Hedwig Dohm
Die Mütter
Hedwig Dohm

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Einwirkung der Schüler aufeinander.

Kaum haben die Bübchen Schulluft gerochen, so nehmen sie all die unter Schuljungen üblichen Rohheiten und Vorurteile an. Ich gehe mit dem Söhnchen einer Verwandten spazieren. Mein Hänschen gebraucht unanständige Worte, und als ich das hässlich finden will, versichert er ganz ernsthaft, so rede man eben in der Schule, und wer es nicht täte, dem ginge es schlecht.

Einem vorübergehenden, stark hinkenden Knaben ruft er "Humpelmeier" nach. "O, pfui," sage ich. "Nein, gar nicht pfui. Sie nennen ihn alle Humpelmeier, und tu ich‘s nicht, so sagen sie: der will sich dicke tun."

Eine leichte Scham schien ihn doch zu überkommen, denn er setzte hinzu: "Er ist ja auch schuld daran, daß ihm der Fuß abgenommen wurde, warum ist er über den Damm gelaufen, gerade als die Pferdebahn kam."

Diejenigen Knäbchen der untersten Klasse, die bis dahin zu Hause vielleicht zierliche Anzüge getragen, verwerfen sie trotzig. Sie wollen aussehen, wie die anderen Buben auch, je derber und je geschmackloser, desto besser.

Erich bekommt eine Frühstücksbüchse, auf der steht "Guten Appetit", und er hat sich so sehr darüber gefreut und konnte es gar nicht erwarten, sie in Gebrauch zu nehmen. Die hartherzigen Buben in der Schule haben ihn aber so ausgelacht und gehänselt, daß er sie mit Tränen im Herzen (denn in den Augen darf ein echter Lateinschüler keine mehr haben) beiseite stellt.

Daß im kameradschaftlichen Schulverkehr der Kinder den Feigen Mut, der "Petze" Anständigkeit eingebläut wird, gehört zu den guten Seiten dieses Verkehrs.


Es erhöht die ethische Einwirkung der Schule nicht, wenn man durch die niedrige Einschätzung des Charakters der Kinder ihr Ehrgefühl antastet, sie zu innerer Auflehnung reizt. Daß die Eltern sich selten gegen solche moralischen Herabsetzungen wehren, ist verwunderlich. Es unterbleibt wohl aus Furcht, durch eine Beschwerde den Kindern von seiten des betreffenden Lehrers eine unfreundliche Behandlung zuzuziehen.

In einem mir bekannten Fall ließ es sich der Vater allerdings nicht gefallen. Der Lehrer brachte die Ungebühr, die sich ein Knabe hatte zuschulden kommen lassen, durch einen Zettel zur Kenntnis des Vaters. Diesen Zettel musste ein Mitschüler, in Gegenwart des Delinquenten, dem Vater überreichen, da, wie der Lehrer sagte, der Knabe den Zettel sicher unterschlagen haben würde.

In einem sehr energischen Brief – der ohne Antwort blieb – verbat es sich der Vater, seinen Sohn für einen Betrüger zu halten.

In einer Mädchenklasse teilt ein Kind der Lehrerin wahrheitsgetreu mit, aus welchem Grunde sie eine bestimmte Arbeit nicht machen konnte. "Lügenhafte Ausreden," schreit die Lehrerin sie an, "ich schicke deiner Mutter per Post einen Brief zu, denn" (zu der Klasse gewendet) "ihr würdet solche Briefe ja doch unterschlagen." Das neunjährige Kind geriet – allerdings erst zu Hause – in hellen Zorn. Das Muttchen verharrte tatenlos.

Ein anderer Fall. Er ereignete sich kürzlich während der Religionsstunde in einer Mädchenklasse (natürlich außerhalb Berlins). Die Mädchen waren im Alter von 14–16 Jahren. Frieda M., eine der Schülerinnen, zeichnete sich derartig durch eine unvergleichliche Wahrheitsliebe und eine fast übernatürliche Bravheit aus, daß sie teils die Bewunderung, teils den Spott ihrer Mitschülerinnen erregte. Im übrigen herrschte in der Klasse – aus verschiedenen Gründen – eine etwas lockere Disziplin. Eine beliebte Unart der jungen Mädchen bestand darin, daß sie sich während des Unterrichts kleine Briefchen zuwarfen. Einen dieser Briefe fing der Religionslehrer – ein Geistlicher – auf.

