Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Auf der Suche nach Auskünften

Dienstag, den 11. September, 9 Uhr abends

Zehn Minuten später standen wir vor einem imposanten Haus in der 44. Straße. Markham läutete. Ein glänzend livrierter Kammerdiener öffnete. Markham gab seine Karte.

»Melden Sie mich gleich. Es ist dringend.«

Der stattliche Seneschall führte uns in einen reichmöblierten Empfangsraum. Einen Augenblick später trat Doktor Lindquist ein. Er hielt die Visitenkarte in der Hand und studierte sie, als ob sie eine Keilinschrift trüge. Er war im Smoking und hielt sich mit der selbstbewußten Korrektheit eines Mannes, der übermäßig von seiner eigenen Bedeutung überzeugt ist. Er war hochgewachsen, mochte Ende Vierzig sein. Sein Gesicht war sehr blaß. Trotz der Asymmetrie seiner Züge konnte man ihn für einen schönen Mann halten. Er hatte auffallend üppiges Haar und dichte, buschige Augenbrauen.

Lindquist nahm an einem halbrunden, reich geschnitzten Mahagoni-Schreibtisch Platz und blickte Markham mit höflichen fragenden Augen an. »Welchem Umstand verdanke ich die Ehre Ihres Besuches?« wandte er sich an ihn mit vorzüglicher Sprachtechnik. »Sie hatten Glück, mich zu Haus anzutreffen«, fügte er hinzu, ehe Markham zu Wort kam. »Ich konferiere mit Patienten nur nach vorheriger Vereinbarung.« Er rollte jedes Wort andächtig im Munde.

Markham, dessen Natur alle Umschweife zuwider waren, kam sofort zur Sache. »Es handelt sich nicht um eine berufliche Konsultation. Ich wünsche mit Ihnen über einen früheren Patienten von Ihnen zu sprechen, eine Miß Margaret Odell.«

Lindquist betrachtete geistesabwesend einen goldenen Briefbeschwerer.

»Ach so. Miß Odell. Ich las soeben von ihrem gewaltsamen Tode. Eine tragische Angelegenheit. In welcher Art und Weise kann ich Ihnen da dienen? Sie wissen natürlich, daß die Beziehungen eines Arztes zu seinem Patienten auf der Schweigepflicht aufgebaut sind ...?«

»Selbstverständlich«, versicherte Markham, »andererseits gibt es aber auch die heilige Pflicht jedes Staatsbürgers, den Behörden beizustehen. So werde ich also gewiß erwarten dürfen, daß Sie nur behilflich sein werden.«

Der Doktor hob leicht die Hand zu einer Geste höflichen Einspruchs.

»Ich werde natürlich tun, was in meinen Kräften steht.«

»Es ist wohl überflüssig, um die Sache herumzureden«, sagte Markham. »Ich weiß, daß Miß Odell lange Zeit Ihre Patientin war und daß es höchst möglich, ja sogar wahrscheinlich ist, daß sie Ihnen gewisse persönliche Dinge sagte, die mit ihrem Tod in Verbindung stehen könnten.«

»Aber mein lieber Mister ...« Doktor Lindquist sah ostentativ auf die Visitenkarte »... äh, Markham, mein lieber Mister Markham, meine Beziehungen zu Miß Odell waren rein beruflicher Art.«

»Ich habe immerhin gehört«, wagte Markham sich vor, »daß, obgleich Sie durchaus recht haben mögen, nichtsdestoweniger eine gewisse Lockerung der Form in dieser Beziehung eingetreten war. Darf ich also sagen, daß Ihre berufsmäßige Einstellung vielleicht ein wenig über das rein wissenschaftliche Interesse an dem Patienten hinausging?«

Ich hörte, wie Vance leise kicherte. Ich selber konnte bei dieser wortreichen und wohlgerundeten Bezichtigung kaum ein Lächeln unterdrücken. Aber Doktor Lindquist schien keineswegs betroffen. Er setzte eine nachdenkliche Miene auf und sagte:

»Im Interesse strengster Genauigkeit muß ich gestehen, daß es während meiner ausgedehnten Behandlung ihres etwas langwierigen Falles dahin kam, daß ich die junge Dame mit einer gewissen väterlichen Zuneigung ansah. Aber ich bezweifle sehr, ob Miß Odell je diese zartfühlende Einstellung meinerseits überhaupt gewahr geworden ist.«

Vances Mundwinkel zuckten.

