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Erstes Kapitel.


Ich weiß ein Blümlein blaue
Von himmelklarem Schein;
Es steht in grüner Aue,
Es heißt: vergiß nit mein! Sämmtliche Aufschriften sind altdeutschen Minne- und Meisterliedern entnommen.

Auf einem Vorhügel des Taunus, der auf der einen Seite eine weite Aussicht nach der alten grauen Stadt Mainz und den durch paradiesische Auen strömenden Rhein, auf der andern in die üppigen Umgebungen der mächtigen Reichs- und Handelsstadt Frankfurt, auf den zur Vereinigung mit dem Rheine hinabfluthenden Main, nach den blauen Berggipfeln des Odenwaldes und des Spessarts gewährt, stand ein Kapellchen, dessen reizende Lage ebensosehr, wie seine fromme Bedeutung, den vorüberziehenden Reisenden zu verweilen ermahnte. Indem der von einigen rohen Säulen getragene Vorderbau dieses Asyles der Frömmigkeit seinen Eingang der weiten offenen Gegend zuwandte und alle Bewohner dieses schönen Gaues zum Besuche einzuladen schien, lehnte sich die hintere Mauer an einen dichten, zu höhern Regionen aufsteigenden Buchenwald, aus dessen Zweigen sich ein hundertstimmiges Wechsellied seiner gefiederten Sänger erhob. Durch die Dämmerung dieses Waldes führten von der Kapelle aus mehrere Pfade nach den Burgsitzen der Edlen von Eppstein, von Kronburg und noch andern theils auf den Höhen, theils in den Thälern des Taunus gelegenen Wohnstätten. Noch jetzt, nachdem ein Zeitraum von beinahe fünfhundert Jahren zwischen den Ereignissen, für welche wir die Theilnahme der Leser zu gewinnen hoffen, und der Gegenwart liegt, erhält sich diese Stelle in dem andächtigen Sinne, den ihr die Vorfahren beigelegt, und wer das gesegnete Land von der Grenze des einst so berüchtigten Spessarts bis zu den heitern Nebenhügeln des Rheingau's durchzieht, dem leuchtet das Hofheimer Kapellchen, im Laufe der Jahre vielfach neu erstanden, auf der Grundlage jenes alten, längst vermoderten Baues, wie ein Stern des Friedens und der Liebe von seinem dunkeln Waldgrunde entgegen. Die Waldsänger im Buchenhaine singen noch in denselben Weisen, wie damals, im ungetrübten Silberlichte glänzen Main und Rhein herüber, aber welche Wechsel sind seitdem an dem Kapellchen vorübergegangen, wie viel Großes ist gefallen, wie mancher Heldengeist, der wie ein Comet die Welt durchzog, in Nacht versunken, wie manche Blüthe deutscher Kraft in Staub geschwunden, endlich die Kaiserkrone selbst, die ein Jahrtausend lang der Gegenstand so vieler Kämpfe und Bestrebungen, der Höhepunkt aller irdischen Majestät war! Seht auf das Kapellchen, ihr Herrn der Welt, und wie klein muß euch dann Alles erscheinen, was ihr in den Verwirrungen des Kriegs gewonnen, wozu die Menschen euch mit ihrem Blute fröhnen mußten, seht auf die vermoderten Denkmale eurer Macht, die ihr für die Ewigkeit zu errichten glaubtet: sie zerstoben vor dem leisen Hauche des Unsichtbaren, der die Stätte des Friedens und der Andacht in allen Stürmen der Zeit, sie mit seinem Geiste belebend, erhielt und bewahrte!

Im Schatten dieses Kapellchens ruhete an einem schwülen Sommertage, in der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts, ein junger Mann, der mit leuchtenden Blicken die schöne Gegend zu seinen Füßen betrachtete. Aus seiner Miene sprach Ernst und Nachdenken, während ein leises Lächeln um seinen Mund anzeigte, daß ihm auch der Scherz und die heitere Bedeutung des Lebens nicht fremd seyen. Seine Gesichtszüge trugen das Gepräge jener Anmuth, die oft leichter gewinnt, als eine hohe, allen strengen Forderungen entsprechende Schönheit. Ebenso gehörte seine Gestalt nicht zu jenen kräftigen Gebilden, an denen die damalige Zeit reich war, allein das Ebenmaß der zierlich gebaueten Glieder, die leichte Haltung des schlankgewachsenen Körpers, die, als er sich auf einige Augenblicke erhob, um in das Innere der Kapelle zu blicken, sichtbar wurde, stimmten so sehr mit der angenehmen Bildung des Antlitzes überein, daß der junge Mann in seinem ganzen Wesen eine höchst wohlgefällige Erscheinung war. Seine Kleidung verrieth, daß er dem gelehrten Stande angehörte. Ein weitfaltiger kurzer schwarzer Mantel, sammetne Unterkleider von derselben Farbe, eine Pergamentrolle, nebst Feder und Dintenfaß im Gürtel, waren die Attribute, welche ihn als einen Baccalaureus oder Magister kennbar machten, wenn er nicht vielleicht schon gar in der Doctorwürde den höchsten Grad der Gelehrsamkeit erreicht hatte. Sein Haupt war mit der damals unter den jungen Modeherrn allgemein gebräuchlichen sogenannten böhmischen Gogel oder Kugel bedeckt, an der Seite trug er einen leichten Degen, der mehr ein Prunk- als ein Waffenstück schien.

Nachdem er mit einigen forschenden Blicken das Innere der Kapelle überschaut hatte, setzte er sich wieder auf die Stufen des Vorbau's nieder. Er nahm die kleine Reisetasche, welche seine wenigen Bedürfnisse enthielt, zur Hand und öffnete sie. Hier begegnete zuerst dem Blicke eine Reihe glänzender chirurgischer Instrumente, die der junge Mann mit sichtlichem Vergnügen betrachtete; dann fand er in einem tief verborgenen Behältnisse einige Pergamentblätter, die, wie es sich nun zeigte, der Gegenstand seines Suchens gewesen. Indem sein Auge auf den wohlgebildeten Schriftzügen, welche sie enthielten, verweilte, schien ihn eine Wehmuth zu ergreifen, die aus den Tiefen seiner Seele hervorgehn mochte. Sein Blick wurde trüb, sein Angesicht düster und leise Seufzer drangen aus seiner Brust herauf. Er las mit großer Aufmerksamkeit eins der Pergamentblätter nach dem andern und verbarg sie dann sorgfältig wieder in das Innere seiner Reisetasche. Das letzte dieser Blätter erregte seine Theilnahme in einem erhöheten Grade:

»Armer Mann,« sagte er weich vor sich hin, »wie spricht aus diesem Liede die Sehnsucht nach der Welt, deren Freuden auf ewig für dich verschlossen sind!«

Mai, Mai, wonnigliche Zeit,
Die jedem Freuden beut,
Ohn' mir. Wer meinte das?

»Die süßen Klänge, die dir aus seligen Erinnerungen, aus der tiefen Erkenntnis dessen, was du verloren, hervorgehn, strömen mächtig und ergreifend durch ganz Deutschland, aber dir dienen sie nur, dich deine Leiden, deine entsetzliche Einsamkeit tiefer empfinden zu lassen. Armer! Wie oft schon ist der Mai mit seinem neu erwachenden Leben, mit dem Willkommenrufe, den ihm die glücklichen Menschen zujauchzen, an den Ufern des Rheins hinabgezogen und du hörst das Frohlocken der Menschen, du siehst ihr freudiges Treiben, es ruft dich mit tausend bezaubernden Klängen hinüber zu denen, die du so sehr liebst, aber – du bist gebannt an die Scholle Erde, die dir immer dein Elend neu erzählt, sie würden dir den Tod für die Liebe geben, die du ihnen bringen wolltest. Da sitzest du nun in deiner Einsamkeit und klagst wie die Nachtigall, die aus verborgenem Dunkel ihre Lieder sendet.«

Der junge Mann hielt das Pergamentblatt noch in der Hand, sein Auge schien sich nicht von den Schriftzügen trennen zu können. Da tönte von dem Fuße des Hügels herauf ein übellautender Gesang aus rauher männlicher Kehle. Unwillig sah der Ruhende hinab. Noch verbargen die Gebüsche, die den Hügel umgaben, den Herannahenden. Der junge Wandrer legte behutsam das Pergamentblatt in sein Behältniß zurück und verschloß die Reisetasche mit einem Drucke an eine verborgene Feder, die nicht leicht jemand, dem das Geheimnis nicht bekannt war, entdecken konnte. Indessen wurde jener Gesang vernehmlicher und in einer langsamen, halb feierlichen, halb lächerlichen Weise drangen zu dem Ohre des erstaunten Zuhörers die Worte:

»Es ging sich unsre Fraue – Kyrieleison.
Des Morgens in dem Thaue – Halleluja.
Da begegnet ihr ein Junge – Kyrieleison.
Der Bart war ihm entsprungen – Halleluja.
        Gelobt sey'st du Maria!« Aus der Limburger Chronik.