"Frieda M., du hast diesen Zettel geworfen." Das Kind verneint mit Entschiedenheit. "Du lügst," fuhr er zornig auf.

Und nun geschah etwas ganz Ungewöhnliches. Die ganze Klasse erhob sich wie ein Mann und rief: "Frieda lügt niemals!" "Alte lügt ihr, alle, und ihr seid Flegel."

Auch diesmal reagierte die Mutter des Kindes energisch, wozu sie durchaus berechtigt war, denn diese Mutter war in der Tat eine echte und rechte Erzieherin ihrer Kinder.

Ja, hat denn die Erkenntnis – ich hielt sie für Gemeingut –, daß es den Menschen verschlechtere, wenn man ihn für schlecht hält, nur in den Schulen keinen Eingang gefunden?


Und was soll ich von der Erziehung in den Privat-Mädchenschulen sagen! In ihrer jetzigen Formulierung passen sie nicht mehr in unsere Zeit, sie sind abzuschaffen.

Daß die pekuniäre Existenz der Leiterin von dem Schulgeld abhängt, daß jedes einzelne Kind ihre Einnahmen erhöht, sie vermindert, wenn es abgeht, führt zu Konsequenzen, die auf der Hand liegen. Eine der Konsequenzen dieser Verquickung der finanziellen mit den Schulinteressen ist die ganz menschenunwürdige Besoldung der Lehrerin. Selbst das anspruchsloseste weibliche Wesen kann mit 130 Mark monatlich nicht existieren. In den seltensten Fällen übersteigt die Entlohnung der Lehrerin in diesen Schulen 75 Mark.

Ferner: die Lehrerinnen mit der dürftigen Seminarbildung – wenn diese bei begabteren Persönlichkeiten nicht durch Selbststudium eine Aufbesserung erfährt – reichen für die höheren Klassen einer Mädchenschule nicht aus. Selbst die Ausdrucksweise einer solchen Lehrerin bleibt oft unter dem Niveau der Schülerinnen der ersten Klasse, falls diese in einem Milieu von reicher Bildung aufgewachsen sind.

Es ist schier unglaublich, welchen für ihre Stellung durchaus unqualifizierten Persönlichkeiten die Leitung von Mädchenschulen anvertraut wird.

Der Einfluss der Vorsteherin in der Privatschule wird in der Regel stärker sein, als der des Direktors einer städtischen Schule; denn, je geringer die Anzahl der Schülerinnen ist, je intimer und persönlicher wird sich der Verkehr zwischen den Kindern und der Leiterin gestalten, je häufiger und unmittelbarer wird ihr Eingreifen sein, wobei noch besonders ins Gewicht fällt, daß die Direktorin fast immer zugleich Lehrerin an der Schule ist.

Weiter: die angestellten Lehrerinnen befinden sich in viel direkterer und persönlicherer Abhängigkeit von der Vorsteherin, als es bei den Staatsangestellten der öffentlichen Schulen der Fall ist. Sie können von ihr ganz nach Willkür entlassen werden, was eine Gefügigkeit ihrerseits ergibt, selbst solchen Maßregelungen und unwürdigen Tendenzen der Leiterin gegenüber, die sie von Herzen missbilligen.

Auch führt die geringe Besoldung in den Privat-Schulen dazu, daß die besseren Lehrkräfte den öffentlichen Schulen zufallen.


Eine Reihe kleiner Vorkommnisse, (sie ließen sich bis ins Unendliche vermehren) charakteristisch für die Pädagogik dieser Schulen, seien hier mitgeteilt.

Die Auslegung des Schillerschen Verses "Errötend folgt er ihren Spuren," u.s.w., die eine Lehrerin den Schülerinnen gab, mag wohl einem Köpfchen von exzeptioneller Kümmerlichkeit entsprungen sein: "Die Jungfrau nämlich," meinte das Lehrfräulein, "hat soviel gelernt, französisch, englisch, und immer ist sie fleißig gewesen. Der Jüngling hingegen war faul und hat nichts gelernt, darum errötet er vor ihr."

In einer andern Schule sagt ein Lehrer – er gebraucht auch mit Vorliebe das Wort "Schaute" – zu den beinahe erwachsenen Mädchen: "Ihr seid ja wahre Straßenmädchen, was müsst ihr für Eltern haben, die euch so miserabel erzogen haben!"

