Bisherigen stellen mag, in dem Augenblick, wo er den Apparat Montgomerys in der Hand hat, vergißt er jedes Bedenken. Seine eigenen Arbeiten . . . ich hörte, sie sind noch weit vom Abschluß entfernt. Sein Gelehrtenehrgeiz wird der Versuchung unterliegen.

Ich sehe ihn . . . den Apparat flüchtig betrachten. Sehe ihn mit immer größer werdendem Interesse die Einzelheiten studieren, sehe ihn die Schrauben und Hebel bewegen . . . sehe ihn mit allen seinen Kräften darauf stürzen, sein Geheimnis zu lösen, ihn in Tätigkeit zu setzen . . . Und dann sehe ich . . .«

Jolanthe hatte den Oberkörper weit nach vorn geneigt und sah dem Kalifen fest in die Augen.

»Weiter! Weiter!« drängte Abdurrhaman. Erregung sprach aus seinen Zügen.

». . . sehe ich den Tag kommen, wo das Geheimnis gelöst ist, der Apparat arbeitet. Wir im Besitze der Atomenergie! . . . die Welt uns untertan!«

»Jolanthe!« Abdurrhaman rief es mit erstickter Stimme. Er beugte sich über ihre Hände, preßte seinen Mund darauf. Sie zuckte vom Kopf bis zu den Fußspitzen. Sie sah ihn mit weitgeöffneten, entrückten Augen an. Dann senkte sie die Augen nieder und blieb unbeweglich.

»Jolanthe! Wie soll ich dem Schicksal danken, das Sie mir gab. Sie müßten über Kräfte herrschen, die Ihnen gleichen. In Ihrer Nähe schwinden alle Sorgen. Keine Gefahr, kein Hindernis, das schreckt.

Sagen Sie mir, was ich für Sie tun kann!«

Er wollte sich wieder über ihre Hände beugen. Sie entriß sie ihm, trat zurück, stand da wie eine bleiche Flamme.

Mit einem heißen Blick umfing sie seine ganze Gestalt, zeigte ihm ihre unbegrenzte, flammende Leidenschaft. Sie stand 133 da, fast körperlos, ganz tiefgeheimste Seele, ihr Innerstes unverhüllt seinen Blicken preisgegeben.

Ein Schauer ging durch die Glieder des Kalifen. Er wollte sprechen. Das Wort erstarb auf seinen Lippen. Er wollte zu ihr eilen und hatte nicht die Kraft, einen Schritt zu tun . . .

Die Scheite im Kamin fielen prasselnd zusammen. Ein Funkenregen stob in das Gemach. Durch die plötzliche Unterbrechung der Stille, die wie das Ende einer Bezauberung war, aufgerüttelt, wandte er sich instinktmäßig ab.

»Kommen Sie! Wir wollen sofort das Erforderliche mit dem Fürsten besprechen.«

Schwer atmend kamen die Worte aus seinem Munde. Jolanthe lächelte mühsam. Ihr Herz klopfte gegen ihre erstarrte Brust wie ein Hammer. Dunkler Schatten umgab sie. Müden, schweren Schrittes folgte sie dem Voranschreitenden.

* * *

Ein sonniger Julimorgen in Biarritz. Auf dem breiten, flachen Badestrand und den Uferpromenaden ein mondänes Leben und Treiben. Tief stahlblau das schwach bewegte Meer. Eine leichte Brise kam von der See her, trug Kühlung durch die geöffneten Fenster und spielte mit den Vorhängen des Hotelzimmers, in dem Harder am Schreibtisch saß. Vor ihm der letzte Bericht von Warnum.

Mit einer ärgerlichen Gebärde schob er ihn beiseite. Immer wieder! Keiner von der Gesellschaft, der Mut hat. Dieses übervorsichtige, feige Herumtasten.

Fernsteuerung. Der alte Vorschlag, wie überflüssig.

Er öffnete einen zweiten Brief mit dem Stempel Madrid. Von Iversen. Hm, nun, was würde der berichten? Wahrscheinlich ebenso inhaltslos wie die früheren Berichte auch. Was war mit Eisenecker, wozu dieses Herumfahren in der Welt? Der Mensch, die Erfindung, er mußte sie vollendet haben. Das heißt, auch das Letzte, das Höchste erreicht haben. 134 Sonst! . . . Er säße sicherlich noch in seiner Heide. Ah . . . dieser Eisenecker und seine Arbeiten.