Entrüstet blickte der junge Mann nach der Stelle, wo derjenige erscheinen mußte, der, wie es ihn dünkte, in einem schamlosen Liede das Heiligste lästerte. Zu seinem vermehrten Befremden trat jetzt, keuchend unter der Last eines vollgefüllten Sackes, ein Bettelmönch von kleiner, untersetzter Gestalt aus dem Gebüsche hervor. Indem er mühesam den Hügel erstieg, wiederholte er mit gepreßter, von schweren Odemzügen unterbrochener Stimme jenen Gesang, bis er vor den Stufen der Kapelle stand, hier seinen Sack abwarf und sich nun aus seiner gebeugten Stellung empordehnte. Ohne eine Überraschung zu äußern, nahm er den Fremdling wahr, der bereits unter dem Vordache der Kapelle weilte, nickte ihm mit einem gutmüthigen Lächeln zu und setzte sich dann behaglich an seine Seite nieder. In dem ganzen Wesen des Barfüßers lag jene Treuherzigkeit, jener Muthwille und die heitre, scherzhafte Laune, welche den Klosterbrüdern, die zu Terminirgängen ausgesandt wurden, eigen zu seyn pflegten. Sein wohlgepflegter Körper, sein rothglühendes Antlitz zeigten, daß er die Beschwerden seines Wanderlebens, durch leibliche Genüsse, wie sie ihm sein Verkehr mit der Welt bot, zu versüßen wußte. Bei aller Treuherzigkeit, die in seinen Zügen lag, war auch ein Ausdruck von List in den kleinen grauen Augen, von Schalkheit um die aufgeworfenen Lippen nicht zu verkennen. Indem er den Platz neben dem jungen Manne einnahm und einen Blick in die weit ausgebreitete Gegend warf, sprach er:

»Ein schönes Plätzchen hier! heiliger Franciscus, ora pro nobis! Dämpfe unsere Gelüste, mache die überlaute Stimme der Begierde verstummen! Aber sagt mir, junger Mann, ist es einem armen Klosterbruder, der das Gelübde der Entbehrungen abgelegt, zu verdenken, wenn bei dem Anblicke so vieles Reichthums, wie hier vor unsrem Auge verschwendet liegt, allerlei weltliche Wünsche in seiner Seele erwachen? Seht dort die Schätze der reichen Handelsherrn von Frankfurt, auf dem Main die schwer beladenen Schiffe der Niederländer, rechts hin die Weinberge des gesegneten Stiftes Hochheim – o wer doch das Alles in seinem Sacke mitnehmen könnte!«

Unter einem seltsamen, zwischen Ernst und Scherz schwankenden Seufzer, öffnete nach diesen Worten der Bettelmönch seinen Zwerchsack und wühlte unter den mannigfachen Gegenständen, welche dieser enthielt, mit suchender Hand umher.

»Für Einen, der sein Leben der Armuth gelobt,« nahm indessen der junge Mann das Wort, »hegt Ihr, mein würdiger Pater, in Wahrheit Wünsche, die Ihr als eine Verlockung des Gottseybeiuns bekämpfen müßt. So auch kann ich den mehr als weltlichen Gesang, den Ihr, als Ihr den Hügel heranstieget, angestimmt, nicht anders, als ein Erliegen unter satanischer Versuchung betrachten –«

»Wie – was?« fiel ihm, die Arme erstaunt unterschlagend, der Barfüßer in's Wort: »ein Lied, das ein hochwürdiger Prior im Breisgau selbst gedichtet, wollt Ihr eine Verlockung des schwarzen Höllenfürsten nennen? Ihr seyd ein arges Weltkind, denn Ihr nehmt die Sache im argen Weltsinne. Uns Reinen aber ist Alles rein und so wird das Lied denn auch in allen Ländern deutscher Zunge unter Geistlichen und Weltlichen als ein Preißlied der heiligen Jungfrau gesungen. Die Heilige wandelt daher im Morgenthaue der himmlischen Milde und der Jüngling, an dessen Herzen der Bart des Glaubens entsprungen ist, so daß er nun zu einem Manne des Glaubens geworden, begegnet ihr und ruft im heißen Gefühle seines Dankes die Worte: Gelobt seyst du, Maria! Was könnt Ihr daran mäkeln, daran aussetzen? Freilich hört sichs nicht an, wie ein Minnelied des berühmten Meister's Lukas auf der Ingelheimer Au im Rhein, aber dafür ist der Dichter auch ein gottgeweihter Mann, ein heiliger Prior und nicht ein ausgestoßener Mönch, ein verabscheuter Aussätziger, wie der Meister Lukas!«

Der Barfüßer, der diese Erklärung in einem Tone, der die Mitte zwischen ernster und launiger Zurechtweisung hielt, gegeben, bemerkte, indem er sich wieder mit dem Inhalte des Zwerchsackes beschäftigte, nicht, daß seine letzte Äußerung einen schmerzlichen Eindruck auf seinen unbekannten Gesellschafter zu machen schien. Dieser blickte trüb hinaus in die weite Gegend, seine Gedanken mochten in der Ferne weilen, der heitre Zug um seine Lippen hatte sich in Ausdruck der Wehmuth verwandelt.

»Nehmt einen Schluck aus meiner Wanderflasche und einen Imbiß, so gut ihn ein armer Bettelmönch zu geben vermag!« begann nach einer kurzen Stille, wiederum der Barfüßer, indem er Flasche und Lebensmittel aus dem Sacke hervor kramte: »Der Wein ist reiner Erbacher aus dem Mutterfäßchen der alten Else im rothen Löwen zu Schierstein, die gesalzenen Schweinskinnbacken hat mir ein wackrer Metzger in Ellfeld als ein Gelöbnis für den heiligen Franciscus, der ihn auf sein inniges Gebet von heftigem Zahnweh befreit, mitgegeben. Wollte der Heilige, daß der wackre Mann doch einmal über den ganzen Leib krank würde, so blieb an dem Kinnbacken auch noch das Übrige hängen!«

Der junge Mann nahm die ebenso gutmüthig, wie freundlich ausgesprochene Einladung des Klosterbruders an. Er fühlte sich von der weiten Wanderung, die er schon im Laufe der Morgenstunden zurückgelegt hatte, erschöpft, er wollte noch am heutigen Abend in der reichen Handelsstadt Frankfurt eintreffen und bedurfte zu diesem Gange eine Auffrischung seiner Kraft. Dabei hatte das Wesen des Barfüßers, das bei der weitern Annäherung sich so heiter und wohlwollend an den Tag legte, ihn mit dem ersten widrigen Eindrucke seiner Erscheinung ausgesöhnt und er hoffte von ihm, der in dieser Gegend zu Hause schien, eine oder die andere Kunde von Bedeutung zu erhalten. Alles, was er von seinem Ruhepunkte aus erblickte, mahnte ihn an frühere schöne Tage. In dem mächtigen Frankfurt erkannte er die lang entbehrte Heimath, die Wiege seiner Kindheit. Wie oft hatte er in heitern Spielen mit andern Knaben jene reiche Ebene durchzogen, die sich bis zum Fuße des waldgekrönten Taunus hindehnt, wie oft im schaukelnden Kahne sich von den Silberwogen des Mains forttragen lassen, wie oft in den lebensfrohen Tagen der Weinlese jene Hügel jenseits des Flusses besucht, die dann vom Jubelrufe der Winzer und der Besucher aus der Stadt widerhallten! Dort, wo sich die Kuppel des Domes, damals noch von keinem stattlichen Thurmbau überragt, wölbte, lag das Haus der Eltern. Jahre waren hingegangen, seit er sie nicht gesehen, und indem er ihrer gedachte, trat das Bild der lieblichen Waise Regina, die mit ihm erzogen worden, in seiner damaligen heitern Kindlichkeit erfreulich vor seine Seele.

