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Drittes Buch

Fünf Eingänge hatte die Mietskaserne. »Aha, die unnahbaren Wohnplätze,« er mußte lächeln. Im vierten Stock trug endlich die Tür einer Hofwohnung den gesuchten Namen. Auf einer Visitenkarte an vier Reißnägeln in Fraktur: Dr. Oskar Samossy, außerordentlicher Professor für Mathematik. Eine Weibsperson öffnete. Sie war von jenem saloppen Kleidungsstück umschlampt, das Europäerinnen für einen Kimono zu halten schienen, da sie es also benannten. »Nein, nicht zu Hause; botanisieren sei der Professor gegangen.«

Unter einem vermodernden Vogelnest aus Haar sahen vertrocknete Holunderbeeren den Besucher frechverlegen an. Lockeres Fleisch der Arme schaukelte mit, während das Weibsstück ein goldnes Kettenarmband mechanisch die lange klebrige Hand auf und ab gleiten ließ.

Horus übergab seine Karte und Erasmussens Brief an den einstigen Schüler, jetzt großen, ebenbürtigen Kollegen. Die Person öffnete den »Kimono«, legte Karte nebst Kuvert horizontal vorn auf eine gelbliche, rechteckig hinaufgepreßte Masse. Schloß die Tür. Grußlos, grob.

Innen mehrmaliges Aufstoßen des Besens, und unter dem Türspalt hervor versuchte die grauporige Zungenspitze eines nassen Lappens etwas Spülicht gegen den mutmaßlichen Standort des Besuchers zu spritzen. Endlos stieg er wieder die idiotisch konstruierte Treppe hinab. An jedem Absatz reckte ein Gasarm, von blecherner Blumenranke sadistisch unter der Achsel gekitzelt, seinen zerfetzten Glühstrumpf durch ein tulpenförmiges Glasgeschwür in die gefleckte Trübe des Zylinders.

Beim Eingang vertrat ein andres Weib mit einem Wasserkopf am Schürzenband ihm jäh, aus einer Glastüre heraus, den Weg. Hinter ihr her brach Brutwärme Kleinen-Leute-Geruchs: nach eisernem Ofen, scharfen Männersocken, süßlicher Säuglingswäsche. Im Türausschnitt erschien die Lehne eines geschweiften, grünen Roßhaarsofas, ein Brautkranz unter Glas, verstaubte Bierflaschen, eine Rute an rotem Band, die Mutter Gottes und säuische Ansichtskarten fächerförmig über die Tapete genagelt. Ein Jegliches stank für sich.

Das Weib geiferte: was er wolle, wen er suche. Sie sei die Bordiööös-Gattin. Habe auf Ordnung zu halten. Hätte gesehen, wie er am Gashahn geschraubt. Jetzt sei der Strumpf zerrissen. Sie fordere Schadenersatz. Der Wasserkopf am Schürzenband versuchte indes dem fremden Herrn auf die Stiefel zu spucken, und der Geifernden grimmer Birnenbauch drohte schon wieder neuen Wurf. Jetzt plärrte der Wasserkopf los, weil sein Speichel im Gleitflug versagt hatte; tröstend wurde er an die keimende Hoffnung gequetscht und Wutblicke schossen gegen den herzlosen Kinderfeind.

Der Kinderfeind blieb kalt. So verlegte sie sich aufs Winseln, begann die Gebreste ihrer Familie herzuzählen, hielt Tor und Hand vor ihm offen. Draußen traf den Enteilenden unerwartet ein Bild wie aus einer Haschisch- oder Meskalwelt.

Etwas Eckiges kam die leere Vorstadtstraße herauf, eine Art Gespensterheuschrecke im frock-coat. Das hagre Pferdeprofil von einem ausgefressenen Ziegenbart umdreieckt, den Zylinder weit aus der prachtvollen Stirn gestoßen, pendelte der große Körper daher. Aus seiner Rechten schleiften etwa drei Meter Strick voll seltsamer Knoten im Straßenschmutz nach – »seine Knotenexperimente zum Beweis der vierten Raumdimension« – schoß es dem Beschauer durch den Sinn. Die Linke trug, mit Riesenkraft über den viel zu engen Salonrock geschultert, eine junge Tanne mit erdigem Wurzelballen. Um den Wipfel brauste ein Bienenschwarm. Das Ganze bewegte sich unter einem Sturz undurchdringlicher Geschlossenheit dahin. Diesen versunkenen Wandel mit der Trivialität einer Ansprache stören, – nein. Voll Achtung trat er zurück, vergnügt, als wäre ihm eben ein Tarnhelm bedingungslos geschenkt worden; ließ den Ahnungslosen an sich vorbei in die Zinskaserne biegen. Die junge Tanne brauste durchs Tor, die Bienenpyramide gereizt ihr nach. –

»Und sticht den Wasserkopf an« – dachte der »Kinderfeind«. »Zuchthausstrafe auf jede weitere Lebendgeburt, für eine Frau, die so etwas aus sich herausgehudelt hat: Ein taktloses Kind schändet ja die Welt mehr als tausend Verbrecher – ein Dutzend davon, und die ganze Rasse ist gerichtet.«

Andern Tags kam eine dringende Einladung, auf den weißen Rand einer abgerissenen Zeitschrift gekritzelt.

»Gleich« stand zweimal unterstrichen und schnitt in teilweise erhaltene Annoncen für Schmieröl und ein Berliner Bureau zur Vertiefung des Familienlebens.

So machte er sich abermals auf den Weg quer durch die fremde Stadt. Nicht mehr suchend, diesmal gemächlich schauend. An seinem Schritt glitten zahllose Buch- und Kunstläden vorbei. Überall hinter Glas stand auf Pappe: »Der schöne Mensch« – »Schönheit des Ganges« – »Rhythmische Körperkultur« – »Die Kultur des Wohnens« – »Heimkultur« – »Künstlerische Bekleidungskunst« – Stil, Schönheit, Rhythmus – wo man hinsah aufs Papier. Dann wieder zahlreiche Glasscheiben, blechgolden, schräg verkritzelt mit »Konditorei«. Dahinter alles voll käsiger Frauengesichter, die von gehäuften Tellern faden Kram in sich hineinstopften. Wie hieß doch all das Zeug? Richtig: »Schillerlocken, gefüllter Bienenstich.«

»Einst Stier – Schwan – Goldregen. – Hier müßte sich der Gott wohl zu Schlagsahne wandeln, um einen begehrten Schoß erzittern zu machen,« sann der Fremde belustigt.

Dann stieg er wieder am Windeldrachen vom grünen Kanapee vorbei die idiotisch konstruierte Treppe hinauf. Fand diesmal die Tür nur angelehnt. Schellte vergeblich, trat durch eine Küche, die nach Abort stank, in den speckigen Arbeitsraum; nein, zwei Räume – drei. Durch alle drei lief ein schier endloser Papierstreifen. Stellenweise war er mit Nadeln, Haarnadeln, Streichhölzchen und Zahnstochern immer wieder angestückelt worden. Buchstaben, Zahlen, Zeichen bedeckten ihn: ein Zaubernetz, über und über. Fern im dritten Zimmer lag Samossy in seinem Salonrock flach auf dem Bauch, schrieb weiter an dieser einzigen, ungeheuren Gleichung.

Entzückt und gerührt, mit einem heißen Gefühl von Heimat vor diesem schmierigen, geflickten Band stand der Herr des Hauses Elcho zwischen Abort- und Küchengeruch. Bog ein Knie, und mit aller Anspannung sich sammelnd auf das Faszinierende zu seinen Füßen – spontan hineingerissen in seine Magie – lag nun auch er, Raum und Zeit verloren, auf dem Fußboden; einem geisterhaften Schema, nach dem die Welt geschah, über Haarnadeln, Zahnstochern, Zündhölzchen hinweg zu folgen. Da nur Resultate zu durchlaufen waren, fand er sich, ob nach Stunden oder Minuten, blieb so ungewiß wie belanglos, neben Samossy. Nun verweilten beide, parallel eingestellten Geistes, hingegeben an ein klareres Sein, bis in der Dämmerung jeder Überblick erlosch.

Dann begrüßten sie einander. Samossy raste zum gedeckten Teetisch, sich am Tischtuch enthusiastisch den Staub von den Fingern zu wischen. Zerknüllte dabei, eh man's versah, mit affenartiger Behendigkeit alle vier Ecken wie Papier. Sein Gebaren hatte etwas Gaulhaftes: ein durchgegangener Klepper, wie er von hohem Schiefgalopp herab blindes Feuer und erschrecklich weißen Wahn aus blutigen Augenbällen kegelt.