Der Barren Gold, ständig sein gleißender Glanz vor seinen Augen. Der Barren! . . . Wie ein Schlag von ungeheurer Wucht hatte ihn das getroffen. Wie ein Alp lastetete es auf ihm. Zuerst glaubte er zusammenbrechen zu müssen. Schien doch alles, was er selbst, was seine Werke in jahrelanger Arbeit geleistet hatten, dadurch mit einem Schlage wertlos. Nur schwer hatte er sich wieder aufgerichtet, durchgerungen zu dem Entschluß, die Arbeiten in Warnum weiterzuführen.

Mit tausend Gründen immer wieder hatte er sich zu beweisen versucht, daß das Verfahren Eiseneckers auf denselben Grundlagen basierte wie die Arbeiten der Riggers-Werke und die Elias Montgomerys, daß auch er mit elektromagnetischen Feldern arbeitete. Montgomery! Das Schicksal seiner Erfindung. Ein Unstern schien darüber zu schweben. Der Apparat war gestohlen, geraubt. Vom wem? . . . Wer hatte ihn? Aus welchem Grunde? Etwa um selbst damit zu arbeiten? Ausgeschlossen. Wo in der Welt gab es Physiker, die . . . ihm war keiner bekannt, der irgendwelche Aussichten gehabt hätte. Blieb also nur die Erklärung, der Zweck des Raubes war, England respektive Europa die Waffe aus der Hand zu schlagen . . . Der Gefahr, die den Riggers-Werken von Montgomerys Apparat gedroht hatte, glaubte er enthoben zu sein . . .

Aber Eisenecker . . . Das Gold, dieser verfluchte Barren, er schien allerdings der Beweis dafür, daß Eisenecker auf anderem . . . elektrostatischem Wege ans Ziel gekommen war. Und das wieder wollte und konnte Harder nicht zugeben. Schien es doch aller physikalischen Erkenntnis zu spotten.

Fast ein Menschenalter hindurch hatte er alle Möglichkeiten studiert, alle Wege zu ergründen versucht, die zum letzten Ziele, zur Gewinnung der Atomenergie, führen konnten. Das elektrostatische Verfahren unmöglich. Auch noch später, als er 135 längst auf dem Wege Elias Montgomerys schritt, hatte er doch immer wieder diese andere Möglichkeit erwogen . . . immer wieder verworfen . . . unmöglich! Der Weg war nach dem Stande der Wissenschaft für jeden ausgeschlossen. Vielleicht, daß spätere Generationen ihn einmal gehen könnten.

Der Barren . . . der verfluchte Barren! Wo kam der her? Wie war der gewonnen? Wie ein unverrückbares, unüberschreitbares Hindernis störte dieser Goldklumpen immer wieder die Schlußkette seines mathematischen, streng logischen Denkens.

Der Boy überreichte ihm eine Karte. Harder warf einen Blick darauf. Wie? Wer? Malte von Iversen? Er sprang auf, schritt selbst zur Tür, öffnete.

»Iversen, Sie hier? Eben noch las ich Ihren Bericht. Was ist! Sie haben Wichtiges zu melden, sicher, sonst undenkbar, daß Sie hier wären, Ihren Posten verlassen.«

Er schloß hinter Iversen die Tür.

»Setzen Sie sich, reden Sie!« Sein Blick hing erwartungsvoll an dem Besucher.

Iversen vermied es, Harder anzusehen. Seine Stimmung war offensichtlich nicht die beste.

»Sie erwarten etwas Wichtiges, Herr Harder. Wichtig gewiß, allerdings anders, als Sie erwarten. Um es vorwegzunehmen, Eisenecker ist bekannt, daß ich in Ihrem Auftrage ihn seit seiner Abreise überwachte.«

»Ah, wie unangenehm! . . . Ah, solche Ungeschicklichkeit! Wie war das möglich? Sie müssen die Schuld daran tragen, anders nicht denkbar. Wie konnte das passieren?«

»Gestatten Sie, daß ich dazu etwas weiter aushole. Gewiß, die Ursache bin ich, aber schuldlos.«

Iversen gab dem Generaldirektor eine Schilderung jener Vorkommnisse auf der Polizeiwache in Madrid.