»Woher, wohin?« unterbrach ihn in dieser Gedankenfolge die Stimme des Bettelmönches. »Zwei Menschen, die miteinander essen und trinken, dürfen einander nichts verheimlichen;« fuhr, der Speise und dem Getränke während seiner Rede eifrig zusprechend, der Pater fort. »Geheimnisse drücken die Seele und die Seele muß frei und heiter seyn, um auch ihre Würze der lieben Gottesgabe zu verleihen. Die Kutte weis't Scherz und Laune nicht zurück und wenn in der Brust unter ihr ein lustiges Liedlein, ein ecce quam bonum oder dergleichen sich regt, so mag es auch gern laut werden, aber versteht sich vor Bekannten, von denen man weiß, daß sie nicht Alles dem gestrengen Prior wieder zutragen. Also noch einmal, mein lieber Genosse an Gottes freier Tafel! Woher kommt Ihr, wohin wollt Ihr, wer seyd Ihr? Ich will Euch Muth, ich will Eure Zunge geläufig machen, ich will Euch den ersten Beweis von Vertrauen geben, um von Euch den Gegenbeweis zu erhalten. Ihr seht in mir den Pater Clarus Trockenbrod aus dem Minoritenkloster zu Königstein an der Höhe, und daß ich des lieben Herrgottes priviligirter Bettelbruder bin, lehrt Euch mein Zwerchsack, schmeckt Ihr in meinem Weine, erkennt Euer Gaumen aus dem trefflichen Schweinesolper des ehrlichen Metzgers zu Ellfeld.«

Der junge Reisende warf einen Blick der Überraschung und des Befremdens auf den Barfüßermönch. Er betrachtete sinnend dessen Züge, dann trat ein freundliches Lächeln auf seine Lippen und, indem er die rauhe Hand des Paters ergriff, sagte er:

»Wir haben uns wohl beide sehr verändert, daß wir nicht sogleich einander erkannt. Eure Veränderung mag in die Fülle und Breite, die meinige in die Höhe gegangen seyn. Der Bart um Mund und Lippe macht mich älter, während die reich blühende Röthe Eurer Wangen Euch verjüngt. Aber ich bin gewiß, daß Ihr den kleinen Salentin vom Rhein, dem Ihr so oft seine lateinische Lection überhört, nicht vergessen habt, daß Ihr noch an jene Zeit in meinem elterlichen Hause zurückdenkt, wo Ihr unter dem alten Liede:

Schach-Tafelspiel
Ich nunmehr beginnen will!

lustiglich mit meinem Vater an das Schachbrett oder an das Mittagsmahl ginget.«

»Gesegnet sey der Augenblick, in dem ich dich wiedersehe, Salentine!« rief mit freudig glänzenden Blicken der Mönch. »Heiliger Franciscus, wie ist doch aus dem zarten Knaben ein zierlicher schlanker Jüngling geworden! Wie werden die Herzen der Töchter aus den edlen Geschlechtern dir zufliegen, mi file! Diesen Trunk auf dein Wohlergehn, auf eine glückliche Zukunft!«

Pater Clarus leerte bei diesen Worten seine Flasche bis auf den Grund, brachte aber gleich aus der Tiefe seines Zwerchsacks wiederum eine neue zum Vorschein, die durch ihre Größe einen noch reichern Inhalt verrieth.

»Es waren schöne Zeiten damals;« fuhr der Minorit fort, »Deine Mutter, die edle Frau, hatte noch nicht das Unglück gehabt, zu erblinden, dein Vater, Herr Hanns vom Rheine, liebte fröhliche Gesellschaft und guten Wein. Früher, da du noch nicht geboren, auch noch in der Zeit, als du ein kleines Kind warst, galt dein Vater als ein gar starker und muthiger Kämpe. Er und sein wackerer Freund, Krafft zum Jungen, waren auf allen Turnieren und ritterlichen Gelagen die ersten. Wie ging es da oft hoch her im Hause Lateran, wenn die ehrbaren Geschlechter der Gesellschaft Limpurg zu Tanz und Festlichkeit versammelt waren! Der arme Bettelmönch durfte sich auch unter die Zuschauer mischen und es gab Abende, wo er von dem, was ihm vom Tafelabhub zufiel, seinen Sack wohl ein Dutzendmal füllen konnte. Sic transit gloria mundi! Vorbei ist's mit all der Herrlichkeit. Im Hause deiner Eltern ist's still geworden, Herr Krafft zum Jungen ist verloren und verschollen und wenn der Bruder Clarus an der Thüre vorspricht, so reicht ihm mürrisch die alte Hausmagd eine karge Gabe und Herr Hanns mag den alten frölichen Genossen nicht mehr sehn!«

Salentin konnte bei den Erinnerungen, die der Barfüßer in ihm erweckte, einen tiefen Seufzer nur halb unterdrücken.

»Diese traurige Umgestaltung habe ich als Kind und als Jüngling nur zu tief empfunden;« sagte er dann. »Es waren schreckliche Schläge, die freilich in langen Zwischenräumen, aber doch mit furchtbarer Zerstörung, in den Frieden unsers Familienlebens trafen. Der Verlust des edlen Hausfreundes, dessen ich mich leider nur wenig entsinnen kann, dann das Unglück der Mutter! Er, durch ein dunkles, noch immer nicht ergründetes Verhängnis erst in tiefe Schwermuth versenkt, dann plötzlich aus unserer Mitte gerissen, niemand hat jemals erfahren, wohin; sie erblindet, ihr stilles wohlthätiges Leben in Nacht versenkt! Aber laßt uns von dieser trüben Vergangenheit schweigen! Ich hoffe eine bessere Zukunft, eine glücklichere Zeit in das Elternhaus zurückzuführen. Wißt Ihr mir nichts aus der neuesten Zeit zu berichten, mein alter guter Lehrer? Habt Ihr nicht, wenn Ihr am Elternhause zuspracht, die Waise Regina etwa gesehen, die mit mir als eine Schwester auferzogen worden?«

»Das arme Kind, das als ein schwacher Wurm von fremder Hand auf deiner Eltern Schwelle ausgesetzt worden?« erwiederte, ohne sich im Essen und Trinken stören zu lassen, der Mönch. »Sie ist eine liebliche Blume geworden in unsers Herrgott's Lustgarten, von der man wohl mit den weltlichen Poeten sagen mag, sie besitze:

›Eines reinen guten Weibes Angesicht
Und frölich Zucht dabei.‹

So war sie vor Jahresfrist etwan. Seitdem habe ich sie nicht gesehen, denn auch in der guten Stadt Frankfurt ist es still und unheimlich geworden. Die Häuser bleiben den Brüdern der Armuth verschlossen, so wie jeglichem fremden Gaste, weil man fürchtet, jedes Eintretenden Schritt könne die furchtbare Pestilenz, die fast ganz Deutschland mit dem großen Sterben heimsucht, die nun auch endlich über die Wälle der edlen Reichsstadt gedrungen, in ihr Innres bringen. Ja, Salentine, auch deine Vaterstadt wirst du grausam verändert finden! Grausam sage ich, denn mit seiner Knochenhand hat der Tod grausam aufgeräumt unter Vornehm und Gering. Viele Geschlechter sind ausgestorben, Kinder irren ohne Eltern umher, Eltern bejammern die frühe verlorenen Lieblinge. Todtenstille in den Trinkstuben, in den sonst so lebendigen Hallen des Lateran, Todesfurcht in allen Gemüthern! Kein fröliches Stechen mehr auf dem Römerberge, weder von Gesellen noch Rittern! Die Menschen gehn einander scheu aus dem Wege, denn jeder fürchtet den andern. Laß dich das aber nicht anfechten, mi file! Bewahre dein heitres Gemüth, denn das ist der beste Schutz gegen den bösen Odem der Pestilenz. Bringe ein fröliches Gesicht in das Haus deiner Eltern und das wird auch sie stärken und mit neuer Hoffnung erfüllen.«