Des Gastes Aufmerksamkeit hatte er nach den ersten Bemerkungen gewonnen, denn untrügliches Merkmal überlegener Menschen: sorgliche Wahl, flüssige Placierung auch des scheinbar untergeordneten Wortes, war sein – wenn er wollte. Jetzt wollte er. Des Gastes Herz aber ging aus zu ihm, nach der ruhigen Verbeugung seiner Stimme vor van Roys Werk und Wesen. Dieses: seiner ersten Jünglingsjahre Erlebnis – Begleiter seines ganzen Mannesalters: Jenes.

Nach einer angenehmen Weile wandte sich das Gespräch, und der Gast bemerkte beiläufig:

»Es scheint ein recht glückliches Land, dieses Deutschland. Nach Annoncen, Inseraten, Plakaten ist ja hier alles zu haben gegen Einsendung von fünfundsiebzig Pfennigen in Briefmarken an eine G. M. B. H. oder sonst einen, mir unverständlichen Lautklumpen. Da bekommt man ›postwendend‹ die ›Welträtsel‹ gelöst in Monismus, Schutzmarke: ein Griff, ein Bett; den ›Wälsungenring‹, ›völlig geruchlos‹, oder verwechsle ich das mit: ›keine Schweißfüße mehr‹. Auf Mystik scheinen Rabattmarken zu gelten. Ihrer zehn – ›beigebogen in der Falte‹ – was immer das heißen mag, ergeben gratis: ›das Bauchschnellen oder Sonnengeflecht und Schicksal‹ von der Lichthortvertriebsgesellschaft.« – –

Hier drang vom Flur schmetternd das Siegfriedmotiv.

Samossy sprang auf. »Treudeutscher Männerpfiff, Sie entschuldigen,« und seinem Gast wie einem Verschworenen zuzwinkernd, galoppierte er die Gleichung entlang, bis zu deren Ursprung im ersten Zimmer. Dort blieb er türmend über ihr, spreizbeinig wie der Koloß von Rhodos. Keinen Moment zu früh. Man hörte es durch die Materie trampeln, und zwei Körper prallten von Samossy ab; die Gleichung aber blieb heil.

»Höppla,« sagte der Eine.

»Da brat mir eener n'en Storch,« der andre.

Der mit dem Storch hatte viel Gesicht, aber nichts der Rede Wertes drin. Nur ein Zwicker saß irgendwo hineingekniffen in den Speck. Der hingegen »höppla« gerufen, der wallte: vom Haar bis zu den Hosen, über Schillerkragen und lockichtem Bart zu beiden Seiten der slawischen Knöpfchennase hinab. Ganz Bizeps und Sonnigkeit, entbot er Gruß mit Schlagring: »Professor Dallmeyer.« –

»Sogar Ordentlicher – für Biologie,« ergänzte Samossy aus infernalischen Nüstern.

Der mit dem Storch riß jetzt auf absonderliche Weise seinen Speck vor dem Fremden zusammen, begann dabei mit dem Fuß am Boden zu scharren, ähnlich den ältesten jener Huftiere, die sich notdürftig eben erst aus der Mischgruppe oberhalb der Beuteltiere gelöst hatten:

»Hans Horst Krause.« Das Scharren klappte zu.

Beide barsten vor Fachklatsch. Es spritzte förmlich aus ihnen.

»Ob Samossy schon das Neueste in der ›Affäre‹ des Kustos Pappla vom Museum wisse?«

»Lassen Sie mich – lassen Sie mich,« schrie Dallmeyer, als der feiste Student ihm zuvorkommen wollte.

»Ein beispielloser Skandal. Bei–spiel–los.« Er rang jubelnd die Hände.

»Die reine Meteoritenbörse hat er eingerichtet. Das war ein Getäuschel und Getue, angeblich fürs Museum Meteoriten gekauft, Preise in die Höhe getrieben, dann wieder nach London verkauft; keine Sau hat sich mehr ausgekannt. Aber direkt nachzuweisen ist ihm wieder nichts – und wenn auch – ich bitte Sie, Schwiegersohn vom alten Mehmke: Präsident der Akademie.«

Samossy wieherte bei dem Namen auf, als stäke ihm eine brennende Lunte unter dem Schweif.

»Mehmke rast übrigens gegen Sie, seit der Geschichte in der geographischen Gesellschaft neulich.«

»Also ist es wahr?« Krause verlor vor Interesse den Zwicker und blieb völlig als Uhr ohne Zeiger übrig. »Onkel hat heuer als Rektor so viel zu tun, konnte leider nicht dabei sein; ich weiß also noch gar nichts Authentisches.«

Dallmeyer begönnerte:

»Natürlich ist es wahr. Nach zwei Stunden welken Blödsinns hat der Alte endlich ausgekohlt, da spricht unser Professor hier dem berühmten Ehrengast für die ›lichtvollen Ausführungen‹ den Dank aus und schließt wörtlich:

›Es ist mir zwar schon früher nicht unbekannt gewesen, daß Wasser bergab fließe, ich freue mich aber aufrichtig, es nun von solcher Autorität bestätigt zu hören.‹«

Dallmeyer lachte mit schönem Tenor, wie er dem Manne wohl ansteht dann lauernd zu Samossy:

»Ich fürchte nur, werter Kollega, es wird Ihnen bei den nächsten Akademiewahlen – wieder – schaden.«

Der bockte gereizt: »Der Alte hat rechtzeitig umzustehen, sein dritter Schlagfluß mit doppelseitiger Lähmung ist längst fällig. – Haben Sie übrigens den Angriff gelesen? …«

Das Wort Angriff schien eine magische Wirkung auszuüben. Sie steckten die Köpfe zusammen und begannen aufgeregt zu schnattern. Angriff – Polemik – Angriff. Immer war eben einer erschienen oder im Begriff zu erscheinen. Eifrig hockten sie, ganz eng, wie drei große alte Affen, die zwischen sich immer einen ganz Kleinen lausen. Der ganz Kleine schien die Wissenschaft. Samossy, mit allen Fakultäten gehetzt, stak offensichtlich von Mittelpersisch bis zur Numismatik, von der projektiven Geometrie bis zur oberen Trias in Intrigen, Tratsch und Hetzereien. War das noch derselbe Mensch, grotesk aber groß? Der wilde Träumer mit den Knotenexperimenten, Herr der transzendenten Gleichung, Entdecker des Primzahlengesetzes geiferte, trunken von Klatsch, mit knochig boshaften Gebärden seiner Bordiööösgattin, während beide andern, verhohlen lauernd, von jeder Injurie sich heimlich Notizen zu machen schienen – nicht ruhend – bis der ganze Mann ein einziges Gedankenfletschen war, aus dem spitze Argumente, gleich Reißzähnen, sich in die Weiche jedes guten Namens gruben. Auf Personalien und Details horchte Horus kaum hin, was ging ihn Privatgeifer zwischen Fachbarbaren an; dazu hatte er nicht nach den »unnahbaren Wohnplätzen« der Ganzweisen gestrebt.

Wie dieser Krause dasaß. Die speckig obszöne Talentlosigkeit, wenn so ein Europäer nur einen Froschschenkel über den andern schlug.

»Fängt der auch noch an über Frauen zu reden, so geh' ich,« dachte der Beschauer. Nein, der andre fing an.

»Wissen Sie schon, wo Margrinchen Mehmke sich jetzt kneifen läßt?«

»Vermutlich in die Waden,« grölte Samossy.

»Da hätte es doch korrekt heißen müssen: wohin –« feixte Krause dazwischen. »Nein, bei ihm – von ihm – in seinem Institut; ist mit sechs andern Jungfrauen von uns Chemikern weg, hinübergewechselt zur Biologie.«

»Ja, seit dem Drüsenrummel weiß ich mir vor Frauenzimmern keinen Rat mehr.«

Dallmeyers befiederte Lockigkeit brauste auf, wie an einem zürnenden Schwan.

»Jede will Hoden transplantieren – egal – den ganzen Tag. Der Verbrauch an Ratten und männlichem Ungeziefer auf meiner Abteilung steigt ins Ungemeßne. Und schlampig sind die Luder. Wird es ihnen zu fad, oder winkt der Konditor, lassen sie ihre angeschnittenen Versuchstiere herumfahren, wie eine Häkelei. Wär' nicht der Laboratoriumsdiener, tagelang spazierten mir noch halbe Krebse durchs Institut.« –

Er hielt mit einem Ruck; etwas so Starkes ging plötzlich von der lebendigen Ruhe dieses schweigenden, eleganten Fremden aus: stumme Reaktion des gesitteten Orientalen auf den ersten Einblick in die Beziehung des Europäers zur Kreatur.