»Sie sehen« schloß er, »daß irgendein Verschulden 136 meinerseits nicht vorliegt. Ein unerklärlicher, mir heute noch unbegreiflicher Zufall muß da mitgespielt haben.«

Der Generaldirektor stand auf, schritt zum Fenster. Es kochte in ihm. Auch das noch! Er stampfte mit dem Fuß auf. Unerträglich, was heute alles auf ihn einstürmte. Und dann, um seinem Ärger irgendwie Luft zu machen, wandte er sich um, ging auf Iversen zu.

»Ihre Offizierslaufbahn war ja allerdings von kurzer Dauer. Aber immerhin, so viel müßten Sie wenigstens dabei gelernt haben, daß man seinen Posten nicht verläßt, ohne Weisung des Auftraggebers. Es bestand doch für Sie die Möglichkeit, mir das per Code mitzuteilen und mir damit Gelegenheit zu geben, meine Dispositionen zu ändern, eventuell einen anderen auf den Posten zu stellen.«

Iversen erhob sich, ging langsam auf Harder zu. »Herr Harder, Herr Generaldirektor, ich dächte, Sie suchten sich einen anderen, um Ihre Mißstimmung auf den abzuladen. Ich bin mir dessen wohl bewußt, was ich tat, habe es auch reiflich bedacht. Wenn ich's tat, tat ich es in erster Linie Ihrethalben, in zweiter Linie Herrn Eiseneckers halber und dann erst meiner Person halber.«

Harder trat unwillkürlich einen Schritt zurück. »Sie! . . . Meinethalben! . . .«

»Gewiß, Herr Harder. Ich will versuchen, Ihnen meine Beweggründe auseinanderzusetzen. Sie erinnern sich, daß ich zunächst nicht geneigt war, Ihren Auftrag anzunehmen. Sie sprachen dann von dem großem Interesse, das Sie und die Riggers-Werke daran hätten, über alle Schritte, alles Tun Eiseneckers unterrichtet zu sein, wobei im Hintergrunde etwas dunkel angedeutet wurde, daß Eisenecker gegen die Vertragstreue verstoßen hätte.

Ich machte Ihnen schon damals in meinem Laienverstand Einwände, die Sie aber als belanglos verwarfen. Ich glaubte es auch.«

137 »Und welche Gründe hätten Sie heute, das nicht mehr zu glauben? Eiseneckers Gold? Dessen Herkunft? Wissen Sie etwa was Neues, was anderes darüber?«

Iversen zuckte die Achseln. »Auf welchem Wege er das geschaffen hat, weiß ich auch jetzt nicht.«

»Also, was wollen Sie dann! Welche Gründe hätten Sie?«

»Gründe . . . Ich habe Friedrich Eisenecker kennengelernt.«

»Und was weiter?«

»Weiter nichts. Ich habe ihn gesehen, habe ihn sprechen hören, das hat mir genügt, um zu der Überzeugung zu gelangen, Eisenecker ist frei von Fehl. Der Mann die Riggers-Werke schädigen!« Er schüttelte mit dem Kopf.

Harder lachte höhnisch auf. »Ah, Sie unübertrefflicher Menschenkenner, Gedankenleser. Sie sahen ihn, hörten ihn, und alles, was ich sagte, war plötzlich wertlos.«

»Eine Fragen Herr Harder, offen und ehrlich. Von Ihrer Antwort wird es abhängen, ob ich mich schuldig bekenne. Sind Sie, Herr Generaldirektor Harder, ehrlich fest überzeugt davon. daß . . .« Mit einer wütenden Gebärde unterbrach ihn Harder.

»Wie, Sie wagen es, an der Aufrichtigkeit meiner Erklärung zu zweifeln!«

»Ich wage es, Herr Harder. Das Wort des Mannes, nicht das des Industriekapitäns, des Erfinders . . . das Wort des Mannes will ich von Ihnen. Haben Sie wirklich Grund, Eisenecker zu mißtrauen? Ein Mann, ein Wort.«

Iversens Augen senkten sich fest in die des Generaldirektors. Der stand . . . hielt den Blick nicht aus. Iversen drehte sich kurz um, schritt zur Tür.

