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Ein Schrei nach Hilfe

Dienstag, 11. Sept., 11 Uhr vormittags

Von dem Augenblick an, als er das Zimmer betrat, machte Jessup einen guten Eindruck. Er war ein ernster, gesetzt aussehender Mann Anfang Dreißig, stämmig und gut gebaut, mit ruhigen, intelligenten Augen. Beim Gehen zog er den rechten Fuß stark nach. Ich bemerkte auch, daß sein linker Arm wie nach einem schlecht verheilten Ellbogenbruch dauernd gekrümmt war.

Markham lud Jessup mit einer Handbewegung ein, Platz zu nehmen. Er lehnte aber ab und blieb vor dem Polizeichef in respektvoll soldatischer Haltung stehen.

Markham eröffnete das Verhör mit einigen persönlichen Fragen. Es stellte sich heraus, daß Jessup als Sergeant im Weltkrieg gedient hatte, zweimal schwer verwundet wurde und kurz vor dem Waffenstillstand aus dem Heer entlassen worden war. Seine gegenwärtige Anstellung als Telefonist hatte er seit länger als einem Jahr inne.

»Nun, Jessup, Sie können uns sicher einiges über die Tragödie sagen, die letzte Nacht stattfand.«

»Yes, Sir.«

Fraglos, dieser ehemalige Soldat war ein Musterzeuge: er würde alles, was er wußte, aussagen und sogar irgendwelche Zweifel freimütig äußern.

»Zunächst mal, um wieviel Uhr haben Sie gestern abend Ihren Dienst angetreten?«

»Um zehn Uhr, Sir.« An dieser Feststellung gab es keinen Zweifel. Man spürte unmittelbar, daß ein Mensch wie Jessup seinen Dienst zu jeder Stunde pünktlich antreten würde. »Es war meine kurze Schicht. Der Tagestelefonist und ich lösen einander in langen und kurzen Schichten ab.«

»Sie haben Miß Odell gestern abend nach der Theaterzeit nach Hause kommen sehen?«

»Yes, Sir. Jedermann, der von der Straße her ins Haus kommt, muß beim Telefonschalter vorbei.«

»Um welche Zeit kam Miß Odell heim?«

»Es kann nicht später als ein paar Minuten nach elf gewesen sein.«

»War sie allein?«

»No, Sir. Ein Gentleman kam mit ihr.«

»Wissen Sie, wer das war?«

»Ich kenne seinen Namen nicht. Aber ich habe ihn früher mehrere Male gesehen, als er zu Miß Odell zu Besuch kam.«

»Ich vermute, Sie können ihn beschreiben.«

»Yes, Sir. Er ist groß und bis auf einen kurzen grauen Schnurrbart glattrasiert. Ich schätze ihn auf fünfundvierzig. Er sieht aus – Sie verstehen, was ich meine, Sir – wie ein Mann aus den besseren Kreisen.«

Markham nickte.

»Hat er Miß Odell nur zur Tür gebracht oder ist er mit ihr in die Wohnung gegangen?«

»Er ist mit Miß Odell in die Wohnung gegangen und ungefähr eine halbe Stunde geblieben.«

Markhams Gesicht hellte sich auf. Eine unterdrückte Ungeduld spürte man in seinen nächsten Worten.

»Er kam also gegen elf und war mit Miß Odell bis ungefähr halb zwölf in ihrer Wohnung allein? Dieser Tatsachen sind Sie ganz sicher?«

»Yes, Sir. Es stimmt.«

Markham machte eine Pause und lehnte sich vornüber.

»Nun, Jessup, denken Sie genau nach, eh Sie mir antworten. Hat sonst jemand gestern nacht zu irgendeiner Zeit Miß Odell besucht?«

»Niemand, Sir«, kam unverzüglich die Antwort.

»Wie können Sie dessen so sicher sein?«

»Ich müßte ihn gesehen haben, Sir. Er hätte unbedingt an meinem Telefonstand vorbeikommen müssen.«

»Gehen Sie nie von der Schalttafel weg?«

»Nein, Sir«, versicherte der Mann mit Bestimmtheit. »Wenn ich Trinkwasser will oder zur Toilette muß, dann benutze ich den kleinen Waschraum im Empfangszimmer und lasse die Tür stets auf, um das Steckbrett im Auge zu behalten, für den Fall, daß das rote Signallicht aufblitzt. So könnte auch niemand ungesehen durch den Hausflur gehen.«

Heath, der Gründlichkeit seiner Natur gehorchend, erhob sich und ging in den Hausflur hinaus. Nach einer halben Minute kehrte er etwas aufgeregt, aber zufriedengestellt zurück.

