Hans Dominik
Der Brand der Cheopspyramide
Hans Dominik

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Vierzig Kilometer von der friesischen Küste entfernt liegt die kleine Insel Warnum in der Nordsee. Eigentlich nur eine große Hallig. In vergangenen Jahren die Heimat einiger weniger Fischer. Dann kamen die Riggers-Werke, kauften die Insel und verlegten dorthin ihre riesigen Laboratorien für das Studium der Atomenergie.

Seit jener Zeit war das Werk auf Warnum das Lieblingskind, aber auch das Schmerzenskind des Generaldirektors Harder.

»Ich gehe auf einige Wochen nach Biarritz.« Mit diesen Worten hatte er sich neulich in Berlin von Physikern des Werkes verabschiedet. Wer von Berlin nach Biarritz will, der muß nach Süden fliegen. Warnum in der Nordsee liegt nicht an seinem Wege. Als aber die Privatjacht des Generaldirektors, die ihn und Mette nach Biarritz bringen sollte, am Bismarckdamm aufstieg und den Kiel nach Süden reckte, ergriff er das Telephon und befahl dem Piloten, den Kurs über Warnum zu nehmen und dort zu landen.

Der Gedanke, daß nicht nur der eine, der Tote, das erreicht hatte, was dort immer noch vergeblich erstrebt wurde . . . nein, weit mehr noch der andere viel quälendere, daß nun auch der zweite . . . der Lebende, es besaß, der Gedanke raubte ihm die Ruhe bei Tag und den Schlaf bei Nacht. Der Gedanke trieb ihn noch einmal hierhin, bevor er zur Erholung nach Süden flog.

Leicht senkte sich der große graue Vogel auf die leise atmende See und schwamm, bis er dicht neben der Mole von Warnum lag. Taue wurden festgemacht und Planken herangeschoben.

Und dann stand Harder zwischen seinen Physikern und Ingenieuren, die ihn längst weit im Süden wähnten. In ihrer Begleitung schritt er durch die weiten Hallen, von Station zu Station, von Prüffeld zu Prüffeld. Hörte ihre Berichte, und immer düsterer wurde sein Blick, immer faltiger seine Stirn.

»Wie stark das Feld hier?«

Der Oberingenieur warf einen kurzen Blick auf den Zeiger eines Meßinstrumentes.

»Vier Millionen Gauß, Herr Generaldirektor.«

»Zu wenig! . . . Zu wenig!« Harder stieß es zwischen den Zähnen hervor. »Die Veränderungen? Was haben Sie beobachtet? Wie verhält sich das Eisen in diesem Felde?«

»Starke Atomveränderungen, Herr Generaldirektor. Chrom, Titan, Kalzium sicher nachgewiesen. Die Heliumlinien bei der Spektraluntersuchung unverkennbar . . .«

»Das ist nicht genug, Herr Doktor. Das genügt mir nicht . . . bei weitem nicht . . . das muß ganz anders werden.«

»Herr Generaldirektor, wir haben trotz mancher . . . ich muß es offen aussprechen, recht schwerer Bedenken die Feldstärke in einem anderen Stand weitergetrieben. Dort drüben in Stand sechzehn.«

»Wie weit? . . . Wie stark ist das Feld?«

»4,2 Millionen Gauß, Herr Generaldirektor.«

»4,2 Millionen . . . und die Erfolge?«

»Der Gehalt des behandelten Eisens an dem von mir genannten Stoffe ist dort erheblich stärker. Es ist außer Zweifel, daß in diesem stärkeren Felde mehr Eisenatome aufgebrochen werden. Wir hatten dort in chemisch reinem Eisen, nachdem es fünf Minuten im Felde war, einen Chromgehalt von fünfzehn Prozent.«

»Und dann? . . . und was weiter? Was war nach zehn und zwanzig Minuten? Bitte, Herr Doktor, halten Sie mit Ihrer Wissenschaft nicht hinter dem Berge.«

»Der Chromgehalt nahm weiter langsam zu, Herr Generaldirektor. Aber nicht mehr so schnell wie in den ersten Minuten des Versuches.«

Harder schlug mit der Faust auf einen Werktisch, daß die Gläser und Retorten auf ihm durcheinanderfielen und in Splitter gingen. Die Adern seiner Stirn schwollen drohend an.

»Und das nennen Sie nach meinen Anordnungen handeln, Herr Doktor? Habe ich nicht ausdrücklich bei unserer letzten Zusammenkunft gesagt, daß wir schnell und zielbewußt weiterkommen müssen? . . . Habe ich Ihnen damals nicht die Gründe auseinandergesetzt, weswegen das für uns unter allen Umständen notwendig . . . geradezu eine Lebensfrage für die Riggers-Werke ist? Schnell und zielbewußt habe ich gesagt, Herr Doktor. Hier ist weder von Schnelligkeit noch von einem Ziel etwas zu merken.«

Der Gescholtene schwieg. Er wußte aus langer Erfahrung, daß in diesem Zustande mit dem Generaldirektor nicht gut Kirschen essen war.

»Das ist Ihre größte Feldstärke, Herr Doktor?«

»So ist es, Herr Generaldirektor.«

Harder drehte sich kurz auf dem Absatz herum und ging in das Konferenzzimmer.

»Bitte, Herr Doktor, die anderen Herren auch hierher!«

In kurzer Zeit war der ganze Stab des Warnum-Werkes um den Generalgewaltigen versammelt. Mit finsteren Blicken musterte er die Versammelten. Sie senkten den eigenen Blick davor, denn sie sahen, daß das Barometer auf Sturm stand. Dann sprach er. Rauh und abgebrochen kamen die Worte von seinen Lippen.

»Meine Herren! Für das, was ich heute hier gesehen habe, gibt es nur zwei mögliche Erklärungen. Unfähigkeit . . . oder Feigheit.«

Ein dumpfes Murren ging durch die Runde.

»Jawohl, Feigheit, meine Herren. Die Möglichkeit besteht, denn an einen solchen Grad von Unfähigkeit kann ich kaum glauben.«

Wieder wollten sie aufbegehren, und wieder traf sie ein Blick, der alles schweigen ließ.

»Ich sagte Ihnen bereits in Berlin, daß der theoretische Wert der Feldstärke bei fünf Millionen Gauß liegt. Sie haben hier die technischen Mittel, um diese Feldstärke zu erreichen. Warum wurde sie noch nicht erreicht. Bitte, Herr Doktor.« Er wandte sich an den Oberingenieur. »Bitte, Herr Doktor, wollen Sie oder will einer der anderen Herren mir darauf eine klare Antwort geben.«

Ein drückendes Schweigen. Dann raffte sich der Oberingenieur zur Antwort zusammen.

»Sie sagten selbst, Herr Generaldirektor, bei unserer letzten Konferenz in Berlin, daß Montgomery die Atomenergie vielleicht schon mit schwächeren Feldern gewonnen hat. Deshalb . . .«

»Ich sagte: vielleicht, Herr Doktor. Ich stellte es als eine entfernte Möglichkeit hin, daß sich das Ziel vielleicht schon früher erreichen ließe.

Wenn das aber nicht der Fall ist . . . und Sie sehen doch, daß es nicht der Fall war . . . dann mußten Sie eben die Feldstärken sofort erhöhen. Mit allen Mitteln erhöhen, bis die erwarteten Erscheinungen sich zeigten. Anstatt dessen tasten Sie ganz vorsichtig innerhalb sicherer Grenzen umher, in denen nichts passiert . . . nach der Theorie ja auch nichts passieren kann. Aber natürlich, die Angst um das liebe Leben . . . es könnte vielleicht schneller Energie entfesselt werden, als erwartet . . . das veranlaßt die Herren, gegen meine klaren Anweisungen zu handeln.«

Harder hatte sich bei den letzten Worten erhoben. Hoch reckte sich seine Gestalt, seine beiden Fäuste stemmten sich auf den Konferenztisch. »Wir müssen kämpfen, meine Herren, wenn wir unser Ziel erreichen wollen. Solche Kämpfe sind nicht immer ungefährlich . . .«

Eine Idee schoß ihm durch das Gehirn. Eine historische Erinnerung . . . die Anrede Friedrichs des Großen an seine Offiziere vor der Schlacht bei Leuthen.

»Meine Herren, ist etwa einer unter Ihnen, der sich scheut, diese Gefahren auf sich zu nehmen, der kann noch heute ohne jeden Tadel von mir seine Entlassung . . . oder seine Versetzung in ein anderes Werk erhalten.«

Schweigen in der Runde. Es meldete sich niemand. Nach einer langen Minute fuhr Harder fort.

»Von denen aber, die hier bleiben . . . an der großen Aufgabe weiterarbeiten wollen, von denen verlange ich, daß meine Anordnungen ohne jedes Zögern . . . ohne jede Abweichung von den gegebenen Befehlen durchgeführt werden. Die Anordnung lautet: Die theoretische Feldstärke von fünf Millionen Gauß ist schnellstens zu erreichen. Mit dieser Feldstärke sind die Arbeiten weiterzuführen. Ihren umgehenden Bericht darüber, Herr Doktor, erwarte ich in Biarritz.«

Ein kurzer herrischer Abschiedsgruß an die Versammlung. Harder schritt über die Mole seinem Flugschiff zu.

Da stand Mette im hellen Schein der Vormittagssonne im leichten Jachtkostüm. Die Hand schützend über den Augen, blickte sie nach Westen, wo dicht an der Kimme wie ein blauer Hauch die Düne von Barsum zu erkennen war. Weit zurück flogen ihre Gedanken bis zu jenem Sommer, zu jener Sturmfahrt nach Barsum, wo ihr Schicksal wurde.

Die Schritte ihres Vaters rissen sie aus dem Sinnen.

Schweigend schritt sie an der Seite des Vaters zum Flugschiff.

* * *

Fürst Iraklis stand vor dem Kalifen im Königsschlosse zu Madrid.

»Mein Herr hat Hoffnung, daß Ibn Ezer Erfolg haben wird?«

Abdurrhaman erhob sich und schritt ungeduldig hin und her.

»Die Hoffnung ist gering, Murad. Recht gering leider. Ich ließ ihn nach Fez kommen und habe ihn gehört.

Natürlich . . . ihn erfüllt ganz der Gelehrtenehrgeiz. Er wird sich die größte Mühe geben. Aber . . . und das ist das Schlimme . . . er sagte es offen, wenn nicht ein gütiges Geschick ihm zur Seite steht, wenn es ihm nicht gelingt, das Geheimnis Elias Montgomerys im ersten Angriff zu ergründen, dann wird er wahrscheinlich lange, lange Zeit brauchen.

Inzwischen ist zu befürchten, daß das Problem von anderer Seite, zum Beispiel in Deutschland, gelöst wird. Ein Teil des Erfolges wäre damit hinfällig.«

»Ich hoffe, mein Herr sieht zu schwarz. Mein Herz vertraut auf Ibn Ezer. Was er bisher geleistet hat, läßt mich auf ihn vertrauen.

Jedenfalls . . . den Vorteil hat der Streich für uns gehabt . . . wir haben die Möglichkeit, uns in absehbarer Zeit der Kräfte der Atomenergie zu bedienen, während Europa nur noch auf die Erfolge . . . die unsicheren Erfolge der Riggers-Werke hoffen darf. Das Kräfteverhältnis hat sich damit doch sehr zu unseren Gunsten verschoben.«

Abdurrhaman nickte zustimmend. Der Fürst fuhr fort:

»Wir mußten fürchten, daß es den europäischen Gelehrten, englischen und deutschen, doch in absehbarer Zeit gelingen würde, den Apparat Montgomerys in Tätigkeit zu setzen. Schon war ein englischer Regierungsantrag so gut wie beschlossen, die Gelehrten der Riggers-Werke heranzuziehen, ihnen die Lösung des Geheimnisses zu überlassen.«

Der Kalif unterbrach ihn.

»Ja, Murad! Ich weiß es. Midhat Pascha meldete es. Berichtete zu meiner großen Freude auch immer wieder, daß man in England noch nicht den leisesten Verdacht hat, daß der Apparat in unserer Hand. Das heißt, man rät, besonders in der Presse, unter den vielen Interessenten auch auf uns, aber außer diesen Vermutungen hat man nicht den geringsten greifbaren Beweis, daß wir da irgendwie im Spiele sind. Jolanthe von Karsküll hat wieder einmal gute Arbeit geleistet. Ich will sie sehen, ihr meinen Dank abstatten.«

Der Fürst warf einen Blick auf die Uhr.

»Meine Nichte dürfte zurückgekommen sein . . .

Darf ich . . .?«

»Bitte, mein lieber Fürst!«

Einen Augenblick später trat Jolanthe ein. Das Auge des Kalifen ruhte mit ungeheuchelter Bewunderung auf der hohen, stolzen Gestalt, die in dem dunkelherabfließenden Gewand gleich einem Bild in altvenezianischem Stil in dem geschnitzten Türrahmen erschien. Er eilte auf sie zu und beugte sich tief über ihre Hand.

»Wie soll ich Ihnen danken, gnädige Baronin?«

»Sire, Sie beschämen mich durch Ihre große Gnade, die ich kaum verdiene.«

»Baronin Jolanthe, Ihnen allein verdanken wir diesen Erfolg.« Der Kalif legte ihren Arm in den seinen und führte sie zu dem Sessel am Kamin. Sprach dann weiter. »Sie haben mir eine große . . . eine ungeheure Last von der Seele genommen, Baronin. Seit dem Tode Elias Montgomerys mußte ich Europa wieder fürchten. Wären die englischen Gelehrten hinter das Geheimnis des Apparates gekommen, Europa hätte das wirtschaftliche Übergewicht gehabt. Das allein schon eine schwere Gefahr für uns, der zu begegnen unmöglich. Aber nicht nur das. Die Atomenergie wird bei weiterer Entwicklung auch eine furchtbare militärische Waffe werden. Diese Waffe in der Hand Europas, und die Tage unseres militärischen Übergewichts und unserer Herrschaft in Spanien wären gezählt. Oh, ich unterschätze die Größe des Dienstes nicht, den Sie unserer Sache . . . den Sie mir erwiesen haben. Aber ich weiß nicht, wie ich Ihnen den schuldigen Dank dafür abstatten kann.«

Auf Jolanthes Wangen schien ein Widerschein des Kaminfeuers zu brennen. Mit rascher Hand schob sie den Kaminschirm zwischen sich und die Glut, ihr Antlitz damit beschattend.

