Hedwig Dohm
Die Mütter
Hedwig Dohm

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Der Einfluss der Umgebung.

Denjenigen Müttern, die das Gewährenlassen, das Nichterziehen dem Kinde gegenüber für das Richtige halten, läge immerhin noch die Pflicht ob, die schädigenden Einflüsse, die dem Kinde drohen, von wem immer sie ausgehen mögen, so viel als möglich abzuwehren.

Die kleinen Kinder werden in erster Linie – wie schon erwähnt – von Kinderfrauen und Kinderfräuleins erzogen, die den weitaus größten Teil des Tages mit ihnen zusammen sind und die die Kinder um so stärker beeinflussen müssen, da ihre naivere Denk- und Empfindungsart dem Kindeswesen näher verwandt ist, als die der kultivierteren Mutter.

Es ist kaum begreiflich, wie liebevolle Mütter den ungebildeten oder kaum halbgebildeten und viel zu jungen Fräuleins die Erziehung ihrer Kinder anvertrauen mögen; ja, sie halten es vielfach für ihre Pflicht, ihre verkehrtesten Maßregeln zu dulden, in der Meinung, sie dürften sie vor den Kindern nicht bloßstellen. Wenn die Mütter wüssten, in wie unverantwortlicher Weise die Wärterinnen oft genug ihr Vertrauen missbrauchen!

Ich bin ein friedfertiger Mensch, aber schon oft habe ich in den Straßen Berlins oder im Tiergarten heftige Szenen mit Kinderfrauen oder –Fräuleins gehabt, wenn ich sah, wie sie die ihnen anvertrauten Kinder pufften. Selbstverständlich gibt es auch Fräuleins von Güte und Intelligenz, bei denen irgend eine Misshandlung der Kinder ausgeschlossen ist. Zur Erzieherin qualifizierte gibt es kaum, Gott müsste es ihnen denn im Schlafe gegeben haben.

Mehr oder weniger neigen sie zur Prügelpädagogik. Ein von ihrer Hausfrau hochgeschätztes Fräulein sagte mir kürzlich: "Der Fritz hat schon wieder miserabel geschrieben, da habe ich den Stock genommen, und eine tüchtige Tracht Prügel hat gewirkt."

Ein anderes Fräulein verfuhr noch härter. Alle Unarten, die das Kind im Laufe des Tages sich hatte zuschulden kommen lassen, schrieb sie in ihr Gedächtnis. Und abends, wenn das Kind im Bett lag, rekapitulierte sie seine Frevel. Sie nahm ihm gewissermaßen eine Beichte ab. "Bist du heute ungehorsam gewesen, Lieschen?" – "Ja." – Klatsch, eine Ohrfeige. – "Warst du es, die ein Stück Zucker genascht hat?" – "Ja." – Klatsch, eine Ohrfeige. – "Hast du versucht, mich zu belügen?" – "Ja." – Klatsch, eine Ohrfeige. In einer grausamen Genussgier brachte diese, für ein Büttelamt prädestinierte Dame es oft auf 6–8 Ohrfeigen. Und dann erst, nach der Beichte, durfte das heulende Kind beten.

Hänschen, siebenjährig, soll mit Fräulein die Rechenarbeit durchnehmen. Er ist zerstreut. Das Fenster steht offen, ein Vögelchen fliegt ab und zu.

Fräulein schreit aus vollem Halse: "Wenn du fünf Äpfel hast, und sollst sie fünf Kindern geben, wie viel Äpfel kriegt jedes Kind?"

Hänschen, verwirrt durch den zänkischen, schreienden Ton, hat im voraus das Gefühl, daß er etwas sehr Dummes sagen wird. Er schweigt, Fräulein schreit immer heftiger und lauter auf ihn ein: "Du bist ja zu dumm, nun reißt mir die Geduld. Du denkst wohl, ich habe keine Nerven, da möchte man ja lieber Steine karren, als dir was beibringen. Ein Brett hast du vor dem Kopf…" und so ging es weiter.