»Eine trübe Zeit ist über die Erde gekommen,« versetzte Salentin. »Ich habe eine weite Strecke Landes durchwandert und allenthalben bin ich auf die verheerenden Spuren der Seuche gestoßen, die aus dem Orient nach Welschland gekommen und von dort aus, durch die in alle Weltgegenden ziehenden lombardischen Krämer, ganz Europa in ihre mörderischen Arme geschlossen. Wo findet Ihr jetzt einen Ort, der noch frei von ihr geblieben wäre? Von den Grenzen des Morgenlandes bis hinauf zum hohen Norden ist die Erde ein weites Grab geworden, über dem Moderduft und giftige, todthauchende Dünste schweben. Vertrauen auf Gott und seine Heiligen, Ruhe und Heiterkeit des Gemüthes, die aus jenem Vertrauen hervorgehen, sind gewiß die besten Schutzengel gegen dieses allgemeine Mißgeschick.«

»Wer will aber von ihnen wissen grade in dieser Zeit der Noth?« eiferte Pater Clarus, indem er, den Gedanken, die ihn lebhaft ergriffen, nachgebend, Speise und Trank beseitigte. »Wenn diese lieben Engelein von den Bäumen geschüttelt werden könnten, wie die reifen Äpfel und Birnen, so wär's gut, aber nach ihnen rufen und ringen will niemand. Diejenigen, die man bisher als Diener der heiligen Kirche, als ihre Verordneten, die den Binde- und Löseschlüssel besitzen, verehrt, werden gehöhnt und gelästert. In den Klöstern herrschten Sünde und Frevel aller Art, die Weltgeistlichen lebten in Üppigkeit und Wollust und deßhalb sey die Pestilenz, als eine göttliche Strafe auf die Erde gesandt worden! So sprechen die thörigten Menschen, ohne zu bedenken, daß, ohne des Himmels Langmuth, ihre eigene Lasterhaftigkeit hinreichend wäre, alle sieben Plagen Aegyptens auf ihre Häupter zu versammeln. Heiliger Franciscus, es ist weltbekannt, daß allein an hunderttausend deiner frommen Söhne durch das grausame Sterben hingerafft worden, weil sie den bösen Odem der Krankheit nie gescheut und von einem Pestilenzhause muthig zum andern gegangen sind, um den Sterbenden das heilige Viaticum auf die letzte Reise mitzugeben! Und wir sollen die Schuld der Krankheit tragen, wir am Ende haben sie gar im heiligen Sacramente von Haus zu Haus gebracht? Wehe über die Verblendeten! Ihrer Seelen Krankheit ist schlimmer, als jede Pestilenz. An jener sterben sie ewiglich, an dieser nur zeitlich.«

»Pater Clarus,« erwiederte sehr ernst der junge Mann, »über die Verdorbenheit der Geistlichkeit im Allgemeinen ist nur eine Stimme und leider ist es die Stimme der Wahrheit. Hat nicht der Kaiser selbst dieses in der öffentlichen Fürstenversammlung zu Mainz ausgesprochen und wer konnte ihn widerlegen. Die Bischöffe, die mit dem Stabe der Weisheit und Milde regieren sollen, führen Schwert und Lanze zu ungerechten Kriegen, selbst zu Überfall und Straßenraub; Prälaten, Äbte und Domherrn bringen die Tage auf der Jagd, bei Schauspielen, auf Ritterstechen zu; die Nächte bei Schmausereien, Tänzen und noch schlimmern Dingen. In den Klöstern herrschen alle Laster und eine Jungfrau zur Nonne einkleiden heißt heutigen Tages nichts anders, als sie der Sittenlosigkeit, dem Verderben preisgeben. Hat Gott diese Pestilenz, als ein Werkzeug seines Zornes auf die Erde geschickt, so tragen wahrlich die Geistlichen einen grössern Theil der Schuld, als die Kinder der Welt.« S. Allgemeine Weltgeschichte von Guthrie und Gray. B. 88.

»Wir sind alle Menschen;« sagte verlegen der Barfüßer: »die Versuchungen des Höllenfürsten sind groß und der beste Wille vermag oft nichts gegen sie. Ich will nicht leugnen, daß die Weltgeistlichen ihre Hoffarth und ihren Leichtsinn gar zu arg zur Schau tragen, daß in manchen Klöstern mehr der Weinkrug, als das Brevier verehrt werde und daß unsre frommen Schwestern über manche ihrer Schwächen beide Augen zudrücken, um sie selbst nicht wahrzunehmen; aber übertrieben wird auch von den Feinden der heiligen Kirche Vieles und aus dem Weinkrug machen sie ein ganzes Stückfaß, aus den weiblichen Schwächen gräuliche Laster. Aber wer bringt den Clerus, dem man sonst nie dergleichen vorzuwerfen wagte, in so bösen Leumund? Niemand anders, als die gottlosen Geister, die sich selbst Papst und Bischoff seyn wollen, die der Pest nachziehn, wie die Raben dem Leichengeruche, die mit Blut und Schmerzen Absolution erkaufen und der heiligen Kirche ihr Schärflein entziehen wollen.«

»Ich habe sie gesehen, diese Wüthenden!« sprach Salentin. »Als ich von Straßburg den Rhein hinaufzog, begegnete ich einem ihrer Haufen. Verheerend, wie die Heuschrecken, dringen sie immer näher. Wehe dem, der nicht mit ihnen will oder ihnen Leibespflege und Verehrung versagt! Ein entsetzlicher Wahnsinn, unter dem glühenden Himmel Italiens erzeugt, hat sie ergriffen, sie wüthen gegen sich selbst, sie verfluchen sich unter dem Bekenntnisse der schrecklichsten Verbrechen, sie verwerfen Kirche und weltliche Herrschaft, Blut soll ihnen die Gottheit versöhnen! Viele tausend Greise, Männer, Weiber, Jungfrauen und Kinder erfüllen die Kirchen und die benachbarten Plätze, ihr Jammergeheul dringt zum Himmel, ihre blutenden, entfleischten Körper erregen Abscheu und Ekel. Aber wie Viele sind nicht, denen dieser Wahnsinn nur als eine Larve niedriger Gelüste dienen muß? Da beschuldigen sie die armen Juden der Brunnenvergiftung, da brechen sie in zügelloser Wuth gegen sie los, plündern ihre Häuser, stecken diese in Brand und treiben ihre beraubten Schlachtopfer in die Flammen. Bürger und Bauern vereinigen sich mit ihnen zu diesem gräßlichen Werke und denjenigen, der nicht dem Drange des Fanatismus sich hingegeben, führt schändliche Habsucht zu Brand und Mord.«

»Halt ein, Salentine, mein Sohn!« unterbrach der Minorit den entrüsteten jungen Mann. »Die Geisler sind arge Bösewichter, denn sie haben sich von Gott gewandt, indem sie die Satzungen der heiligen Kirche verwerfen. Aber in der Judenschlacht, wie sie ihr Verfahren gegen die Feinde und Mörder des Heilands nennen, mögen sie doch so unrecht nicht haben. Der Jud' ist der ewige Christenfeind, er mischt uns Gift in jeglichem Gebete, warum sollte er es nicht in die Brunnen thun? Er treibt schwarze Kunst und weiß den Tod an die Christenheit zu bannen, während er selbst frisch und gesund in Hohn und Triumph herumstolzirt. Warum stirbt nur etwan ein Jud auf tausend Christen? Laß darin die Geister nur gewähren, mi file! Je weniger Juden, desto weniger Feinde Gottes!«

Salentin fühlte sich überzeugt, daß es eitle Mühe seyn würde, das Vorurtheil des Mönches zu bekämpfen. Der Haß der Geistlichkeit gegen die kaiserlichen Kammerknechte, wie damals die Juden, welche den Schutz des Reichsoberhauptes mit schwerem Gelde erkaufen mußten, sich nannten, war zu tief in den Interessen des Clerus gewurzelt, als daß er auf irgend eine Weise zu billigern Gesinnungen hätte bekehrt werden können. Wer in jenen Zeiten eines Darlehens bedurfte, der wandte sich an eins der reichen Klöster oder an die Judenschaft. Oft aber verlangten jene höhere Vortheile, als diese und es kam nach und nach dahin, daß in dieser Rücksicht der Clerus sich den verachteten Kindern Israels nachgesetzt sah. Dann erkannte er auch mit Verdruß den steigenden Reichthum der kaiserlichen Kammerknechte, den das verschwendrische Leben der Edlen und Bürger in ihre Hände spielte und wodurch den heiligen Stiftungen so manches reiche Vermächtniß entging. Das Ansehn, zu welchem die Juden sich durch Vermehrung ihrer Capitalien erhoben, mußte der Geistlichkeit um so mehr ein Ärgerniß geben, da jene, auf den kaiserlichen Schutz sich stützend, sich immer übermüthiger zeigten und das Vorrecht vor den Christen besaßen, keiner geistlichen Gerichtsbarkeit unterworfen zu seyn.