»Ich danke Eurer Majestät für die liebenswürdigen Worte . . . Sie dürfen überzeugt sein, daß mir die Freude über den glücklichen Erfolg allein genügt, um mich für jede Mühe völlig zu entschädigen.«

Wieder flog es wie dunkle Glut über ihre Wangen, während sie die Worte sprach.

»Als ein geringes Zeichen meiner freundlichen Gesinnung, die ich für Sie, teuerste Baronin, im Herzen trage, will ich meine Einwilligung für eine Verbindung zwischen meinem Bruder, dem Prinzen Ahmed, und Ihrer Schwester Modeste geben.«

Ein heller Freudenschein glitt über das Gesicht Jolanthes.

»Sire, die Gnade, die so unverhofft . . .«

Sekundenlang hatte die gewohnte Selbstbeherrschung sie verlassen. Mit Mühe unterdrückte sie einen Ausdruck jubelnder Freude, vergaß ganz die Unterredung mit Modeste.

Abdurrhaman versenkte seine Blicke in die Jolanthes.

»Ich hoffe durch diese verwandtschaftlichen Bande die so herzlichen, freundlichen Beziehungen unserer Familien noch enger zu knüpfen . . . besonders Sie selbst, teuerste Baronin, noch stärker an mich zu fesseln . . . Sie, die mir so notwendig sind.«

Vergeblich versuchte Jolanthe dem Blick des Kalifen zu begegnen, darin zu lesen . . . ein flammendes Funkeln zwang sie, die Augen zu senken. Ihr Herz schlug in starken Schlägen.

»Die Mitteilung, die ich Ihnen soeben machte, Baronin Jolanthe, wollen Sie bitte als ganz vertraulich behandeln. Auch den Beteiligten gegenüber.«

Er ergriff ihre Hand und hielt sie fest in der seinen.

»Es trieb mich, wenigstens eines kleinen Teiles der Dankeslast mich zu entledigen, die mein Herz so stark beschwert. Ich will hoffen, wünschen, daß sich bald Gelegenheit finden wird, mein Herz noch stärker von der Schuld zu entlasten. Wenn das andere in Erfüllung gehen wird. Der Traum, den Apparat Montgomerys in Tätigkeit zu sehen. Dann . . .« Seine Blicke hingen fest an denen Jolanthes. Ein heißer Strom durchrann sie.

Ihre Hand zuckte. Sie entzog sie ihm.

»Hatte Ibn Ezer schon Gelegenheit, den Apparat zu sehen?«

»Noch nicht, Baronin. Er soll morgen den ersten Versuch daran machen.«

»Und wenn es ihm nicht gelingt, Sire, nicht sogleich gelingt?«

»Dann«, die Züge des Kalifen verfinsterten sich, »muß der Apparat nach Ägypten geschafft werden, wo Ibn Ezer alle Hilfsmittel zur Verfügung hat. Und dann . . . dann kann es vielleicht viele Monate dauern, bis das Geheimnis gelöst wird. Wir müssen uns bescheiden. Können wir vorläufig die Kräfte des Apparates nicht bedienen, so ist doch auch Europa die Möglichkeit verschlossen, das Geheimnis durch die Physiker der Riggers-Werke zu lösen.«

»Sollte es nicht möglich sein, Sire, den einen oder den anderen dieser Leute durch hohe Summen zu bestechen und sie zu gewinnen, für uns zu arbeiten?«

»Unmöglich! Diesen Deutschen ist mit Gold nicht beizukommen. Außerdem, die Zahl der Leute, die das Verfahren wirklich beherrschen können, ist gering. In erster Linie der Oberingenieur auf Warnum und natürlich der Generaldirektor Harder.

Der weilt übrigens zurzeit in Biarritz. Sie werden vielleicht Gelegenheit finden, ihn kennenzulernen, wenn Sie selbst demnächst nach Biarritz kommen.«

Jolanthe starrte sekundenlang in das verlöschende Kaminfeuer. Eine Idee war in ihr aufgezuckt. Als hätte sie die Gegenwart des Kalifen vergessen, warf sie sich in den Sessel zurück und schloß die Augen. Zitterndes Zucken der Gesichtsmuskeln verriet das angestrengte Nachdenken.

Abdurrhaman starrte mit verhaltenem Atem auf die Gestalt Jolanthes, die wie von hypnotischem Schlaf befallen regungslos in dem Sessel lag . . . endlich hob sich ihre Brust unter tiefen befreienden Atemstößen. Sie strich sich leicht mit den Händen über Stirn und Schläfen, ihre Augen öffneten sich, gingen suchend in die Runde, bis sie den Blick Abdurrhamans trafen. Ein stilles, leises Lächeln legte sich über ihr Gesicht. Langsam erhob sie sich, stand vor dem Kalifen.

»Ein Plan, Sire. Ein neuer Plan. Er wird vielleicht zunächst bizarr . . . unmöglich erscheinen. Aber das Unmögliche hat mich bei großen Unternehmungen stets am meisten gereizt. Eine verzweifelte Situation erheischt verzweifelte Mittel.

Das Mittel, das zu versuchen ich vorschlage, ist, ich sage es offen, verzweifelt. Schlägt es fehl, dürften die Folgen nicht angenehm sein. Aber es wird nicht fehlschlagen, es wird gelingen, muß gelingen.«

Abdurrhaman grub seine fieberhaft glänzenden Blicke in die ruhigen, entschlossenen Züge Jolanthes.

»Teuerste Baronin! Sie spannen meine Erwartungen aufs höchste. Ein Mittel! . . . Sie wissen es? . . . Doch ehe ich höre . . . ich scheue, um einen Erfolg zu erzielen, vor nichts . . . Ihre Person aber, Baronin Jolanthe, darf dabei nicht im geringsten gefährdet sein!«

Ein flüchtiges Rot schoß über Jolanthes Gesicht, ihre Blicke gingen ausweichend zur Seite.

»Die Besorgnis um meine Person, Sire . . . dürfte nach dem Plan, den ich mir erdacht, unnötig sein. Ich selbst werde ganz im Hintergrunde bleiben.«

»Dann bitte ohne Umschweife, Baronin! Ich ertrage die Spannung nicht länger. Ihr Plan ist? . . .«

»Ist . . . das Geheimnis des Apparates durch den lösen zu lassen, dem es von allen Physikern der Welt am leichtesten gelingen würde . . . durch . . . Harder, den Generaldirektor der Riggers-Werke.«

Abdurrhaman trat einen Schritt zurück, starrte Jolanthe ratlos an.

»Baronin . . . Baronin Jolanthe, ich verstehe Sie nicht. Aber ich kann nicht annehmen, daß Sie scherzen. Ihre Idee ist so ungeheuerlich . . . ich weiß nicht . . .«

Der Kalif schritt schwer atmend im Gemach auf und nieder.

»Sire, darf ich bitten, mit mir zu dem Apparat zu gehen.«

Der Kalif erhob sich und folgte wortlos Jolanthe.

Im Bibliothekzimmer eine schwere Truhe maurischer Arbeit. Der Kalif öffnete, schlug den Deckel hoch. Da stand das Erbe Montgomerys. Der unscheinbare Kasten, in dem das Welträtsel der Atomenergie gelöst war.

Wie von einem inneren Drange getrieben, hob Abdurrhaman den Deckel des Apparates. Seine Augen starrten wie gebannt auf das Gewirr der Drähte und Spulen. Seine Finger glitten zag, vorsichtig über die winzigen Hebel und Schrauben. Jolanthe folgte mit leisem befriedigten Lächeln jeder Bewegung des Kalifen.

»Nun möchte ich meinen Plan kurz entwickeln, Sire. Harder ist in Biarritz. Ich werde seine Bekanntschaft machen. Wir werden zusammen Ausflüge machen. Ein Ausflug geht in die Baskischen Berge. In dem immer noch unruhigen Grenzgebiet wird die Gesellschaft überfallen und auf spanisches Gebiet entführt. Derartige Überfälle mit dem Zweck, Lösegeld zu erpressen, sind dort schon mehrfach vorgekommen. Harder wird in schonendster Weise nach einem sicheren Ort gebracht. Der Apparat ist, das muß die Voraussetzung für alles andere sein, von spanischen Patrioten entwendet, um mit seiner Hilfe Spanien zu befreien! Die erforderlichen Personen für die Rollen der spanischen Patrioten werden sich finden lassen. Das alles . . . ich habe die Einzelheiten noch nicht genügend durchdacht . . . doch das ist alles nicht schwierig.

Erst wenn das erreicht ist, beginnt die Schwierigkeit. Harder und der Apparat!

. . . Trotzdem . . . ich fühle es . . . ich habe die Gewißheit, daß es gelingen wird. Der Apparat wird von den sogenannten spanischen Patrioten . . . es müssen sehr gewandte Leute sein, die auch einen guten Namen tragen . . . Harder in die Hand gegeben. Wie sich Harder auch sonst zu dem Bisherigen stellen mag, in dem Augenblick, wo er den Apparat Montgomerys in der Hand hat, vergißt er jedes Bedenken. Seine eigenen Arbeiten . . . ich hörte, sie sind noch weit vom Abschluß entfernt. Sein Gelehrtenehrgeiz wird der Versuchung unterliegen.

Ich sehe ihn . . . den Apparat flüchtig betrachten. Sehe ihn mit immer größer werdendem Interesse die Einzelheiten studieren, sehe ihn die Schrauben und Hebel bewegen . . . sehe ihn mit allen seinen Kräften darauf stürzen, sein Geheimnis zu lösen, ihn in Tätigkeit zu setzen . . . Und dann sehe ich . . .«

Jolanthe hatte den Oberkörper weit nach vorn geneigt und sah dem Kalifen fest in die Augen.

»Weiter! Weiter!« drängte Abdurrhaman. Erregung sprach aus seinen Zügen.

». . . sehe ich den Tag kommen, wo das Geheimnis gelöst ist, der Apparat arbeitet. Wir im Besitze der Atomenergie! . . . die Welt uns untertan!«

»Jolanthe!« Abdurrhaman rief es mit erstickter Stimme. Er beugte sich über ihre Hände, preßte seinen Mund darauf. Sie zuckte vom Kopf bis zu den Fußspitzen. Sie sah ihn mit weitgeöffneten, entrückten Augen an. Dann senkte sie die Augen nieder und blieb unbeweglich.

»Jolanthe! Wie soll ich dem Schicksal danken, das Sie mir gab. Sie müßten über Kräfte herrschen, die Ihnen gleichen. In Ihrer Nähe schwinden alle Sorgen. Keine Gefahr, kein Hindernis, das schreckt.

Sagen Sie mir, was ich für Sie tun kann!«

Er wollte sich wieder über ihre Hände beugen. Sie entriß sie ihm, trat zurück, stand da wie eine bleiche Flamme.

Mit einem heißen Blick umfing sie seine ganze Gestalt, zeigte ihm ihre unbegrenzte, flammende Leidenschaft. Sie stand da, fast körperlos, ganz tiefgeheimste Seele, ihr Innerstes unverhüllt seinen Blicken preisgegeben.

Ein Schauer ging durch die Glieder des Kalifen. Er wollte sprechen. Das Wort erstarb auf seinen Lippen. Er wollte zu ihr eilen und hatte nicht die Kraft, einen Schritt zu tun . . .

Die Scheite im Kamin fielen prasselnd zusammen. Ein Funkenregen stob in das Gemach. Durch die plötzliche Unterbrechung der Stille, die wie das Ende einer Bezauberung war, aufgerüttelt, wandte er sich instinktmäßig ab.

»Kommen Sie! Wir wollen sofort das Erforderliche mit dem Fürsten besprechen.«

Schwer atmend kamen die Worte aus seinem Munde. Jolanthe lächelte mühsam. Ihr Herz klopfte gegen ihre erstarrte Brust wie ein Hammer. Dunkler Schatten umgab sie. Müden, schweren Schrittes folgte sie dem Voranschreitenden.

* * *

Ein sonniger Julimorgen in Biarritz. Auf dem breiten, flachen Badestrand und den Uferpromenaden ein mondänes Leben und Treiben. Tief stahlblau das schwach bewegte Meer. Eine leichte Brise kam von der See her, trug Kühlung durch die geöffneten Fenster und spielte mit den Vorhängen des Hotelzimmers, in dem Harder am Schreibtisch saß. Vor ihm der letzte Bericht von Warnum.

Mit einer ärgerlichen Gebärde schob er ihn beiseite. Immer wieder! Keiner von der Gesellschaft, der Mut hat. Dieses übervorsichtige, feige Herumtasten.

Fernsteuerung. Der alte Vorschlag, wie überflüssig.

Er öffnete einen zweiten Brief mit dem Stempel Madrid. Von Iversen. Hm, nun, was würde der berichten? Wahrscheinlich ebenso inhaltslos wie die früheren Berichte auch. Was war mit Eisenecker, wozu dieses Herumfahren in der Welt? Der Mensch, die Erfindung, er mußte sie vollendet haben. Das heißt, auch das Letzte, das Höchste erreicht haben. Sonst! . . . Er säße sicherlich noch in seiner Heide. Ah . . . dieser Eisenecker und seine Arbeiten.

Der Barren Gold, ständig sein gleißender Glanz vor seinen Augen. Der Barren! . . . Wie ein Schlag von ungeheurer Wucht hatte ihn das getroffen. Wie ein Alp lastete es auf ihm. Zuerst glaubte er zusammenbrechen zu müssen. Schien doch alles, was er selbst, was seine Werke in jahrelanger Arbeit geleistet hatten, dadurch mit einem Schlage wertlos. Nur schwer hatte er sich wieder aufgerichtet, durchgerungen zu dem Entschluß, die Arbeiten in Warnum weiterzuführen.

Mit tausend Gründen immer wieder hatte er sich zu beweisen versucht, daß das Verfahren Eiseneckers auf denselben Grundlagen basierte wie die Arbeiten der Riggers-Werke und die Elias Montgomerys, daß auch er mit elektromagnetischen Feldern arbeitete. Montgomery! Das Schicksal seiner Erfindung. Ein Unstern schien darüber zu schweben. Der Apparat war gestohlen, geraubt. Vom wem? . . . Wer hatte ihn? Aus welchem Grunde? Etwa um selbst damit zu arbeiten? Ausgeschlossen. Wo in der Welt gab es Physiker, die . . . ihm war keiner bekannt, der irgendwelche Aussichten gehabt hätte. Blieb also nur die Erklärung, der Zweck des Raubes war, England respektive Europa die Waffe aus der Hand zu schlagen . . . Der Gefahr, die den Riggers-Werken von Montgomerys Apparat gedroht hatte, glaubte er enthoben zu sein . . .