In den meisten Fällen liegt dieser indianermässigen Erziehung nicht böser Wille, sondern mangelnde Kultur und pädagogische Unfähigkeit zugrunde.

Abgesehen aber von solchen groben oder handgreiflichen Ausschreitungen, ist auch der Einfluss, den diese impulsiven Erzieherinnen auf Gesinnung und Anschauung der Kinder ausüben, nicht zu unterschätzen.

Hänschen, der schon sehr viel Spielzeug hat, will sich noch ein neues kaufen. "Willst du nicht lieber einem armen Kind das Geld schenken?" fragt die Tante. "Aber nein," sagt er, "die Kinderfrau hat mir erzählt, da war einmal eine arme Frau, die ging mit einem Leierkasten umher und war ganz zerrissen; wenn sie aber abends nach Hause kam, dann hatte sie Gesellschaft und es gab Braten."

Der achtjährige Otto, Kind einer sehr reichen Familie, erhält den Besuch seiner Cousinen, deren Eltern in bescheidenen Verhältnissen leben. Die ältere ist schon zwölf Jahr. Sie will nach Tisch ein wenig lesen. Ottos Fräulein verbietet es ihr, sie sei zu Ottochens Vergnügen, nicht zu ihrem eigenen eingeladen. Die kleinere Cousine darf Ottochen im Wägelchen durch den Garten fahren, je mehr, je besser, aber nicht umgekehrt. Denn Otto ist das Herrschaftskind.

Als ich einmal einem Enkelchen eine gräuliche, von dem Kindermädchen stammende Höllengeschichte ausreden wollte, beharrte es dabei: "Aber die Anna hat‘s gesagt, die muss es wissen, weißt du, Großmuttchen, du bist zu alt, du hast das schon vergessen."

In einem Seebad wollen Kinder am Strand mit den armen Ferienkindern eines Kinderasyls spielen. Ihr Fräulein verbietet es: »Das schickt sich nicht, das ist unter eurem Stand."

Glücklicherweise pflegt dieser Einfluss der Kinderwärterinnen nicht vorzuhalten. Sobald das Kind schulpflichtig geworden, weicht er maßgebenderen Faktoren, bei denen wieder der Mutter eine bedeutsame Rolle zufällt.

Es gibt eine Art der Erziehung, die von einer Kraft und Wirksamkeit ohnegleichen ist, die keine direkte Tätigkeit erfordert, kein pädagogisches Talent, keine Zeit, keine Mühe. Es ist das Beispiel der Eltern. Wer je über Erziehung ein Wort gesagt oder geschrieben, hat auf dieses stärkste aller Erziehungsmittel hingewiesen. Es liegt auf der Hand, es drängt sich dem Gedankenlosesten auf.

Nichts kann verhindern, daß die Mutter erzieherisch auf die Kinder einwirke. Ob sie will oder nicht will, ob sie dem Kinde schadet oder nützt, sie tut es in jeder Stunde ihres Lebens, in der sie mit den Kindern zusammen ist.

Oft wird für eine systematisch gute Erziehung gehalten, was einfach die Eigenart des Vaters oder der Mutter an den Kindern bewirkt hat. Ich weiß ein markantes Beispiel: Die Kinder der Frau, von der ich sprechen will, erregen das Erstaunen aller Welt und den Neid der Mütter durch die Reife ihrer Intelligenz, die Selbständigkeit und Klarheit ihres Denkens. Man findet nicht Worte genug, um die ausgezeichnete mütterliche Erziehung, der man diese Resultate zuschreibt, zu rühmen. In Wahrheit aber lag nicht die geringste bewusste erzieherische Absicht der Mutter vor. Diese Mutter ist eine Frau von starker Intelligenz und schärfster Logik. Faseleien, leeres Geschwätz, selbst nur konventionelles Hinreden sind ihr, nicht nur bei ihren Kindern, auch bei allen Personen ihres Umgangskreises unerträglich. Durch ihr schroffes Zurückweisen von Urteilen und Behauptungen, die nicht begründet werden, schüchtert sie die Selbstbewusstesten ein und zwingt sie zu denken, ehe sie reden, oder – zu schweigen. Und allein der Persönlichkeit, der Wesensart dieser Mutter, verdanken die Kinder ihre Intelligenzqualitäten, ihre frühzeitige Vernunft und Denkentwicklung.