»Laßt uns aufbrechen und unsern Weg fortsetzen!« hob wiederum der Pater an, nachdem er die Überreste des gehaltenen Mahles sorgfältig in der Vorrathskammer seines Zwerchsacks aufbewahrt. »Auch meiner heutigen Tagefahrt Ziel ist die reiche Stadt am Main, denn ich muß einmal wieder anklopfen an die Thüren der Patricier und Handelsherrn, ob sie nicht einen Bissen haben für die fromme Armuth. In Höchst harret mein ein Laienbruder unsres Klosters, der einstweilen die Gaben des ehrlichen Metzgers in Ellfeld und der Mutter Else in Schierstein heimtragen mag in's liebe Kloster. Frisch auf, Salentine! Über das wer und wohin haben wir uns nun hinlänglich verständigt; aber das woher mußt du mir noch unter Weg's beantworten.«

Indem die beiden Wandrer rüstig und neu gestärkt den Hügel hinabschritten, begann der lustige Pater Clarus wiederum ein weltliches Lied zu singen, das mit den Worten anfing:

»Des Voglers Pfeife gar süße sang,
Da er thut den Vogelfang,
Der Bettelmönch erfreut sich baß,
Füllt er im Kloster Küch' und Faß,
Gesellen feiern muntre Zeit,
Wenn Tanz und Spiel ihr Herz erfreut.«

Salentin hörte nicht auf die Fortsetzung des Liedes. Sein Herz klopfte in unruhigen Schlägen, während er sich der lieben Heimathsstadt näherte. Furcht und Hoffnung wechselten in seiner Seele. Des Paters Nachrichten aus dem Elternhause enthielten nichts Neues für ihn. Sie sprachen von einer Zeit, zwischen der nun schon der Raum eines Jahres lag und was konnte in diesen Tagen der Verwirrung und des Unheils nicht seitdem sich Alles ereignet haben? Er hatte lange in weiter Ferne gelebt, selten nur eine Kunde aus der Heimath erhalten. Monde waren vergangen, seit ihm ein treuer Bote das letzte Schreiben von Vatershand überbracht. Damals hatte noch nichts das stille, trübe häusliche Leben der Eltern gestört. Aber nun war die Pest mit allen ihren Schrecken auch in Frankfurt eingezogen, die Hungersnoth in ihrem Gefolge, die Zwietracht an ihrer Seite. Regina, die liebliche Waise, dachte er sich als heranblühende Jungfrau, er erkannte, daß er eine mehr als brüderliche Neigung zu ihr empfinde, er war um sie besorgt, wie um die Eltern. War der Blick in die Gegenwart dämmerig und zweifelhaft, so schien der in die Zukunft noch trüber und drohender. Von Italien herauf drängte immer näher die furchtbare Geiselfahrt und er konnte berechnen, daß mit ihm zugleich oder doch wenige Tage nach seiner Ankunft eine Schaar von mehrern Tausenden dieser wüthenden Fanatiker in der Vaterstadt eintreffen würde. Von diesen Gedanken beunruhigt, achtete er wenig auf die Umgebungen, durch welche sie ihre Wandrung führte, bis der Bettelmönch ihn anstieß und auf einige Häuser am Wege aufmerksam machte, die gänzlich ausgestorben schienen und vor deren Thüren Stangen, mit schwarzen Tuchlappen behängt, aufgepflanzt waren.

»Da hat die Pest aufgeräumt;« sagte der Bettelmönch. »Der Tod ist terminiren gegangen und hat in seinem weiten Sacke die Opfer heimgeschleppt, die ihm die Seuche gelobt. So findest du es rings um die Stadt. Auf den Dörfern ist das Sterben schrecklicher, als in den großen Orten, weil es an Hülfe fehlt. In die Häuser der Todtkranken dringt Diebsgesindel und reißt den Sterbenden das Bett unterm Leib weg. Heiliger Franciscus, erbarme dich unsrer! Wir sind allzumal sündige Menschen, wir erkennen das, wir bereuen unsre Sünden, wir möchten uns blind weinen darüber und dann sollen wir doch wieder lustig und heiter seyn, sollen Ruhe in der Seele pflegen, damit uns die Pestilenz nicht an unserer Feigheit und unserer Kleingläubigkeit anpackt.«

Ihr Schritt führte sie noch an mehreren solcher ausgestorbenen Weiler vorüber. Es war ein wunderlicher Anblick, den diese düstern Siegeszeichen des Todes im Schooße einer reizenden und blühenden Natur gewährten. Die Strassen waren verödet, keine fleißige Hand bewegte sich im Felde, was ihnen von lebendigen Wesen aufstieß, waren einige halbverhungerte Hausthiere, Hunde und Katzen, die ihnen heulend eine Strecke Weges nachliefen. Sie erreichten eine Kapelle in der Nähe eines größern Dorfs. Hier lagerte eine kleine Anzahl bleicher, leichenfarbner Menschen und wandte sich im jammervollen, stöhnenden Gebete zu der Gebenedeiten. Der Mönch eilte mit raschen Schritten vorüber; Salentin folgte langsam. So erreichten sie den Flecken Höchst. Hier hatte Pater Clarus bald sein Geschäft abgemacht, während der jüngere Wandrer sich der Bemerkung erfreute, daß die Bewohner dieses Ortes von der Seuche noch nicht so schwer heimgesucht schienen, als die der Umgebung. Es zeigte sich einige Thätigkeit in den Straßen, selbst ein gewisser Frohsinn, der das Unvermeidliche leicht nahm, war zu erkennen.

Der Flecken lag hinter ihnen und Salentin unterbrach nun die Stille, die seit einiger Zeit zwischen ihm und seinem Reisegefährten herrschte, mit den Worten:

»Ich segne den Entschluß, der mich nun vor Jahren schon aus der Heimath trieb. Damals gedachte ich nur der blinden Mutter und um ihretwillen wanderte ich nach Paris, daß ich dort die Heilkunst erlernte. Welche Freude, sagte ich zu mir selbst, wenn ich zurückkehre und dem todten Blick der Augen das blühende Leben, das Anschaun ihrer Lieben, die ganze Welt mit ihrer Herrlichkeit wiedergeben kann! Nun hat jener Entschluß seine Früchte getragen und ich hoffe nicht allein der lieben Mutter, sondern auch allen meinen Mitbürgern ein willkommener Helfer und Freund in der Noth zu seyn.«

»Also daher kommst du, Salentine!« versetzte Pater Clarus. »Aus Paris, aus dem Sitze der Gelehrsamkeit und der Weltlüste? Heiliger Franciscus, wer hätte denken können, daß der edle Sprosse des ritterlichen Herrn Hanns vom Rhein Schwerdt und Lanze gegen Salbentöpfe und Purgirgläser hingeben könnte! Aber du bist ein frommer Sohn, ein pius Aeneas! Freilich ist's nun vorbei mit lustigem Stechen auf den Turnierplänen und die Edelfräulein werden die feinen Nasen rümpfen, wenn du ihnen mit dem Dufte aus deiner Pflasterküche nahe kommst, aber ein Medicus ist auch ein schätzbares Subject, denn er hilft der gesunkenen Leibeskraft wieder empor, er schärft den abgestumpften Appetit auf's Neue, er belebt den Gaumen wieder zum Wohlgefallen am köstlichen Rebensafte.«

»Und neben dieser Kunst,« nahm lächelnd der junge Mann das Wort, »habe ich auch das Spiel der Waffen nicht vernachlässigt. Ich denke meinen Mann bei jedem Turnier zu stehn und unter den waffenkundigen Franzosen gibt's wackre Ritter, denen ich mehr als einmal den Preis beim Stechen streitig gemacht.«

»Ritter und Medicus!« sagte kopfschüttelnd der Mönch. »Wie reimt sich das? Der eine ist berufen, Wunden zu schlagen, der andre sie zu heilen. Ein Geschäft arbeitet gegen das andre; du bist der Feind des Medicus, wenn du verletzest, und der Feind des Ritters, wenn du heilst. Gibst du dem Salbentopfe den Vorzug, so wird dir die Lanze grollen und wiederum umgekehrt. Halb und halb machet noch kein Ganzes, du bist eine Mißgeburt, deren zwei Hälften nie mitsammen passen.«

»Ist es denn anders mit Euch bestellt, ehrwürdiger Pater?« erwiederte scherzhaft Salentin. »Ihr habt das Gelübde ewiger Armuth abgelegt und bettelt an allen Thüren um Reichthum.«

»Um Lebens Nothdurft!« fiel der Barfüßer ein.