Der Ruck – die Strahlenohrfeige hatte rundum eingeschlagen; Klatschnebel zertropfte. Da saß ja, bisher ignoriert, ein ganz Fremder zwischen ihnen. Das Hemmungslose gerann, ward tölpicht hölzern. Auch bei Samossy; er hatte allzureißend Niveau verloren gehabt. Mit einem ungeheuer schiefen Galoppsprung startete er jetzt die Konversation falsch. Gab das Signalement seines Gastes, taktlos wie eine Behörde. Die andern aber atmeten auf. Nur so ein Hinterwäldler, von wo der Pfeffer wächst. Na also – wozu die Aufregung. Krause, ein Bein über das andere geschlagen, begönnerte schon:

»Inder – n'gutes, aber n'schlappes Volk. Nich forsch. Sollen erst mal die lausigen Engländer rausschmeißen – aber schlapp eben. Nee, so Lotusonkels – nich in die Lamaing.«

»Ihnen gesagt,« bestätigte der wallende Germane.

Zartfühlend sein, niemanden verletzen, war Horus wie Herzschlag – doch auch Anmaßung nicht zu dulden; und der Herr des Hauses Elcho sprach:

»Ich bin zwar nur der unwissende Bewohner einer wilden und abgelegenen Gegend, aber gestatten Sie mir dennoch die Frage, warum Sie dieses Rowdy-Dogma logischerweise nicht auch auf den Heiland Palästinas anwenden; dem man hier so viel Tempel errichtet hat, ihm vorwerfen, daß er kein Preisboxer war, sich nicht mit einem wohlgezielten › undercut‹ die Kreuziger vom Halse gehalten hat.«

»Na nu, Christ sein heißt doch lediglich: kein Jude sein,« belehrte Krause. »Es sind eben die zwei einzigen vom Staat anerkannten Religionen. Was geht mich modernen Menschen der olle Mumpitz sonst an?«

»Schmonzes,« bekräftigte der wallende Germane.

»Warum erklären Sie sich dann nicht von jeder Religion frei?«

»Er meint konfessionslos,« jappte Dallmeyer und erschauerte bis ins Gebein.

»Unmöglich, Verehrtester, das sind erst recht nur Juden. Auch schadet's der Karriere. Im übrigen kann mir, als modernem Forscher, alles transzendente Geschmuse restlos gestohlen werden. Kraft und Stoff, sonst gibt's nichts für mich. Das einzig Sichere ist die Beobachtung der Materie, die kümmert sich nur um reale Dinge und liefert daher untrügliche Tatsachen. Tat-Sachen.« Sein Speichel ward groß in ihm.

»Was ist ein reales Ding, eine Tatsache?« frug Horus.

»Dieser Tisch.« Er nahm besagtes Stück Hausunrat gestreckten Armes, um durch den Krach des Niederstellens dessen »Realität« sinnfällig zu erhärten.

»Viechskerl,« dachte Horus, »so ist dir wirklich noch nicht einmal aufgedämmert, was an Transzendentem alles nötig ist, damit ein ›Gegenstand‹ in der Anschauung möglich werde; das, was du, unpräziser Analphabet: ›reales Ding‹ nennst? Dein Tisch ist doch, wie alles Ausgedehnte, eine dreifache Mannigfaltigkeit von Punkten, die erst in der Anschauung restlos durchlaufen werden müssen, damit etwas über dieses Mannigfaltige ausgesagt werden könne. Während aber etwa eine Tischkante durchlaufen wird, müssen die schon durchlaufenen Teile als weiterexistierend hinzugedacht – aus dem Fluß sinnlichen Geschehens – herausgehoben werden. Der ›Gegenstand‹ Tisch ist somit gar keine ›Beobachtungstatsache‹ – sondern etwas zur Wahrnehmung lediglich Hinzugedachtes: bedingt ein Nichtsinnliches, außerhalb der Zeit Stehendes, an dem die Wahrnehmungen vorbeifließen, und in dem sie sich räumlich erst ordnen. Was aber außerhalb Raum und Zeit steht, ist notwendig als ›transzendent‹ anzusprechen, da es niemals Objekt der Erfahrung sein kann, ist das ›Erkennende‹, ›nie erkannte Subjekt‹. Nur insoferne also der Tisch – als ein Hinzugedachtes – an diesem Transzendenten teil hat, ist er Realität. – Viechskerl! Die Grundfrage nach der Möglichkeit aller Erkenntnis lautet demnach: wie ist Erfahrung überhaupt möglich? Für mich jedoch lautet die Grundfrage:

»Mußten dazu süße Tiere zermartert werden, um dein Gesamtniveau zu erreichen; notabene hundertdreißig Jahre nach einem gewissen Kant? – Viechskerl.«

Laut aber widersprach er nur soweit, als es die aufgeklärte Ignoranz des Fachmannes zu ergründen galt.

Es ergab sich, daß auch Dallmeyers naturwissenschaftliche Bildung hauptsächlich darin bestand, nichts von Philosophie zu wissen und daß er stolz darauf war. Schon das Wort schien Schande! Er streifte es voll mitleidigen Ekels ab wie eine halbtote Schmeißfliege.

Probleme gab es nur noch im Detail. »Geist« war eine störende Nebenerscheinung der Materie, alles übrige »Schmonzes« und langweilte ihn unsäglich.

»Beobachtungstatsachen – Beobachtungstatsachen«, schrie er ein ums andre Mal.

»Hab' ich aber das Bedürfnis nach dem endgültigen Überblick, lese ich: Häckels ›Welträtsel‹ oder: Machs ›Analyse der Empfindungen‹. Denkökonomie ist die Hauptsache. Sich's vereinfachen.«

»Dann haben wir wohl zu wenig Gemeinsames für eine Diskussion,« meinte Horus, um höflich zu Ende zu kommen.

»Denn ich wiederum mache gerne einen noch so halsbrecherischen Umweg, schärft oder vertieft er mir die Einsicht nur um ein Weniges, und diese, hoffentlich nur vorläufig letzte, Einsicht besagt, daß die Welt den Spezialfall aus zwei Scheingleichungen darstellt.«

»Nur keine Mathematik,« wehrte Dallmeyer beängstigt ab, »oder mathematische Physik, da verliert man den Boden der Tatsachen. Der Samossy ist auch schon halb meschugge mit seinen Knotenexperimenten.«

Und höchst ägriert über die Störung im Fachklatsch – der Besuch hatte doch so anregend begonnen – entbot er wieder Gruß mit Schlagring. Krause scharrte am Boden, knallte die Hufe zusammen, und die Türe schloß sich hinter den beiden.

Aus Samossys weitem Roßhaupt begann es zu kichern. Es hatte das unbegreiflich Irre des Pferdes in allen Zügen, bis zur nüsternen Nase, wenn sie – eine ganze Landschaft für sich – weichgehöckert, aus Mulden von großporigem Moos, überraschend Hauch ausstößt. Wenigstens ein ganzer Gaul, statt dieses Dallmeyer, der – slawische Knöpfchennase oben – Pöbelbeine unten – außenherum wallender Germane und innen ein Rindvieh war.

Das knochige Kichern aber klang nicht angenehm, kam aus einem viel engeren Wesen. Er grinste diabolisch und mit großeckiger Bewegung hinter den beiden drein, wieder hinreißend in ihrer Art – hub er an, genießend zu pointieren:

»Mitnichten könnte erhofft werden, dem Halbgebildeten stünde ja annoch frei, so sukzessive dreiviertel bis vierfünftel bis neunzehntel … schließlich ganz gebildet zu werden. Daran aber hindert ihn die unausrottbare Arroganz eben dieser verdächtigen Halbheit, ihr vages ›weiß schon‹, gierig träge Hast, nur bedacht, in jeder Tiefe eigne Flachheit zu spiegeln, die edle Demut der Unwissenheit verloren – edle Demut des Wissens nie erworben hat. Da aber so ein halbgebildeter Sensationsdeflorateur, so ein all-round Kommis auch noch mühelos in alles dreinschnauzen will und die Welt von seinesgleichen überfleußt, erstanden ihm, wie in prästabilierter Harmonie, avancierte Oberlehrer und frohe Greise, denen man nicht gram sein darf, denn sie sind bieder und wissen es wirklich nicht anders. Die lieferten ihm Taschenphilosophien für Minderbemittelte, und weil er das Fertigfabrikat stets neu liebt, lieferten sie ihm modernen Schöpfungstratsch statt des mosaischen. Schutzmarke: ›ein Griff ein Bett‹, wie Sie vorhin sagten, denn er hat nicht eben viel Zeit für dergleichen – gerade ein Maul voll von allem genügt. Und weil er keine Zeit hat, sind die Monistengreise und avancierten Oberlehrer immer zugleich ›Esperantisten‹, um das ›Unökonomische‹ auch in der lebenden Sprache zu ›bereinigen‹.

