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Fußspuren im Schnee

Sonntag, den 9. September

Der Stuyvesant Club wurde ganz in der Art eines renommierten Hotels betrieben. Seine zahlreiche Mitgliedschaft setzte sich aus politischen, juristischen und Finanzkreisen zusammen. Wir drei, Markham, Vance und ich, waren Mitglieder und trafen uns dort oft in einer verschwiegenen Ecke der großen Halle, um zu plaudern.

»Es ist schlimm«, bemerkte Markham an diesem Abend, »daß die halbe Stadt das Amt des Polizeichefs für eine Art oberste Sammelstelle hält. Ich hätte sonst wirklich nicht nötig, Detektiv zu spielen, bloß weil mir die Beamten keine zulänglichen Indizien liefern, um eine Überführung des Täters zu sichern.«

Vance blickte Markham spöttisch an. Über sein schmales, sehr bewegliches Gesicht huschte ein Lächeln.

»Die Schwierigkeit«, entgegnete er lässig, »liegt wohl darin, daß die Polizei in den Spitzfindigkeiten des juristischen Verfahrens nicht bewandert ist. Sie glaubt, daß Schuldbeweise, wie sie einen Durchschnittsmenschen überzeugen, auch einen Gerichtshof überzeugen müßten. So was ist natürlich albern. Ein Polizist denkt viel zu gerade, als daß er je den umständlichen Forderungen der Juristen gerecht werden könnte.«

»Ganz so schlimm ist es doch wohl nicht«, beschwichtigte Markham. »Gäbe es nicht Regeln zur Aufnahme einwandfreier Tatbestände, dann müßte mancher Unschuldige büßen. Selbst ein Verbrecher kann Schutz vor einer ungerechten Verurteilung verlangen.«

Vance gähnte gelangweilt. »Markham, du hättest Schullehrer werden sollen. Es ist erstaunlich, wie du eine Kritik mit Gemeinplätzen totschlägst. Ich bin keineswegs deiner Meinung. Entsinnst du dich jener Erbschaftssache in Wisconsin? Ein paar Interessenten hatten dafür gesorgt, daß ein gewisser Mann rechtzeitig von der Bildfläche verschwand. Die Gerichte erklärten den Verschollenen für tot. Eines Tages erschien er jedoch wieder und lebte gesund und munter unter seinen früheren Nachbarn. Sein Zustand als offizieller Toter konnte aber gesetzlich nicht geändert werden. Die offenbare Tatsache, daß er am Leben war, wurde von den Juristen für unwichtig gehalten ... Verlangst du wirklich, daß ein Laie das versteht?«

»Wozu diese akademische Dissertation?« fragte Markham ein wenig gereizt.

»Sie legt die Axt an die Wurzel des Übels«, erwiderte Vance gleichmütig. »Einzig die Tatsache, daß die Polizei juristisch ungebildet ist, hat deine gegenwärtigen Scherereien verursacht. Warum bringst du keinen Gesetzvorschlag ein, daß alle Kriminalschutzleute eine Rechtshochschule besuchen müssen?«

»Na, du bist mir ein schöner Gehilfe!« gab Markham zurück.

Vance zog die Augenbrauen leicht in die Höhe. »Die Anregung ist gar nicht zu übel. Ein Nichtjurist klammert sich an Tatsachen. Ein Gerichtshof aber hört sich freilich eine Masse wertloser Zeugenaussagen an und fällt dann seine Entscheidung nicht nach der wirklichen Sachlage, sondern nach pedantischen Vorschriften. Das Ergebnis: das Gericht läßt oft den Schuldigen laufen, und mancher Richter hat schon zum Angeklagten gesagt: Ich weiß, und das Gericht weiß es, daß du das Verbrechen begangen hast, aber mit Rücksicht auf die Beweise, die das Gesetz fordert, erkläre ich dich für unschuldig. Geh und sündige wieder!«

Markham brummte: »Ich würde mich kaum beliebt machen, wenn ich die Anwürfe gegen mich damit beantwortete, daß ich juristische Kurse für die Polizei vorschlüge.«

»Dann verrate mir wenigstens«, sagte Vance, »wie du den vernünftigen Befund der Polizei mit dem, was man feinsinnig die Korrektheit des juristischen Verfahrens nennt, in Einklang bringen willst.«

»Ich hatte gestern eine Konferenz mit meinen Bezirksvorstehern«, unterrichtete ihn Markham. »In Zukunft werde ich die Untersuchung in den wichtigsten Kriminalfällen der Nachtklubs selbst in die Hand nehmen. Ich werde mit allen Mitteln versuchen, Schuldbeweise, die ich zu Verurteilungen brauche, in die Hände zu bekommen.«

Vance nahm langsam eine Zigarette aus seinem Etui und tippte sie auf seine Stuhllehne.

