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5. Kapitel.
Ein schreckliches Geschehnis.

Zwölf Jahre waren verflossen.

Mit stiller Wehmut gedachte Anna Schrader ihres toten Mannes. An der Seite ihrer anmutvollen Tochter Eva verbrachte sie still ihr arbeitsames Leben. Das Geld, das sein Dasein verborgen im Schoße der Erde führte, hatte sie keinen Moment verlockt. Der Mammon, an dem die Schande und das Blut ihres Mannes klebte, existierte für sie nicht. Es gehörte dem Toten und ruhte mit ihm unter der Erde.

Nicht lange mehr hatte sie es in Hamburg gelitten. Als Frau Lange, ihre einzige Freundin, knapp zwei Jahre nach der Verurteilung ihres Mannes starb, hielt es sie nicht mehr länger an diesem Orte, der ihr Unglück gesehen, wo man ihre Schande kannte und nie vergaß. Sie bezog an der Landstraße, die den Norden Berlins mit Reinickendorf und Tegel verbindet, ein kleines, halb verfallenes Häuschen, und schuf mit ihrer hausfraulichen Sorgfalt und Sauberkeit die unwirtlichen Räume in ein Schmuckkästchen um.

Arbeit bekam sie in Hülle und Fülle, und den ganzen Tag gab die surrende Nähmaschine davon Zeugnis, daß die Unzufriedenheit des dahingegangenen Gatten ihr fremd war. Mit Freuden sah sie ihr Töchterchen, die kleine Eva, emporblühen. In den niedlichen Kleidchen, die die fleißigen Hände der Mutter nähte, sah das Kind, dessen blaue Augen so munter unter den blonden Locken in die Welt schaute, aus, wie ein kleines Prinzeßchen, und ihr Singen und Lachen zauberte auch seinen Widerschein auf ihre vergrämten Züge.

*

Die Morgensonne lugte ins Zimmer und weckte Klein-Evchen aus ihrem Schlafe. Etwas verwirrt richtete sie sich auf und rieb sich die blonden Aeuglein. Was hatte sie nur geträumt? Oder war es gar kein Traum, daß die Mutter in der Nacht so schrecklich geschrien hatte?

Ach, es war wohl nur ein Traum gewesen. Sie war erwacht, aber ringsum alles mäuschenstill, und sie war noch so müde. Da war sie dann schnell wieder eingeschlafen.

Wo blieb nur die Mutter? Es war doch sicher schon Zeit, aufzustehen und zur Schule zu gehen? Sollte Mutter vergessen haben, sie zu wecken, wie sie es sonst tat? War doch sonst der Mutter Kuß stets ihr Morgengruß.

Vorsichtig wandte sie das Köpfchen nach der Mutter Bett:

»Muttchen, aufstehen!«

Wie, keine Antwort? Und das Bett schien auch leer zu sein! Leichtfüßig schlüpfte sie in ihre Pantöffelchen. Sollte Mutter schon wieder an der Nähmaschine sitzen? Dann wollte sie aber mit ihr zanken! Würdevoll und energisch hob sich der Kinderkopf. Leise huschte sie zur Tür und öffnete sie behutsam. Doch, was war das? Da lag ja …

»Mutter!!«

Mit einem gellenden Schrei warf sich die Kleine über die Frau, die auf dem Boden lag.

»Mutter – was ist …?« Entsetzt prallte sie zurück. Die Augen der auf dem Rücken Liegenden starrten sie so seltsam gebrochen und gläsern an. Ein großes Loch klaffte im Schädel, und das dicke Blut, das daraus hervorgequollen, war geronnen.

Die Hand vor die Augen gepreßt, stürzte das arme Kind auf die Straße. Wie von Furien gepeitscht, rannte sie dem ersten Vorübergehenden in die Arme.

»Um Gottes willen, helfen Sie, meine Mutter – da!« Und mit abgewandtem Gesichte zeigte sie auf die Tür, hinter der sie den gräßlichen Anblick gehabt hatte.

Unwillig wollte sich der Mann, der zur Arbeit ging, abwenden, aber ein Blick auf das im Hemdchen vor ihm stehende Kind mit dem verängstigten, erschreckten Ausdruck in den Augen mochte ihm wohl die Ahnung von etwas Fürchterlichem eingeben.

»Was ist mit deiner Mutter, mein Kind?« fragte er, das Mädchen an die Hand fassend.

»Da drinnen, tot!« schluchzte Eva jetzt auf.

Entschlossen öffnete der Mann die Tür, das fassungslose Kind mit sich ziehend. Ein eiskalter Schauer fuhr ihm über den Rücken, als er jetzt das schreckliche Bild vor sich sah.

Die Polizei mußte sofort benachrichtigt werden. Er tröstete das Kind, versprach, sofort Hilfe zu schaffen und wies sie an, das Haus nicht zu verlassen, sondern sich anzukleiden und auf den Arzt zu warten.

Mit bebenden Fingern und mit von Tränen verdunkeltem Blick zog sich das arme, so plötzlich zur Waise gewordene Kind das Kleidchen an, das die arme, stille Dulderin, die im Nebenzimmer lag, ihr mit soviel Liebe genäht hatte.


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