Aber Eisenecker . . . Das Gold, dieser verfluchte Barren, er schien allerdings der Beweis dafür, daß Eisenecker auf anderem . . . elektrostatischem Wege ans Ziel gekommen war. Und das wieder wollte und konnte Harder nicht zugeben. Schien es doch aller physikalischen Erkenntnis zu spotten.

Fast ein Menschenalter hindurch hatte er alle Möglichkeiten studiert, alle Wege zu ergründen versucht, die zum letzten Ziele, zur Gewinnung der Atomenergie, führen konnten. Das elektrostatische Verfahren unmöglich. Auch noch später, als er längst auf dem Wege Elias Montgomerys schritt, hatte er doch immer wieder diese andere Möglichkeit erwogen . . . immer wieder verworfen . . . unmöglich! Der Weg war nach dem Stande der Wissenschaft für jeden ausgeschlossen. Vielleicht, daß spätere Generationen ihn einmal gehen könnten.

Der Barren . . . der verfluchte Barren! Wo kam der her? Wie war der gewonnen? Wie ein unverrückbares, unüberschreitbares Hindernis störte dieser Goldklumpen immer wieder die Schlußkette seines mathematischen, streng logischen Denkens.

Der Boy überreichte ihm eine Karte. Harder warf einen Blick darauf. Wie? Wer? Malte von Iversen? Er sprang auf, schritt selbst zur Tür, öffnete.

»Iversen, Sie hier? Eben noch las ich Ihren Bericht. Was ist! Sie haben Wichtiges zu melden, sicher, sonst undenkbar, daß Sie hier wären, Ihren Posten verlassen.«

Er schloß hinter Iversen die Tür.

»Setzen Sie sich, reden Sie!« Sein Blick hing erwartungsvoll an dem Besucher.

Iversen vermied es, Harder anzusehen. Seine Stimmung war offensichtlich nicht die beste.

»Sie erwarten etwas Wichtiges, Herr Harder. Wichtig gewiß, allerdings anders, als Sie erwarten. Um es vorwegzunehmen, Eisenecker ist bekannt, daß ich in Ihrem Auftrage ihn seit seiner Abreise überwachte.«

»Ah, wie unangenehm! . . . Ah, solche Ungeschicklichkeit! Wie war das möglich? Sie müssen die Schuld daran tragen, anders nicht denkbar. Wie konnte das passieren?«

»Gestatten Sie, daß ich dazu etwas weiter aushole. Gewiß, die Ursache bin ich, aber schuldlos.«

Iversen gab dem Generaldirektor eine Schilderung jener Vorkommnisse auf der Polizeiwache in Madrid.

»Sie sehen,« schloß er, »daß irgendein Verschulden meinerseits nicht vorliegt. Ein unerklärlicher, mir heute noch unbegreiflicher Zufall muß da mitgespielt haben.«

Der Generaldirektor stand auf, schritt zum Fenster. Es kochte in ihm. Auch das noch! Er stampfte mit dem Fuß auf. Unerträglich, was heute alles auf ihn einstürmte. Und dann, um seinem Ärger irgendwie Luft zu machen, wandte er sich um, ging auf Iversen zu.

»Ihre Offizierslaufbahn war ja allerdings von kurzer Dauer. Aber immerhin, so viel müßten Sie wenigstens dabei gelernt haben, daß man seinen Posten nicht verläßt, ohne Weisung des Auftraggebers. Es bestand doch für Sie die Möglichkeit, mir das per Code mitzuteilen und mir damit Gelegenheit zu geben, meine Dispositionen zu ändern, eventuell einen anderen auf den Posten zu stellen.«

Iversen erhob sich, ging langsam auf Harder zu. »Herr Harder, Herr Generaldirektor, ich dächte, Sie suchten sich einen anderen, um Ihre Mißstimmung auf den abzuladen. Ich bin mir dessen wohl bewußt, was ich tat, habe es auch reiflich bedacht. Wenn ich's tat, tat ich es in erster Linie Ihrethalben, in zweiter Linie Herrn Eiseneckers halber und dann erst meiner Person halber.«

Harder trat unwillkürlich einen Schritt zurück. »Sie! . . . Meinethalben! . . .«

»Gewiß, Herr Harder. Ich will versuchen, Ihnen meine Beweggründe auseinanderzusetzen. Sie erinnern sich, daß ich zunächst nicht geneigt war, Ihren Auftrag anzunehmen. Sie sprachen dann von dem großem Interesse, das Sie und die Riggers-Werke daran hätten, über alle Schritte, alles Tun Eiseneckers unterrichtet zu sein, wobei im Hintergrunde etwas dunkel angedeutet wurde, daß Eisenecker gegen die Vertragstreue verstoßen hätte.

Ich machte Ihnen schon damals in meinem Laienverstand Einwände, die Sie aber als belanglos verwarfen. Ich glaubte es auch.«

»Und welche Gründe hätten Sie heute, das nicht mehr zu glauben? Eiseneckers Gold? Dessen Herkunft? Wissen Sie etwa was Neues, was anderes darüber?«

Iversen zuckte die Achseln. »Auf welchem Wege er das geschaffen hat, weiß ich auch jetzt nicht.«

»Also, was wollen Sie dann! Welche Gründe hätten Sie?«

»Gründe . . . Ich habe Friedrich Eisenecker kennengelernt.«

»Und was weiter?«

»Weiter nichts. Ich habe ihn gesehen, habe ihn sprechen hören, das hat mir genügt, um zu der Überzeugung zu gelangen, Eisenecker ist frei von Fehl. Der Mann die Riggers-Werke schädigen!« Er schüttelte mit dem Kopf.

Harder lachte höhnisch auf. »Ah, Sie unübertrefflicher Menschenkenner, Gedankenleser. Sie sahen ihn, hörten ihn, und alles, was ich sagte, war plötzlich wertlos.«

»Eine Frage, Herr Harder, offen und ehrlich. Von Ihrer Antwort wird es abhängen, ob ich mich schuldig bekenne. Sind Sie, Herr Generaldirektor Harder, ehrlich fest überzeugt davon, daß . . .« Mit einer wütenden Gebärde unterbrach ihn Harder.

»Wie, Sie wagen es, an der Aufrichtigkeit meiner Erklärung zu zweifeln!«

»Ich wage es, Herr Harder. Das Wort des Mannes, nicht das des Industriekapitäns, des Erfinders . . . das Wort des Mannes will ich von Ihnen. Haben Sie wirklich Grund, Eisenecker zu mißtrauen? Ein Mann, ein Wort.«

Iversens Augen senkten sich fest in die des Generaldirektors. Der stand . . . hielt den Blick nicht aus. Iversen drehte sich kurz um, schritt zur Tür.

»Ich weiß genug.« Er drückte sie auf, da trat ihm Mette entgegen.

»Ah, Herr von Iversen, welche Überraschung, Sie hier?« Der Gedanke an Eisenecker durchzuckte sie. War da irgend etwas Wichtiges, Schlimmes oder . . . Gutes? Ihr Blick flog von Iversen zu ihrem Vater. Der stand noch da, in der Mitte des Gemaches, schwer atmend, totenblaß, die Hände zur Faust geballt.

»Was ist, Vater, Herr von Iversen, was ist?« Sie schloß die Tür, stürzte auf ihren Vater zu, umschlang ihn.

»Vater, was ist dir? Herr von Iversen, was ist hier vorgefallen? Vater, ich bitte dich, deine Aufregung, entsetzlich, beruhige dich, komm zu dir.«

Sie legte die Hände um seinen Kopf, strich ihm über die Stirn. Die war in Schweiß gebadet.

Iversen trat näher.

»Herr Generaldirektor, ich bitte Sie, verzeihen Sie mir. Die Ereignisse der letzten Tage . . . Sie werden begreifen, daß die Situation für mich über die Maßen peinlich . . . niederschmetternd für mich war. Dazu jetzt Ihre Vorwürfe . . . Ich ließ mich hinreißen . . . verzeihen Sie, was geschehen. Ich selbst begreife, entschuldige, verstehe alles.«

Er ergriff die Hand Harders, die der ihm willenlos ließ.

»Geh, Mette, laß mich allein,« stoßweise kamen die Worte aus seinem Munde, »geh mit Iversen zum Strand, ich . . . ich komme dann nach . . . komme später.«

* * *

Vom Pic d'Ory fällt der Pyrenäenstock schroff nach Norden hin ab. Jäh stürzen die Wildwasser hier in die Tiefe und liefern die Kraft für die Werke von Rallain und für die Eisengruben von Sainte Marie aux Chaines. Etwas oberhalb der Gruben ein altes verfallenes Schlößchen im Zopfstil des Rokoko. »Mon Repos« ließ sich noch mit Mühe aus den verblichenen und verwitterten Bronzelettern an der Fassade entziffern, die früher einmal im Schmucke reicher Vergoldung geglänzt hatten. Jahrzehnte hindurch hatte der Bau unbewohnt gestanden, bis Eisenecker ihn für ein Billiges erwarb. Ihm war diese weltabgeschiedene Lage gerade recht. Hier konnte er ungestört am Ausbau seiner Erfindung arbeiten. Die Unsicherheit in diesem Grenzgebiete schreckte ihn nicht. Die Lage, so dicht an der maurischen Grenze, war ihm im Gegenteil gerade recht.

In dem in den Felsen eingehauenen Untergeschoß war eine kleine Werkstatt eingerichtet. An einer Werkbank Eisenecker, den Blick auf den Drehstahl gerichtet.

Die Wendeltreppe, die von oben hinunterführte, kam der Diener hinab, den ihm Gonzales beigegeben hatte. Ein alter, schnauzbärtiger Sergeant der früheren spanischen Armee. Das grimme, von Narben durchsetzte Gesicht zu einer freudigen Grimasse verzogen.

»Er ist gekommen, Señor!«

»Schon da?«

Eisenecker warf einen Hebel herum und folgte dem Alten nach oben.

»Ah, guten Abend, Don Antonio! Der Weg über die Berge? . . . Gut verlaufen?«

Der Oberst deutete lächelnd auf seinen Hut, der an einem Haken hing.

»Das Loch darin! Sonst weiter nichts.«

Gonzales warf sich in einen Stuhl und trank in langen Zügen einen Becher Alicantewein.

»Sie waren scharf hinter mir her. Ich mußte mich beeilen. Nun, einerlei! Der Zweck meiner Reise . . . ich brauchte nicht weit zu gehen, um sie zusammen zu haben . . . die hundert Getreuen, die wir brauchen. Wollte auch nicht in die Ebene steigen. Die aus den Bergen sind härter, gewandter im Gebirgskampf.

Die meisten davon schon bei den letzten Guerillas dabei! Sie alle harren, warten mit Ungeduld auf den Ruf. Keiner weiß natürlich etwas von den neuen Waffen. Es ist ihnen genug, daß sie wieder einmal einen Führer haben, der sie gegen den Feind führt.

Ich selbst . . . verzeihen Sie meine Ungeduld!

Der Tag! Ich kann es nicht erwarten, bis der Tag kommt, an dem der letzte Blitz zuckt.«

Eisenecker lächelte.

»Ich verstehe Sie vollkommen, lieber Freund. Der Tag . . . Ihr Tag . . . er ist nicht mehr fern.

Ich sehe schon das Morgenrot. Ihre Leute mögen sich rüsten!«

Der Oberst wollte sprechen. Da zuckte das elektrische Licht ein paarmal auf und erlosch. Sie saßen im Dunkeln.

»Was ist das, Don Frederego?«

»Voraussichtlich eine Störung im Kraftwerk. Ich werde meine Notbeleuchtung ein . . .«

Ehe Eisenecker den Satz vollendet, drang das dumpfe Grollen einer Explosion in den Raum.

»Was ist das, Don Frederego?«

Eisenecker hatte sich zum Schreibtisch getastet und einen Schalter bewegt. Eine Stehlampe flammte auf und erleuchtete den Raum. Sie lauschten.

* * *

Als ein reißender Bergstrom kommt der Oberlauf des Oleron vom Pic d'Ory brausend hinab, bis ihn 500 Meter über Rallain die großen eisernen Druckrohre des Kraftwerkes aufnehmen und die Wasser gebändigt hinab zu den Turbinen des Kraftwerkes führen. Während Eisenecker mit Gonzales im Gespräch saß, stand dort oben an den wirbelnden Wassern ein Mensch. Unmöglich, in der Dunkelheit sein Gesicht zu erkennen. Nur undeutlich leuchteten im Sternenlicht die weißschäumenden Wirbel, die das Wildwasser hier zum letzten Male aufwarfen, bevor es in die Rohre einströmte.

Der Fremde hier bewegte den Arm, warf etwas, das klatschend auf das Wasser fiel, im nächsten Moment von den Wellen ergriffen und in das erste Rohr hineingerissen wurde. Er stand und lauschte. Eine Minute . . . noch eine . . . die dritte Minute.

Aus der Tiefe des Tales drang der Donner einer Explosion nach oben. Die erste Bombe hatte ihr Ziel erreicht. Vom Wasser mitgerissen, war sie mit elementarer Gewalt gegen die Schaufeln der ersten Turbine geschleudert worden, und die Aufschlagzündung hatte gewirkt.

Noch einmal ein Wurf und dann ein dritter. Auch die beiden anderen Rohre hatten die todbringende Sendung verschluckt und führten sie mit der Schnelligkeit des stürzenden Wassers den Maschinen des Kraftwerkes zu.

Der Fremde wartete den Erfolg nicht ab. Eilig schritt er einen schmalen Pfad bergauf. Trotz der Dunkelheit verfolgte er den halsbrecherischen Steg mit einer wunderbaren Sicherheit zur maurischen Grenze hin und war schon tief in den Bergen, als das Dröhnen der nächsten Explosion sein Ohr erreichte. Die Werke von Rallain wurden gemordet. Gemordet auch die sechstausend Mann der Belegschaft in St. Marie . . .?

* * *

Eisenecker stand neben der brennenden Lampe. Noch einmal ein fernes Donnern.

»Was ist das, Don Frederego?«

Eisenecker preßte die Lippen zusammen. Lauschte, bis das Grollen einer dritten Explosion an sein Ohr drang.