»Aha! Du gedenkst also den Freispruch des Schuldigen durch die Aburteilung des Unschuldigen zu ersetzen?«

Markham fuhr ärgerlich herum und blickte Vance stirnrunzelnd an.

»Ich will nicht behaupten, daß ich diese Bemerkung mißverstehe«, sagte er bitter. »Du bist einmal wieder hinter deinem Lieblingsthema, der Unzulänglichkeit des Indizienbeweises, her.«

»Stimmt!« sagte Vance ruhig. »Dein kindlich reines Vertrauen in den Indizienbeweis macht mich tatsächlich wehrlos. Ich zittre schon für die schuldlosen Opfer, die du in deinen gesetzlichen Netzen fangen wirst. Schließlich wird es so weit kommen, daß der bloße Besuch eines Kabaretts zum Wagnis wird.«

Markham schwieg eine Zeitlang und rauchte. Die Bitterkeit, die gelegentlich in den Gesprächen der beiden aufkam, hatte keinen Einfluß auf ihre Stellung zueinander. Sie waren alte Freunde, und trotz der Verschiedenheit ihrer Temperamente und Standpunkte hatten sie im Grunde tiefe Achtung voreinander.

»Warum eigentlich verwirfst du den Indizienbeweis so restlos?« begann Markham wieder. »Zugegeben, daß er zuweilen in die Irre führt, aber er ist und bleibt die stärkste Handhabe, die wir Kriminaljuristen haben. Es liegt in der Natur des Verbrechens, daß unmittelbare Schuldbeweise beinah nie zu beschaffen sind. Wären die Gerichte auf sie angewiesen, dann befände sich die Mehrzahl aller Verbrecher auf freiem Fuß.«

»Ich habe den Eindruck, daß diese kostbare Mehrzahl sich ohnehin stets ihrer uneingeschränkten Freiheit erfreut.«

Markham überhörte diese Unterbrechung.

»Nimm ein Beispiel: ein Dutzend Erwachsene sehen einen Vogel durch den Schnee laufen. Sie bezeugen: es war ein Huhn. Ein Kind aber erklärt, es war eine Ente. Die Spuren im Schnee werden untersucht, die schwimmfüßige Fährte einer Ente wird festgestellt. Ist es dann nicht klar, daß der Vogel eine Ente und nicht ein Huhn war, trotz der überwiegenden direkten Zeugenangaben?«

»Na, ich schenke dir die Ente!« pflichtete Vance bei.

»Dein Geschenk wird dankbar angenommen. Nun ein Folgerungsbeispiel: ein Dutzend Erwachsene sehen eine menschliche Gestalt durch den Schnee fliehen. Sie beschwören, es war eine Frau. Ein Kind aber besteht darauf, es sei ein Mann gewesen. Nun, willst du nicht zugeben, daß also die Stapfen von Männerschuhen im Schnee den Beweis liefern, die Gestalt war tatsächlich ein Mann und nicht eine Frau?«

»Nie und nimmer, lieber Justinian«, erwiderte Vance und streckte behaglich seine Beine aus, »es sei denn, daß du beweisen kannst, daß der Mensch kein besseres Gehirn besitzt als die Ente.«

»Was haben denn Gehirne damit zu tun?« fragte Markham ungeduldig. »Gehirne beeinflussen doch Fußabdrücke nicht.«

»Entengehirne gewiß nicht. Aber Menschengehirne könnten es sehr wohl, und ohne Zweifel tun sie es sogar oft.«

»Hältst du mir da eine Vorlesung über Anthropologie oder spekulative Metaphysik?«

»Ganz und gar nicht«, versicherte Vance. »Ich rede von einer simplen, oft beobachteten Tatsache.«

»Schön! Würden also diese Männerfußtapfen nach deinem mit Scharfsinn entwickelten Denkprozeß einen Mann oder eine Frau beweisen?«