»Ich weiß genug« Er drückte sie auf, da trat ihm Mette entgegen.

»Ah, Herr von Iversen, welche Überraschung, Sie hier?« Der Gedanke an Eisenecker durchzuckte sie. War da irgend 138 etwas Wichtiges, Schlimmes oder . . . Gutes? Ihr Blick flog von Iversen zu ihrem Vater. Der stand noch da, in der Mitte des Gemaches, schwer atmend, totenblaß, die Hände zur Faust geballt.

»Was ist, Vater, Herr von Iversen, was ist?« Sie schloß die Tür, stürzte auf ihren Vater zu, umschlang ihn.

»Vater, was ist dir? Herr von Iversen, was ist hier vorgefallen? Vater, ich bitte dich, deine Aufregung, entsetzlich, beruhige dich, komm zu dir.«

Sie legte die Hände um seinen Kopf, strich ihm über die Stirn. Die war in Schweiß gebadet.

Iversen trat näher.

»Herr Generaldirektor, ich bitte Sie, verzeihen Sie mir. Die Ereignisse der letzten Tage . . . Sie werden begreifen, daß die Situation für mich über die Maßen peinlich . . . niederschmetternd für mich war. Dazu jetzt Ihre Vorwürfe . . . Ich ließ mich hinreißen . . . verzeihen Sie, was geschehen. Ich selbst begreife, entschuldige, verstehe alles.«

Er ergriff die Hand Harders, die der ihm willenlos ließ.

»Geh, Mette, laß mich allein,« stoßweise kamen die Worte aus seinem Munde, »geh mit Iversen zum Strand, ich . . . ich komme dann nach . . . komme später.«

* * *

Vom Pic d'Ory fällt der Pyrenäenstock schroff nach Norden hin ab. Jäh stürzen die Wildwasser hier in die Tiefe und liefern die Kraft für die Werke von Rallain und für die Eisengruben von Sainte Marie aux Chaines. Etwas oberhalb der Gruben ein altes verfallenes Schlößchen im Zopfstil des Rokoko. »Mon Repos« ließ sich noch mit Mühe aus den verblichenen und verwitterten Bronzelettern an der Fassade entziffern, die früher einmal im Schmucke reicher Vergoldung geglänzt hatten. Jahrzehnte hindurch hatte der Bau unbewohnt 139 gestanden, bis Eisenecker ihn für ein Billiges erwarb. Ihm war diese weltabgeschiedene Lage gerade recht. Hier konnte er ungestört am Ausbau seiner Erfindung arbeiten. Die Unsicherheit in diesem Grenzgebiete schreckte ihn nicht. Die Lage, so dicht an der maurischen Grenze, war ihm im Gegenteil gerade recht.

In dem in den Felsen eingehauenen Untergeschoß war eine kleine Werkstatt eingerichtet. An einer Werkbank Eisenecker, den Blick auf den Drehstahl gerichtet.

Die Wendeltreppe, die von oben hinunterführte, kam der Diener hinab, den ihm Gonzales beigegeben hatte. Ein alter, schnauzbärtiger Sergeant der früheren spanischen Armee. Das grimme, von Narben durchsetzte Gesicht zu einer freudigen Grimasse verzogen.

»Er ist gekommen, Señor!«

»Schon da?«

Eisenecker warf einen Hebel herum und folgte dem Alten nach oben.

»Ah, guten Abend, Don Antonio! Der Weg über die Berge? . . . Gut verlaufen?«

Der Oberst deutete lächelnd auf seinen Hut, der an einem Haken hing.

»Das Loch darin! Sonst weiter nichts.«

Gonzales warf sich in einen Stuhl und trank in langen Zügen einen Becher Alicantewein.

»Sie waren scharf hinter mir her. Ich mußte mich beeilen. Nun, einerlei! Der Zweck meiner Reise . . . ich brauchte nicht weit zu gehen, um sie zusammen zu haben . . . die hundert Getreuen, die wir brauchen. Wollte auch nicht in die Ebene steigen. Die aus den Bergen sind härter, gewandter im Gebirgskampf.