»Santa Maria, was ist das, Don Frederego?«

»Ich glaube, Don Antonio, das waren drei Explosionen, durch welche die drei Maschinensätze des Kraftwerkes von Rallain zerstört wurden.«

»Zerstört? Ein Unglücksfall? Ein Verbrechen?«

»Sie vergessen, Don Antonio, daß wir hier nah an der maurischen Grenze sitzen.«

»Ah! Was ist das? Sie meinen also, daß maurische Hand . . .?«

»Ich nehme es an.«

»Wozu? Warum?«

Eisenecker hatte sich abgewandt. Die Frage brachte ihn selbst zur Tat.

»St. Marie aux Chaines!« Gonzales schrie es. »Die Werke vernichtet! Die Belegschaft?! Dreitausend die Schicht! Sie ist verloren. Undenkbar eine solche Schandtat! Don Frederego!«

Er war auf Eisenecker losgestürzt.

»Sie? . . . Was . . .«

»Ich werde versuchen . . .«

* * *

Drei schwere Explosionen im Kraftwerk von Rallain. Die drei großen Turbinen zerschmettert. Zerbrochen die eisernen Käfige, die das Wildwasser zwangen. Mit Gewalt brach das befreite Element sich Bahn. Schäumend und wirbelnd überschwemmte es im Augenblick alle Räume des Kraftwerkes.

Schon schrillte von den Eisengruben her das Telephon.

»Wo bleibt der Strom? Strom her! . . . Kraft her!« Der Ingenieur schrie es mehr, als er sprach.

»Unmöglich! . . . drei Explosionen . . . alle Maschinensätze zerbrochen.«

»Strom her! In Gottes Namen Strom her . . . unsere Maschinen stehen. Die ganze Belegschaft ist verloren.«

»Unmöglich . . . wir können nicht. Gott helfe euch . . .«

Der Hörer wollte dem zitternden Zecheningenieur aus der Hand sinken . . . da . . .

»Der Strom kommt!«

Es war eine andere . . . eine ganz fremde Stimme, die dem Ingenieur in Sainte Marie aux Chaines aus dem Apparat ans Ohr drang.

»Wer spricht dort? Wer ist da in der Leitung?«

»Ich gebe Strom für eine Stunde. Bringt die Belegschaft aus den Gruben.«

»Wer spricht dort? Wer ist dort in der Leitung?«

»Für eine Stunde nur, richtet euch danach.«

Die Stimme ließ sich nicht wieder hören. Nur verworrene Rufe von Rallain her.

Der Ingenieur in Sainte Marie umklammerte den Hörer, als wolle er ihn zerbrechen.

Eben noch warf die flackernde Kerze der Notbeleuchtung unsichere Reflexe durch den Raum. Jetzt glühten die elektrischen Lampen wieder auf. Volle Helligkeit flutete durch das Gemach. Jetzt brannten auch die großen Lampen auf dem Zechenhofe wieder.

Narrten ihn seine Sinne? Trieb jemand sein Spiel mit ihm?

Er schrie nochmal in den Apparat.

Keine Antwort mehr. Er stand starr. Die Knie wankten unter ihm. Unfähig, einen Entschluß zu fassen.

Die Muschel des Apparates noch mechanisch gegen das Ohr gepreßt. Nur das Dröhnen rauschender Wassermassen, die dort in Rallain in die Zentrale des Kraftwerkes einbrachen. Ein Gurgeln . . . ein Brausen . . . dumpf und immer dumpfer. Mit grauenhafter Deutlichkeit vernahm er hier alle Einzelheiten der Katastrophe, die sich dort oben abspielte.

Jetzt erreichten die Wasser dort oben das Mikrophon. Überschwemmten es, verdarben es. Der Apparat lag tot und stumm.

Der Ingenieur preßte die Fäuste in die Augen. Er fürchtete, wahnsinnig zu werden . . . schon zu sein. Das brennende Licht. Strom. Woher der?

»Eine Stunde!« hatte die unbekannte Stimme gesagt. »Eine Stunde gebe ich euch Strom.«

Seine Augen hingen an dem großen Schalthebel.

Generalalarm?

»Eine Stunde gebe ich euch Strom.« Als ob die Stimme nochmals ertönt wäre. Da riß er den Hebel herum, stürzte aus dem Raum. Dort . . . kam dort nicht ein Mann auf den Hof gestürzt . . . ein zweiter . . . ein dritter nach ihm? Leute vom Kraftwerk, die hierhergestürzt kamen. Vom rasenden Lauf erschöpft, durch die Katastrophe erschüttert und verwirrt, kamen sie daher. Mit aufgerissenem Mund, mit erhobenen Händen taumelten sie auf den Ingenieur zu.

Was ist hier? Strom? Das Kraftwerk zerstört? Von den entfesselten Wassermassen überflutet. Alles in dunkler Nacht.

Hier Kraft?! . . . Licht?! Ein unfaßbares Wunder.

Der Ingenieur lief zum nächsten Schacht. Da schnellte gerade die Förderschale empor. Aus ihren Türen entquoll der erste Satz der Belegschaft.

Der Hebel für den Generalalarm. In der Sekunde war er herumgerissen, flammten an hundert Stellen tief unten in den Gruben die roten Lampen auf, schrillten die Glocken, die alles Lebendige zu den Förderschalen riefen.

Rastlos arbeiteten die Maschinen. Schwer beladen kam Korb um Korb zutage. Schwarz quoll es aus den Schächten. Schwarz wimmelte es bald auf dem Zechenhofe.

Immer größer die Menge hier, in wildem Aufruhr durcheinanderwogend, schreiend. Die Zeit verrann. Eine Viertelstunde nach der anderen. Der letzte Korb! Der letzte Mann der Belegschaft gerettet!

Wenige Minuten noch . . . die Stunde war um! Finsternis . . . tiefste Nacht. Sekundenlange Stille unter den Tausenden.

Ein gellender Schrei aus dem Munde des Ingenieurs durchbrach sie.

Wie vom Blitz getroffen war er zusammengebrochen.

* * *

»Ich will es versuchen!« Mit diesen Worten war Eisenecker aufgesprungen und in den Nebenraum gegangen. Der Oberst Gonzales blickte ihm erstaunt nach. Was wollte der Deutsche? Er hörte ihn sprechen . . . in das Telephon offenbar. Hörte einzelne Worte, konnte aber den Sinn nicht verstehen. Ein Lichtschein ließ ihn aufblicken. Es zuckte in den Lampen, und dann brannte das Licht wieder.

Eisenecker kam zurück.

»Also doch nur eine vorübergehende Störung im Kraftwerk, Don Frederego.«

»Nein, Señor, das Kraftwerk von Rallain ist vollkommen zerstört!«

»Unmöglich, Don Frederego . . . wie könnten dann die Lampen brennen?«

»Ich gab den Strom!«

* * *

Iversen hatte geendet. Mette, die neben ihm im Sande lag, richtete sich auf. Reichte Iversen die Hand.

»Dank, Malte, tausend Dank.« Ungehemmt ließ sie die Tränen über ihre Wangen fließen. »Seit Monaten die erste frohe Stunde. Wenn Sie wüßten, wie schwer ich litt seit dem Tage, wo ich unfreiwillig Zuhörerin Ihres Gesprächs mit meinem Vater war. Das ganze Verhalten meines Vaters . . . wie gut und schön Sie es entschuldigen. Ich selbst vermag es nicht so, vermag nicht Ihre Gründe mir zu eigen zu machen. Und auch das, was Sie über Eisenecker sagten, wie Sie ihn verteidigten . . .«

»Eisenecker . . . kennen Sie Friedrich Eisenecker?«

Mette wandte den Kopf zur Seite, schaute lange über die weite blaue Fläche.

»Ja . . . ich kenne ihn, kenne Friedrich Eisenecker . . . Es war zu der Zeit, als Warnum aufgebaut wurde, er dort tätig war . . .«

Und dann erzählte sie ihm leise, tonlos die Geschichte jenes Sommers.

Sie hatte geendet.

»Mette«, er reichte ihr die Hand, drückte sie fest. »Alles wird noch gut werden. Diese beiden Männer, jeder eine Herrscher-, eine Kraftnatur, nur erfüllt von dem Gedanken an ihre Arbeit, ihr Ziel, Gegner heute noch . . . einer, der die Segel streichen muß, einer, der Sieger sein wird . . . Eisenecker wird es sein. Bei ihm der höhere Geist, die größere Kraft, er der stärkere Mann. Und du, du wirst dem Sieger folgen, wenn er kommen wird, dich zu holen. Du vergaßest ihn nicht. Er! Der Mann, in dessen Leben die Liebe nur einmal tritt, der Mann, der nicht vergißt.« Er ergriff ihre Hand, küßte sie. »Wer könnte Mette Harder vergessen?«

»Ah, treffen wir Sie hier, wir suchten Sie so lange schon am Strande.«

Iversen schaute empor. Zwei Damen vor ihm. Mit Mühe unterdrückte er einen Ausruf des Erstaunens. Die beiden blonden Damen aus dem Villenvorort von Madrid. Mit einem Sprung war er hoch, half Mette auf.

Nur mit halbem Ohr hörte er die vorstellenden Worte Mettes. Seine Augen hingen an der jüngeren der beiden.

Modeste von Karsküll, so hieß sie also?

Jolanthes Blick ruhte lange und forschend auf ihm. Kaum, daß sie auf das Geplauder Mettes achtete, die neben ihr herschritt. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf das lebhafte Gespräch, das zwischen Iversen und Modeste sich entsponnen.

»Und Sie erkannten mich auch wieder, gnädigste Baronin?«

»O gewiß, Herr von Iversen. Halfen Sie mir doch so freundlich, meinen Paß zu suchen. Sie wurden auch natürlich bald entlassen.«

»Gewiß.« Es schwebte Iversen auf der Zunge, seine nochmalige Verhaftung zu erzählen, doch irgend etwas hieß ihn schweigen.

Da kam es von Jolanthes Lippen zurück.

»Ah, Sie waren auch in diesen Tagen in Madrid?«

»Jawohl, meine gnädigste Baronin, und hatte dort das Vergnügen, mit Ihrem gnädigen Fräulein Schwester auf der Straße verhaftet und zur Polizeiwache gebracht zu werden.«

»Weshalb Sie natürlich Madrid in schlechter Erinnerung haben, Herr von Iversen.«

»Nun ja,« erwiderte er lächelnd, »angenehm war meine Situation gerade nicht.«

»Nun, Sie konnten sich doch legitimieren, Sie hatten doch Ihren Paß.«

»Gewiß, aber hm . . .«

»War er nicht in Ordnung, oder als was reisten Sie?«

»Ich war . . . ich hatte einen Auftrag für ein großes deutsches Blatt, ein paar Zeitungsberichte über Madrid zu bringen und die dortigen Verhältnisse.«

»Ah, Sie sind Korrespondent, Journalist.«

»Hm, nur so mal bei Gelegenheit, nicht gerade von Beruf. Beruf . . . Mette, du weißt ja, versuchte mich so in allerlei Berufen schon.«

In lebhafter Unterhaltung erreichten sie die Strandbrücke. Hier trennten sich ihre Wege.

Beim Abschied. Jolanthe fragte:

»Sie bleiben wohl längere Zeit hier, Herr von Iversen? Werden Sie unseren Ausflug auch mitmachen?«

»Was für einen Ausflug, gnädige Baronin?«

»Ah, Sie wissen von nichts . . . Wir alle wollten morgen einen Ausflug in die baskischen Berge machen zu dem berühmten Schäfer Arriava.«

»Schäfer? Arriava? Nie gehört. Was ist mit dem?«

»Nun, der Mann ist doch bekannt durch seine prophetische Gabe.«

Iversen zuckte die Achseln und verzog den Mund.

»Gnädigste Baronin, sind Sie auch sicher, daß seine Prophezeiungen nicht post festum kommen?«

»O nein, Sie irren, Herr von Iversen. Der Mann, das steht fest, hat des öfteren anderen gegenüber von der Zukunft gesprochen, die ihm in Träumen sich offenbart.«

»Und die Träume sind auch richtig in Erfüllung gegangen?! Das noch am Ende des 20. Jahrhunderts!«

»Lachen Sie nicht zu früh, Herr von Iversen. Vielleicht, daß Ihre Ungläubigkeit schneller bekehrt wird, als Sie denken.«

»Selbstverständlich, ich werde mitkommen. Wäre es auch nur, um einen schönen Stoff für einen Zeitungsbericht zu haben.«

* * *

Am 18. August brachten die europäischen Zeitungen an hervorragender Stelle die folgende Nachricht:

Bern, den 17. August. Heute vormittag um 11,30 Uhr begab sich der maurische Geschäftsträger zum Minister des Äußeren und übergab dem Minister die nachstehende Note:

Die Regierung Seiner scherifischen Majestät lehnt es ab, der Einladung zu einer neuen Versammlung der römischen Konferenz Folge zu leisten. Nach dem bisherigen Verlauf dieser Verhandlungen kann die Regierung Seiner scherifischen Majestät nicht zu der Überzeugung gelangen, daß die Wiederaufnahme zu einem glücklichen Resultat führt.

Sie kann sich der Ansicht nicht verschließen, daß auf europäischer Seite der ernsthafte Wille fehlt, den Verhandlungen einen Abschluß zu geben, der die völlige Wiederherstellung freundschaftlicher Beziehungen zwischen den beteiligten Staaten gestattet.

Die offizielle Telegraphenagentur meldet hierzu eine Stunde später:

Die Erklärung Mauretaniens kommt der europäischen Staatsregierung völlig überraschend. Die europäische Regierung wird nicht verfehlen, bei der mauretanischen Regierung Aufklärung zu fordern. Es erscheint der europäischen Staatsregierung undenkbar, daß die mauretanische Regierung damit die ständige Besetzung Nordspaniens oder gar die Annexion aussprechen will.

Kurz vor Schluß der Redaktion ging folgendes Manuskript der Telegraphenagentur ein:

Die Notiz eines hiesigen Mittagsblattes, daß die so plötzlich veränderte Sprache der scherifischen Regierung aller Wahrscheinlichkeit nach darauf zurückzuführen sei, daß der englische Apparat von maurischer Seite geraubt sei und sich im Besitz der maurischen Regierung befindet, dürfte jeder Begründung entbehren.