›Weg damit,‹ schnoddert begeistert der all-round Kommis, der nur Hauptsätze nebeneinander stellen kann und will, ohne feineres Bedürfnis nach kausaler Überblickung durch Ko- und Subordination, denn: den Spannbogen des Gedankens ermißt man an der Syntax. Hochcharakteristisch nun, wie monistische Sonntagsprediger und avancierte Oberlehrer, weil sie nicht einmal philosophisch den Begriff der Kausalität noch erfaßt, und sich daher rühmen, ihn abgeschafft zu haben, gierig eine künstliche Unbildungssprache propagieren, der alle Geisteswurzeln ausgerissen sind, in der niemand je einen Gedanken weder zu fassen noch auszudrücken vermöchte.«

»Was ist ein Esperantist?«

»Einer, der sich eigens ein Idiom zusammenstellt, das keines zu sein braucht. Einer, der freiwillig wieder weit hinter den Affen retourmarschiert, denn dieser hat ja – nach Garner – schon Ansätze zu etwas wie einer lebendigen Muttersprache: jenem mystischen Meer, in dessen suggestiver Lösung Gedanken wachsen, wie glasklar fließende Geschöpfe genialen Lebens. Zum Wachsenlassen aber hat der all-round Kommis keine Zeit. Auch die Kofmich-Lautklumpen, deren Sie vorhin schaudernd erwähnten, kommen davon, daß er eben nie Zeit hat.«

»Ja, um Himmels willen, warum hat er denn nie Zeit?«

»Weil er immer schnell noch Einen übers Ohr hauen muß.«

»Sensationsdeflorateur – Monist – Esperantist – all-round Kommis: doch letzten Endes Einer, der den Vertrieb schädlichen Schundes besorgt, nicht? Einer, der das Leben mit falschem Schleim überziehen hilft? Doch Dallmeyer, bei seiner stillen Gelehrtenlaufbahn, könnte wohl Zeit haben, etwas zu lernen.«

Samossy johlte: »Stille Gelehrten-Laufbahn ist gut, wenn man mit fünfunddreißig schon Ordinarius und kriechendes Mitglied der Akademie sein will! In wieviel gewisse geheimrätliche Körperteile, glauben Sie, muß man da nicht nur geschlüpft sein – nein, in diesen Organteilen direkt überwintert haben? ›Stille Gelehrten-Laufbahn‹!« Er wand sich vor Wut.

Der Gast tröstete.

»Aber Sie sind ja auch längst wohlbestallter Professor?«

»Wohlbestallt?« – mit doppeltem Armschwung nach Küche und Abort – »das ist der Stall, den ich mir leisten kann.«

In die letzten Worte war merklich ein Unfreies gekommen, geduckte Zerstreutheit, als schöbe sich ihm ein Keil quer zur Gedankenrichtung. Das Weibstück stand im Zimmer, trug heute keinen »Kimono«, sondern war »angezogen«. Das horizontal Hinausgepreßte vorn stand noch eckiger weg wie das erstemal: beängstigendes Toppgewicht gegen schräggestellte Lackhufe unten.

Das Niveau sank stumm und unbegreiflich schnell. Hoch und leer hing die Konversation noch darüber. So oft die Person am Teetisch zu hantieren begann, klirrte das goldne Gliederarmband und sie schob es die klebrige Hand auf und ab. Samossys Blick fing sich daran. Wurde hämisch, irr, hilflos, dunkler Süchtigkeit voll. Er ignorierte sie und schien doch seit ihrem Eintritt an allen Organen verschroben.

Der Gast ging.

Schon war Licht angesteckt hinter den Glasscheiben voll käsiger Frauengesichter, vor ihren Tellern, gehäuft mit fadem Kram.

Das war also des weiß-goldnen Traumes neueste Wandlung:

Pallas und Nausikaa: Dallmeyers Hörerinnen. Nicht geschürzte Korybanten etwa im Brunstschweif eines Gottes, Hindinnen anspringend und zerreißend, entrückt von ihrem tanzenden Blut. Nein, Pallas und Nausikaa: inskribierte Mänaden im Laboratoriumsschurz, mit spitzem Gelüstchen und spitzerem Skalpell in den Geschlechtsteilen gemarterter kleiner Tiere herumschnitzelnd, bis der Orgasmus zu dreimal Apfelkuchen mit Schlagsahne gerann. Jetzt glitten die andern Glasscheiben wieder vorbei und hinter ihnen auf Pappe: »Der vornehme Mensch« – »Stil« – »Kultur«. Dann Ladenschluß. Blindes Blech rasselte über die Rachen der Geschäfte.

 

Samossy lud ihn zu seinen Vorlesungen, auch andre Professoren. –

Jugend saß hier herum, ruhte gründlich ihr überfressenes Gedächtnis aus. Nur die vor Rigorosen standen, mußten wegbleiben. Auch Krause.

»Keine Zeit auf die Universität zu gehen,« quäkte er gereizt, »der Mensch muß ja schließlich doch mal was lernen – promoviere heuer.«

Die Übrigen aber räkelten süß das Hirn. Ihr Dionysisches schien sich mehr in den W. Cs. zu konzentrieren. Auch das Rassenideal war dort wie zu Hause. Bunte Etiketten mit: »Juden hinaus« klebten an allen Pissoirwänden, neben mit Bleistift festgehaltenen Vorgängen aus dem Geschlechtsleben. Unter diesen stand wieder mit andrer Hand:

»Und das sind die Arier.«

Man konnte der andern Hand nicht so ganz Unrecht geben. An Technik und Niveau vermochten diese Darstellungen analogen Steinzeitfunden, auf Renntierknochen geritzt, keineswegs das hier zuständige Wasser zu reichen, trotz ihres Fundortes, der im Technisch-Sanitären sie wieder zweifellos als dem zwanzigsten Jahrhundert zugehörig zu datieren zwang. Der Pithecanthropus war erotisch schon weiter; europäischer aber schien dies, in seiner eigentümlich zwinkernden Verquickung von Liebe und Pissoir mit Glaube und Hoffnung, es sei eine Schweinerei.

Diese eigentümliche Verquickung blieb auch in der schmatzenden Verliebtheit an den Kaffeehaustischen, wo abends sich alles traf, Rudel halbwüchsiger Mädchen hereinlärmten, jede Geste ein: »hurra, wir sind defloriert«; Ordinärheit mit Temperament verwechselnd. Manche jugendhübsch und doch: lendemain auf den ersten Blick, weil diese irren Barbarinnen nicht wußten, daß der Takt eines ganzen Lebens in der Liebesgebärde zu gipfeln hat. Ab und zu kam eine Dämonin, totschwarz, entblößte einen goldnen Raubzahn, snobte auf Morphinistin, aß aber dann doch mit Behagen zweimal Schlackwurst mit Kraut. Eines Sonettes über Fruchtabtreibung wegen war sie bei den Literaten angesehen.

Dort sprach man ausschließlich von Prozenten. Nur ab und zu sah einer vom Tisch, wo sie die erste Nummer einer Zeitschrift zusammenstellten, auf und frug, ob man »sehr« mit »h« schreibe. Oder Jemand rief: »aus–ge–schloss–en –!«

Ein Rudel Russen: fanatische Nasenbohrer, redeten in einer Ecke endlos über Kommunisierung der Frauen; trugen alle Knochen aus ihren schlacksigen Leibern ins Gesicht gehäuft eckig unter den Augen.

Sonst hockten rings durchs Lokal Klumpen dickhäutiger Gelassenheit um Bier, wie Kröten um einen Edelstein. Diese Klumpen ohne Güte hatten eine unsäglich hämische Art, die Pfoten über ihr ausschließlich aus Nahrung bestehendes Selbst zu kreuzen. Grinsten – ewig Ungefährdete – aus den strohwarmen Hundshütten ihrer Belanglosigkeit zu allen menschlichen Mühen und Qualen, Streben nach Besserem; hatten dafür ein Leibwort: »wird's schon billiger geben«. Wußten denn diese unerschütterlichen Nullen noch nicht einmal, daß es ein Andres ist, wieder zum Ausgangspunkt zurückzukehren, als ihn nie verlassen haben?

Vor diesen Quallen aus neunundneunzig Prozent Quatsch graute ihm haßvoller fast, wie vor der Umwelt der Greisin in Glacéhöschen.

»Samossy,« frug er einmal fassungslos, »wie geht denn das zu? Jedes Wesen ist doch irgendwann zu irgendwas gut, oder könnte Wert haben, oder man denkt, es könnte – aber das da!«

Der schüttelte die Roßkiefer vor Lust:

»Das da – oh, das hat Wert als moralisches Lackmuspapier!