»Aber Eures Lebens Nothdurft,« sprach der junge Mann weiter, »kann nie genug erhalten und so wird sie zum Gelüst nach Reichthum. Werft einen Blick in Eure Vorrathskammern, frommer Herr, und sagt offenherzig, ob da nicht an Speise und Trank mehr lagert, als in der Burg des reichsten Ritters unsrer Gegend? Die Zwerchsäcke Eurer unzähligen terminirenden Brüder gleichen Flüssen, die das Gut aller Länder in den Hafen Eurer Klöster führen. Habt Ihr je ein Geschenk, ein Vermächtniß verschmäht um seines allzugroßen Reichthums willen? So streitet denn Euer Gelübde und Euer Wandel miteinander, wie bei mir Lanze und Pflasterbüchse.«

»Salentine,« sagte bedenklich Pater Clarus, »du bist ein Casuistiker geworden auf der gottlosen Universität Paris! Ich werde bei Gelegenheit den Zustand deiner Seele näher prüfen und ihn in seinen Irrthümern zu berichtigen suchen.«

Unter diesem Gespräche gelangten sie in die Nähe eines einzeln stehenden Hauses, vor dem auch das bedeutungsvolle, warnende Pestzeichen aufgepflanzt war. Thüre und Fenster des untern Stockes hatte man von Außen mit Brettern vernagelt, nirgends zeigte sich mehr ein Eingang in das verlassen scheinende Gebäude. Der Mönch schlug ein Kreuz gegen die öde Stätte und wollte rasch vorübergehn. Salentin aber, von jenem Mitgefühle ergriffen, für das die Jugend empfänglicher ist, als das Alter, hielt ihn zurück und sprach:

»Dieses Haus scheint das Grab seiner unglücklichen Bewohner geworden zu seyn; allein wie oft hat nicht schon eine grausame Vorsicht, eine verdammliche Selbstsucht die Opfer der Seuche von der Welt ausgestoßen und entfernt, wenn noch Hülfe möglich war, wenn die Kunst noch vermochte, dem Tode seine Beute zu entreißen. Ich weiß nicht, warum mich gerade vor diesem Hause ein solcher Gedanke ergreift! Glaubt mir, Pater Clarus, es gibt eine Stimme in uns, die manchmal die Erkenntniß einer Wahrheit anregt, wo der Schein sie zur Lügnerin machen möchte.«

»Ich habe die Leute gekannt, die hier wohnten;« versetzte der Bettelmönch. »Der Mann war Förster im Dienste des Grafen von Solms, die Frau ein gutes frommes Weib. Nie sprach ich bei ihnen vor, ohne eine Gabe zu erhalten. Auch ein liebes Kind war da, ein Mädchen von vierzehn Jahren etwa, heiter und unschuldig, wie eine Blume des Feldes. Das alles ist unter dem Hauche der Pest verwelkt, hingestorben. Laß uns weiter gehn, mein Sohn! Requiescant in pace

»Nein, nein!« sagte, indem er die Hand des Mönches ergriff, in einem dringenden Tone der junge Mann. »Noch hat der Friede des Todes nicht alle Bewohner dieses Hauses auf sein Lager, von dem niemand wieder erwacht, gebettet. Blickt dort hinauf nach jenem Eckfenster! Hinter den Hornscheiben bewegt sich eine hagre, schwankende Gestalt; sie möchte öffnen, aber es scheint ihr an Kraft zu fehlen.«

»Heiliger Franciscus!« rief Pater Clarus. »Das ist die kleine Imagina, das Töchterlein, von dem ich Euch sprach. Ich erkenne sie an ihrem Wuchse, an den durchschimmernden Zügen ihres niedlichen Gesichts. Man hat das arme Kind vergessen, oder sich gescheut, sie mitzunehmen. Jetzt ist sie allein, lebendig in diesem verpesteten Grabe, dem Hunger, der Verzweiflung preisgegeben. Sprich, Salentine, mein Sohn, was ist da zu thun?«

»Wir müssen hinein zu ihr und sie retten!« antwortete entschlossen Salentin. »Den vereinigten Kräften von zwei rüstigen Männern wird dieses leichte Brettergefüge nicht widerstehen. Laßt uns an's Werk gehen, ehrwürdiger Herr! Menschenfurcht darf Euch, den Diener Gottes, und mich, den berufenen Kämpfer gegen die Greuel dieser Seuche, nicht zurückhalten. Kommt! Wir wollen die Arme dem Leben wiedergeben!«

Der Mönch stand zögernd. Da wurden die Bewegungen des unglücklichen eingesperrten Kindes ängstlicher, da vernahm man ihr klagendes Weinen aus dem Innern des Hauses.

Die Jammertöne der bekannten Stimme überwogen die Furcht in der Brust des Paters. Ohne Aufenthalt gesellte er sich jetzt zu Salentin, der schon beschäftigt war, die Bretterverhüllung von einem der untern Fenster loszureißen. Der kurze starke Dolch, den er bei sich führte, that ihm hierbei gute Dienste. Mit kräftiger Hand half ihm Pater Clarus nach und bald konnten die beiden Männer in das Innre eines Gemaches sehen, aus dem ihnen Moderduft entgegendrang, in dem sie mit Entsetzen zwei schon in Verwesung übergehende Leichen erblickten. Sie schauderten unwillkührlich zurück. Salentin netzte seine und des Paters Hände mit einem scharfen Essig, den er zur Vorsicht bei sich führte. Indem sie dessen reinigenden Duft einathmeten, sagte er:

»Nun kann ich das Werk allein vollbringen. Harrt meiner. In wenigen Augenblicken bin ich mit dem Kinde wieder bei Euch.«

Aber schon hatte die lauschende Imagina das Arbeiten ihrer Retter vernommen. Sie war, so rasch es ihre sinkenden Kräfte erlaubten, hinabgeeilt und erschien nun, eine bleiche, abgezehrte, rührende Kindesgestalt am offenen Fenster. Ihre Augen waren von langem Weinen geschwollen und geröthet, die trockne Zunge klebte am Gaumen, sie brachte nur unverständliche Klagelaute vor. Doch mehr, als alle Worte vermocht hätten, sprach ihre Leidensgestalt, ihr ganzer Zustand aus. Sie besaß nicht Kraft genug, sich aus dem Fenster zu schwingen, sie sah mit Blicken der Liebe nach den Leichen der Eltern zurück und empfand es schwer, sich selbst im Tode von ihnen trennen zu müssen. Salentin kletterte auf den Rand des Fensters empor. Sie sank, von kindlichen Empfindungen übermannt, bewußtlos in seine Arme und wurde so von ihm und dem Pater in das Freie gebracht.

Hier ließen die beiden Männer das bedauernswürdige Kind auf einen umgestürzten Baumstamm nieder. Sie wählten vorsichtig eine Lage, in der sie, wenn sie wieder zu sich kam, das ausgestorbene Elternhaus im Rücken hatte. Mit Hülfe von Salentins aromatischem Essig erwachte bald die schlummernde Lebenskraft. Imagina öffnete die Augen, sah befremdet um sich, erkannte dann den Pater Clarus und brach in ein lautes Weinen aus.

»Beruhige dich, mein Töchterlein!« sagte der Mönch. »Der Herr, der in seiner unerforschlichen Weisheit deine Eltern von der Erde genommen, wird dir den schweren Verlust ersetzen. Wir alle sind hienieden Wandrer, die er von seinem großen Tisch ernährt und auch dir wird der Brosame aus seiner Hand nicht fehlen.«

Das Kind versuchte aufzustehn, allein es sank wieder matt auf den Sitz zurück. Salentin erkannte, daß seine lange Entbehrung von Speise und Trank die Ursache dieser Schwäche sey. Hier mußte der Vorrath des Mönches, der sich vorsorglich nicht von allen Lebensmitteln entblößt hatte, aushelfen und in der That zeigte die junge Imagina, nachdem sie das erste, dringende Bedürfniß befriedigt, wieder die erwachenden Kräfte einer Person, die dem Mangel, aber nicht dem Anfall einer Krankheit erlegen war.