Am nächsten Tag ein neues Telegramm der offiziellen Agentur:

Die gestrige Abendmeldung der Agentur ist leider durch einen Übertragungsfehler entstellt worden. Die Erklärung der Agentur lautet natürlich:

Die Behauptung, daß der englische Apparat in maurischer Hand sei, entbehrt jeder Begründung.

* * *

Der starke Kraftwagen Harders rollte die Landstraße entlang, die von Bayonne aus dem Laufe der Nive folgt. In hundert Windungen und Krümmungen eilt der reißende Bergstrom zu Tale, bis er dicht bei Biarritz das Meer erreicht. Bald zu seiner Rechten, bald zu seiner Linken, ihn oft auf kühnen Brückenbogen überschreitend, dringt die Straße in das Gebiet der Hochpyrenäen ein. Majestätische Berge zu beiden Seiten des Weges. Die Gipfel schon stellenweise mit ewigem Schnee bedeckt. Tief unten im Tal grünglasig schimmernd die wirbelnden Wasser der Nive. Über dem Ganzen der Azurhimmel Südfrankreichs. Bezaubernd die Landschaft, verlockend die Fahrt.

Im breiten Fond des Wagens Mette Harder. Zu ihrer Rechten Modeste von Karsküll. Auf den Vordersitzen Harder und Iversen.

Enger wurde jetzt das Tal. Steiler und schroffer traten die Gebirge zusammen, in schäumenden Kaskaden stürzten die Wasser der Nive über gewaltige Felsblöcke.

Iversen warf einen Blick auf die Uhr.

»Noch etwa zehn Minuten, Herr Harder, dann dürften wir am Ziele sein. Ich bin neugierig, was der Wundermann uns erzählen wird.«

Harder kräuselte spöttisch die Lippen.

»Dieser Besuch ist eine Laune meiner Tochter, Herr von Iversen. Noch genauer gesagt, eine Idee der älteren Baronin von Karsküll. Die Baronin machte zuerst den Vorschlag. Sie erzählte so viel von dem Wundermann, bis auch Mette ihn durchaus kennenlernen wollte. Und als sie mich dann endlich breitgeschlagen hatten, als der Ausflug beschlossen war und der Wagen vor der Tür stand, hielt sie ein wichtiges Telegramm in Biarritz zurück. Erbschaftsangelegenheiten, wenn ich richtig verstand. Die beiden anderen Damen wollten den Ausflug nicht aufgeben. Meinetwegen. Ich für meine Person habe für diese modernen Propheten und Wundertäter sehr wenig übrig.«

Iversen zog ein Zeitungsblatt hervor.

»Es kann doch ganz interessant werden, Herr Harder. Haben Sie den letzten Aufsatz im Mirroir de Bayonne gesehen?«

Er faltete das Blatt auseinander und deutete auf eine fettgedruckte Überschrift: Arriava, der wunderbare Seher von St. Jean le Miracle.

Harder lachte.

»Warum schreiben sie nicht lieber der wunderbare Schäfer. Ich habe es mir in Biarritz sagen lassen. Es ist ein alter verschrumpfter Baske, der hier oben in der Nähe von St. Jean seine Schafe hütet und daneben den Leuten allerlei unkontrollierbare Sachen erzählt.«

Iversen gab seiner abweichenden Meinung Ausdruck.

»Ich glaube, Herr Harder, so einfach läßt sich die Sache doch nicht abtun. Der Aufsatz hier führt eine Reihe von Fällen an, in denen die Prophezeiungen des Mannes ganz merkwürdig eingetroffen sind.«

»Mir fehlt der Sinn für solche Dinge, Iversen. Das zweite Gesicht. In meiner westfälischen Heimat spukt das schon immer.«

Er machte eine abweisende Handbewegung. Iversen lachte.

»Warten wir es ab, Herr Harder, vielleicht gelingt es dem Sieur Arriava, Sie zu bekehren.«

Nach einer letzten steilen Serpentine erreichte der Wagen St. Jean und hielt auf einem kleinen Platz zwischen den wenigen Häusern des Fleckens.

Ein Eingeborener wies ihnen den Weg, einen schmalen, steinigen Fußpfad den Berghang hinan. Sie mußten hintereinander gehen, sorgfältig auf den Weg achten, um nicht fehlzutreten. Dazu die Hitze des Augusttages. Öfter als einmal blieb Harder stehen und trocknete sich die Stirn. Jetzt endlich war das Ziel erreicht. Eine ärmliche Hütte, roh aus aufeinandergeschichteten Feldsteinen errichtet. Ein fließender Brunnen daneben, der seinen Strahl in eine steinerne Tränke fallen ließ. Weidende Schafe an den Hängen. Ein Hund, der sie umsprang.

Auf der Bank vor der Hütte ein steinalter Mann. Bastsandalen an den Füßen, die Unterschenkel mit Fellen und Riemen umschnürt, den breiten baskischen Hut auf dem Kopf, einen verwitterten ausgeblichenen Mantel trotz der Sommerhitze um die Schultern.

Iversen trat näher und grüßte in französischer Sprache. Regungslos, wie geistesabwesend blieb der Alte sitzen. Nur ein paar unverständliche baskische Worte kamen von seinen Lippen. Harder zuckte die Achseln.

»Unsere Expedition läßt sich nicht sehr aussichtsvoll an, Iversen.«

Noch bevor Iversen antworten konnte, trat ein jüngerer Mann aus der Hütte. Auch er in der Hirtentracht der Basken. Der sprach ein erträgliches, wenn auch mit zahlreichen baskischen Worten gemischtes Französisch.

»Sie wünschen zu hören, was Arriava Ihnen zu sagen hat. Sie müssen einzeln an ihn herantreten, ihm in die Augen sehen . . .«

Wer sollte der erste sein, der es unternahm? Ein Streit erhob sich in der Gesellschaft. Keiner wollte. Iversen versuchte ihn zu schlichten.

»Die Damen zuerst! Bitte, gnädige Baronin, bitte, gnädiges Fräulein, wer von Ihnen will den Vortritt nehmen.«

Auch hier noch ein kurzer Streit, bis Modeste von Karsküll entschlossen vortrat. Sie versuchte den Alten anzuschauen und sah in leere, glanzlose Augen, die wesenlos über sie hinwegblickten. Wohl eine Minute stand sie, dann begannen die Lippen des Greises sich zu bewegen. Baskische Worte. Der Jüngere daneben übertrug sie in das Französische.

»Ein Großer . . . ein Mächtiger . . . dunkel sein Gesicht. Er begehrt dich. Du fliehst ihn. Er läßt dich nicht. Hüte dich, wenn dein Weg sich wieder mit dem seinen kreuzt.

Gefahren werden dich umgeben. Dann wird er kommen, der dich aus den Flammen löst. Ihm wirst du folgen . . .«

Der Alte schwieg. Vergebens wartete Modeste von Karsküll, vergebens warteten die anderen auf ein weiteres Wort.

Harder lachte leise in seinen Bart.

»Jungen Mädchen die Myrthe zu versprechen . . . dazu bedarf es keiner besonderen Sehergabe. Bitte, Mette, laß dir die Gelegenheit nicht entgehen. Laß dir auch den Myrthenkranz versprechen.«

Mette Harder trat vor den Alten hin, sah und blickte auch in dieses tote Auge.

Die Antwort kam schnell und war kurz.

». . . eine blühende Myrthe . . .«

»Bravo! Gut gemacht, alter Schäfer!« Harder lachte es heraus.

Mette hängte sich an den Vater, eine helle Röte auf ihren Wangen.

»Nun du, Vater! Jetzt mußt du! Du bist der nächste.«

Mit leichtem Zwange schob Mette ihren Vater vor den Alten hin. Einmal in diese Stellung gedrängt, versuchte Harder, dem Schäfer in die Augen zu sehen. Jetzt eben noch glanzlos leer, jetzt wieder ein kurzes Blitzen darin.

»Ich sehe ein Feuer. Ein großes Feuer auf dem Meer. Es brennt . . . es kocht . . . es verschwindet . . .«

Langsam Wort für Wort wiederholte der Jüngere französisch, was der Alte in baskischen Lauten sprach. Harder war erblaßt.

»Weiter! Weiter . . . Continuez!« Er stieß es hervor. Der Alte sprach langsam weiter, der Jüngere verdolmetschte.

»Ein anderes Feuer, ein großes Feuer im Süden.«

Vergebens wartete Harder auf mehr. Der Alte war zu Ende.

Als letzter blieb Iversen. Der trat jetzt vor, tat wie die anderen, blickte den Alten an. Aber der hatte die Augen geschlossen. Sah Iversen nicht mehr, sprach wie im Traume weiter.

»Ich sehe . . . ich sehe Krieger von den Bergen steigen . . . ich sehe Flucht . . . Flucht nach Süden . . . sie fliehen . . . sie fliehen über das Meer . . .«

Er wollte noch weitersprechen. Da, ein furchtbarer Krach, dem langrollender Donner folgte. Alle waren zusammengefahren.

Was war das? Kein Wölkchen am Horizont. Stahlblau der Himmel. Ein Gewitter? Eine atmosphärische Entladung oder eine Explosion? . . . Eine Sprengung?

* * *

Eisenecker und Gonzales schritten der Grenze zu.

»Hoffentlich ist die Luft rein, Don Antonio. Ich fürchte . . . Ihre häufigen Besuche bei mir . . . einmal werden Sie den Grenzwächtern doch in die Hände fallen.«

»Keine Angst! Ein Hirt zeigte mir einen neuen Pfad. Zwar etwas halsbrecherisch, aber unbedingt sicher. Doch wie wäre es jetzt?«

Er sah sich um.

»Wir sind weit genug von ›Mon Repos‹ und bewohnten Gegenden entfernt. Die Probe, die Sie mir versprachen!«

»Ich bin bereit! Ein Ziel!«

Er schaute sich um. »Wo wäre eins?«

Der Oberst suchte mit einem Feldstecher die Gebirgshänge ab.

»Da! Dort! Die Felswand! Sie liegt in vollem Sonnenlicht. Eine Bergziege weidet daran . . . Dort . . . zu weit! Unmöglich, ein Geschoß zielsicher dort hinzutragen.«

Eisenecker nahm den Feldstecher, sah nach der Wand. Ließ das Glas sinken.

»Zu weit! Können Sie immer noch nicht verstehen, Don Antonio, daß dieses Wort für meine Waffe nicht gilt? Nehmen Sie das Glas, sehen Sie dorthin.«

Er selbst nahm ein Militärgewehr von der Schulter, lud es mit einer Patrone, die sich äußerlich in nichts von der üblichen Munition unterschied.

»Jetzt passen Sie auf!«

Er legte an.

»Nun, was wollen Sie tun?«

Gonzales trat neben ihn. »Die Ziege für das bloße Auge unerkennbar! Selbst im Glas nur ein winziger Punkt.«

»Winzig? Eine Fläche von hundertsechzigtausend Quadratmeter? Die ungefähre Mitte davon! Es genügt.«

Er legte das Gewehr an, zielte lange, schoß. Der kurze blecherne Ton des Mündungsknalles. Sekunden verstrichen . . . Da blitzte es dort drüben an der Felswand auf. Sekundenlang stand sie in bläulichem Feuer.

»Die Ziege! Sie stürzt!« Gonzales schrie es, das Glas an die Augen gepreßt. »Schon unten am Hang! Da! Sie prallt auf! Stürzt in den Abgrund.«

Er wollte sich zu Eisenecker wenden, als ein krachender Donner ihn zusammenfahren ließ. Es war derselbe Donner, der die Besucher vor der Hütte des Schäfers Arriava so jäh erschreckte.

* * *

»Da drüben an der Felswand!« Iversen deutete zu dem Berghang im Süden. »Da drüben war's! Ich sah plötzlich einen bläulichen Schimmer darübergebreitet. Zuckte wie Blitz . . . nach allen Seiten!«

Harder wandte sich an den jungen Hirten.

»Ist dort eine Grube? . . . Ein Steinbruch? Wird dort gesprengt?«

Der schüttelte verständnislos den Kopf.

»Nichts! Da drüben ist unzugängliches Gebirge, wo keines Menschen Fuß hinkommt.«

Harder schüttelte den Kopf.

»Sonderbar das alles!« Dann, als wolle er sich von allem Grübeln freimachen:

»Kommt! Wir wollen weiter. Noch ein ganzes Stück zur Kapelle von St. Jean.«

Sie mußten den schmalen Weg wieder ein Stück hinabsteigen, um einen breiteren Seitenweg zu erreichen, der zur Kapelle St. Jean le miracle führte. Dort konnten sie nebeneinandergehen, und Iversen nahm die Unterhaltung wieder auf.

»Wie hat Ihnen der Wundermann gefallen, Herr Harder?«

Harder fuhr sich ein paarmal über die Stirn, bevor er die Antwort fand.

»Was weiß der alte Mann von der Insel Warnum? . . . Was kann er von Warnum wissen? . . . Nur Warnum kann er meinen . . . wenn seine Worte überhaupt einen Sinn haben.«

Iversen zuckte die Achseln.

»Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, Herr Harder, von denen . . .«

»Keine abgegriffenen Zitate, Herr von Iversen! Geben Sie mir eine Erklärung für das, was wir eben hörten.«

»Wenn man es erklären könnte, Herr Harder, wäre es nicht mehr so wunderbar.«

»Es muß sich erklären lassen, Iversen. Versuchen Sie es, eine Erklärung zu geben.«

»Unmöglich, Herr Harder. Wenn ich es versuche . . . es werden doch immer wieder Worte . . . Umschreibungen . . . das zweite Gesicht . . . es findet sich öfter in der baskischen Bevölkerung. Man sagt, sie sehen weit über Raum und Zeit hinweg, sehen entfernte und zukünftige Dinge in voller Klarheit. Aber erklären . . . erklären, Herr Harder, kann man diese wunderbare Gabe nicht.«

Mit Gewalt mußte Harder den Eindruck abschütteln, den die Worte des Alten auf ihn gemacht hatten.

»Unerklärlich . . . jedenfalls unkontrollierbar. Also warten wir ab, ob die Zukunft den Worten des Mannes recht gibt. Hoffentlich verläuft der zweite Teil unseres Programms in angenehmerer Form.«

Iversen war ein paar Schritte zurückgeblieben, ging jetzt neben Modeste von Karsküll. Sah, daß auch sie blaß und erregt war.