Die meisten davon schon bei den letzten Guerillas dabei! Sie alle harren, warten mit Ungeduld auf den Ruf. Keiner weiß natürlich etwas von den neuen Waffen. Es ist ihnen 140 genug, daß sie wieder einmal einen Führer haben, der sie gegen den Feind führt.

Ich selbst . . . verzeihen Sie meine Ungeduld!

Der Tag! Ich kann es nicht erwarten, bis der Tag kommt, an dem der letzte Blitz zuckt.«

Eisenecker lächelte.

»Ich verstehe Sie vollkommen, lieber Freund. Der Tag . . . – Ihr Tag . . . er ist nicht mehr fern.

Ich sehe schon das Morgenrot. Ihre Leute mögen sich rüsten!«

Der Oberst wollte sprechen. Da zuckte das elektrische Licht ein paarmal auf und erlosch. Sie saßen im Dunkeln.

»Was ist das, Don Frederego?«

»Voraussichtlich eine Störung im Kraftwerk. Ich werde meine Notbeleuchtung ein . . .«

Ehe Eisenecker den Satz vollendet, drang das dumpfe Grollen einer Explosion in den Raum.

»Was ist das, Don Frederego?«

Eisenecker hatte sich zum Schreibtisch getastet und einen Schalter bewegt. Eine Stehlampe flammte auf und erleuchtete den Raum. Sie lauschten.

* * *

Als ein reißender Bergstrom kommt der Oberlauf des Oleron vom Pic d'Ory brausend hinab, bis ihn 500 Meter über Rallain die großen eisernen Druckrohre des Kraftwerkes aufnehmen und die Wasser gebändigt hinab zu den Turbinen des Kraftwerkes führen. Während Eisenecker mit Gonzales im Gespräch saß, stand dort oben an den wirbelnden Wassern ein Mensch. Unmöglich, in der Dunkelheit sein Gesicht zu erkennen. Nur undeutlich leuchteten im Sternenlicht die weißschäumenden Wirbel, die das Wildwasser hier zum letzten Male aufwarfen, bevor es in die Rohre einströmte.

141 Der Fremde hier bewegte den Arm, warf etwas, das klatschend auf das Wasser fiel, im nächsten Moment von den Wellen ergriffen und in das erste Rohr hineingerissen wurde. Er stand und lauschte. Eine Minute . . . noch eine . . . die dritte Minute.

Aus der Tiefe des Tales drang der Donner einer Explosion nach oben. Die erste Bombe hatte ihr Ziel erreicht. Vom Wasser mitgerissen, war sie mit elementarer Gewalt gegen die Schaufeln der ersten Turbine geschleudert worden, und die Aufschlagzündung hatte gewirkt.

Noch einmal ein Wurf und dann ein dritter. Auch die beiden anderen Rohre hatten die todbringende Sendung verschluckt und führten sie mit der Schnelligkeit des stürzenden Wassers den Maschinen des Kraftwerkes zu.

Der Fremde wartete den Erfolg nicht ab. Eilig schritt er einen schmalen Pfad bergauf. Trotz der Dunkelheit verfolgte er den halsbrecherischen Steg mit einer wunderbaren Sicherheit zur maurischen Grenze hin und war schon tief in den Bergen, als das Dröhnen der nächsten Explosion sein Ohr erreichte. Die Werke von Rallain wurden gemordet. Gemordet auch die sechstausend Mann der Belegschaft in St. Marie . . .?

* * *

Eisenecker stand neben der brennenden Lampe. Noch einmal ein fernes Donnern.

»Was ist das, Don Frederego?«

Eisenecker preßte die Lippen zusammen. Lauschte, bis das Grollen einer dritten Explosion an sein Ohr drang.