Sie blickte zurück nach der Wohnung, in der sie glückliche Tage der Kindheit verlebte, aber auch nun den ersten bittern Schmerz des Lebens in all seiner Herbigkeit erfahren hatte. Sie sprang auf, sie wollte in das Haus zurück. Erst nach einiger Zeit gelang es dem sanften Zureden der beiden Männer ihr das Zwecklose dieses Unternehmens begreiflich zu machen, die stürmischen Gefühle ihres Innern einigermaßen zu beruhigen und ihre Gedanken auf die Zukunft zu richten. Sie hörte auf zu weinen, nicht weil ihr Schmerz sich milderte, nein! weil der Quell ihrer Thränen versiegt war.

»Wo soll ich hin, was soll aus mir werden?« schluchzte sie, die Hände ringend. »Ich habe weder Freunde noch Verwandte, die sich meiner erbarmen und, wenn es auch wäre, so würden sie ihre Thüre derjenigen verschließen, die aus dem Pesthause kommt. O laßt mich zurück, laßt mich neben den Leichen meiner Eltern hinsterben! Es war ein unsinniges Gelüst von mir, das mich nach Hülfe, das mich unter die Menschen trieb. Ich bin ihnen eine Fremde, sie haben kein Herz für eine verlassene Waise.«

Düster sah das unglückliche Kind, dem mit den Eltern jede Hoffnung verloren schien, vor sich hin. Das übermächtige Gefühl ihrer Verlassenheit machte sie zu einem starren Bilde der Verzweiflung. Sie schien wieder nur in den Erinnerungen an Alles, was ihr das Mißgeschick geraubt, zu leben; sie achtete nicht ihrer Retter, sie konnte sich nicht zu der Empfindung der Dankbarkeit erheben, welche sie diesen schuldig war.

»Da kommt uns freilich ein casus dubiosus in den Weg,« sprach indessen bedenklich der Pater zu seinem jungen Freunde. »Wohin mit dem Kinde? Das Haus des heiligen Franciscus ist ihrem Geschlechte verschlossen, hier muß die Wohlthätigkeit sich dem strengen Gesetze der Ordensregel unterwerfen. Warum ist sie kein Knabe, warum nicht ein Imaginus statt eine Imagina? Dann wäre der Waise und uns geholfen. Ich nähme den Imaginus mit in's Kloster und er könnte dermaleinst ein wackrer Diener der Kirche werden, der dem Terminirsacke keine Schande machte.«

»Sie geht mit mir,« versetzte entschlossen Salentin. »Im Hause meiner Eltern soll sie die Zufluchtsstätte finden, die ihr andre Menschen grausam versagen. Komm mit, Imagina!« wandte er sich an das Mädchen. »Dich hat das Unglück schon frühe heimgesucht, aber die Zukunft besitzt auch noch Freuden, die dich entschädigen können. In deinem Alter wurzelt der Schmerz nur leicht; du wirst Freunde finden, die auch ein Herz für dich haben, du magst immerhin die verlorenen Eltern beweinen, aber auch deine Seele der Liebe öffnen, die dir auf dem neuen Lebenspfade entgegenkommt.«

Das Kind sah ihn verwirrt an. Sie mußte ihre Gedanken sammeln, um sich den Sinn seiner Worte klar zu machen. Dann röthete sich ihre Wange, ihr Auge belebte sich, in stürmischer Wallung ergriff sie die Hand des jungen Mannes und rief:

»Ihr seyd ein Bote der heiligen Mutter Gottes, den sie der Verlassenen sendet. Ja, sie hat mein Gebet erhört und ihr Engel tritt zu mir! Schwebt nicht der Heiligenschein um Euer Haupt, spricht nicht aus Euern Zügen eine himmlische Verklärung, wie in denen des Heiligen Georg, der den Drachen schlug? Laßt mich Eure Magd seyn, laßt mich in Demuth Euch dienen! Mein Leben soll Euch angehören, meine Wünsche, meine Gebete! Gott will, daß Imagina noch fortleben soll und durch Euch verkündet er mir seinen Willen. Ich gehe mit Euch! Die Menschen haben mich ausgestoßen, mich aus dem Leben gewiesen, mich begraben. Ihr öffnetet furchtlos das Grab der Verpesteten, Ihr rieft mich in das Leben zurück, Ihr seyd mein Herr, mein Gebieter: nehmt mich an als Eure Magd.«

Ehe Salentin es verhindern konnte, bedeckte sie seine Hand mit glühenden Küssen. Ihr Auge hing nur an ihm, sie achtete nicht des Paters, der wiederum Worte des Trostes an sie richtete. Es schien, als bedürfe sie dessen nicht mehr, als ergreife sie das neue Daseyn, in das sie trat, mit Allgewalt, als bemächtige sich ihrer ein Gefühl, das ihrem Schmerze die Wage hielt und ihn für den Augenblick verstummen ließ. Salentin machte sich gerührt von ihr los.

»Du wirst als eine Freundin im Hause meiner Eltern gehalten werden;« sagte er mit ernster Freundlichkeit. »Niedre Seelen trennt das Unglück; edle vereinigt es. Beruhige dich, Kind, und sieh Alles, was dir begegnet ist, als eine Nothwendigkeit an, der du dich mit frommer Hingebung unterwerfen mußt. Ich bin nur ein schwaches Werkzeug in der Hand Gottes und seiner Heiligen. Ihnen mußt du danken, nicht mir.«

Die Wandrer näherten sich mit dem Kinde, das sie einem schrecklichen Tode entrissen, der Stadt. Schon lagerte sich abendliche Dämmerung auf diese und ihre Umgebung. Die Höhen des Taunus färbten sich dunkler und zeigten sich bald nur in scharfen Umrissen als finstre Massen. Imagina schritt schweigend neben den beiden Männern hin. Halblaut, so daß es ihr Ohr nicht erreichte, erzählte Pater Clarus seinem Gefährten noch Manches aus dem häuslichen Leben ihrer Eltern und von ihrem eigenen Wesen. Die Eltern waren gute stille Leute gewesen, die sich an dem heitern, lebhaften Gemüthe des Kindes erfreut. Immer hatte Imagina ein fröhliches Herz und einen aufgeweckten Geist an den Tag gelegt. Der Barfüßer war überzeugt, daß Beides, wenn unter dem wohlthätigen Einflusse der Zeit die Wunde ihrer Seele heile, zurückkehren werde. Sie besaß manche Kenntnisse, die damals unter Leuten ihres Standes nicht gewöhnlich waren. So hatte sie, als Pater Clarus durch eine Unpäßlichkeit mehrere Wochen lang im Hause ihrer Eltern zurückgehalten worden, mit Leichtigkeit Lesen und Schreiben, worin er sie zu seiner Unterhaltung unterrichtet, erlernt. Eine besondere Empfänglichkeit besaß sie für Sagen und Legenden, die sie theils von ihm, theils aus dem Munde der frommen Mutter vernommen. Ihr Gedächtniß bewahrte sie treu und ihre Phantasie beschäftigte sich gern damit. Wie leicht konnte sie also in jenen Augenblicken, wo sie in Salentin ihren Retter erkannte, in dem damaligen hocherregten Zustande ihrer Seele, sich verleitet finden, ihn für einen Himmelsboten, für einen Heiligen selbst zu halten!

Ohne daß den Wandernden etwas Besonderes begegnet wäre, langten sie in den nächsten Umgebungen von Frankfurt an. Schon konnten sie aus dem Innern der Stadt das Geräusch ihres lebendigen Treibens vernehmen, schon sahen sie die Leuchte des Wächters auf dem Nikolaithurm, die, wie ein seltsam gebildeter Stern, aus der Nacht herabglänzte. Am Wege zeigte sich ein Gebäude von ansehnlichem Umfange, mit einer weiten Umzäunung umgeben. Es schien von Holz erbaut und bestand, ungeachtet des bedeutenden Raumes, den es einnahm, nur aus dem niedrigen Erdgeschosse. Durch die kleinen Papierfenster schimmerte eine düstre Beleuchtung, von rauhen Kehlen erklang ein übellautender, weltlicher Gesang aus dem Innern.

