Hedwig Dohm
Die Mütter
Hedwig Dohm

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Die Strafe in der Familie.

Ich habe Gelegenheit gehabt, in vielen gebildeten Familien die Wirkung der Strafen zu beobachten, und ich bin zu dem Resultat gelangt, daß sie in den meisten Fällen zwecklos waren, zwecklos, weil sie zur Besserung und Veredlung des Kindes nicht dienten. Allenfalls waren sie als Schreckmittel anzuwenden, wo es galt, eine Selbstbeschädigung des Kindes zu verhüten.

Die Rute hinter dem Spiegel (früher allgemeiner Gebrauch) ist symptomatisch für eine Erziehungsmethode, bei der die Strafe wie ein Damoklesschwert über Kinder-Glück und –Freude schwebt.

Über die dem Kind zu erteilenden Strafen pflegt die Durchschnittsmutter nicht sonderlich nachzudenken: Einsperren, in die Ecke stellen, Nahrung entziehen, prügeln, Beschämung vor anderen, und – schelten, ja schelten – das ist die Hauptsache. Und doch ist dieses unaufhörliche, jedem ästhetischen Sinn zuwidere Schelten das wirkungsloseste aller Strafmittel, ein das Ehrgefühl abstumpfendes, die Atmosphäre des Hauses wie mit übler Luft erfüllendes.

Der Mutter (dem Vater aber auch) fehlt es zumeist an der kühlen Ruhe, der Zucht der Nerven, dem objektiven Überderstrafestehen, die das Strafamt heischt. Die Eltern tragen ihre Erzürntheit, ihre leidenschaftlichen Affekte in die Strafe hinein, sie wächst ihnen gewissermaßen über den Kopf, so daß sie dann nicht selten über das beabsichtigte Maß hinaus zur Ausführung gelangt und eher den Eindruck einer Entladung des elterlichen Zorns, als den eines auf die Besserung des Kindes abzielenden Tuns macht.

Muss denn immer so viel Getöse bei der Erziehung sein? Mir will scheinen, sie müsste wie auf leisen Sohlen zu bewerkstelligen sein, wie hinter dem Rücken des Kindes.

Ich hörte, wie eine Mutter ihr Kind am Weihnachtsfest derb und heftig schalt und dann zu den Umstehenden sagte: "Wie schön ist‘s doch, zu Weihnachten im Kreis der Familie das Fest des Friedens zu feiern."

Man beobachte, wie etwa auf einem Spaziergang die Mutter sich zu den Kindern verhält. Schelten und Anschreien ist in Permanenz: "Lotte, du fällst ins Wasser" (das Kind denkt gar nicht daran). "Ernst, nicht so nah an den Baum, du machst dich grün, – Friedchen, herkommen, du hast ja Blaubeeren genascht. –" "Du sollst nicht, – du darfst nicht, – willst du gleich, – wirst du dich in acht nehmen, – mehr nach rechts gehen, – lass das, – tu das –" u.s.w. Ein Spaziergang mit einer solchen Mutter ist nicht vergnüglich.

Wofür so ein kleines Herzblättchen nicht alles gescholten wird! Auch für die herzigsten Äußerungen seiner kindlichen Unschuld und Naivität

"Geh," sagt die Mutter zu dem fünfjährigen Söhnchen, "frage den Großpapa, wie er geschlafen hat." "Ach, das interessiert mich gar nicht," sagt das aufrichtige Kind. Da hatte es seine Schelte weg.

Die Mutter verbietet in scharfer Tonart der elfjährigen Hilde, mit dem Schwesterchen, das im Bett liegt und schlafen soll, zu spielen. Sie tut es trotzdem. Die Mutter will aufbrausen. "Weißt du, Muttchen, mit Freundlichkeit kommst du bei uns viel weiter."

Wie unzählige Kindertränen werden geweint, die bei einer liebevollen Erziehung ungeweint bleiben könnten. Jede Mutter, die ein geliebtes Kind durch den Tod verlor, weiß, wie jeder Schlag, jedes böse Wort, jeder Wunsch, den sie aus Bequemlichkeit oder wenigstens grundlos versagte, auf ihrer Seele brennt.

Furchtbar sind die Strafen, die ein Kind unschuldig treffen. Sie werden niemals von ihm vergessen. Die erwachsenen Kinder halten sie den Eltern noch nach Jahrzehnten vor.

Eine der an Kindern verübten Grausamkeiten ist, sie zu Speisen zu zwingen, die sie nicht mögen. Ich erinnere mich aus meiner Kindheit, daß mir Erbsen widerstanden. Man zwang mich, sie zu essen. Ich erbrach sie. Später aß ich sie sogar gern.