Läuft bei irgendeinem Reformvorschlag der Spießer blau an im Gesicht vor Wut, ist die Sache was nutz, man wird ihn sich in einer künftigen Gesellschaftsordnung als Cyanometer für ›Moral‹reaktionen erhalten müssen!«

Fast zärtlich sah er um sich. Wer Samossy Gelegenheit zu einer Bosheit gab, den liebte er beinahe.

Durch die verhockten Massen sentimentalte verträumt die sandhelle Kellnerin dahin; verschüttete von Zeit zu Zeit Kaffee. Eine aufbrüllende Kanaille, ein blaurotes Tier, stürzte dann der Manager jedesmal herzu. Die Roßdiebsvisage versank fast bis zum Balkanscheitel im Hals, so schwoll ihm der Schlächtertorso vor Wut.

Einmal war bei den Literaten der Doyen der Ästheten erschienen, hatte in einer Sprache – von Krause als »gepflegtes Galizianisch« bezeichnet – ein Räsonnement gehalten, anscheinend über die Grenzen des Stehlens oder wie er es nannte: »das Schöne aus der Vergessenheit heben.« Und er deutete mit zarter Würde an, der Menschheit diesen Dienst öfters geleistet zu haben.

»Bei Plotin oder dem Kusaner würde sie es weder suchen noch fassen.«

Nach einem Blick auf die Hosenbeine hatte Horus beschlossen, es doch lieber bei Plotin, wenn überhaupt, zu suchen. An diesem Abend ließen sich die Übrigen gleichfalls ethisch los. Ein Längst-Arrivierter dozierte:

»Nur immer in Russen machen, so verhedderte Züge à la Dostojewski – sind ja billig genug – im Buch verteilen, wie Ostereier in Salonecken, damit der verblödetste Kritiker sie noch finden muß; das freut ihn dann so, daß er den Kneifer verliert.«

Ein Eben-Arrivierender warf mit dem Ende des Eckzahns Offenbarungen und Tips unter die minder erleuchteten aber zahlreicheren Glieder der Zunft:

»Nur immer Galopp schreiben. Transitive Verben. Intransitiv gebrauchen. Vorn. Hinten. Überall. Alles weg.«

Erläuterte an Beispielen.

Schließlich endete es wie immer an hohen Geistesfesten hier: alle pfauchten Kultur durch die Polypen ihrer Nase oder stelzten auf den Eiszapfen ihrer Phrasen einher, bis Scheuer-Weiber, aus Spülicht gezeugt, Kübel voll Grauen durch ein Lokal erbrachen, das vor Entsetzen Kopf stand auf Inseln aus Kaffeesud und Tabak.

Der Fremde sann: Da sind sie so stolz, weil alle hier lesen und schreiben können, und können doch nicht stehen, schreiten, ruhen, grüßen, danken, also: leben. Somit eigentlich doch auch wieder nicht »lesen und schreiben«, insofern »Lesen« Erfassen fremden Lebens – »Schreiben« Lautform des Eigenen ist.

Professoren traf man selten im Café. Nur eines Platzregens wegen war Dallmeyer flüchtig hereingetropft, mit ihm eine dunkle, eher feine Person, und drei slawisch-germanisch-semitisch gewürfelte Kinder. Beim Anblick Bekannter wehte der Lodenkomet samt Schwanz eilig von dannen. Krause, gleichfalls im Fortgehen, grüßte nach, schlug sich auf die Froschschenkel: »Familie Dallmeyer.«

»Daß ein so rabiater Antisemit eine Jüdin zur Frau und, wie es scheint, gar Kinder mit ihr haben mag,« meinte Horus.

Krause verteidigte den Gönner:

»Oh, das ist nur eine Gewissensehe. Er kann sie jederzeit ruhig sitzen lassen.« – Krause betrachtete wohlgefällig seine Couleur durch die Regenhaut hindurch. – »Die Kinder illegitim, da braucht er so wenig zu zahlen – nein, das zählt wirklich kaum.«

In seiner zerstreuten Verblüffung griff Horus nach dem Blatt, das der Enteilende zurückgelassen. Seit jenem ersten Morgen in Paris hatte er keine Zeitung mehr berührt. Schon eine Tatsache auf diesem Weg erfahren, schien ihm, als solle er seinen Durst mit Wasser aus einem Kamelmagen stillen. Was er jetzt in Händen hielt, war eine akademische Fachschrift: Deutsche Korpszeitung stand darauf: ja, war er denn irrsinnig geworden …?

»Und die Möglichkeit des Vieltrinkenlassens ist auch notwendig. Verbieten wir das Resttrinkenlassen, so kann jederzeit jeder trinkfeste Fuchs jeden weniger vertragenden Korpsburschen in Grund und Boden trinken, und die Autorität ist hin oder aber, wir schaffen die Bierehrlichkeit und damit die Grundlage jeder Kneipgemütlichkeit ab. Verbieten wir das Vollpumpen, so geben wir ein Erziehungsmittel aus der Hand. Die Kneipe ist für uns, was der vielgelästerte Kasernenhofdrill, der Parademarsch für den Soldaten ist. So wie dort das hundertmal wiederholte ›Knie beugt‹ nacheinander Faulheit, Wurstigkeit, Trotz, Wut, Schlappheit und Ermattung überwindet, und aus dem Gefühl hilfloser Ohnmacht und völliger Willenlosigkeit vor dem Vorgesetzten die Disziplin hervorgehen läßt, so bietet bei uns der ›Rest weg‹ dem Älteren vor dem Jüngeren immer Gelegenheit, seine unbedingte Überlegenheit zu zeigen, zu strafen, Abstand zu wahren, die Atmosphäre zu erhalten, die für das ständige Erziehungswerk des Korps unbedingtes Erfordernis ist, wollen wir nicht Klubs werden. Der ›Rest weg‹ ist nicht immer, nicht bei jedem angebracht, aber es muß über der Kneipe schweben …«

War er denn irrsinnig?

Auch Samossy versah ihn mit Fachlektüre. »Vielleicht interessiert Sie das,« – es waren Korrekturfahnen zu Dallmeyers neuem Werk, einem breitschultrigen Band über: Periodizität im Organischen. Dann nach einer Woche, mit erwartungsvollen Nüstern: »Nun?«

»Der eigentlich beweisende: der mathematische Teil strotzt ja von kindischen Fehlern.«

»Das Rindvieh,« jubelte Samossy ein ums andere Mal. »Und das Rindvieh merkt's nicht, die Fachkollegen merken's auch nicht und andre lesen's nicht. Also niemand merkt's. Das ist der Segen der Spezialisierung.« Er duckte sich zu einem Knäuel funkelnder Bosheit zusammen.

»Dieser Teil ist nämlich von mir, und kommt es schließlich heraus, ist auf alle Fälle er der blamierte Europäer. Genannt hat er mich nicht als Mitarbeiter, müßte also nachträglich eingestehen, er ließe sich seine Bücher heimlich von andern schreiben.«

Samossy spie Glück.

»So ein Mäuseschlächter, Drüsenkitzler, Vergifter kleiner Nagetiere. Quirlt einen Frosch und wird Dozent. Sperrt einen Ratzen in einen Labyrinthkäfig, schaut zu, um wieviel schneller das Vieh jedesmal herausfindet, wird dafür Professor. Und das packt plötzlich der Raps fürs Fundamentale; Eitelkeit ist ja doch die Hauptwelle im Betrieb, der übrige Schwachsinn rotiert nur blind drum herum.

Na, da hab' ich ihn eben her–ein–ge–legt. Auch Freundchen Krause werd' ich he–rein–le–gen beim Rigorosum. Weil der Alte in Remscheid Klosettpapier verkauft, glaubt man sich reif fürs Doktorat der organischen Chemie, und weil der Onkel gerade Rektor ist, glaubt man sich bei mir im Nebenfach sicher.

Wie das bei den Vorlesungen zugeht, weiß ja jeder. Der Vortragende schmiert vier Semester lang Zahlen an einer Tafel herunter, die man mechanisch kopiert, dann sulzt man Formeln in sich hinein, von deren Konstruktion man keine Ahnung hat und die – weil nur gemerkt und nicht begriffen – vier Tage nach dem Rigorosum durchs Hirn gefallen sind, wie ein Pflasterstein durch Nebel. Der persönliche Erkenntnistrieb beruhigte sich ja längst bei der Variante: ich saufe, darum bin ich. Aber hereinlegen werd' ich ihn, schmeißen werd' ich ihn, den ›Fernhintreffer der Taktlosigkeit‹.« Er feuerte hinten aus vor spastischem Wutglück.