Nicht eine sonderbare Art, den Kindern das vierte Gebot einzuprägen?

Ein Kind hat ein Heft zu Hause gelassen. Die Lehrerin, die erfahren hat, daß die Kleine demnächst in eine Pension kommen wird, fährt sie an: "Gott sei Dank, daß du in eine Pension kommst, dann sind wir dich Gräuel los."

Auf einer Landpartie, die die Klasse unternimmt, kaufen sich die Kinder Ansichtskarten. Fräulein B. verbietet es ihnen. "Überlasst das gefälligst den Gemeindeschülerinnen. Für euch schickt es sich nicht."

Von der Pflege sozialer Gesinnung wird in diesen Schulen nicht ein Hauch verspürt.

Es wird die Stelle aus dem Gesangbuch vorgelesen: "von Mutterleib und Kindesbeinen an." Fräulein B. bemerkt, daß ein Kind lächelt: "Du bist ja schon ein ganz verdorbenes Kind, ich müsste allen andern Kindern verbieten, mit dir umzugehen. Aus der Schule müsste ich dich jagen" u.s.w.

Ein Kind kommt nach dem Tode des Vaters in tiefer Trauer zum erstenmal wieder in die Schule. "Dein Vater," herrscht die feinsinnige Lehrerin sie an, "ist gewiss aus Ärger über deine schlechten Zensuren gestorben."

Dieselbe Dame warnt die Mädchen vor dem zu vielen Denken. Wer zuviel denkt, würde wie Nietzsche wahnsinnig.

Den Kindern, auch denen der untersten Klasse, ist verboten, während des Unterrichts hinauszugehen, weil das "unanständig" wäre. Erst als ein paar Mal ein Malheur passiert ist, nimmt man das Verbot zurück.

Ein Kind in der ersten Klasse einer Mädchenschule (natürlich außerhalb Berlins) trägt das Haar unordentlich in die Stirn gekämmt. "Du siehst ja aus," sagt die Lehrerin, "wie eine Konfektioneuse oder wie ein Mädchen aus der Friedrichstraße."

(Ich möchte beinah annehmen, daß die Lehrerin selbst die Bedeutung dieser Worte nicht kannte.)

Das unschuldige Kind geht zu allen Mitschülerinnen, ob sie ihr nicht sagen können, was das heißt: "Mädchen aus der Friedrichstraße."

Die Eltern nehmen das Kind aus der Schule. Am andern Tage fragt das Fräulein die Schülerinnen der Klasse: "Na, ihr freut euch doch gewiss, daß Erna fort ist?" "Ja" antworten die Feiglinge.

Die Privat-Mädchenschulen sind – nicht alle selbstverständlich – Pflegestätten des Antisemitismus.

In, einer dieser Schulen ist immer die Rede. davon, welches Kind Jüdin ist und welches nicht. "Darfst du mit einer Jüdin umgehen, Lili?" – "I, bewahre." "Ich auch nicht."

Fast unglaublich erscheint die Äußerung, zu der sich ein Lehrer im antisemitischen Feuereifer hinreißen ließ (natürlich außerhalb Berlins). Gelegentlich einer Erörterung des modernen Dramas teilte er den jungen Mädchen mit: In einem der großen Berliner Theater habe der Direktor die Rolle einer frommen Christin von einer Jüdin darstellen lassen, um sich die Protektion der reichen Berliner Jüdinnen zu sichern.

Gehört es nicht zu den überall propagierten Ideen, daß Schule und Haus Hand in Hand gehen sollen? Die Mütter scheinen diese Ideen in das Repertoire ihrer ethisch-pädagogischen Vorstellungen noch nicht aufgenommen zu haben. Ihre Gleichgültigkeit oder wenigstens Gleichmütigkeit und Tatenlosigkeit Fehlgriffen der Schule gegenüber, die einer ethischen und intellektuellen Entwicklung ihrer Töchter direkt entgegenwirken, entrüsten den Anwalt der Kinder.

Zweifellos gibt es auch Privat-Mädchenschulen, in denen ein edler Geist herrscht, in denen es den bestimmenden Persönlichkeiten mit der Charakter- und Intelligenzbildung der weiblichen Kinder Ernst ist. Ebenso zweifellos aber ist es, daß sie in der Minorität sind.