Eine Familienszene wie folgende ist typisch: Ein Paulchen, das ich kenne, mochte seine Suppe nicht essen. Langsam, langsam löffelt er etwas davon. "Iß schneller," herrscht der Vater ihn an. Paulchen vertieft sich in den Suppenteller und will sich, – um die Aufmerksamkeit von der Suppe abzulenken – eine Bemerkung über die Figuren am Rand erlauben. – "Schweig und iss." – Er löffelt, mit Tränen kämpfend, weiter. Endlich – es ist vollbracht. Tief aufatmend legt er den Löffel fort. Das Argusauge des Vaters bemerkt, daß auf dem Grund des Tellers noch ein paar Löffelchen zusammenrinnen. – "Auf der Stelle wird die Suppe aufgegessen!" Paulchen verzieht‘s Mäulchen, ein Schluchzen steigt ihm in die Kehle. Er isst und schluckt seine Tränen mit herunter. "‘Was, du weinst? Hinaus mit dir!" Geheul. Prügel. – Die ganze Tafel ist verstört. Nach einer Viertelstunde erscheint das verheulte Paulchen wieder, der ganze kleine Körper zuckend vor Erregung, und muss Abbitte leisten.

Abscheulich solche Szenen!

Ein anderes, ansprechenderes Familienbild: Reinhard will auch seine Suppe nicht essen. Es sind nicht genug Klöße darin. "Iß sie nicht," sagt die Mutter, "die Klöße aber kannst du Lottchen geben." Reinhard miauzt noch ein Weilchen, dann isst er still seine Klöße selber. Und ungestört bleibt der Familienfrieden, unvergällt das Mahl.

Ein kleiner Knabe kommt häufig zu spät zu Tisch. Die Mutter dekretiert: "Kommt Fritzchen wieder zu spät, so tun wir, als wäre er gar nicht da, er ist Luft für uns." – Fritzchen kommt zu spät, niemand erwidert seinen "Guten Tag," niemand antwortet ihm, wenn er fragt. Dieses Luftfürallesein, diese stille, lärmlose Strafe trifft den Knaben aufs empfindlichste.


Es geschieht auch vielfach, daß Eltern Verfehlungen der Kinder strafen, die sie sich selbst zuschulden kommen lassen. Daß nichts geeigneter ist, die elterliche Autorität zu untergraben, liegt auf der Hand. Ich sah bei Tisch einen Vater unmanierlich essen. Als er einmal aufsah und bemerkte, daß das Kind auch unmanierlich aß, schlug er es auf die Finger, weil es tat wie er.

Ich hörte denselben Vater das Kind wegen seiner schlechten Haltung schelten. Es stößt die ältere Schwester an und flüstert ihr zu: "Sich mal, wie Vater sitzt." – Die Eltern strafen auch nicht selten das Kind, wenn es ihnen zufällig und unabsichtlich einen Ärger, eine Verletzung oder einen Schaden zufügt. Fritzchen hat dem Vater aus Versehen die Zigarre aus der Hand gestoßen, daß er sich daran verbrannte. Lieschen hat das Butterbrot auf das gute Kleid der Mutter fallen lassen. Derartige kleine Ungeschicklichkeiten, gewiss nicht strafbare, pflegen die Eltern durch einen tüchtigen Klaps zu sühnen; und sie verfahren dabei nicht verständiger als ein Kind, das den Tisch schlägt, an dem es sich gestoßen hat.

Klein Erich arbeitet im Salon umher. "Muttchen, komm!" Muttchen kommt. Das fleißige Kind hat ein riesiges Stück Seife in den Händen, mit dem es aus allen Kräften die hochelegante und sehr empfindliche Plüschdecke abreibt. Und voll Stolz und Tatendrang teilt er der Mutter mit: "Muttchen, schau, dein Sofa ist so verschmutzt, ich tu‘s sauber abwaschen." Ach Gott, das brave Kerlchen trug einen Katzenkopf davon. Die Tat war bös, aber das Kind gut, und es kommt doch auf das Kind an, nicht auf die Tat.


Die Autorität der Eltern fördernd und den Kindern ersprießlich sind auch diejenigen Strafen nicht, die so obenhin, ohne Ernst erteilt werden, nur so, um den Vater oder die Mutter herauszukehren, und die den Kindern zum Gespaß werden.

Lili hat rohe Schoten gegessen und wird deshalb von der Mutter gescholten. Sie will sich darüber vor Lachen kugeln. "Wie, du lachst, wenn ich schelte?" – "Na ja, weil ich mir nichts daraus mache." – "Du machst dir nichts daraus?" – "Weil du doch gar nicht wirklich böse bist."