»Santa Maria, was ist das, Don Frederego?«

»Ich glaube, Don Antonio, das waren drei Explosionen, durch welche die drei Maschinensätze des Kraftwerkes von Rallain zerstört wurden.«

»Zerstört? Ein Unglücksfall? Ein Verbrechen?«

142 »Sie vergessen, Don Antonio, daß wir hier nah an der maurischen Grenze sitzen.«

»Ah! Was ist das? Sie meinen also, daß maurische Hand . . .?«

»Ich nehme es an.«

»Wozu? Warum?«

Eisenecker hatte sich abgewandt. Die Frage brachte ihn selbst zur Tat.

»St. Marie aux Chaines!« Gonzales schrie es. »Die Werke vernichtet! Die Belegschaft?! Dreitausend die Schicht! Sie ist verloren. Undenkbar eine solche Schandtat! Don Frederego!«

Er war auf Eisenecker losgestürzt.

»Sie? . . . Was . . .«

»Ich werde versuchen . . .«

* * *

Drei schwere Explosionen im Kraftwerk von Rallain. Die drei großen Turbinen zerschmettert. Zerbrochen die eisernen Käfige, die das Wildwasser zwangen. Mit Gewalt brach das befreite Element sich Bahn. Schäumend und wirbelnd überschwemmte es im Augenblick alle Räume des Kraftwerkes.

Schon schrillte von den Eisengruben her das Telephon.

»Wo bleibt der Strom? Strom her! . . . Kraft her!« Der Ingenieur schrie es mehr, als er sprach.

»Unmöglich! . . . drei Explosionen . . . alle Maschinensätze zerbrochen.«

»Strom her! In Gottes Namen Strom her . . . unsere Maschinen stehen. Die ganze Belegschaft ist verloren.«

»Unmöglich . . . wir können nicht. Gott helfe euch . . .«

Der Hörer wollte dem zitternden Zecheningenieur aus der Hand sinken . . . da . . .

»Der Strom kommt!«

143 Es war eine andere . . . eine ganz fremde Stimme, die dem Ingenieur in Sainte Marie aux Chaines aus dem Apparat ans Ohr drang.

»Wer spricht dort? Wer ist da in der Leitung?«

»Ich gebe Strom für eine Stunde. Bringt die Belegschaft aus den Gruben.«

»Wer spricht dort? Wer ist dort in der Leitung?«

»Für eine Stunde nur, richtet euch danach.«

Die Stimme ließ sich nicht wieder hören. Nur verworrene Rufe von Rallain her.

Der Ingenieur in Sainte Marie umklammerte den Hörer, als wolle er ihn zerbrechen.

Eben noch warf die flackernde Kerze der Notbeleuchtung unsichere Reflexe durch den Raum. Jetzt glühten die elektrischen Lampen wieder auf. Volle Helligkeit flutete durch das Gemach. Jetzt brannten auch die großen Lampen auf dem Zechenhofe wieder.

Narrten ihn seine Sinne? Trieb jemand sein Spiel mit ihm?

Er schrie nochmal in den Apparat.

Keine Antwort mehr. Er stand starr. Die Knie wankten unter ihm. Unfähig, einen Entschluß zu fassen.

Die Muschel des Apparates noch mechanisch gegen das Ohr gepreßt. Nur das Dröhnen rauschender Wassermassen, die dort in Rallain in die Zentrale des Kraftwerkes einbrachen. Ein Gurgeln . . . ein Brausen . . . dumpf und immer dumpfer. Mit grauenhafter Deutlichkeit vernahm er hier alle Einzelheiten der Katastrophe, die sich dort oben abspielte.

Jetzt erreichten die Wasser dort oben das Mikrophon. Überschwemmten es, verdarben es. Der Apparat lag tot und stumm.

Der Ingenieur preßte die Fäuste in die Augen. Er fürchtete, wahnsinnig zu werden . . . schon zu sein. Das brennende Licht. Strom. Woher der?

144 »Eine Stunde!« hatte die unbekannte Stimme gesagt. »Eine Stunde gebe ich euch Strom.«

Seine Augen hingen an dem großen Schalthebel.

Generalalarm?

»Eine Stunde gebe ich euch Strom.« Als ob die Stimme nochmals ertönt wäre. Da riß er den Hebel herum, stürzte aus dem Raum. Dort . . . kam dort nicht ein Mann auf den Hof gestürzt . . . ein zweiter . . . ein dritter nach ihm? Leute vom Kraftwerk, die hierhergestürzt kamen. Vom rasenden Lauf erschöpft, durch die Katastrophe erschüttert und verwirrt, kamen sie daher. Mit aufgerissenem Mund, mit erhobenen Händen taumelten sie auf den Ingenieur zu.