»Und sie hat Ihnen nie etwas von persönlichen Angelegenheiten erzählt?« fragte Markham unbeirrt.

Doktor Lindquist legte seine Finger zu einer Pyramide zusammen und gab sich den Anschein, als dächte er angestrengt nach.

»Nein. Ich kann mich nicht auf eine einzige Andeutung dieser Art besinnen. Ich bin natürlich ganz allgemein über ihre Lebensweise unterrichtet, aber Details lagen völlig außerhalb meines Bereichs als medizinischer Ratgeber. Die Störungen ihres Nervensystems waren – so ließ mich meine Diagnose schließen – auf spätes Zubettgehen, Aufregungen, unregelmäßiges und zu schweres Essen zurückzuführen ... Die modernen Frauen in diesem fieberhaften Jahrhundert ...«

Markham unterbrach ihn voll Ungeduld. »Wann haben Sie Miß Odell das letztemal gesehen, wenn ich fragen darf?«

Der Doktor machte eine Bewegung, als sei er maßlos überrascht.

»Wann ich sie zuletzt sah? ... Lassen Sie mich nachdenken.« Er konnte sich anscheinend nur mit großer Beschwerlichkeit erinnern. »Vor vierzehn Tagen ... es mag auch schon länger her sein ... Aber ich kann ja in meiner Kartothek nachsehen, wenn Sie wünschen.«

»Es wird nicht notwendig sein«, sagte Markham. Er schwieg einen Augenblick und sah den Arzt mit einem Blick von entwaffnender Liebenswürdigkeit an. »Und war dieser letzte Besuch ein väterlicher oder war er lediglich beruflicher Art?«

»Rein beruflich, natürlich«, heuchelte Lindquist unentwegt.

»Fand die Begegnung hier oder in Miß Odells Wohnung statt?«

»Ich glaube, ich besuchte sie in ihrem Heim.«

»Sie haben sie ziemlich oft besucht, wie ich unterrichtet bin, sogar zu etwas ungewöhnlichen Stunden. Stimmt dies völlig mit Ihrer Gepflogenheit über ein, Patienten nur nach vorheriger Verabredung zu sehen?«

Markhams Ton war durchaus verbindlich. Bevor Lindquist jedoch antworten konnte, erschien der Kammerdiener in der Tür und deutete stillschweigend auf ein Zimmertelefon, das auf einem Taburett neben dem Schreibtisch stand. Mit einer gemurmelten Entschuldigung wandte sich Lindquist ab und hob den Hörer vom Apparat. Vance benutzte die Gelegenheit, um rasch etwas auf einen Zettel zu kritzeln, den er Markham verstohlen zusteckte.

Nachdem er den Anruf erledigt hatte, richtete Lindquist sich hochmütig auf und sah Markham mit eisiger Verachtung an.

»Gehört es zu den Funktionen des Polizeichefs«, fragte er überlegen, »respektable Arzte mit beleidigenden Fragen zu belästigen? Ich wüßte nicht, daß es ungesetzlich wäre, wenn ein Arzt seine Patientinnen besucht.«

»Keineswegs bespreche ich augenblicklich« – Markham legte Nachdruck auf das Adverb – »eine Gesetzesübertretung Ihrerseits, aber da Sie selber auf eine solche Möglichkeit anspielen, würden Sie wohl so liebenswürdig sein und mir der Form halber sagen, wo Sie gestern nacht zwischen elf und zwölf waren?«

Diese Frage hatte eine erstaunliche Wirkung. Lindquist straffte sich plötzlich, erhob sich langsam und steif und starrte den Polizeichef kalt und giftig an. Seine samtene Maske war gefallen.

»Mein Verbleib gestern nacht geht Sie nichts an«, sprach er schweratmend.

Markham wartete sichtlich ungerührt. Seine Augen hefteten sich fest auf den Zitternden. Dieser Blick erschütterte die Selbstbeherrschung Lindquists vollends.

»Was wollen Sie überhaupt mit Ihren gemeinen Anspielungen?« schrie er. Sein Gesicht war blau vor Wut und gräßlich verzerrt. Er machte krampfhafte Bewegungen mit den Händen. »Schauen Sie, daß Sie von hier fortkommen, Sie und Ihre beiden Gehilfen, ehe ich Sie rauswerfen lasse!«

Markham, nun selber aufgebracht, wollte antworten, aber Vance nahm ihn am Arm.

