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Im Bankhause von Robinsohn & Sohn herrschte am 12. Mai 189.. große Aufregung. Um zwei Uhr hatte man die beiden Kassenboten Schrader und Lange mit einem Geldbetrage von 150 000 Mark zu einem Kunden gesandt, der diesen Betrag am Hochzeitstage seiner Tochter seinem Schwiegersohne als Mitgift überreichen wollte.
Um vier Uhr läutete der alte Senator Hansen an, mit der erregten Anfrage, wo das Geld bliebe. Der kahlköpfige, hagere Prokurist Steffens, der das telephonische Gespräch führte, beteuerte, daß zwei Kassenboten mit dem gewünschten Betrage um zwei Uhr mit einer Droschke fortgefahren und bis jetzt nicht zurückgekehrt seien. Es waren erprobte, schon seit zehn Jahren im Hause beschäftigte Diener.
»Ja, lieber Herr Steffens, was kümmert mich das? Mein Schwiegersohn will heute abend seine Hochzeitsreise antreten, und ich habe Sie gebeten, mir das Geld bis drei Uhr bestimmt herzusenden!«
»Herr Senator, ich werde persönlich in einer halben Stunde bei Ihnen sein und Ihnen das Geld überbringen,« beruhigte ihn der Prokurist. Darauf klopfte er an die Tür des Privatkontors.
Herr Robinsohn stellte an Hand des Reichskursbuches soeben eine Schweizer Reise zusammen, um die ihm seine Frau seit drei Wochen in den Ohren lag, legte aber das Buch sofort zur Seite, als er seinen Prokuristen so aufgeregt eintreten sah.
»Was ist denn los, Steffens, haben Sie schlechte Nachrichten über ›Phönix‹?«
»Der Teufel ist los, Herr Robinsohn!« stöhnte der Prokurist, »Lange und Schrader sind seit zwei Stunden zum Senator Hansen mit 150 Mille, und soeben klingelt Hansen an, das Geld sei noch nicht dort.«
»Alle Wetter, Steffens, das ist ja eine nette Bescherung! Ob den beiden vielleicht ein Unglück passiert ist?«
»Unmöglich, Herr Robinsohn! Sie sind vor meinen Augen am Gänsemarkt in eine Droschke gestiegen und hätten wohl nicht versäumt, uns zu benachrichtigen, wenn ihnen etwas zugestoßen wäre. Im schlimmsten Falle wäre uns auch wohl schon eine Benachrichtigung seitens der Polizei zugegangen.«
»Ja, Steffens, dann gibt es nur eine Erklärung: die beiden sind durchgebrannt! Benachrichtigen Sie sofort die Polizei und bitten Sie, die Sache sofort in die Hand zu nehmen. Was geschehen soll, muß gleich geschehen. Hansen überbringen Sie wohl am besten das Geld persönlich, denn er wird darauf warten.«
»Ich habe ihm bereits versprochen, das Geld persönlich in kürzester Zeit zu überbringen!«
»Also los, Steffens, nehmen Sie ein Auto, das andere werde ich selbst anordnen.«
Während Steffens sich ankleidete, und ein Lehrling ein Auto holte, ließ sich Herr Robinsohn mit dem Stadthause verbinden und erbat in dringendster Angelegenheit den sofortigen Besuch eines befähigten Beamten. Es waren auch noch keine fünfzehn Minuten vergangen, als ein Wagen über das holprige Pflaster des Gänsemarktes rumpelte und vor der Tür des bekannten Hamburger Bankhauses hielt.
Ihm entstieg ein etwa dreißig Jahre alter Mann, dem man die militärische Schule ansah, dem man es aber wohl zutraute, daß ihm so leicht keiner ein X für ein U machte. Es war Kommissar Witte, der trotz seiner verhältnismäßigen Jugend von den Vorgesetzten sehr geschätzt wurde, weil er in seinen Unternehmungen eine glückliche Hand hatte.
Bei seinem Eintritte gerieten die Angestellten in Aufregung.
Der Kommissar ließ sich bei dem Chef anmelden und wurde natürlich sofort vorgelassen.
150 000 Mark waren auch für dieses gut fundierte, große Haus eine beträchtliche Summe, und das aus seinem gewohnten Geleise gekommene Personal erwog eifrig die Chancen, welche die beiden Defraudanten haben konnten, um ihre Freiheit und ihren ergaunerten Besitz zu behaupten. Denn, trotzdem die beiden Boten so lange im Hause waren, und jeder gestern noch auf ihre Treue und Ehrlichkeit geschworen hätte, so gab es doch jetzt, obwohl nur der Schein gegen sie sprach, niemand, der an einen unverschuldeten Unglücksfall auch nur dachte.