»Gnädige Baronin, waren Sie mit Ihrer Prophezeiung zufrieden?«

Eine Minute verging, bevor Modeste antwortete.

»Es ist wunderbar, Herr von Iversen . . . nein, nicht wunderbar, es ist furchtbar. Wie kann der Alte das alles wissen?«

»Was ist Ihnen, was haben Sie, Modeste?« Mette Harder stellte die Frage. »Ihr Orakel, nehmen Sie es so ernst? Es scheint ja fast, als ob der Alte richtig orakelt hat. Sieh da!«

Modeste wandte die Augen von Mette zur Seite. Da traf ihr Blick den Iversens, der wie in stummer Frage auf ihren Zügen haftete. Eine dunkle Röte schoß ihr ins Gesicht.

»Ach, es ist ja alles Scherz, Mette! Lassen wir das alles!«

Während sie so sprachen, war Harder mit schnelleren Schritten vorgegangen. Seine Gedanken gingen von dem Schäfer nach Warnum, hin und her. Wie ein Zwang lag es auf ihm. Vergeblich suchte er sich davon freizumachen. Nur Warnum konnte mit der brennenden Insel gemeint sein.

Er erbebte bei dem Gedanken, daß die dort, folgend seinem Gebot, mit allen Mitteln zum Ziele strebend . . . die Feldstärken steigernd . . . zur Katastrophe? . . . zweihundert Menschenleben verloren . . .

Ein eisiger Schauer durchrann ihn. Fernsteuerung . . . dieses Wort? Immer wieder kam es von seinen Lippen . . . Fernsteuerung! Dann wenigstens kein Menschenleben gefährdet. Noch heute sollte der Befehl abgehen.

Der Weg führte jetzt über ein fast ebenes Gelände. In der Nähe wurde die kleine Kapelle sichtbar, die das Ziel dieses Ausfluges bildete. Ein schmächtiger, altersgrauer Bau. Iversen suchte die gedrückte Stimmung zu verscheuchen, die der Besuch bei Arriava wenigstens bei zwei Mitgliedern der kleinen Gesellschaft hervorgerufen hatte. Er begann von der Geschichte der Kapelle zu erzählen.

»Die Überlieferung berichtet, daß schon römische Baumeister der Provinz Gallien die Grundmauern dazu errichtet hätten. In den Stürmen der Völkerwanderung, in den jahrhundertelangen Kämpfen zwischen Goten, Franken und Mauren waren öfter als einmal Brand und Zerstörung darüber gekommen. Doch immer wieder hatten fromme Hände den kleinen Bau hier dicht an der Grenze zwischen Spanien und Frankreich von neuem errichtet. Ein uraltes Marienbild sollten diese Mauern bergen, das wie durch ein Wunder alle Zerstörungen der ewigen Grenzkriege überstanden hatte. Ein Gnadenbild, zu dem jetzt noch die Bevölkerung aus Frankreich und auch von der spanischen Seite her wallfahrten ging.«

Er sprach, erzählte, wurde warm bei seiner Erzählung und merkte, daß auch die Stimmung seiner Zuhörer sich wieder zu heben begann.

Da plötzlich! . . . Rauhe Rufe . . . der barsche Befehl, stehen zu bleiben. Im Augenblicke strömte es hinter Klippen und Bäumen der Umgebung hervor. Sechs Männer, der Tracht nach Basken . . . baskische Räuber!

Harder stand still . . . wie dumm! Wie unvorsichtig dumm von uns. Unablässig ging ihm dieser Gedanke durchs Gehirn. Hatte man nicht in den Zeitungen in Biarritz genug von der Unsicherheit an der französisch-maurischen Grenze gelesen. Wurde da nicht ständig von Räubereien und Überfällen berichtet? Wie konnte er sich nur zu einem Ausflug in diese unsichere Gegend verleiten lassen. Schwer fiel es ihm jetzt auf die Seele.

Doch es blieb nicht lange Zeit zum Nachdenken. Die Basken hatten die kleine Gruppe jetzt umzingelt. Ihr Anführer forderte sie auf, ihnen ohne Widerstand in die Berge zu folgen.

Was tun? Die Banditen bis an die Zähne bewaffnet, die Touristen ohne jede Waffe. Jeder Widerstand gegen die Übermacht zwecklos.

Der Führer trat vor Harder hin.

»Sie sind der Generaldirektor Harder aus Deutschland?«

»Jawohl! Der bin ich! Und wer sind Sie? Was wollen Sie von uns?«

»Nun! Das wird sich finden. Vorläufig sind Sie unsere Gefangenen.«

Harder wollte aufbegehren. Der Führer ließ ihn nicht zu Worte kommen.

»Keine unnützen Fragen! Sie werden nicht beantwortet werden. Folgen Sie uns! Nichts weiter.«

Der Trupp setzte sich in Bewegung. Die beiden Frauen bestürzt und verwirrt. Harder seinen Leichtsinn verwünschend, Iversen zähneknirschend.

Jetzt sah der, wie einer der Banditen Modeste von Karsküll am Arm packte, um sie schneller vorwärtszuziehen. Hörte, wie die grobe Berührung ihr einen Schmerzensschrei erpreßte . . .

Wie ein Tiger sprang er den Banditen an, hob ihn hoch und schleuderte ihn auf den Felsboden.

Im nächsten Augenblick fielen die anderen über ihn her. Der Führer setzte schon die Mündung seiner Waffe auf seine Brust. Da warf sich Modeste mit einem Schrei dazwischen.

»Schont ihn! Gnade!«

Der Führer sah Modeste einen Augenblick prüfend an.

»Es ist gut!« Zu seinen Genossen gewandt, »führt ihn weiter.«

Dichter schloß sich der Trupp um die vier Gefangenen.

So schnell wie möglich ging der Marsch weiter einen Pfad hinauf in das Gebirge. Immer enger und düsterer wurde die schmale Kluft. Kein Sonnenstrahl verirrte sich hierhin. Zur Linken in der Tiefe ein tosender Bergbach, zur Rechten wie Kulissen hintereinandergeschoben hohe Felsklippen. Feucht und schlüpfrig der Pfad in kühler Dämmerung.

Je weiter der Marsch, desto langsamer der Schritt der Frauen. Stundenlang schon waren sie unterwegs. Mette am Arm ihres Vaters, Modeste an den Iversens gehängt. Der Führer merkte, daß es bald nicht mehr weiterging. An einem Seitenpfad blieb er stehen, überlegte einen Augenblick.

Er sah die beiden Frauen, bleich, zitternd, völlig erschöpft.

»Zur Hütte Josés! Hier den Pfad hinauf! Nur noch ein kurzer Weg, meine Damen. Eine knappe Viertelstunde, dann werden Sie Gelegenheit haben, sich zu ruhen.«

Endlich war die Hütte erreicht. Sie war leer. Es war anscheinend ein altes Zollhaus, das aber nicht mehr benutzt wurde. Der Führer stieß die Tür auf. Zwei Räume zu ebener Erde. Sonst nichts! Darin ein Tisch, ein paar morsche Bänke als einzige Ausstattung.

»Wir werden hier über Nacht bleiben. Ich würde Ihnen gern einige Bequemlichkeiten zur Verfügung stellen, wenn ich sie nur hätte.

Ich selbst werde mit meinen Leuten draußen kampieren.«

»Und Essen und Trinken?« Iversen fuhr ihm in den Weg. »Sie sehen, die Damen sind völlig erschöpft.«

»Wird sofort besorgt werden«, antwortete der Führer in beinahe höflichem Tone. Er ging hinaus und kam auch bald mit einem anderen wieder, der auf den Tisch ein Abendessen hinstellte. Kalte Küche, aber mit auffälliger Sorgfalt zubereitet und zusammengestellt. Ein Krug frischen Quellwassers dazu.

* * *

Fürst Iraklis stand vor dem Kalifen.

»Ich komme soeben von Ibn Ezer.«

»Ich sehe es an Ihren Mienen, auch ihm ist es nicht gelungen, im ersten Ansturm den Apparat zu bezwingen. Ich habe es auch nicht erwartet.«

»Und doch ist die Meldung, die ich zu bringen habe, nicht ungünstig. Er hofft in absehbarer Zeit wenigstens hinter das Geheimnis Montgomerys zu kommen.«

Der Kalif sprang auf.

». . . absehbarer Zeit . . . Wochen . . . Monate . . . unerträglich dieses Warten auf unbestimmte Zeit.

Harder! Jolanthes Plan, die einzige Rettung, so abenteuerlich auch das ganze Unternehmen ist. Wäre es nicht Jolanthes Gedanke, ich würde mich kaum darauf eingelassen haben. Und doch wieder, wenn man den Plan scharf durchdenkt . . . vieles, was für den Erfolg spricht. Zumal Jolanthe selbst alles bis aufs kleinste geordnet.«

Eine Uhr schlug die sechste Stunde.

»Könnte schon Nachricht da sein?« fragte er den Fürsten.

»Es wäre möglich. Ich will selbst gehen.«

Abdurrhaman lehnte sich zurück, schloß die Augen.

Jolanthe! Welch ein Weib! Tag und Nacht seine Gedanken bei ihr seit jenem Abend im Madrider Schloß.

Schon seit der Zeit, da er sie zuerst gesehen, sie für ihn zu arbeiten begann, hatte sie sein ganzes Interesse gehabt. Ihre ungewöhnlichen Leistungen! Die Leidenschaft, mit der sie das gefährliche Spiel spielte. Maßloser Ehrgeiz, Machthunger, Freude am Außergewöhnlichen. Alles Eigenschaften des Mannes, der den Drang zu großen Taten in sich spürt. Nichts Weibliches schien in ihr zu sein. Kein Herz, das für Liebe empfänglich.

Es war ja auch unmöglich, wo sie alle Gefühle und Gedanken auf ihre Aufgaben konzentrieren mußte. Und wie sehr war sie doch von der Natur begnadet, Männerherzen zu entflammen. Alles schien doch in ihr vereinigt, was den Reiz des Weibes ausmacht.

Und dann . . . der Abend im Madrider Schloß. Niemals würde er das vergessen, was er da sah. Wie sie vor ihm den innersten Schrein ihres Herzens geöffnet, ihre geheimsten Gedanken entblößt. Dagestanden, ganz Liebe, ganz Leidenschaft. Wie sein Herz an ihrer Glut sich entzündet, daß er alles vergaß um sich her.

Nur der eine Gedanke! Dieses wahrhaft königliche Weib zu sich heranzuziehen. Sie zu stellen auf den Platz, der ihr gebührte . . . an seiner Seite.

So überraschend, so allgewaltig, daß er betäubt . . . bezaubert . . . kämpfend mit der unbestimmten Angst, wehrlos zu unterliegen . . . nicht den Schritt tat. So ungeheuerlich die Macht ihrer Liebe. Er ihr Sklave, willenlos, machtlos. Seine eigene Stärke an ihr zerschellend. Mit aller Kraft hatte er sich gewehrt . . . wäre doch unterlegen . . . in wollüstigen Schauern hinwerfend, was er getan, geplant . . .

Da stob das Feuer zu seiner Seite, Funken um ihn sprühend. Der Bann gebrochen! Die Bezauberung gelöst . . . Und doch, er fühlte es in sich mit zwingender Gewißheit . . . ihrer beider Schicksal miteinander verknüpft mit unlösbaren Banden. Ein Weg für sie zu Sieg oder Tod . . .

Fürst Iraklis trat in das Gemach. Mit frohem Gesicht, eine Depesche in der Hand.

»Darf ich lesen?« Der Kalif nickte. Der Fürst las.

»Auftrag ausgeführt. Auf spanischem Boden.«

Abdurrhaman neigte das Haupt.

Der erste Schritt gelungen! Das andere? . . . Jolanthes Hand. Sie versagte nie.

* * *

Kaum berührt standen die Speisen auf dem Tisch in der Zollhütte.

Der Überfall! Die Ungewißheit ihres Schicksals . . . Was würde der kommende Tag bringen? . . . Waren sie in Räuberhand? . . . Lösegeld von ihnen zu erpressen? Welche Gefahren noch, die ihnen drohten?

Immer wieder hatten Harder und Iversen den Frauen Mut zugesprochen, sie mit baldiger Befreiung zu trösten versucht. Nur schlecht war es ihnen gelungen. Glaubten sie selbst doch nicht fest daran. Bis endlich Harder Mette und Modeste zwang, sich auf diesem schlecht und recht zubereiteten Lager niederzulassen, um Kräfte für den anderen Tag zu gewinnen.

Er selbst mit Iversen immer wieder das Unglaubliche des Geschehens besprechend . . . Räuber, die ein Lösegeld erpressen wollten? Keiner fand eine andere Antwort. Was würde der nächste Tag bringen? Wie lange würde es dauern, bis sie zurückkehren konnten?

Die Sonne war längst untergegangen. In der Hütte war es schon Nacht. Die kleinen vergitterten Fenster genügten selbst bei Tage kaum, den Raum notdürftig zu erhellen.

Versuchen, auch zu schlafen? Schlafen! Wer konnte da schlafen?

Da . . . den Bruchteil einer Sekunde war's auf einmal, als wenn die Hütte in Flammen stände. In bläulich-weißen Schein alles getaucht. Dann ein fürchterliches Krachen . . . Betäubt standen sie. Mit einem Schrei waren die Frauen emporgefahren.

Ein Gewitter! Ihre Worte wurden verschlungen von dem Rollen des Donners, der, sich brechend an den Berghängen, im Echo den Hall verhundertfachte.

Ein Gewitter? Immer wieder die Frage. Der Schlag mußte in unmittelbarer Nähe getroffen haben.

Iversen sprang zur Tür, rüttelte daran.

»Diese Schurken! Weshalb öffnen sie nicht? Wären sie doch selbst erschlagen!«

Mit aller Macht warf er sich dagegen. Sie wich nicht. Er versuchte ein Fenster aufzureißen . . . es zerbrach unter seinen Händen.

Finsterdunkle Nacht. Der Mond verdeckt durch eine breite Wolkenwand. Er glaubte Schritte zu hören. Sie kamen näher . . . zur Tür. Der Riegel wurde zurückgeschoben. Mit einem Sprung stand er neben Harder, der eben die Tür aufwarf.

Vor ihnen an den Stufen eine dunkle Gestalt. Einer der Wächter?

»Was war das? War das ein Gewitter? . . . Ein Blitzschlag?«

Sie traten näher an den heran. Eine hochgewachsene Gestalt. Die Kappe des Puncho hochgeschlagen. Das Gesicht nicht zu erkennen.