Reinhard ist unartig. "Auf der Stelle gehst du da in die Ecke," schilt die Mutter. Reinhard springt vergnügt auf. "Ja, Muttchen, aber ich gehe lieber in die andere Ecke, die gefällt mir viel besser."

Reinhard hat gelogen. Der Vater ist sehr betrübt darüber. Die Mutter fragt: »Tut es dir nicht sehr leid, Reinhard, daß du den Vater betrübt hast?"

Reinhard: "Nein, wenn er nicht da ist."

Mutter: "Weißt du nicht, daß lügen etwas sehr Hässliches ist?"

Reinhard: "Unartig sein ist doch viel schlimmer."

Mutter: "Was verstehst du unter unartig sein?"

Reinhard: "Wenn ich nicht tue, was du mir sagst."

Mutter: "Du wirst zur Strafe eine ganze Woche im Kinderzimmer essen."

Reinhard: "Ei, ich esse sehr gern mit Fräulein."

Mutter: "Nicht mit Fräulein, ganz allein."

Reinhard: "Aber nicht auf der Wachstuchdecke, du musst ein Tischtuch für mich ganz allein aufdecken."


Die Mutter verkündet dem ungezogenen Lieschen: "Zur Strafe darfst du die nächste Einladung nicht annehmen." Die nächste Einladung geht von einer kleinen Cousine aus. Die Mutter und die ältere Schwester sind miteingeladen. Muttchen erlaubt daher, daß Lieschen die Einladung annimmt. "Oho," sagt Lieschen, "das lasse ich mir nicht gefallen. Erst verbieten und dann erlauben?"


Es gehört wohl zum Katechismus der Pädagogik, daß die Eltern einig in der Erziehung des Kindes sein müssen. Müssen? Wäre die Einmütigkeit nicht befremdlich, da Mann und Frau doch, wie man annimmt, so grundverschieden von einander sind?

Warum sollten überhaupt zwei Menschen, – ob Eheleute oder nicht – die fast auf allen Gebieten verschieden denken, die auf einer verschiedenen Bildungsstufe stehen, gerade in ihren pädagogischen Ansichten übereinstimmen? Und in der Tat, daß Vater und Mutter in ihren Erziehungsmitteln und ihren Erziehungszielen von einander abweichen, ist beinahe die Regel.

Die übereinstimmende Erziehung der Kinder setzt eine harmonische Ehe voraus. Sind die guten harmonischen Ehen, deren Segen die Kinder verspüren, in der Majorität? Meine Erfahrung verneint es. Fast immer werden die Kinder in die Missstimmungen und Konflikte der Ehe mit hineingezogen. Die Tränen der Mutter, der Zorn des Vaters fallen schwer auf die jungen Herzen. Sehr gering ist die Zahl der Eltern, die ihre Zerwürfnisse vor den Kindern geheim halten. Ja, nicht selten wird von Seiten der Eltern an das Urteil der größeren Kinder appelliert: "Wer hat Recht, Vater oder Mutter?" Und nicht nur ausnahmsweise kommt es vor, daß sich die Eltern in Gegenwart der Kinder über die Erziehung der Kinder streiten, was ihnen zu verbieten oder zu gestatten, wie sie zu strafen oder zu belohnen seien.

Der liebe, gute Herr Stephan, Lehrer einer kleinen Privatschule (ich werde nachher noch von ihm reden), erklärt den Kindern die zehn Gebote. Das sechste Gebot: "Du sollst nicht ehebrechen" erläutert er folgendermaßen: Kein Zwist und Unfrieden dürfe die Ehe stören, zeitlebens müssten Mann und Frau in Liebe und Frieden zusammenhalten, "wie ihr, liebe Kinder, es ja bei euren Eltern vor Augen habt."

Ein Schreien der Kinder durcheinander: ,,Aber nein, nein, unsere Eltern zanken sich sehr oft, manchmal Papa und manchmal Mama.‘ "Aber, liebe Kinder," unterbricht sie der ganz konsternierte Lehrer, "das ist dann nicht ernst gemeint." – "Doch, doch – ja ganz ernst gemeint," und Mariechen Meißner ruft: "Wenn ich mir morgens die Zähne putze, dann ist nebenan schon Krach."

Als Traut zu Hause die Sache erzählt, fragt die Mutter: "Du hast doch nicht mitgeschrieen, Trautchen?" "Jawohl, natürlich habe ich mitgeschrieen, ihr zankt euch doch sehr oft."

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