»Stimmt«, nickte er Markham zu. »Die Waschraumtür und die Schalttafel liegen in einer graden Linie.«

Jessup nahm keine Notiz davon, daß seine Angabe nachgeprüft worden war. Er stand, die Augen aufmerksam auf den Polizeichef gerichtet, und wartete, daß er weiter gefragt würde.

»Und wie war es gestern nacht?« nahm Markham das Verhör wieder auf. »Haben Sie die Schalttafel öfters und für längere Zeit verlassen?«

»Ein einziges Mal, Sir. Und dann nur, um eine Minute in den Waschraum zu gehen. Aber ich hatte das Steckbrett fortwährend im Auge.«

»Sie sind bereit, einen Eid darauf zu leisten, daß niemand nach zehn Uhr Miß Odell besucht hat und auch niemand ihre Wohnung verließ außer ihrem Begleiter?«

»Yes, Sir. Ich bin dazu bereit.«

Markham dachte ein paar Sekunden lang nach.

»Was können Sie über den Nebeneingang aussagen?«

»Der ist die ganze Nacht abgesperrt. Der Hausmeister verriegelt die Tür, ehe er weggeht, und sperrt morgens wieder auf. Ich selber rühre die Tür nie an.«

Markham lehnte sich zurück und wandte sich an Heath.

»Die Aussage des Hausmeisters und Jessups scheinen die Möglichkeit sehr eng auf Miß Odells Begleiter zu beschränken. Wir dürfen annehmen, daß die Nebentür die ganze Nacht abgesperrt war, und da sonst niemand von der Straße her ins Haus kam, sieht es danach aus, als ob der Mann, den wir suchen, derjenige ist, der Miß Odell nach Haus gebracht hat.«

Heath brach in ein kurzes, ärgerliches Lachen aus.

»Das wäre fein, Mr. Markham. Aber es ist gestern nacht noch etwas anderes hier geschehen. Erzählen Sie dem Herrn Polizeichef den Rest Ihrer Geschichte!« sagte er zu Jessup.

Markham und Vance schauten gespannt auf den Telefonisten.

Klar und knapp erstattete Jessup Meldung:

»Die Sache war so, Sir. Als der Gentleman gegen halb zwölf Miß Odells Wohnung verließ, beauftragte er mich, ihm ein Taxi zu bestellen. Ich gab den Anruf durch. Während er beim Telefontisch auf den Wagen wartete, hörten wir plötzlich Miß Odell schreien und um Hilfe rufen. Der Gentleman eilte sofort zur Tür, und ich folgte ihm schnell. Er klopfte, aber keine Antwort kam. Er klopfte nochmals und fragte, was los sei. Diesmal antwortete Miß Odell und sagte, es sei alles in Ordnung, er solle heimgehen und sich keine Gedanken machen. Der Gentleman ging mit mir zum Telefontisch zurück. Er sagte, vermutlich sei Miß Odell schnell eingeschlafen und habe einen Alptraum gehabt. Wir sprachen noch ein paar Minuten über den Krieg, und dann kam das Taxi. Er sagte gute Nacht und ging fort. Ich hörte, wie der Wagen abfuhr.«

Markham sah bestürzt zu Boden und rauchte. Nach einer Weile fragte er wieder: »Wie lange hatte dieser Mann die Wohnung verlassen, als Sie Miß Odell aufschreien hörten?«

»Ungefähr fünf Minuten. Ich hatte die Verbindung mit der Taxigesellschaft hergestellt, und etwa eine Minute später kam der Schrei.«

»Stand der Mann bei Ihnen am Tisch?«

»Yes, Sir. Sein einer Arm ruhte auf dem Steckbrett.«

»Wieviel Male schrie Miß Odell auf, und was rief sie?«

»Sie schrie zweimal und rief dann ›Hilfe, Hilfe!‹«

»Was sagte der Mann, als er zum zweiten Male klopfte?«

»Soweit ich mich erinnere, sagte er: ›Mach die Tür auf, Margaret. Was ist los?‹«

»Können Sie sich noch genau besinnen, was sie ihm antwortete?«

»Soweit ich mich besinne, sagte sie: ›Nichts ist los. Es ist alles in Ordnung. Geh, bitte, heim und reg dich nicht weiter auf.‹ Es kann sein, daß dies nicht Wort für Wort stimmt, Sir, aber was sie sagte, kam auf dasselbe heraus.«

»Sie konnten das deutlich durch die Tür verstehen?«

»Jawohl. Diese Türen sind nicht sehr dick.«

Markham erhob sich und ging nachdenklich im Zimmer umher. Nach einer Weile blieb er vor dem Telefonisten stehen und richtete eine weitere Frage an ihn.