Kommissar Witte hatte währenddessen dem nervösen alten Herrn gegenüber Platz genommen und hörte aufmerksam dem Berichte desselben zu, ohne ihn auch nur mit einem Worte zu unterbrechen.
»Sie sind also sicher, daß die beiden mit dem Gelde das Weite gesucht haben?« meinte er dann, als Herr Robinsohn schwieg.
»Ja, gibt es denn eine andere Möglichkeit?« meinte der verzweifelte alte Herr.
»Wie lange sind die beiden in Ihrem Hause?«
»Schrader acht, Lange zehn Jahre.«
»Und Sie haben nie über sie zu klagen gehabt?«
»Was ihre Ehrlichkeit anbelangt, nie!« entgegnete Herr Robinsohn.
»Die Summe bestand also, wenn ich Sie richtig verstanden habe, in 150 Tausendmarkscheinen? Haben Sie die Nummern notiert?«
»Das ist selbstverständlich,« sagte der Bankier, gleichzeitig auf einen Knopf drückend. »Haase, bringen Sie mir sofort das Verzeichnis der Nummern, die Sie für Senator Hansen aufgesetzt haben,« fuhr er fort, als nach kurzem Anklopfen der Buchhalter erschienen war.
Eilfertig brachte derselbe das Verzeichnis herbei und überreichte es auf einen Wink seines Chefs dem Kriminalbeamten.
»Nun, dann sollte das Geld wohl nicht verloren sein, wenn nicht …« Der Beamte sann einen Moment vor sich hin und sagte dann etwas lebhafter zu dem Bankier, der gespannt auf die Aeußerungen des ihm von der Behörde so warm empfohlenen Beamten wartete: »Lassen Sie, bitte, durch einen Ihrer Angestellten sofort an sämtliche Bankgeschäfte telephonieren und an Hand dieser Liste nachfragen, ob heute einer dieser Scheine vorgelegen hätte.«
Herr Robinsohn entsprach dieser Anordnung.
»Sind die beiden Verdächtigen junge oder ältere Leute, ledig oder verheiratet? Geben Sie mir, bitte, alles an, was Sie über dieselben wissen,« forschte der Kommissar.
»Schrader ist seit zwei Jahren zum zweiten Male verheiratet. Seine erste Frau starb vor drei Jahren und hinterließ ihm einen vierzehnjährigen Sohn. Aus zweiter Ehe hat er noch keine Kinder. Lange ist seit zwölf Jahren verheiratet und hat einen Sohn ungefähr in gleichem Alter wie der junge Schrader. Er kam ein bißchen früher, als wohl von den Eltern beabsichtigt worden war. Schrader und Lange wohnen, wenn ich nicht irre, in demselben Hause, in der … einen Moment,« unterbrach er sich, um in einem Notizbuche zu blättern – »hier, Franz Schrader, geboren am 12. Januar 18..., Eimsbütteler Chaussee Nummer …, Hugo Lange, geboren am 26. August 18..., ebenda, im dritten Stock. So, das wäre alles, was ich Ihnen über die beiden sagen könnte.«
Witte hatte sich über alles kurze Notizen gemacht, nahm mit einer dankenden Verbeugung eine Zigarre an und steckte sie in Brand.
Währenddessen kam der Buchhalter zurück und meldete aufgeregt, daß Schrader und Lange in verschiedenen Bankgeschäften die Scheine mit den angefragten Nummern gegen Hundertmarkscheine, deren Nummern natürlich nicht gebucht waren, eingewechselt hätten.
»Diese Schufte, diese Erzgauner!« tobte der Bankier, »was sagen Sie zu diesen Spitzbuben?«
»Ich dachte es mir,« entgegnete der Beamte. »Doch jetzt ist Eile geboten. Seien Sie versichert, daß alles geschieht, was von unserer Seite geschehen kann. Der Vorsprung, den die Spitzbuben haben, ist gering, der Telegraph schneller als ihre Beine, und ich hoffe, daß sich die verlorenen Banknoten morgen wieder in Ihrem Tresor befinden werden!«
»Ich danke Ihnen für die gute Hoffnung, Herr Kommissar; ich setzte für die Wiederbeschaffung der Summe zehn Prozent, also 15 000 Mark Belohnung aus!«
»O – so viel! Na, ich hoffe, mir das Geld zu verdienen – innerhalb vierundzwanzig Stunden!« entgegnete Witte, indem er sich verabschiedete.
Mit einem schweren Seufzer schloß der Bankier seine Papiere ein und griff nach dem Hute, um seiner reiselustigen Gattin die unerfreuliche Nachricht zu bringen, ehe sie es von anderer Seite erfuhr.