Neben den Eltern ist es die weitere Umgebung, das ganze Milieu, in dem das Kind aufwächst, das einen bestimmenden Einfluss auf sein ganzes Leben gewinnen kann. Nachahmungslust und –Sucht ist fast allen Kindern gemeinsam.

Eine kleine Verwandte von mir brachte einen Winter mit ihren Eltern in Rom zu. Während einiger Monate besuchte sie eine Nonnenschule. Es dauerte nicht lange, so bekreuzte sie sich heimlich und sang Kirchenlieder. Ihr Lieblingsspiel wurde: Messe lesen. Das Weihrauchfass war eine Schüssel, gelegentlich auch eine mit Pflaumen- oder Apfelmus gefüllte, die sie über der frommen Gemeinde schwang, die aus ihrem Schwesterchen und einer Holz-Menagerie von Hunden, Schafen u.s.w. bestand. Und sie war sehr böse, als das Schwesterchen sich weigerte, die vorgeschriebenen frommen Knickse zu machen. Auch wollte sie unter allen Umständen Nonne oder – Eseltreiber werden.


Dore will ihrem englischen Fräulein nicht mehr die Hand geben; warum? natürlich wegen der Buren.


Der fünfjährige Andreas wird aufgefordert, mit anderen Kindern bestimmte Kinderlieder zu singen. "Ach nein," sagt er, "so dumme Lieder singe ich nicht, ich singe nur Wagner.‘‘


Ich kaufe mit Märtchen Kuchen ein, und sage: "Wir wollen der Waschfrau auch ein Stück Kuchen mitbringen. Sie sieht mich erstaunt an: "Aber nein, Waschfrauen kriegen doch keinen Kuchen?"


Die Kinder hören, wie der Vater in verächtlichen Ausdrücken von einem Journal spricht. Eine Tante kommt zu Besuch, und als Reinhard zufällig hört, daß sie auf dieses Journal abonniert ist, will er sie nicht begrüßen, sie soll erst ihr Abonnement auf das "Saublatt<‘ aufgeben.


Reinhard ruft seine Mutter, er habe etwas Wunderschönes gebaut. Was war es? Zwei Säulen, durch einen langen Faden verbunden, an dem verschiedene Soldaten hingen. Die Säulen stellten einen Galgen vor, die Soldaten waren Franzosen, die die Deutschen gefangen und aufgehängt hatten.


Franz und Fritz (zehn- und elfjährig) benutzen die Konzertbillets ihrer Eltern. Auf dem Hinweg werden sie darüber einig, daß es einesteils sehr fein und sehr musikalisch aussehe, bei besonders schwierigen Stellen mitzuzählen, und anderenteils einen sehr erwachsenen Eindruck mache, wenn man in den Pausen aufstehe und das Publikum betrachte. Und dementsprechend benehmen sie sich denn auch.

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Bei Kindern, die in Reichtum aufwachsen, macht sich der Einfluss des Milieus oft in trauriger Weise bemerkbar.

Woher kommt es, daß häufig Söhne sehr reicher Häuser entgleisen, oder über ein geistig inferiores Niveau nicht hinauskommen?

Es braucht hier durchaus keine persönliche Verschuldung der Eltern vorzuliegen. Der Vater hat vielleicht in rastlosem Fleiß, mit dem Aufbieten all seiner physischen und psychischen Kräfte die Millionen erst erworben, und kein Makel haftet an ihm oder an seiner Gattin. Es ist vielmehr die ganze Atmosphäre des Reichtums, des Luxus, die allen Sinnenreizen schmeichelnde Üppigkeit der ganzen Lebenshaltung, die diese Reize fördernde Überernährung, es ist die unsoziale Denk- und Anschauungsweise mit ihrer Überschätzung des materiellen Moments – ein Charakteristikum der Geldmacht – all das ist angetan, die sittlichen Kräfte des Kindes schon an ihrem Ausgangspunkt zu brechen.