»Doktor Lindquist hat uns leise angedeutet, daß wir weggehen möchten«, sagte er, und mit erstaunlicher Geschwindigkeit drehte er Markham herum und führte ihn zum Zimmer hinaus.

Während wir im Taxi zum Klub zurückfuhren, kicherte Vance vor sich hin:

»Eine süße Type das. Dieser ölige Hippokrates ist nichts anderes als ein schwerer Psychopath. Eine Minute später wäre er uns an die Kehle gesprungen ... Du solltest die Schädelbildungen deiner Mitmenschen genauer studieren, Markham. Dann hättest du auf den ersten Blick gesehen, daß dieser Ehrenmann ein Schwerkranker ist ... gefährlich geradezu ...«

»Ich wüßte gern, was er wirklich zu erzählen hat«, brummte Markham.

»Allerhand! Davon kannst du überzeugt sein. Wenn wir es auch wüßten, wären wir bestimmt ein gutes Stück weiter. Er hat die großartige Allüre furchtbar übertrieben; der Anfall zum Abschied war echt, da zeigten sich seine wahren Gefühle für uns.«

Markham pflichtete ihm bei. »Ja, die Frage wegen gestern nacht stach ihn wie eine Tarantel. Das war übrigens fein von dir, sie mir vorzuschlagen. Sie hat großartig gewirkt. Mir schwant, daß ich diesen Modedoktor noch einmal wiedersehen werde.«

»Ganz bestimmt wirst du das«, bestätigte Vance. »Wenn er erst Zeit gehabt hat, sich die Sache zu überlegen und eine rührselige Geschichte zusammenzudichten, wird er gradezu schwatzhaft werden ... Jedenfalls, des Abends Arbeit ist getan, und du kannst von Butterblumen träumen, bis es wieder Tag wird.«

–  – –

Aber wir saßen kaum wieder im Klub, als ein Herr an unserm Tisch vorbeiging und Markham mit einer formellen Verbeugung grüßte. Zu meiner Überraschung erhob sich Markham und lud den Herrn ein, an unserm Tisch Platz zu nehmen.

»Es gibt da noch was, worüber ich Sie gern fragen möchte, Mr. Spotswood«, sagte er, »falls Sie einen Moment Zeit haben.«

Als der Name genannt wurde, sah ich mir den Herrn näher an. Ich muß gestehen, daß ich neugierig auf ihn war. Spotswood war der typische New-England-Aristokrat, sehr hoch gewachsen, hager und sehnig, mit sehr zurückhaltenden, langsamen, etwas eckigen Bewegungen. Sein Haar und sein Schnurrbart waren leicht ergraut. Er war diskret, aber sehr elegant angezogen.

Markham stellte vor und erwähnte kurz, daß wir mit ihm an dem Fall arbeiteten, und daß er es fürs beste gehalten habe, uns völlig in sein Vertrauen einzulassen. Spotswood sah ihn fragend an, verbeugte sich aber sofort zum Einverständnis mit dieser Entscheidung.

»Ich bin in Ihrer Hand«, sagte er mit seiner etwas hohen Stimme und der guten Aussprache eines Mannes aus den besten Kreisen, »und ich bin natürlich mit allem einverstanden, was Sie für angemessen halten.« Er wandte sich mit einem entschuldigenden Lächeln an Vance. »Ich bin in eine peinliche Lage geraten und deswegen ein bißchen empfindlich.«

»Ich stehe selber theoretisch etwas auf dem Kriegsfuß mit unseren Sittengesetzen«, teilte ihm Vance liebenswürdig mit.

»Jedenfalls bin ich kein Moralist, und mein Interesse an der Sache ist rein akademisch.«

Spotswood lächelte. »Ich wünschte, meine Familie stünde auf demselben Standpunkt; aber ich muß befürchten, daß sie nicht so tolerant ist.«

»Anstandshalber muß ich Ihnen sagen, Mr. Spotswood«, wandte hier Markham ein, »daß ich Sie möglicherweise als Zeugen rufen muß.« Spotswood legte die Stirn in Falten. Markham fuhr fort: »Wir sind gerade dabei, jemanden zu verhaften. Und Ihre Zeugenaussage kann nötig werden, um die Zeit von Miß Odells Rückkehr festzustellen und auch um die Tatsache zu belegen, daß vermutlich jemand in den Räumen war, als Sie weggingen.«

Spotswood schien sehr betroffen. Er saß einige Minuten mit abgewandten Augen da.