»Ihr seid frei! Folgt mir!«

Die Worte im Dialekt der französischen Basken gemurmelt, ließen sie zusammenfahren.

»Frei! . . . Wir sind frei? Warum? . . . Wer ist er, der uns Freiheit gibt? . . . Die Räuber? . . . Wo sind sie?«

Er deutete hin zur Felswand.

»Sie sind tot.«

Da lagen die Sechs. Ruhig, unbeweglich. Wie in tiefem Schlaf. Das Bild! Unverständlich!

Harder schritt darauf zu. In ihre Decken gehüllt lagen sie da. Er beugte sich über den ersten, tastete ihm ins Gesicht. Er war tot. Tot auch die anderen.

»Der Blitzschlag, der sie getötet?«

Der Fremde nickte.

»Ein Gottesgericht!« rief Iversen. Eilte zur Hütte. »Fort! Fort! Wir sind frei! Der Blitz hat sie erschlagen.«

»Sie? Wer sind Sie?« Harder trat an den Fremden heran. »Was wissen Sie von denen . . . von uns?«

Der schüttelte den Kopf, als hätte er nicht verstanden. Wies mit der Hand nach Norden, zurück zur Grenze.

Iversen war mit den Frauen herangekommen. Er drängte neben den Fremden, der schon ein Stück vorangeschritten. Bestürmte ihn mit Fragen.

»Schnell, ehe die anderen kommen!« Die einzigen Worte. Dann blieb er stumm.

Der Marsch folgte demselben Weg, den sie gekommen. Bald waren sie an der Schlucht angelangt. Einen Augenblick zögerte der Fremde, als wolle er sich trennen, sie allein gehen lassen. Er warf einen Blick auf die Frauen, die müde und matt von dem doppelten anstrengenden Weg erschöpft an den Armen ihrer Begleiter hingen. Dann drehte er sich um, schritt weiter vor ihnen her.

Das Mondlicht, das immer wieder von den Wolkenbänken verdeckt wurde, ließ nur stellenweise den schmalen Pfad erkennen. Immer wieder mußte der Führer stehen bleiben, die Flüchtlinge erwarten, die ihm nur mit Mühe zu folgen vermochten . . .

Da endlich! Die Felsenwände zur Seite öffneten sich. Vor ihnen der Weg, der zur Kapelle führte.

Sie traten heraus. Da lag sie. Jetzt nur noch die kurze Strecke zum Dorfe, wo sie ihren Wagen verlassen. Der Fremde deutete dahin, wandte sich zur Kapelle.

Harder eilte ihm nach.

»Nicht so, bester Freund! . . . Ohne unseren Dank! . . . Wie könnten wir Sie so ziehen lassen, dem wir so großen Dank schulden.«

Der Fremde hob den Arm . . . Abwehr . . . Gruß . . .?

Der Kragen des Puncho fiel durch die Bewegung zurück. Einen Augenblick traf das Mondlicht seine Züge.

»Friedrich Eisenecker!« Ein Frauenmund hatte es geschrien.

Der war davongeeilt . . . im Schatten der Kapelle verschwunden.

* * *

Längst war Mitternacht vorüber. Noch saß der Kalif vor seinem Arbeitstisch. Schriftstücke vor ihm. Er las, unterschrieb sie . . . mit halbem Geist nur dabei.

Nachricht von der Grenze? Von den Gefangenen? Wo blieben sie?

Die zweite Meldung, von dem Führer Almeiras: Daß die Frauen ermüdet, er nicht weiter konnte. In einem alten Zollhaus die Nacht verbringen wolle.

Abdurrhaman hatte sofort Befehl gegeben, daß von Alpera aus Maultiere mit Tragsesseln dorthin geschickt würden, die die Gefangenen noch bei Nacht weiter ins Innere transportieren sollten. Hatte dies auch Almeiras mitteilen lassen.

Doch der . . .? Hatte er die Botschaft nicht bekommen? Alle Versuche, mit ihm in telegraphischem Verkehr zu bleiben, unmöglich.

Was war passiert? Was war vorgegangen? Waren sie von französischer Seite verfolgt worden? Ihnen die Gefangenen entrissen?

Nein! Undenkbar . . . unmöglich. Das würden die französischen Behörden niemals gewagt haben, selbst bei solchem Bandenüberfall die Grenze zu überschreiten.

Ein Schatten fiel vor das Licht. Sein Kammerdiener stand vor ihm, überreichte ihm eine Depesche. Hastig riß er sie auf. Vom Führer des Hilfstrupps:

»Am Zollhaus angekommen. Almeira mit Genossen tot. Die Hütte leer.«

Die Depesche zitterte in seinen Händen. Er sprang auf.

Er schrie seinen Sekretär herbei.

»Verbindung mit Jolanthe von Karsküll!«

* * *

Die Gäste des großen Hotels Esplanade in Biarritz seit Stunden schon in heller Aufregung. Der Generaldirektor Harder mit seiner Begleitung war am Morgen mit seinem Wagen in die Berge gefahren. Um sechs Uhr sollte er zurück sein. Der Wagen war nicht zurückgekehrt.

Jolanthe und der Direktor des Hotels hatten schon längst besorgt miteinander erwogen, wie dies Ausbleiben zu erklären. Hatten schließlich nach peinlichem Warten mit dem Maire von St. Jean Verbindung bekommen. Die Antwort war dort erst recht beunruhigend. Der Wagen immer noch im Orte, wartend auf Harder und seine Gäste.

Die Biarritzer Polizei in Bewegung gesetzt. Der Maire von St. Jean angewiesen, sofort Leute auszuschicken, die Verlorenen zu suchen . . . alles vergeblich . . . keine Spur von ihnen . . . keine Erklärung, wo sie geblieben . . . In Räuberhand? . . . Abgestürzt? . . .

Die Nacht war herangekommen. Jolanthe hatte sich in ihr Zimmer zurückgezogen.

Gelungen! Sie sind über die Grenze geschafft . . . in seiner Hand. Unerträglich, daß ich nicht jetzt dort sein kann. Ich darf nicht fort hier. Muß die Komödie zu Ende spielen.

Sie entkleidete sich und warf sich auf ihr Lager. Griff nach einer Zeitung, suchte vergeblich, sich zu zerstreuen. Ihre Gedanken waren da drüben, wo sich jetzt der zweite Akt ihres Planes abspielen sollte. Da glühte neben ihr das Signal des Empfängers auf. Sie riß den Hörer ans Ohr. Ein Gespräch auf der verabredeten Welle im Schlüssel. Sie beherrschte ihn so, daß sie des helfenden Stiftes entbehren konnte.

Die Stimme Abdurrhamans! . . . Die Hörmuschel in ihrer Hand begann zu zittern. Mit weit geöffneten Augen hörte sie, was er sprach . . . Immer starrer ihr Blick.

»Die Gefangenen frei! Hierherkommen! Sobald wie möglich!«

Die Lampe erlosch. Der Hörer entsank ihrer Hand. Betäubt fiel sie in die Kissen zurück, noch unfähig, den Inhalt voll zu begreifen. Erst langsam wurde ihr die Bedeutung klar.

Und dann . . . Mit einem Schrei der Wut warf sie den Oberkörper vor. Ihre Hand umkrampfte die Spitzen des Nachtgewandes. In Fetzen zerriß es.

Wer war's, der das tat?

Mit dem Sprung einer Tigerin war sie vom Lager auf. Ihre Augen starrten in dem Raum umher, als suchten sie den, der das getan.

Ein Mensch? Unmöglich! Ein Gott? Ein unartikuliertes Lachen brach aus ihrem Mund. Der Mensch, der das getan . . .

Einer . . . viele . . . einerlei . . . Das Todesurteil über die gesprochen . . . über den! Vertilgt, ausgelöscht mußte der werden, der es gewagt . . . getan. Wie eine Rasende schritt sie in dem Raum auf und ab. Unhörbar wie die Pranken einer Tigerkatze glitten ihre nackten Füße über den Teppich.

Sie stieß vor den großen Spiegel. Prallte zurück vor dem Bild, das ihr Auge traf. Das lange, blonde Haar zerwirrt, zerwühlt vom Kopf herunterhängend . . . das Nachtgewand zerrissen. Arme und Brust nackt . . . bloß.

Eine rasende Mänade! Sie erschrak selbst.

Kaltes Blut! . . . Kaltes Blut, Jolanthe . . . Das Geschehene ist nicht zu ändern. Nichts ist zu tun . . . als zu wissen, wer das Spiel zerstört. Wer ihr in den Arm gefallen. Kein Versteck der Welt, wo sie ihn nicht suchen wollte. Keine Macht der Welt, die ihn retten würde.

Schlaflos verbrachte sie die Nacht. Sie lag auf dem Bett, halb bewußtlos, wie im Fieber. Der Morgen dämmerte.

Es klopfte an die Tür. Der Direktor des Hotels:

»Die Vermißten sind soeben in St. Jean eingetroffen. Fahren im Wagen fort.«

Jolanthe hatte sich aufgerichtet. Sie mußte dem antworten. Mit Mühe vermochte sie es, den Mund zu öffnen, ihre Freude kundzutun.

Der hatte noch gerufen: In zwei Stunden werden sie hier sein. War dann fortgegangen.

Sie hatte ein kaltes Bad genommen, sich sorgfältig angekleidet. Immer wieder hatte sie vor dem Spiegel ihr Gesicht studiert, bis sie keine Spur der Erregung mehr zu sehen glaubte. War dann in die Halle gegangen, hatte es vermocht, mit dem Direktor und den anderen Gästen zu plaudern.

Der Wagen war vorgefahren. Alle hatte sie in die Arme geschlossen, begrüßt. Harder den Kreis der Neugierigen, die ihn mit Fragen bestürmten, schnell durchbrochen. War mit den anderen zu ihren Zimmern gegangen. Hier hörte Jolanthe alles, was geschehen. Bald an den einen, bald an den anderen sich wendend, faßte sie schnell alle Einzelheiten zu einem geschlossenen Bilde.

»Unglaublich! Unerhört die Frechheit dieser Banditen! Solche Zustände! Wie können die geduldet werden? Mich schaudert bei dem Gedanken, was noch passieren konnte, wenn dieser rätselhafte Fremde nicht kam.

Ein göttliches Wunder, daß er gerade dort vorbeikam . . . nein! Schon vorher muß er euch gesehen haben in den Händen der Banditen. Denn er fragte euch doch nicht, wie ihr hierhergekommen. Sicherlich hat er den Überfall gesehen, ist euch gefolgt. Darauf wartend, euch irgendwie zu Hilfe zu kommen.

Und er gab sich nicht zu erkennen, der Fremde? Vielleicht ein Feind der Banditen, der aber selbst seine Gründe hat, eine Ladung vor den Richter zu vermeiden.

Verriet nichts an ihm Stand und Nation?«

Sie schüttelten den Kopf. Nur Modeste antwortete.

»Als der Fremde ging, glaubte Mette beinahe einen Bekannten von früher in ihm wiederzuerkennen. Sah aber später ihren Irrtum ein und mußte selbst über die Verwechslung lachen.«

»Ah! Sie sahen mehr von ihm, Fräulein Harder?«

»Nein! O nein, ich sah nicht mehr als die anderen. In der Erregung durch all das, was passiert, hatte ich ein Trugbild gesehen.«

Sie tauschte einen Blick mit Iversen, der befriedigt nickte. So hatten sie es beide unterwegs verabredet.

Das unscheinbare Mienenspiel! Jolanthe hatte es gesehen. Wandte sich jetzt direkt an Mette, daß sie ihr in die Augen sah. Fragte lächelnd:

»Wer war denn der, mit dem Sie den Fremden verwechselten? Wie hieß denn der?«

Mette zögerte einen Augenblick. Wollte ausweichen. Doch sie entrann dem lächelnden Blick, in dem etwas Zwingendes, Bannendes lag, nicht.

»Eisenecker,« kam es halblaut von ihren Lippen, »ein früherer Angestellter der Riggers-Werke.«

»Und Sie kannten den? . . . gut?« sprach Jolanthe weiter.

»Ich kannte ihn kurze Zeit.« Mette wandte sich ab und verließ den Raum.

* * *

Ein einfaches Gemach. Die Wände fugenloses Urgestein, als wäre es ganz in massiven Fels gehauen. Elektrisches Licht. In der Mitte auf rohem Holztisch der Apparat Montgomerys. Der Glaskasten entfernt. Frei lagen die Schaltungen zutage.

Ein Mann in mittleren Jahren saß davor, maß, notierte lange Reihen von Zahlen. Ein anderer, ein Greis, vor einer schwarzen Tafel an der Wand, die mit unzähligen Kreideziffern bedeckt war.

»Ein Fehler!«

Der Greis rief es mit zitternder Stimme. Die Kreide entfiel seinen Händen, fiel zu Boden.

»Ein Schaltungsfehler, der die Spannungen verwirrt!«

Der am Kasten war aufgesprungen, lief zu dem Alten hin.

»Wo, Ibn Ezer? Wo?«

Der deutete auf einen Punkt in dem weißen Zahlengewirr.

»Hier, Abd ul Hafis! Hier ist falsch geschaltet!«

Abd ul Hafis hielt seine Zahlentabelle daneben. Sein Auge glitt von der Tafel zu den Tabellen und wieder zurück. Jetzt fand er die Stelle, eilte zu dem Apparat zurück. Der Alte folgte langsam.

Abd ul Hafis hatte eine helle Glühlampe in den Apparat gehängt. Mit einer starken Lupe untersuchte er die verdächtige Stelle der Schaltung. Plötzlich ein kurzer, freudiger Aufschrei.

»Hier, Ibn Ezer! Hier! Siehst du diesen winzigkleinen Tropfen Lötmasse?«

Ibn Ezer sah durch das Glas, nickte.

»Es ist die falsche Schaltung.«

Er trat zurück. Die beiden sahen sich an.

»Wer tat das? Wer brachte den Fehler in die Schaltung? Elias Montgomery selbst?«

»Kaum anzunehmen. Wollte er den Apparat unbrauchbar machen, hätte er ihn ganz vernichten können. Und doch! Wer könnte es sonst gewesen sein? Einer von den Gelehrten, den englischen Physikern? Ebenso ausgeschlossen.«

»Das Rätsel möge ungelöst bleiben«, rief Abd ul Hafis. »Jetzt! . . .« Triumphierend reichte er dem Alten beide Hände. »Jetzt wird es nicht lange dauern, bis Elias Montgomerys Apparat von Ibn Ezers Hand gemeistert. Ibn Ezer, der Erbe, der Sieger über europäische Wissenschaft!«

Der Alte wandte sich um.