Was ist hier? Strom? Das Kraftwerk zerstört? Von den entfesselten Wassermassen überflutet. Alles in dunkler Nacht.

Hier Kraft?! . . . Licht?! Ein unfaßbares Wunder.

Der Ingenieur lief zum nächsten Schacht. Da schnellte gerade die Förderschale empor. Aus ihren Türen entquoll der erste Satz der Belegschaft.

Der Hebel für den Generalalarm. In der Sekunde war er herumgerissen, flammten an hundert Stellen tief unten in den Graben die roten Lampen auf, schrillten die Glocken, die alles Lebendige zu den Förderschalen riefen.

Rastlos arbeiteten die Maschinen. Schwer beladen kam Korb um Korb zutage. Schwarz quoll es aus den Schächten. Schwarz wimmelte es bald auf dem Zechenhofe.

Immer größer die Menge hier, in wildem Aufruhr durcheinanderwogend, schreiend. Die Zeit verrann. Eine Viertelstunde nach der anderen. Der letzte Korb! Der letzte Mann der Belegschaft gerettet!

Wenige Minuten noch . . . die Stunde war um! Finsternis . . . tiefste Nacht. Sekundenlange Stille unter den Tausenden.

145 Ein gellender Schrei aus dem Munde des Ingenieurs durchbrach sie.

Wie vom Blitz getroffen war er zusammengebrochen.

* * *

»Ich will es versuchen!« Mit diesen Worten war Eisenecker aufgesprungen und in den Nebenraum gegangen. Der Oberst Gonzales blickte ihm erstaunt nach. Was wollte der Deutsche? Er hörte ihn sprechen . . . in das Telephon offenbar. Hörte einzelne Worte, konnte aber den Sinn nicht verstehen. Ein Lichtschein ließ ihn aufblicken. Es zuckte in den Lampen, und dann brannte das Licht wieder.

Eisenecker kam zurück.

»Also doch nur eine vorübergehende Störung im Kraftwerk, Don Frederego.«

»Nein, Señor, das Kraftwerk von Rallain ist vollkommen zerstört!«

»Unmöglich, Don Frederego . . . wie könnten dann die Lampen brennen?«

»Ich gab den Strom!«

* * *

Iversen hatte geendet. Mette, die neben ihm im Sande lag, richtete sich auf. Reichte Iversen die Hand.

»Dank, Malte, tausend Dank.« Ungehemmt ließ sie die Tränen über ihre Wangen fließen. »Seit Monaten die erste frohe Stunde. Wenn Sie wüßten, wie schwer ich litt seit dem Tage, wo ich unfreiwillig Zuhörerin Ihres Gesprächs mit meinem Vater war. Das ganze Verhalten meines Vaters . . . wie gut und schön Sie es entschuldigen. Ich selbst vermag es nicht so, vermag nicht Ihre Gründe mir zu eigen zu machen. Und auch das, was Sie über Eisenecker sagten, wie Sie ihn verteidigten . . .«

146 »Eisenecker . . . kennen Sie Friedrich Eisenecker?«

Mette wandte den Kopf zur Seite, schaute lange über die weite blaue Flache.

»Ja . . . ich kenne ihn, kenne Friedrich Eisenecker . . . Es war zu der Zeit, als Warnum aufgebaut wurde, er dort tätig war . . .«

Und dann erzählte sie ihm leise, tonlos die Geschichte jenes Sommers.

Sie hatte geendet.