»Ich sehe das durchaus ein«, gestand er schließlich. »Aber es wäre furchtbar für mich.«

Markham sprach ihm Mut zu. »Es kann sich ja ergeben, daß dieser Zwangsfall nicht eintritt. Sie werden nur herangezogen werden, wenn es durchaus notwendig ist ... Und nun, was ich Sie noch fragen wollte: Kennen Sie einen Doktor Lindquist, der, wie ich hörte, Miß Odells Hausarzt war?«

Spotswood war offenbar verwirrt. »Ich habe ihn nie nennen hören«, antwortete er ... »Miß Odell hat mir gegenüber nie einen Arzt erwähnt.«

»Und hat sie vielleicht einmal den Namen Skeel erwähnt ... oder von einem gewissen Tony gesprochen?«

»Nie«, entgegnete Spotswood mit Nachdruck.

Markham verfiel in Stillschweigen. Auch Spotswood schwieg. Er saß wie in Träumerei versunken.

»Mr. Markham«, sagte er nach einigen Minuten, »ich sollte mich schämen, es zu gestehen, aber tatsächlich hat das Mädchen sehr viel in meinem Leben bedeutet. Ich nehme an, Sie haben die Wohnung unberührt gelassen ...« Er zögerte, ein beinahe ergreifender Ausdruck kam in seine Augen. »Ich möchte die Zimmer gern noch einmal sehen, wenn es möglich wäre.«

Markham sah ihn verständnisvoll an, schüttelte aber schließlich den Kopf.

»Es wird nicht gehen. Der Telefonist wird Sie ganz bestimmt wiedererkennen. Oder ein Reporter könnte sich dort herumtreiben ... und dann könnte ich Sie nicht länger aus der Sache draußen lassen.«

Spotswood schien enttäuscht. Eine Weile sprach niemand. Dann richtete Vance sich ein wenig in seinem Sessel auf und sagte: »Ich frage mich, Mr. Spotswood, ob Ihnen vielleicht etwas Ungewöhnliches auffiel gestern nacht, während der halben Stunde, die Sie nach dem Theater bei Miß Odell verbrachten?«

»In keiner Beziehung. Wir schwatzten eine Weile. Sie war müde. So sagte ich gute Nacht und ging weg, nachdem ich für heute mittag eine Verabredung mit ihr getroffen hatte.«

»Es scheint jetzt ziemlich sicher, daß jemand in der Wohnung versteckt war, während Sie dort waren.«

»Zweifellos«, sagte Spotswood mit einem ganz leichten Schauder. »Der Bursche muß aus dem Versteck gekommen sein, kurz nachdem ich wegging.«

»Hatten Sie keinen ähnlichen Verdacht, als Sie die Schreie und Hilferufe hörten?«

»Ganz natürlich! Es war mein erster Gedanke. Doch als sie mir die Versicherung gab, daß nichts los sei, dachte ich, sie wäre eingedöst und hätte einen Alptraum gehabt und im Schlaf geschrien ... Hätte ich mich nur nicht so rasch beruhigen lassen!«

Vance schwieg. Nach einer Weile fragte er wieder:

»Haben Sie zufällig im Wohnzimmer die Tür zur Kleiderkammer beobachtet? War sie offen oder zu?«

Spotswood runzelte die Stirn.

»Ich vermute, sie war zu. Ich müßte es bemerkt haben, wenn sie offengestanden hätte.«

»Dann können Sie auch nicht sagen, ob der Schlüssel im Schloß stak oder nicht?«

»Du lieber Himmel, nein! Ich weiß nicht mal, ob die Tür überhaupt einen Schlüssel hatte.«

Die Angelegenheit wurde noch eine Weile länger besprochen, dann entschuldigte sich Spotswood und verließ uns.

»Es ist mir unbegreiflich«, grübelte Markham, »wie ein derartiger Mann durch ein so geistloses Allerweltsmädel gefesselt werden konnte.«

»Ach Gott, das ging seine ganz natürlichen Wege«, antwortete Vance. »Du bist ein unverbesserlicher Moralist, lieber Markham.«


 << zurück weiter >>