Horus war so leid um ihn, herzzersprengend leid. Dann, um abzulenken, auch in dem Wunsch, mit diesem Dennoch-Großen einmal andere Geistesgebiete, als die seines Faches, zu berühren:

»Für all diese jungen Leute wäre es eben rätlicher, statt der ›Korpszeitung‹ lieber doch noch einmal: ›Über Anmut und Würde‹ von Schiller nachzulesen.«

Und erschrak. Bei dem Wort: Schiller hatte sich Samossys mächtiges Gesicht auf einmal zu einem ganz kindischen Knoten hilflos diabolischen Hasses zusammengeschnürt. Es war so entsetzlich, so unbegreiflich, so schamlos und beschämend zugleich, daß der fremde Gast rasch die Aschenschale umwarf, die ganze Situation damit umwarf; Trivialitäten dazwischen warf, um nur ganz wo anders wieder beginnen zu können. Weg von dem bösen Infantilismus, der grünen Wut, die unbegreiflicherweise Schillers Name ausgelöst zu haben schien.

Da sagte Samossy unvermittelt, dranghaft:

»Kommen Sie mit über Pfingsten. Wir wollen auf einen hohen Berg steigen und Zarathustra lesen.« Dann, hinterhältig, geheimnisvoll: »Man muß vom Weibe loskommen.«

Horus erwärmte sich. Seit dem Abschied von Asien hatte er keinen Sonnenaufgang auf einem Pilgergipfel mehr erlebt. Gut würde das tun. Endlich wieder.

Sie trafen sich am Bahnhof. In Deutschland sein erster. Überall auf Plakaten hingen, zwischen Ausrufungszeichen, an den Wänden lapidare Beflegelungen des Publikums und andrer Wesen: –

»Wandervögel benehmt euch!« … »Unterlaßt … sonst …!« »Keine Kirschkerne ausspucken, sonst …!« »Wer unbefugterweise … der wird nach Polizeiverordnung vom …!« –

Lauter hingeschnauzte Imperative. So geleitet fuhren die Leute in ihre Spiele und in ihre Muße hinein. Noch fuhren sie aber nicht. Barsche Götzen, mit Schirmmützen und lächerlich doppelt zugeknöpft, hinderten vorläufig jeden, dort hinzukommen, wo er hin sollte und wollte. Erbitterte Menschentrauben hingen um zwei vergitterte Löcher, wo in Käfigen andre Götzen hockten und sich weigerten, Geld zu wechseln, oder plötzlich das Milchglasfenster ihres Käfigs den gehetzten Massen vor der Nase herunterknallten. War es endlich wieder offen, mußte jede zitternd abgequetschte Menschenbeere sich ducken vor dem Käfigloch, als kröche sie um Gnade; sie kaufte aber nur um ihr gutes Geld eine Fahrkarte, von einem, den sie dafür selbst angestellt und bezahlt hatte.

Genau wie vor dem Postamt neulich, mit seinem Bücherpaket für Erasmus! Auch dort vor einem Gitterkäfig die zuständige Sklaventraube: Männer mit Krampfadern, Frauen, Angst um anbrennende Milch in den Augen, Arbeitnehmer aller Grade, bei denen Qual marternder Langeweile mit hämischer Genugtuung, ihre Brotgeber um soviel schöne Zeit zu prellen, rang. Alle aber bekamen diese dunkelleere, geduckte Süchtigkeit im Blick, traf er den Käfig.

Endlich mit seinem Paket dem Götzen im Loch gegenüber, war dieser ans Gitter gefahren:

»Unvorschriftsmäßige Verschnürung.«

Also hieß es heimkehren, dann zurück, mit dem neuverschnürten Paket sich wieder anstellen. Diesmal stocherte der unrasierte Götze vermittelst einer Feder unter der schwarzen Nagelplatte des Mittelfingers mit dem rändigen Ring – äugte das Paket wie einen Todfeind, dann sich erhellend, grob:

»Siegel fehlen.«

»Bitte wo und wie viele?«

Der Götze blähte sich violett auf:

»Hier ist kein Auskunftsbüro, glauben Sie, ich bin da, mich mit Ihnen hinzustellen – – weiter.«

Er kam zurück mit drei Siegeln.

»Vier,« spie es aus dem Käfig.

Er kam mit vier. Aus dem Götzenloch triumphierte es:

»Die Schnurenden sind nicht mitversiegelt.«

Schräg stand schon die Sonne, doch dies mußte ausgefochten werden, und er stürzte fort, zum fünftenmal wiederzukehren. Da winkte ihn ein alter Herr mit einer Pfundnase heimlich in eine Ecke beim Papierkorb. Er schien sie den ganzen Nachmittag nicht verlassen zu haben. – »Psh – Psh,« sein Speichel glänzte vor ihm her. Dann hinter einem Paravent aus Wurstfingern:

»Da ham's,« er kramte eine Handvoll runder, gummierter Pergamentplättchen mit verschiedenen Monogrammen aus der Tasche –.

»I schau Ihner scho n' ganzen Nomitto zu, und jetzt schau i no zu wie ›er‹« – sein Daumen wies gegen das Loch – »›zerspringt‹ – dös san nämli Verschlußmarken« – er klopfte auf die Plättchen – »dö gelten statt Siegel, wanns ihm no net recht is, glei hinpappen – alleweil glei hinpappen, da kann er fei nix machen.«

Er duckte hämisch gegen den Götzen. Der aber mußte den Vorgang gemerkt haben, ließ bis auf zwei Vordermänner den neugerüsteten Feind an sich herankommen, dann klappte das Milchglasfenster einfach zu. Die wartende Masse ächzte vor Angst. »Abrechnen tut er,« raunte es ringsum, und klägliche Blicke hingen sich an den Minutenzeiger, daß er nicht springe: vier Fünfersprünge und das Postamt schloß. Der Zeiger schüttelte die Augentraube ab und sprang zum erstenmal. Das Milchglas rührte sich noch immer nicht. Die Herde knurrte bekümmert vor sich hin, bis oben voll geduckter Wut. Da wagte der Fremdling sich aus der Reihe, wand sich fechterglatt zum leeren Nachbarschalter, streckte den Kopf durch das Götzenloch und sah jenseits der niedren Zwischenwand den mit dem rändigen Karneol am Mittelfinger sich noch immer die schwarzen Nagelplatten ausstochern, während er einer kanariengelben Mitbeamteten aus dem Abendblatt vorlas. Da riß ihm die Geduld. Gut: diesem Lande Gast, hatte er sich seinen Bräuchen zu fügen, dies aber ging die Würde des ganzen Planeten an. Mit geballter Faust drang er gegen das Milchglasfenster vor, dem frechen Bureaukretin seinen albernen Scherben zerschmeißen; es war das einzig Gegebene. Welche Erlösung für die mißhandelte Herde, wenn es endlich geschah. Doch siehe da! Hatte er denn den Weltuntergang angezettelt? Die meisten flohen sofort, beherzte Männer voran, die früher am lautesten gemurrt.

»I muas nit von allm ham,« kreischte der heimliche Obstruktionist mit den Verschlußmarken und weg war er. Eine Rotte erbitterter Weiber warf sich indes mit Megärengebärden auf Horus, nicht mehr Angst um angebrannte Milch gab es, keine Krampfadern, keine bespiene Menschenwürde, nur einen, der ihnen allen zu Hilfe kam, der gemeinsame Feind.

Ach so: sie liebten das also offenbar, bezahlten es eigens. »Pardon, ein Mißverständnis.«

Staunte auch nicht, als jetzt ein neues System teuflischer Netze den schäumenden Haufen, knapp vor seinem Ziel: dem Bahnsteig, abfing, daß er davor zu einem Block Unluststoffe gerann, dessen Lodenhülse unter dem Druck sich durch die Gitterstäbe spannte als platzende Ballonhaut. Drei Zentimeter jenseits, vor Himmel und Schienen, gähnten ein paar Götzen mit Zwickzangen im Leeren, vor der längst bereiten Zugsgarnitur.

Samossy, in die Ecke getrieben, bis an den Hals im Pöbel, starrte dunkel und süchtig hinüber. Hatte die Ohren zurückgelegt, spannte die Stirnhaut, röchelte dumpf und eingespeichelt glücklich. Dann wie zu schlechtem Gewissen erwachend:

»So ein moderner Verkehr hat doch etwas Imponierendes, diese musterhafte Ordnung, daß alles so klappt.«

Und sank wieder in träumende Starre.