Das Morgenrot einer besseren Zeit für die weibliche Kultur scheint anzubrechen. Endlich haben zwei Vororte Berlins die Konzession erhalten zu einem – halben Gymnasium. Gymnasialkurse bestehen in Berlin, ich glaube seit 6–7 Jahren. Die Wehen, die der Geburt dieser Halbgymnasien vorausgingen, waren schwere. Daß es nur Versuche, Experimente sein sollen, wird nachdrücklich von den Machthabern betont. Die Resultate dieser Versuche dürften kaum Beweiskraft haben. Sie sind wie ein Wettlauf, wo man der einen Partei Gewichte an die Füße hängt. Solche Gewichte sind die widersinnigen, lieblosen Gymnasialkurse, die in die Nachmittags- und Abendstunden fallen, die jungen Mädchen vom 16. bis zum 21. Lebensjahr aller geselligen Vergnügungen berauben und die außerdem störend in das Familienleben eingreifen. Andere ihrer Missstände hier zu erörtern, würde zu weit führen.

Ein anderes Gewicht, wenn auch von kleinerem Kaliber, ist die Verfügung, daß in die eben erst zu errichtenden Gymnasien die weiblichen Kinder vor dem zwölften Jahr nicht eintreten dürfen, und auch nur dann, wenn ihnen ein Gesundheitsattest vom Arzt ausgestellt wird. (Für die Ehe aber würden die Nichtgesunden gesund genug sein?) Welche Schwierigkeiten und Schikanen die jetzt eingehenden zwei Privat-Gymnasialklassen zu überwinden hatten, ehe man ihre Eröffnung gestattete, ist unsagbar.


Verwundert blicken wir auf den Schneckengang, mit dem man sich an den maßgebenden Stellen bei der Zulassung des weiblichen Geschlechts zu Gymnasien und Universitäten vorwärts bewegt, immer erst in langen Zwischenräumen eine winzig kleine Konzession nach der andern machend, und immer in der Stimmung, als wäre nun schon das Äußerste getan, und zwar etwas, das jederzeit zurücknehmbar wäre.

Sehen sie denn nicht, diese Minister, Dekane u.s.w., daß ihr missmutiges Zurückhalten auf der einen Seite eine Ungerechtigkeit und Härte ist? denn sie errichten damit für die Vorwärtsdrängenden Barrieren, die zu überwinden für das weibliche Geschlecht einen Kraftverbrauch erheischt, der dem männlichen erspart bleibt. Und auf der andern Seite bekunden sie mit ihrem Verfahren die sonderbare Naivität, hindern zu wollen, was kein Sterblicher zu hindern vermag; eine Zukunftsblindheit, die nicht ahnt, daß dem Schritt, den sie heute tun, morgen ein zweiter, übermorgen ein dritter folgen muß.

Sie taten aber auch den ersten Schritt nicht freiwillig! Wenn es von ihrem Willen abhinge, würde nie eine Frau die Schwelle der Universität überschritten, würde nie ein weibliches Kind in einer Gymnasialklasse gesessen haben. Sie sind von ihrem Standpunkt, daß die Frau ins Haus gehöre, noch nicht um eines Fingers Breite abgewichen Wir brauchen Uns nur an ihre eigenen, im Reichstag gesprochenen Worte zu halten.

Nicht freiwillig? Wer zwingt sie, gegen ihre Überzeugung zu handeln? Etwa die Agitation der Frauenrechtlerinnen? Nein.

Sie sind die Handlanger einer unabweisbaren Notwendigkeit. Sie werden vergewaltigt von einer Macht, die, Waffen- und wehrlos, niemals kämpft und immer siegt, die immer entflieht und doch immer da ist. Selbst ohne Willen und Wollen bricht an ihr sich jeder Wille wie Glas. Diese Allgewaltige ist die Zeit, ist die Kulturentwicklung über allem wilden Streiten schreitet sie ruhig und unaufhaltsam vorwärts, mit einem Schritt von Erz, in der Rechten eine Fackel, die in alle Weltwinkel hineinleuchtet. Auf ihren sausenden Flügeln trägt sie Tod und Geburt. Das Tote bleibt hinter ihr. Was sie geboren, lebt weiter, trotz aller Minister und Universitätsdekane. Es gibt für unsere Gegner kein Entrinnen.

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