» Vale, Salentine!« sprach der Bettelmönch. »Hier ist der Sitz der Armuth, die elende Herberge, die ihre Pforte jeglichem eröffnet, ohne daß der Wirth an der Thüre steht und mit dem Instinkt eines Spürhundes den Eintretenden taxirt: ob er ihm die Zeche mit doppelter oder einfacher Kreide anschreibe. Hier wird Alles gleich vertheilt, Brod und Wasser nach Belieben, die Rechnung ist gemacht, ehe man eintritt, und man bezahlt sie mit einem ›Gott lohn's‹ bei'm Abmarsche. Sanct Franciscus beschütze dich, mi file, und die heilige Jungfrau wache über dem Kinde in deinem Geleite!«

Der junge Mann wollte den Pater bereden, mit ihm in die Stadt zu gehen und im Hause seiner Eltern Wohnung zu nehmen. Der Minorit aber beharrte fest auf seinem Entschlusse.

»Hier ist meine Einkehr schon seit Jahren;« sagte er. »Ich habe lange genug in den Häusern der Vornehmen und Reichen mich nach ihren Launen und Gewohnheiten schmiegen und bücken müssen, um der Sache überdrüssig zu werden. Mein Rücken ist krumm, meine Glieder sind steif geworden. Die Zeiten sind vorüber, wo ich meine Lust dran fand, den Hausfrauen nach ihrem Behagen vorzuschwatzen, dem Hausherrn durch Scherzreden Kurzweil zu machen, die Kinder zu hätscheln und mit dem Gesinde, besonders mit dem Zapfknechte, mich auf einen vertraulichen Fuß zu setzen. Je älter ich werde, desto mehr behagt mir die Freiheit. In der elenden Herberge zehre ich auf gemeiner Stadt Unkosten und der heilige Franciscus hat sein Wohlgefallen an dem Bruder der Armuth, der unter den Armen seine Hütte aufschlägt. Aber ich spreche bei Euch vor, Salentine: morgen oder übermorgen und dann magst du der Hausmagd einen Wink geben, daß sie meinen Zwerchsack nicht allzukärglich bedenkt.«

Mit diesen Worten entfernte sich Pater Clarus und Salentin hörte ihn bald darauf an die Thüre der Herberge klopfen, welche ihm nach wenigen Augenblicken geöffnet wurde. Als der junge Wandrer mit seiner schweigsamen Begleiterin, die nun anfing, sich über die nächste Zukunft zu beunruhigen, vor dem Thore der Heimathsstadt anlangte, sollte dieses so eben geschlossen und die Zugbrücke, die über den Wallgraben führte, aufgezogen werden. Nur indem Salentin seinen Namen nannte und sich als einen der angesehensten Patriciersöhne auswies, wurde ihm der verspätete Eintritt gestattet.

Nach den Mittheilungen des Minoriten erwartete er, die Einwohner der Stadt in jene stille, ängstliche Spannung versenkt zu finden, welche die Begleiterin eines über jedem Haupte stets so drohenden Unheils, wie die Pest zu seyn pflegt; allein mochte man sich dem Unvermeidlichen bereits geduldig gefügt, mochte die ernstere Betrachtung dem gewöhnlichen Leichtsinne der Menge sich unterworfen, mochte das Unglück selbst bei näherer Bekanntschaft seine Schrecken verloren haben: genug! in den Straßen herrschte ganz das laute, bewegliche Leben der frühern Zeit, selbst Ausrufungen der Lust und des Muthwillens ließen sich vernehmen und aus den zahlreichen Trinkstuben der Bürger, deren jedem, sobald er Überfluß an Wein hatte, die Erlaubniß zustand, diesen öffentlich zu verzapfen, ertönte wüstes Lärmen, Gesang und Becherklang. Nur als Salentin mit seiner jungen Gefährtin, die sich in dem Menschengewühle ängstlicher an ihn schmiegte, an einer dunkeln Seitengasse vorüberschritt und aus dieser mit beweglicher Eile ein finsterer Zug herannahete, als zugleich das Todtenglöcklein der benachbarten Kapelle geläutet wurde, stiebte unter dem Warnungsrufe: »die Pest, die Pest!« die Menge auseinander und in einem Augenblicke war die Straße, die noch eben ein Bild des regsten Treibens gezeigt, völlig verödet. Salentin selbst drängte hastig das Kind an seiner Seite weiter, das dumpfe Rollen der Leichenkarren klang ihnen schaurig nach und erst, als der junge Mann an die Pforte des Elternhauses klopfte, verlor sich der düstre Eindruck dieser Begegnung, unter frohen Vorgefühlen eines glücklichen Wiedersehens, aus seiner Seele.

Diese heitern Ahnungen wurden nicht getäuscht. Die blinde Mutter schloß den wiederkehrenden Sohn mit freudiger Lebendigkeit in ihre Arme. Der Vater, ein rüstiger Greis, den Erfahrungen und Leiden mannigfacher Art ernst gemacht, bot ihm mit frohglänzendem Blicke die Rechte, Regina, die Waise, zur reizenden Jungfrau herangeblüht, lächelte ihm durch Thränen entgegen und trat, als sein Auge mit bedeutungsvollem Ausdrucke auf ihr ruhete, erröthend und verschämt hinter diejenige, die sie als Mutter ansehn durfte und mit kindlicher Treue verpflegte. Imagina hatte sich schüchtern und mit banger Erwartung in einen Winkel des Gemaches zurückgezogen. Da ergriff Salentin sie bei der Hand und führte sie den Eltern zu. Wenige Worte reichten hin, diese mit dem Schicksale des unglücklichen Kindes bekannt zu machen. Frau Gisela, Salentin's Mutter, ließ sie näher treten, legte ihre Rechte auf das Haupt der Verlassenen und sagte in einem Tone der Güte und des Mitleids, der tief aus dem Herzen der würdigen Matrone drang: »Die Heiligen segnen deinen Eingang in dieses Haus! Sie haben den lang vermißten Sohn an dieses Mutterherz zurückgeführt, sie haben dich ihm mitgegeben, daß ich auch dir eine Mutter sey, daß ich durch ein Werk der Liebe an dir, ihnen meine Dankbarkeit an den Tag lege. Sieh dieses Haus als deine Heimath an und fühlt sich dein jugendliches Gemüth von einer Sorge bedrängt, von Zweifeln beunruhigt, so vertraue dich mir und es soll dir an Trost und Rath, an mütterlichem Wohlwollen nicht fehlen.«

Imagina konnte den Gefühlen, welche diese liebevolle Aufnahme in ihr erweckte, nicht widerstehn. Sie sank weinend der edlen Frau zu Füßen. Diese übergab das bewegte Kind Reginen und während Herr Hanns vom Rheine sich erinnerte, den Vater der Armen auf seinen Jagdzügen mit dem Grafen von Solms gesehn zu haben, schlossen in einer fernen Fenstervertiefung der häuslichen Halle die beiden Waisen einen Bund schwesterlicher Liebe, von dem sie nicht ahnten, daß er sich einst in schweren Prüfungen des Lebens bewähren müsse.

Dieser Abend, der dem Hause der Eltern ihr theuerstes Kleinod zurückgab, verging heiter unter den Erzählungen Salentin's von seinem eingezogenen Studienleben in Paris, von den Erfahrungen, die er dort und auf seinen Reisen gesammelt, von Ereignissen fröhlicher Art, die ihm während seiner Abwesenheit begegnet. Es war ihm darum zu thun, die lieben Eltern in eine unbefangene Stimmung zu versetzen, wie sie ihm als die sicherste Wehr gegen die Bedrängnisse jener unglücklichen Zeit erschien. Dabei beobachtete er, ohne es wahrnehmen zu lassen, mit großer Aufmerksamkeit die Augen der Mutter und konnte sich, als die Familie, zu der sich Regina und nun auch Imagina rechnen durften, zur Nachtruhe von einander schied, die frohe Versicherung geben: es sey der Kunst, welcher er den Fleiß und die geistigen Anstrengungen mehrerer Jahre geopfert, nicht unmöglich, den Erblindeten das Licht des Tages und mit ihm die freudige Anschauung der göttlichen Schöpfung, den Anblick der Lieben, die der zart empfindenden Frau so nahe am Herzen lagen, wieder zu eröffnen.



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