Im Block unter der Lodenhülse aber brodelte Ärgernis: unerzogene Mütter trieben mit Püffen Anstand in ihre falschgebornen Kinder hinein, den diese wieder schreiend erbrachen. Männer rissen sich immer wieder viehisch Wege zu Büfett und Zeitungsstand. Den Raubmord von heute gierig schwingend, den Raubmord von gestern achtlos um den Leberkäs gewickelt, ritten sie dann, zurückgaloppierend, Schinkenstullen unter dem Rucksack mürbe.

Jeder Ankömmling aber stieß auf wutgerundete Rücken der Abwehr. Wieviel so üble Zweibeiner gab es denn noch, wie man selber einer war? Fassungslose Empörung? Man konnte das eigne Zahlreichsein offenbar noch nicht meistern, hatte sich schneller vermehrt als daß dem Einzelnen seine persönliche Gleichung gestattet hätte, sich dieser Verdichtung anzupassen.

Pöbeldichte ist das Infernalische hier, fühlte der Fremde; dieses geistig und leiblich einander auf die Hufe Spucken. Pöbeldichte, nicht Menschendichte, denn diese schafft ja positive Qualitäten: etwa Chinas Rücksicht und Diskretion, kann doch bei Übervölkerung die unersetzliche Einsamkeit dem Einzelnen nur durch zarte und kultivierte Manieren der Vielen gewährleistet werden. Er träumte sich zurück in das südliche Blütenland, das »Land der Lebendigen«. Wieder stieg die Paganinipyramide auf, doch diesmal trug sie ihn durch Stunden und über diese ganze Fahrt hinweg, wie zum Dank für einst. Manchmal schrak er glücklich lächelnd auf, wog seinen Reichtum: »Wieviel war meiner Jugend beschieden.« Auch »geflügelte Perle« kam.

»Ich will dich das Geheimnis des Fußes lehren und meiner älteren Schwester das Geheimnis der Blume Lan.«

Seidnes Wesen!

Sie hatte ihr Versprechen gehalten.

Aus der Zahnradbahn keuchte es jetzt, sich überrennend, dem Hotel unter dem Gipfelkopf zu, einer im Kielschweiß des Andern, Kinder und Rucksäcke schleiften nach. Im Tor schäumten Wirt und Pilgrime gegeneinander an.

»Zu fünft drei Betten – ausgeschlossen, da sorcht ja schon die Behörde jejen!«

»Aber Ludwig, ich bitte dich, Trude und Hans in einem Zimmer!«

»Bleibste in der Depandanxe – nöch?«

»Na, denn nich.« – Und auf einmal ließ man das ganze Übernachten stehen, riß sich angstvoll um die Speisekarte – zu reservieren, was zu reservieren war. Familienväter bestanden auf fünf Kalbshaxen, Kinder grölten nach Apfeltorte; es ging um Tod und Leben, als eine Person mit angekettetem Kropf zwei graue Beete aus Krügen in den Männerarmen hereintrug.

Auf einmal waren alle Mehmkes da, samt Töchtern, Schwiegersohn und Enkel Fritz, von Krause flankiert. Dallmeyer blies schon Bierschaum in den Ausschnitt von Margrinchens rosa Taffet-Bluse über dem Lodenrock.

Samossy, gänzlich verwildert, umwieherte indes die Kellnerin. Doch ihre rotpunktierten Männerarme in den kalkharten Puffärmelchen waren jetzt frei und schützten sie erfolgreich ringsherum.

Langsam mit dem Speisendunst ging die Stimmung ins Breite, Qualm nikotinisierte den Verdruß. Schon war die Luft fast so dick wie zu Hause, und nahrhaft von vergastem Fett.

Jetzt hieben ein paar Tatzen voll Töne in den Brodem. Ein Auswendighämmerer begann Kraut und Rüben durcheinander zu hacken, riß dem Klavier die Stockzähne aus, schmiß sie der Dulliöh-Stimmung in den Rachen: aus einer Art Beethoven- cake-walk schmalzte er in ein Carmen-Meistersinger-Potpourri hinein, schlang diesem den Liebestod als Boa um und markierte dem wiehernden Saal die Glocken aus Parsifal, mit dem Gesäß auf der Klaviatur, landete dann mit einem Flohsprung mitten im letzten Satz der Neunten Symphonie, boxte sich durch bis an die Menschenstimme – – –:

»Nee, so was Gemütliches, nee, so was Gemütliches,
Mir wackelt vor Lachen der Bauch,
Na siehste, dir wackelt er auch.«

Und die Sonnenpilgrime fielen mit der zweiten Strophe des Sensations-Schlagers der Saison ein:

»Vor Gericht zur Ehescheidung ist zur Sühne heut Termin.
Er in eleganter Kleidung, sie sehr schick, Hut voll Jasmin.
›Wollen Sie sich nicht vertragen?‹ fragt der Richter ehrfurchtsvoll.
Als sie grade ja woll'n sagen, schreit ein Weib: ›Paul, bist wohl toll!
Laß die alte Zicke türmen!‹ ›Was, Sie Mensch!‹ schreit drauf die Frau;
Nun geht's los mit Regenschirmen, alles schlägt ein'n Mordsradau.
Zähne, Zöpfe umherliegen und der Richter bietet Ruh.
Süße Schmeichelworte fliegen. Ekel, Lulatsch, alte Kuh!
Selbst der Richter kriegt zum Schluß im Gewühl eins auf die Nuß.
Nee, so was Gemütliches« usw.

Draußen – draußen standen irgendwo Sterne – groß und weit weg.

Um Morgengrauen barsten Wecker auf Tellern, kreischten spitze Trichter hinein. Ein finstrer Knöchel kam von Tür zu Tür, zerklopfte durch Holz hindurch Träume im Hirn. Das Hemmungslose der Aufstehgeräusche stand plötzlich mitten in fremden Zimmern. Durch Korridore schlurfte es ohne Kragen, in Hemd und Unterhosen. Wie ertrugen sie nur eine Tracht, die tagtäglich durch dieses entwürdigende Stadium hindurch mußte?

»So mach doch vorwärts – noch nicht fertig?« – Dann wieder in seltsamem Hedonismus: »Na, freu' dich bis wir nach Haus kommen!« Türen knallten; grün vom Fleisch und Bier der Nacht, stolperte es in karierten Plaids durch die silberne Frühe. Ein Pfahl im Schotterhaufen und eine Ansichtskartenbude markierten den Gipfel.

Jetzt war es so weit:

Ungezogenes Gebrüll verkündete das Herannahen der Sonne. Männer riefen: »Na also!« Frauen: »Ach wie süß.« Jeder rief irgend etwas.

»Ja, so ein Sonnenaufgang bleibt doch ein Sonnenaufgang,« begann Fräulein Mehmke – dann ward es ihr bleich vor dem anämischen Hirn, sie hätte gestern nicht so viel Schlagsahne zu den Birnen essen sollen.

Dallmeyer stieß indes aus den Wolken seines Bartes die ersten Töne von Brünhildens Erwachen: »Heil dir, Sonne!«

Krause war dagegen:

»Nee, nee, lassen Se se lieber in alter Weise tönen.«

Und Margrinchen, die wieder funktionierte, ratschte weiter:

»In Brudersphären Wettgesang, und ihre vorgeschriebne Reise –«

»Reise« – erinnerte sich Frau Geheimrat, im Rucksack kramend – »hast du am Ende das Reisebesteck vergessen? – Vater braucht den Pfropfenzieher.«

»Nun, Fritz, wie geht es weiter,« examinierte Mehmke, »in deinem ›Goethe für Jungens‹ hast du's ja beinahe unverkürzt.«

Aber Fritz maulte: »jetzt is Ferien.« Und er intonierte das Lieblingslied von jung und alt:

»Mariechen,
Du süßes Viechen,
Sie ist eine ne–te–te–te,
Diva von der Oper–e–te–te–te.«

Da es ihm seine Mutter oben verwies, quäkte er es um so lauter etwas weiter unten bei den Kühen, kam aber bald zurück, denn man leerte aus den Rucksäcken Konserven in die Natur, die Fransen von Mehmkes Plaid schwammen schon im Sardinenöl. Man kaute, und schrieb zwischendurch Ansichtskarten. Männer entfalteten markig das Abendblatt; weise diesem zeitungslosen Sonnenaufgang entgegengespart. Es war voll der neuesten Pariser Sensation: dem Hosenrock. Seit Wochen flossen die Gazetten aller Parteirichtungen über von Bulletins. Würde er sich wirklich auch außerhalb Frankreichs als Mode durchsetzen? Unmöglich … bei keiner anständigen Frau … die Entrüstung war allgemein.

»Geiler, welscher Tand.« Dallmeyer röhrte auf germanisch.