»Zwangsläufig keins von beiden«, antwortete Vance; »oder richtiger: die Möglichkeit von beiden. Dein Beispiel auf Menschen angewandt, das heißt auf Geschöpfe mit logischem Verstand, würde nur besagen: die Gestalt, die über den Schnee floh, war entweder ein Mann in seinen eigenen Schuhen oder eine Frau in Männerschuhen oder vielleicht sogar ein langbeiniges Kind, kurz: die Spuren stammen von irgendeinem Nachkommen des Pithecanthropus erectus, unbekannten Alters und Geschlechts, der Männerschuhe trug. Bei den Fährten der Ente aber würde ich dem Augenschein Glauben schenken.«

»Erfreulich«, entgegnete Markham, »daß du wenigstens die Möglichkeit ausschließt, die Ente könnte sich die Schuhe des Gärtners angezogen haben.«

Vance schwieg eine Weile, dann begann er wieder.

»Ihr modernen Solone versucht ständig, die Menschennatur auf eine Formel zu bringen. Tatsächlich aber ist der Mensch genau so wie das Leben unendlich kompliziert. Er ist gerissen und spitzfindig, seit Jahrhunderten in allen Teufelsschikanen geschult. Er lügt neunundneunzigmal, bevor er einmal die Wahrheit sagt. Eine Ente dagegen hat nicht die himmelstürmenden Vorteile der Zivilisation genossen, sie ist ein geradedenkender und ungemein ehrlicher Vogel.«

»Wie aber«, fragte Markham, »willst du ohne die üblichen Handhaben zu einer Feststellung über das Geschlecht und die Art der Person, von der die Männerspuren im Schnee stammen, gelangen?«

Vance blies einen Rauchring gegen die Zimmerdecke. »Zunächst würde ich mir alle Zeugenaussagen der zwölf kurzsichtigen Erwachsenen und des einen scharfsichtigen Kindes schenken. Dann würde ich die Fußtapfen im Schnee überhaupt nicht beachten. Und dann erst würde ich, ungetrübt vom Vorurteil zweifelhafter Zeugenaussagen, unbeeinflußt durch materielle Fingerzeige, die psychologische Natur des Verbrechens bestimmen, das die fliehende Person beging. Nach einer gründlichen Analyse könnte ich dir nicht nur sagen, ob der Täter ein Mann oder eine Frau war, sondern dir auch seine Gewohnheiten, seinen Charakter und seine Persönlichkeit beschreiben.«

Markham konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Ich fürchte, du wärst noch schlimmer als die Polizei, wenn es darauf ankäme, mir brauchbare Tatbeweise zu beschaffen.«

»Jedenfalls würde ich nicht Indizien gegen eine harmlose Person beibringen, deren Stiefel sich der wirkliche Täter angeeignet hätte«, wandte Vance ein. »Denn solange du dich auf Fußtapfen verläßt, wirst du unausweichlich immer gerade die Leute verfolgen, die die Verbrecher von dir verhaftet sehen möchten und die nichts mit dem Verbrechen zu tun haben.« Er wurde plötzlich sehr ernst. »Glaube aber deshalb nicht, daß ich einen Heller für diese Theorie gebe, daß sich zur Zeit in den Nachtklubs eine Bande von Halsabschneidern zusammengerottet hat. Verbrechen entspringt nicht aus Masseninstinkten. Verbrechen ist ein persönliches, ein individuelles Geschäft. Man setzt sich nicht zu einem Mord zusammen wie zu einer Partie Bridge ... Und außerdem läßt heutzutage kein Verbrecher auch nur eine Fußspur zurück für deine Zollstöcke und Meßzirkel.« Er seufzte und sah Markham mit spöttischem Mitleid an. »Hast du überhaupt bedacht, daß dein nächster Fall einer ohne jegliche Fußspuren im Schnee sein könnte? He? Wie willst du ihn dann anpacken?«

»Ganz einfach«, schlug Markham ironisch vor, »ich würde dich mit auf die Untersuchung nehmen. Wie wär's damit, mein Lieber?«

»Ich bin begeistert von dem Gedanken«, sagte Vance.

Zwei Tage später brachten die Zeitungen der Metropole auf der ersten Seite in riesengroßen Überschriften die Nachricht vom Mord an Margaret Odell.


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