Dinge, die sie sehen und hören, legen sich, bei ihrer eminenten Aufnahmefähigkeit, leicht in ihnen fest als Keime, aus denen Verkrüppeltes aufwächst. (z.B. der Rentier von 25 Jahren), falls nicht eine natürliche, starke und edle Veranlagung ihnen entgegenwirkt.

Die Kinder solcher Häuser haben keine Widerstände zu überwinden, an denen die sittliche Kraft wird und wächst. Die gebratenen Tauben fliegen ihnen gewissermaßen von selbst in den Mund. Wünsche, Ansprüche, die immer gleich erfüllt werden, erzeugen sofort neue und immer steigende. Man beobachte: je mehr Spielzeug ein Kind hat, je mehr verlangt es.

Auch das Dienstpersonal in sehr reichen Häusern, von deren Protzenhaftigkeit man sich keine Vorstellung machen kann, spielt dabei eine Rolle. Ich habe mit eigenen Ohren gehört – auch die Kinder hörten es –, wie ein Diener sich weigerte, dem Lehrer und der Lehrerin dieser Kinder ein Frühstück zu servieren. Das sei Sache des "Stubenmädchens", er habe nur "Herrschaften" zu bedienen.

Hätte man frühzeitig diejenigen Kinder, deren Charakteranlagen Anlass zu Befürchtungen bot, aus der Schwüle dieser allzu materiellen Lebenshaltung heraus in eine andere, frischere, härtere Luft versetzt, wo ideelleren Tendenzen günstigere Winde wehen, sie wären voraussichtlich der Gefahr der Entgleisung entgangen.

Die Gewohnheiten des Elternhauses werden den Kindern eine Norm für die Beurteilung aller Lebensinhalte.

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Die Kinder haben das Wort.

Ottochen, 4 Jahre alt, ist der Sohn eines millionären Bankdirektors. Er darf zu seinem Geburtstag eine Kindergesellschaft geben. "Nein," sagt er, "ich will lieber eine Generalversammlung geben."


Ottoleins Vater ist Jude. "Ich will aber nicht als Jude begraben werden," sagt das Bübchen, "weil ich vierspännig begraben werden will."


Erichs Mutter fragt den Fünfjährigen, ob es bei der projektierten Kindergesellschaft Schokolade geben soll. "Nein," sagt er, "ich glaube, Tee ist jetzt eleganter, bei Fritzchen gab es auch Tee."

Dasselbe Kind findet auch, daß eine Hochzeit ohne Diener eine wahre Lumpenhochzeit ist.

Die sechsjährigen Zwillinge Ruth und Fritz sind bei einer Freundin der Mutter zu Tisch geladen. Ruth (sie hat eine französische Bonne und verwelscht vielfach das Deutsche), ein Kind von süßestem Liebreiz, berichtet der Mutter darüber: sie sei gar nicht avide gewesen. Allerdings hätte sie auch geglaubt, das Diner würde besser sein. Nämlich: "in der Suppe war so etwas komik Weichliches, und der vol au vent ist bei uns viel besser, er hatte kein bisschen gelbe Sauce, und der Kalbsschlegel war sec und sehr gesalzen, und das glace hatte einen so unangenehmen arrière-goût" u.s.w.


Der zwölfjährige Ernst hat auf seinen Schrank eine Büste von Nietzsche gestellt: "Was," sagt sein elfjähriger Freund, "den liest du? ich nicht, so ein fader Geselle."

Ernst dichtet auch. Seine Dichtungen aber sind derartig, daß die Mutter ihm verboten hat, sie – seine eigenen Gedichte – zu lesen. Der Wintergarten und geschminkte Dirnen sollen darin vorkommen.

Sein Freund, der Fritz (14 Jahre alt), fragt seine Mutter: "Darf ich das Buch lesen?" "Ja." – "Dann lese ich es nicht."

Der zwölfjährige Georg sagt zu seinem achtjährigen Bruder: "Die Frauen sind alle Kanaillen." Und Fritzchen antwortet: "Ja, besonders die Klara Z."


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