»Mette«, er reichte ihr die Hand, drückte sie fest. »Alles wird noch gut werden. Diese beiden Männer, jeder eine Herrscher, eine Kraftnatur, nur erfüllt von dem Gedanken an ihre Arbeit, ihr Ziel, Gegner heute noch . . . einer, der die Segel streichen muß, einer, der Sieger sein wird . . . Eisenecker wird es sein. Bei ihm der höhere Geist, die größere Kraft, er der stärkere Mann. Und du, du wirst dem Sieger folgen, wenn er kommen wird, dich zu holen. Du vergaßest ihn nicht. Er! Der Mann, in dessen Leben die Liebe nur einmal tritt, der Mann, der nicht vergißt.« Er ergriff ihre Hand, küßte sie. »Wer könnte Mette Harder vergessen?«

»Ah, treffen wir Sie hier, wir suchten Sie so lange schon am Strande.«

Iversen schaute empor. Zwei Damen vor ihm. Mit Mühe unterdrückte er einen Ausruf des Erstaunens. Die beiden blonden Damen aus dem Villenvorort von Madrid. Mit einem Sprung war er hoch, half Mette auf.

Nur mit halbem Ohr hörte er die vorstellenden Worte Mettes. Seine Augen hingen an der jüngeren der beiden.

Modeste von Karsküll, so hieß sie also?

Jolanthes Blick ruhte lange und forschend auf ihm. Kaum, daß sie auf das Geplauder Mettes achtete, die neben ihr herschritt. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf das lebhafte Gespräch, das zwischen Iversen und Modeste sich entsponnen.

147 »Und Sie erkannten mich auch wieder, gnädigste Baronin?«

»O gewiß, Herr von Iversen. Halfen Sie mir doch so freundlich, meinen Paß zu suchen. Sie wurden auch natürlich bald entlassen.«

»Gewiß.« Es schwebte Iversen auf der Zunge, seine nochmalige Verhaftung zu erzählen, doch irgend etwas hieß ihn schweigen.

Da kam es von Jolanthes Lippen zurück.

»Ah, Sie waren auch in diesen Tagen in Madrid?«

»Jawohl, meine gnädigste Baronin, und hatte dort das Vergnügen, mit Ihrem gnädigen Fräulein Schwester auf der Straße verhaftet und zur Polizeiwache gebracht zu werden.«

»Weshalb Sie natürlich Madrid in schlechter Erinnerung haben, Herr von Iversen.«

»Nun ja,« erwiderte er lächelnd, »angenehm war meine Situation gerade nicht.«

»Nun, Sie konnten sich doch legitimieren, Sie hatten doch Ihren Paß.«

»Gewiß, aber hm . . .«

»War er nicht in Ordnung, oder als was reisten Sie?«

»Ich war . . . ich hatte einen Auftrag für ein großes deutsches Blatt, ein paar Zeitungsberichte über Madrid zu bringen und die dortigen Verhältnisse.«

»Ah, Sie sind Korrespondent, Journalist.«

»Hm, nur so mal bei Gelegenheit, nicht gerade von Beruf. Beruf . . . Mette, du weißt ja, versuchte mich so in allerlei Berufen schon.«

In lebhafter Unterhaltung erreichten sie die Strandbrücke. Hier trennten sich ihre Wege.

Beim Abschied. Jolanthe fragte:

»Sie bleiben wohl längere Zeit hier, Herr von Iversen? Werden Sie unseren Ausflug auch mitmachen?«

»Was für einen Ausflug, gnädige Baronin?«

»Ah, Sie wissen von nichts . . . Wir alle wollten morgen 148 einen Ausflug in die baskischen Berge machen zu dem berühmten Schäfer Arriava.«

»Schäfer? Arriava? Nie gehört. Was ist mit dem?«

»Nun, der Mann ist doch bekannt durch seine prophetische Gabe.«

Iversen zuckte die Achseln und verzog den Mund.

»Gnädigste Baronin, sind Sie auch sicher, daß seine Prophezeiungen nicht post festum kommen?«

»O nein, Sie irren, Herr von Iversen. Der Mann, das steht fest, hat des öfteren anderen gegenüber von der Zukunft gesprochen, die ihm in Träumen sich offenbart.«

»Und die Träume sind auch richtig in Erfüllung gegangen?! Das noch am Ende des 20. Jahrhunderts!«

»Lachen Sie nicht zu früh, Herr von Iversen. Vielleicht, daß Ihre Ungläubigkeit schneller bekehrt wird, als Sie denken.«

»Selbstverständlich, ich werde mitkommen. Wäre es auch nur, um einen schönen Stoff für einen Zeitungsbericht zu haben.«

* * *


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