»Haben Sie irgendwelche anderen verdächtigen Geräusche aus der Wohnung gehört, nachdem Miß Odells Begleiter weggegangen war?«

»Nicht einen Laut, Sir«, erklärte Jessup. »Aber etwa zehn Minuten später rief jemand von außerhalb des Hauses bei Miß Odell an, und eine Männerstimme antwortete aus der Wohnung.«

»Wie?!«

Markham drehte sich schnell um, und Heath fuhr gespannt in die Höhe.

»Berichten Sie mir in aller Ausführlichkeit über diesen Anruf.«

Unerschüttert leistete Jessup dieser Aufforderung Markhams Folge.

»Ungefähr zwanzig Minuten vor zwölf blitzte das Rufzeichen auf. Ich antwortete. Ein Mann verlangte nach Miß Odell. Ich schaltete die Verbindung ein. Nach einer kurzen Wartezeit wurde der Hörer von ihrem Apparat hochgehoben – man kann genau sehen, wann ein Hörer von der Gabel genommen wird, weil dann das grüne Ruflicht auslischt –, und eine Männerstimme antwortete ›Hallo!‹ Daraufhin legte ich den Durchhörhebel um und hörte natürlich nichts mehr.«

Eine Minute lang war es ganz still. Dann nahm Vance, der Jessup während der Vernehmung aufmerksam beobachtet hatte, das Wort.

»Nebenbei, Mr. Jessup«, fragte er nachlässig, »waren Sie vielleicht selbst ein bißchen – sagen wir mal – fasziniert von der reizenden Miß Odell?«

Zum erstenmal, seit der Mann das Zimmer betreten hatte, schien er betroffen. Er errötete stark.

»Ich hielt sie für eine sehr schöne Dame«, antwortete er gefaßt.

Markham sah Vance mißbilligend an und wandte sich dann wieder an den Telefonisten.

»Das wird für den Augenblick genügen.«

Jessup verbeugte sich steif und hinkte ab.

»Die Sache wird positiv aufregend«, sagte Vance und streckte sich behaglich auf dem Sofa aus.

»Wenigstens ein Trost, daß sie jemandem Spaß macht!« Markhams Ton war gereizt. »Weswegen, wenn ich dich fragen darf, interessieren dich Jessups Empfindungen für die tote Odell?«

»Ach, so eine wirre Vorstellung, die in meinem Hirn spazierenging, weiter nichts«, gab Vance zurück. »Immerhin, so ein bißchen Boudoirklatsch belebt die Situation, nicht wahr?«

»Wir haben immer noch die Fingerabdrücke, Mr. Markham. Ich glaube, damit werden wir unseren Mann zur Strecke bringen«, ließ sich Heath plötzlich vernehmen, der ganz in Gedanken versunken war.

»Selbst wenn Dubois sie identifiziert«, sagte Markham, »werden wir beweisen müssen, daß der Betreffende gestern nacht gegen halb zwölf hier an Ort und Stelle gewesen ist. Sonst wird er natürlich behaupten, daß die Abdrücke von einem früheren Besuch stammen.«

»Jedenfalls steht fest«, erklärte Heath unentwegt, »daß gestern nacht ein Mann hier in der Wohnung war, als die Odell vom Theater heimkam. Und er war noch hier, als der Begleiter gegangen war, also gegen halb zwölf. Die Schreie des Frauenzimmers und die Antwort auf den Anruf zwanzig Minuten vor zwölf beweisen es. Und nachdem Doktor Doremus feststellte, daß der Mord kurz vor Mitternacht stattfand, können wir annehmen, daß der Gauner, der hier versteckt war, das Ding gedreht hat.«

»Dagegen kann kaum ein Einwand bestehen«, stimmte Markham zu. »Ich vermute, daß der Mörder ein Bekannter von ihr war. Vermutlich schrie sie auf, als der Kerl sich zuerst zeigte. Dann, als sie ihn erkannte, beruhigte sie sich und sagte dem Mann draußen vor der Tür, es sei nichts los ... Später hat der Bursche sie dann erwürgt.«

»Ich darf vielleicht hinzufügen,, daß diese Kleiderkammer hier als Versteck diente«, sagte Vance.

»Sicher«, pflichtete Heath bei. »Was mir Kopfzerbrechen macht, ist nur, wie der Kerl reinkam. Der Tagestelefonist, der bis zehn Uhr abends Dienst tat, behauptet, der Mann, der mit der Odell ausging, sei der einzige Besuch gewesen ...«

Markham brummte. Seine Geduld war erschöpft.

»Bringen Sie den Tages-Mann rein«, befahl er.


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