»Du wolltest mir nicht glauben, Abd ul Hafis, daß die Lösung des Rätsels nur auf dieser Tafel zu finden sei. Jetzt heißt es, die richtigen Zahlen ermitteln, sie einzusetzen, und wenn die Rechnung stimmt, dann arbeitet der Apparat. Doch hüte deine Zunge, Abd ul Hafis! Den Boten des Kalifen sei diese Nachricht verschwiegen. Er wälzt große Pläne. Schwere Sorgen lasten auf ihm. Auf uns . . . auf den Apparat baut er. Seine Pläne wurzeln in diesem Gemach. Nicht eher darf er etwas erfahren, als bis uns der Erfolg ganz sicher.«

»Ist die politische Lage so gespannt, Ibn Ezer?«

Der strich sich den langen weißen Bart.

»Ist sie's nicht heute, kann sie's morgen werden.«

* * *

Auf der Düne von Baltrum erhob sich das neue Schalthaus. Massiv, in Beton gegossen. Ein trutziger Bau, viel eher einer mittelalterlichen Festung gleichend als einem modernen Haus der Technik. Aber wohl geeignet, den wilden Winterstürmen der Nordsee standzuhalten.

In den Sälen lange Reihen schimmernder Schalter. Hunderte von Meßinstrumenten an den Wänden. Gewaltige eiserne Gestelle bis zu den hochgewölbten Decken emporragend, von oben bis unten mit Automaten besetzt, die wie von Geisterhand bewegt schalteten, Stromkreise verbanden und wieder trennten, jeden Hebeldruck, der hier auf Baltrum ausgeführt wurde, sofort als ein elektrisches Manöver nach der Insel Warnum weitergaben, deren Silhouette sich in blauer Ferne schwach vom Horizonte abhob.

In einem der Räume drei jüngere Ingenieure bei den Schaltern. Einer von ihnen las die Angaben der Meßinstrumente ab, der zweite trug sie in das Versuchsprotokoll ein. Der dritte stand jetzt müßig.

»4,8 Millionen Gauß. Keine Wärmeentwicklung, keine elektrische Spannung. Wir sind genau so klug wie vorher.«

»Sagen Sie lieber, so dumm wie vorher«, unterbrach ihn der zweite. »Jetzt haben wir das Vergnügen, nach Warnum zu fliegen und das Eisen zur Untersuchung hierherzubringen. Ich möchte nur wissen, wie der Alte auf die Idee gekommen ist, uns hier nach Baltrum zu setzen und mit Fernsteuerungen arbeiten zu lassen.«

Der erste fiel ihm in die Rede.

»Danken Sie Ihrem Schöpfer, daß er die Idee endlich gehabt hat. Es ist ihm allmählich wohl doch vor seiner eigenen Gottähnlichkeit bange geworden. Sie kennen ja die Warnungen und Befürchtungen, die immer wieder . . . namentlich in letzter Zeit von sachverständiger Seite ausgesprochen worden sind. Das hat dem Generaldirektor wohl doch zu denken gegeben. Ich bin jedenfalls froh, daß es so gekommen ist.«

»Sind Sie so ängstlich um Ihr wertvolles Leben, Herr Kollege?«

»Aber ganz bestimmt. Wären wir auf Warnum geblieben, ich hätte nicht länger mitgemacht. Ich hätte meine Stellung kurzerhand gekündigt.«

»Aber warum denn? Was soll denn passieren? Wir haben die Feldstärke genau in der Gewalt. Wir gehen nur Schritt für Schritt vorwärts. Jedes Freiwerden von Atomenergie wird sofort durch die Apparate angezeigt. Was sollte denn da passieren können?«

Der Gefragte zuckte mit den Achseln.

»Wenn man das wüßte, brauchte man ja nicht so vorsichtig zu sein. Vielleicht haben Sie recht . . .«

»Gewiß habe ich recht.«

». . . oder Sie haben unrecht. Vielleicht geht die Entfesselung der Energie plötzlich ganz revolutionär vonstatten . . .«

»Ganz ausgeschlossen!«

»Und dann, Herr Kollege, ist es besser, wir sind hier zwanzig Kilometer davon ab.«

Das Gespräch wurde durch den Eintritt des Oberingenieurs unterbrochen. Der hatte eine Depesche in der Hand und sah erregt aus.

Die Depesche hatte er auf den Tisch fallen lassen. Einer der Assistenten warf einen Blick darauf. Es war ein brutaler Befehl Harders, die Feldstärken rücksichtslos zu erhöhen.

Der erste, der sie gelesen, schob sie den anderen zu. Sie sahen sich gegenseitig fragend an. Im Sturm vorgehen? Was kam Harder bei? Heute die Entscheidungsschlacht . . .

Ein Fieber ergriff sie. Sieg?! . . .

Vergessen Montgomery! . . . Vergessen das Rätsel: wo war sein Apparat geblieben? Anders als Montgomery wird Harder handeln. Den Sieg ausnutzen . . .

Weltwende, wenn Warnum arbeitete.

»An die Arbeit, meine Herren! Schalten bis auf fünf Millionen.«

Im Nu war jeder auf seinem Posten. Die Hände, die Hebel schalteten, bewegten, zitterten. Relais begannen zu klappern und zu schalten. Der Zeiger des ferngesteuerten Magnetometers begann schnell und immer schneller über die Skala zu kriechen.

4,8 Millionen . . . 4,9 Millionen . . . 5 Millionen Gauß. Die befohlene Feldstärke erreicht. Zitternd hing der Zeiger des Magnetometers über der Zahl.

Sie traten zu dem Oberingenieur, der vor den Meßinstrumenten stand. Mit enttäuschten Gesichtern blickten sie auf die Skalen . . . Nichts! . . .

Der Sturm war mißlungen. Sie starrten auf den Oberingenieur.

Der stand blaß, die Augen zusammengekniffen . . . überlegend.

Dann. »Weiter, meine Herren! Erhöhen wir die Feldstärke . . . bis 5,2 Millionen!«

Die standen schon an ihren Schaltern. Arbeiteten.

Der Oberingenieur war vor das Magnetometer getreten. Seine Augen hingen an dem Zeiger. Der ging langsam weiter. 5,l Millionen . . .

5,2 Millionen . . .

Der Oberingenieur prallte zurück.

In jähem Ruck raste der Zeiger des Fernthermometers über die ganze Skala. So hart war der Anschlag am Ende, daß der stählerne Zeiger wie ein Strohhalm zerbrach. Die gleiche Erscheinung jetzt am Elektrometer, und dann fiel der Zeiger, der die Feldstärke angab, auf Null zurück.

Die Ingenieure starrten sich an, starrten auf die zerbrochenen Instrumente.

»Sehen Sie! . . . Warnum!« Einer schrie es, der zufällig durch das Fenster gesehen, und alle wandten den Blick dorthin.

Wo eben noch verschwommen blau die Umrisse der Insel am Horizonte, stand jetzt eine mächtige Wolke und wurde von Sekunde zu Sekunde immer größer, immer gewaltiger. Rauch oder Dampf? Es war von hier nicht zu unterscheiden. Schwarze Rauchschwaden schienen sich mit weißen Dampfwolken zu einem schmutzigen Grau zu mischen. Häßlich gelbe schwefelfarbige Schwaden dazwischen.

Sie standen und starrten.

Warnums Sieg . . . und Tod! Entfesselt die Energie, doch nicht beherrscht, wandte sie sich gegen den Befreier. Riß ihn mit ins Verderben.

Sie sahen, wie die gräßliche Wolke dort in der Ferne immer höher stieg, sich in der Höhe wie die Krone eines Pinienbaumes nach allen Seiten hin ausbreitete. Sahen rote Blitze in der Wolke zucken. Starrten wohl eine Minute fast, als der Donner von Warnum her an ihr Ohr schlug. Krachender, polternder, grollender Donner, der sie zwang, sich die Ohren zuzuhalten.

Noch standen sie und starrten, als es von Warnum her über die See wie eine hohe Wand herangebraust kam. Eine gigantische Flutwelle. Immer steiler, immer höher, immer drohender, je näher sie der Küste von Baltrum kam. Senkrecht wie eine grünglasige Wand lief es jetzt die Düne hinauf. Hohl wurde die Wand und weiß ihre Krone.

Dann brach die Wand. Donnernd stürzten die Wassermassen zusammen, begruben das Schalthaus bis über die Dachfirst in strudelnden, schäumenden Gischt.

Dunkel wurde es im Hause. Eine grüne Dämmerung, die kaum noch Umrisse erkennen ließ. Die Fenster brachen unter dem Anprall. Wassermassen stürzten in die Räume. Aber das Haus selbst, ein einziger in sich gefügter Betonblock, hielt der verderblichen Flutwelle stand.

Minuten verstrichen. Da wurde es wieder heller. Die Wasser der Welle begannen zu verströmen, liefen ab, füllten die Niederung hinter der Düne, hier einen weitgestreckten See bildend.

Klarer wurde die Sicht, und mit Schaudern sahen die, die hier im Schalthause auf Baltrum standen, daß Warnum ein feuerspeiender Berg geworden war. Drohend und düster hing dort die gewaltige Wolke. Unaufhörlich zuckten grelle Blitze aus ihr, unaufhörlich stießen rote Flammengarben von unten her durch die schwarzgrauen Massen. Unaufhörlich dröhnte es wie der Donner einer schweren Kanonade von Warnum her über die See.

Was war geschehen? Sie wußten es alle, die hier im Schalthause auf Baltrum standen. Atomenergie war plötzlich und revolutionär freigeworden, als die Feldstärke den kritischen Punkt überschritt. Unendliche Wärmemengen mußten dort drüben plötzlich ausgetreten sein, im Augenblick noch gestaut, aber sich nun mit Gewalt freie Bahn schaffend.

Höher stieg die Wolke. Heller wurde es unter ihr, wo Warnum lag. Erst rot, dann gelb, und jetzt schon hellweiß.

Wie schmelzendes Eisen schimmerte es von der Insel her.

Sie standen, starrten und sahen. In schwerer Dünung wogte die empörte See. Jetzt zeigten sich Schaumkronen, die von Baltrum weg auf Warnum zuliefen. Eine Brise kam auf. Wurde stark und immer stärker, wurde zum Sturm und dann zum Orkan.

Von allen Seiten her strömte die Luft nach der glühenden Insel hin. Immer größer die Wogen, immer gewaltiger die Wassermassen, die der wachsende Sturm von allen Seiten her auf das glühende Eiland warf. Im Moment des Auftreffens versprühten und verdampften sie. Doch immer neue Wogen warf der Sturm in rasendem Schwall dorthin. Das unendliche Meer selbst nahm den Kampf mit dieser Glut auf.

Weiß wurde die Wolke, die eben noch schwarz über Warnum stand. Immer weiter breitete sich der milchige Nebel aus, immer stärker verhüllte er den schimmernden Glanz der glühenden Insel. Einem riesenhaften Bergkegel vergleichbar stand die Nebelbank jetzt über Warnum. Man sah es deutlich von Baltrum, wie der Orkan die Nebelmengen von allen Seiten her zusammenfegte, sie wie die weißen Haarsträhnen eines mächtigen Hauptes kämmte und in unendliche Höhen emportrug.

Weiß schimmerte von innen her der Lichtschein der glühenden Insel durch diese Dampf- und Nebelbank.

Die Stunden verrannen. Da begann das Wasser allmählich des Feuers Herr zu werden. Da endlich machte sich die kühlende, löschende Wirkung der von allen Seiten her auf das Eiland stürzenden Meeresfluten bemerkbar.

Schwächer wurde das Leuchten der Nebelmassen. Gelblicher und schließlich rötlich der Schein.

Blutrot jetzt die ganze Masse, als ginge dort im Westen die Sonne schon unter. Schwächer und schwächer der Schein. Schwächer auch der Orkan. Jetzt nur noch ein Sturm, jetzt nur noch ein Wind.

Jetzt wagten sie sich aus dem festen Schalthause heraus. Über den zerrissenen, zerwaschenen Strand hin gingen sie bis ans Meer. Zagend noch und vorsichtig schöpfte da einer eine Handvoll Wasser und fühlte, das Meer war lauwarm. Das unendliche Meer hatte den Atombrand gelöscht, hatte diese unendlichen, als Wärme freiwerdenden Energiemengen in sich aufgenommen und war auf meilenweite Entfernung hin dadurch erwärmt worden.

Der letzte Schimmer dort drüben verglomm, und die Nacht zog herauf. Ein neuer Tag kam mit hellem Sonnenglanz. Da lag es noch, Warnum, dort drüben an der Westkimme, aber es war nicht wie sonst. Kleiner, viel flacher war die Silhouette der Insel geworden. Wie abgeplattet, wie abgeschmolzen sah das Eiland von hier aus.

Ruhig wie ein Spiegel lag die See. Kaum ein Lüftchen regte sich. Da wagten sie es. Im schnellen Motorgleitboot fuhren sie hinüber. Kamen näher . . . immer näher, und ihre Mienen versteinerten, ihre Blicke erstarrten.

Nichts mehr von dem, was gestern noch auf Warnum stand. Kein Turm, kein Haus, kein Baum, kein Strauch. Verschwunden alles, geschmolzen . . . gefressen von der entfesselten Energie. In hartes, klares Glas verwandelt der weiße Dünensand. Glasiger Fels der ganze Strand. Eine schimmernde, flache Lavakuppe, wo früher Warnum lag, wo gestern noch das Riggers-Werk stand.

Weithin war der Donner der Katastrophe gehört worden. Bis an die Küste des Festlandes war die riesige Flutwelle gelaufen, Zerstörung . . . Vernichtung mit sich tragend. Von weither hatten Schiffer und Flugschifführer die Fackel des Brandes leuchten sehen. Von allen Seiten her schwirrte es durch den Äther. Fragen . . . Gerüchte . . . Vermutungen.

Sie jagten sich, überschlugen sich, stürzten die Welt in Verwirrung.

Bis die erste Depesche von Baltrum an die Riggers-Werke kam:

5,2 Millionen. Atomenergie frei. Warnum verbrannt.

* * *


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