Margrinchen zeigte ihm, wie mühelos ihr eigner Rock aufzuknöpfen sei: entarteter Abkömmling eines verjährten Pariser Schlitzmodells, nur daß sein planlos Affenhaftes hier ins stockend Barbarische geraten war.

»Echt weiblich und doch praktisch,« lobte Dallmeyer, »echt deutsch!«

»Auch malerisch,« ergänzte ihre verheiratete Schwester, die den gleichen trug, und drapierte einen Batikschal über den Wettermantel und die auseinander geronnenen Hüften.

Wer ohne Zeitung, hatte anders vorgesorgt für die langen Stunden hier draußen, wo nichts los war: »Wollen wir n'en Skat dreschen?« Und aus Handflächen sprangen karierte Blätter per Kopf auf gebreitete Lodenflecke ringsum. Manchmal zorniges Grunzen: »Rindvieh dappigs, so paß schon auf.« – »Halts Mäu!«

Akademisch Gebildete spielten hier nicht Karten. Wußten, daß man in der Natur natürlich zu sein und sich in ihr zu lagern hatte. So lagerten sie erst angezogen, als Fremdkörper umher, begannen dann aber, als es wärmer wurde, auf grauenhafte Weise Bekleidung von sich abzustoßen, unter andauernd witzigen Bemerkungen über diesen Vorgang. Die Rhododendren hingen schon voll Hosenträger, und das schlurfende Stadium von den Korridoren war wieder erreicht; selbst halbe Akte tauchten vorübergehend auf, verschwanden wieder: nein, es war allerdings kaum anzunehmen, daß die Natur das zum sichtbarlich außen Tragen bestimmt haben sollte.

»Mal bißchen Natur kneipen.« Auf dem Rücken liegend, hob Krause das Gesäß und klappte die Hufe in der Luft erlaubnisheischend gegen die Damen zusammen. Oben die Sonne wiederkäuend, buk er unten die gelbliche Riesensemmel seines Bauches gar, im eignen säuerlichen Speck. Der Geheimrat kraute mit dem kleinen Fingernagel seine grauen Achselhaare:

»Was Samossy, dieser Intrigant wieder ausgeheckt habe – ein Narr – ein gemeingefährlicher Narr, ob Dallmeyer den Angriff …«

Aber Dallmeyer hatte die Stiefel ausgezogen und war längst Jung-Siegfried; dahin rollten die Stücke des morschen Speers, an Notung zerschellt. Keine Abfindung für die Schwarzalbin, jüdische Mitläuferin und was ihr entsprossen. Seine männische Kraft sollte eine reine Jungfrau erwecken … nur wer durch das Feuer bricht … als korrespondierendes Mitglied mußte er heuer noch in die Akademie hinein.

Kein Gruß aus der Kreatur klang in diesem Äther. Kein aufjubelndes Fluidum aus wilden, freien, vielgestaltigen Herzchen entzündete sein zeugendes Netz. Leergescheucht auch er: ein übler Doppelspat, auch er, durch den das Un-Sein hereingebrochen kam.

Kinder machten auf ein paar glücklose Kriechtiere Jagd, die nicht Beine genug gehabt, sich rechtzeitig einzugraben. Fritz kroch umher, kratzte aus dem Moos, was er an Fühlern und Flügeln erwischen konnte, brachte es in seiner scheußlichen Gymnasiastenmütze Margrinchen. Sie sonderte die männlichen Tiere aus, und er durfte sie in eine Glasflasche füllen, während das Fräulein ihr biologisches Besteck auspackte.

»Unten nicht so zerquetschen,« mahnte sie, wenn seine Fingerstummel mit den verkehrt eingesetzten Nägeln ihr eine Kreatur nach der andern reichten. Dann sah er mit abstehenden Ohren zu, wie sie hineinschnitt.

»Immer fleißig,« schmeichelte Dallmeyer. Er war endgültig durch das Feuer gebrochen und näherte sich bereits Margrinchen auf ihrem Fels: »Immer eifrig bei unsrer Wissenschaft.«

Vom Hotel herauf schellte es jetzt Mittag. Sie warf das angeschnittene Tier weg und begann ihre Frisur zu richten. Dallmeyer stöhnte in Stiefel hinein, Krause suchte nach Hosenträgern – Plaidfransen blieben an Uhrketten hängen, rissen Geld und Karten ins Gras, alles knöpfte sich zu – stob abwärts zu Hauf.

In die lange, neue Stille hob sich aus Gebüsch mit eins ein verschlafener Kopf, blinzelte ins Leere – begriff dann. Maßloser Schreck ging in seinen Zügen auf, er blickte wirr um sich, dann schreiend:

»Ist es schon losgegangen?«

»Wenn Sie die table d'hôte meinen, so glaube ich: ja.«

Der Europäer warf die Arme gen Himmel und wollte fortstürzen, da vertrat ihm Horus den Weg, packte ihn vor der Brust:

»Was ist das jetzt eigentlich für ein Fest heute?«

»Na, Pfingsten doch.«

»Was ist das: Pfingsten?«

Dem andern wurde ängstlich, er klammerte sich an seine Brieftasche:

»Die Ausgießung des Geistes natürlich, oder so was Ähnliches.« Riß sich los und machte im Lauf kopfschüttelnd vage Gebärden vor dem Hirn, wie er sie in irgendeinem verlogenen Theater gesehen.

Jetzt waren also endlich alle hinuntergeflossen, diese Ohne-Hunger-Esser, zu ihren dicken Suppen, die ihnen wieder ausbrachen als unmäßiger Schweiß, und der Gipfel tauchte frei empor; der getötete Äther um ihn aber trug keine Seligkeit mehr. – Vielleicht das Moos? Er bückte sich: Enzian sah ihm in die Augen herauf, dann ein kleines Gelbes, das sehr keck schien, rötliche Röllchen rochen gut. Vielleicht enthielt die Erde für ihn die antäische Stärkung eines Grußes.

Wie einst zwischen die aufrauschenden Ohren Rama-Krishnas, warf er sich nach vorn, preßte das Gesicht ins Lebendige, fuhr auf und mit der Hand an die Stirn: dort klebte quer eine Wursthaut. Worin lag er da? Eine Bergwiese? – ein Kehrichthaufen? – ein Magengeschwür? – ein ungemachtes Bett? Zerwälzt ohne Wonne, in dem Frigidität, Geile und Feigheit aneinandergeklebt hatten! – War das noch Enzian oder schon ein Tintenklecks, roch die zerknüllte Stanniolkugel da oder das Kohlröschen? Er suchte nach dem angeschnittenen Versuchstier der jungen Dame. Tötete das sich Windende rasch, fest, ehrfürchtig.

Samossy kam erst knapp vor der Rückfahrt aus einer Tür zum Vorschein, an der geschrieben stand:

»Nur für das Personal, Gästen ist der Eintritt nicht gestattet.« Beim Abstieg rieb er äußerst animiert die knorpeligen Enden seiner langen Finger aneinander, als wollte er Feuer aus ihnen schlagen, wieherte in der Fistel:

»Ja – ja, man muß vom Weibe loskommen.«

Die Kellnerin hatte ihm aus kalkharten Puffärmeln mit einer roten Pranke nachgewunken, die kein goldnes Kettenarmband trug.

Zarathustra war ungelesen im Rucksack geblieben.

Abends entließ der Ostbahnhof die Ausflügler in fahle Vororte hinein. Aus einem politischen Keller stank eben strukturloses Gewölle breit in den Platz, jenem gleich, das im Hafen von Marseille, als Ballen von Mißgunst, das rhythmische Arbeiten der asiatischen Bemannung mit hämischer Überheblichkeit zu zergaffen versucht. Hier schien es in Fluß geraten, in stumme, maßlose Geschwollenheit hinein. Sah man näher zu, zerfiel es in einzelne aus allen Angeln gedrehte graue Brocken, die torkelnd neben ihren Stiefeln gingen. Weiber hakten sich in Männer, reckten die abgebundenen Spitzbäuche, stampften auf kolossalen Füßen eine namenlos verlogene Degagiertheit einher. Junge, mit wilden Papuafrisuren, lachten wie aus Grammophonen. Allen stand käsiger Schweiß aus Wurst und dicken Phrasen um die eingetriebene Nase und den sackförmigen Mund.

Es waren die abstoßendsten Geschöpfe, die er je erblickt. Nicht so sehr durch das Übelgeratene selbst, nein, durch eine beispiellose Überheblichkeit weltgültigen Rüpeltums, mit der jeder gerade dies Übelgeratene, wie eine hohe Rechnung präsentierend, an sich zur Schau trug; Gesitteteren damit schadenfroh unter der Nase herumzufuchteln nicht müde ward, als wäre er das Unmaß aller Dinge.

Auch hier wieder der typisch europäische Blick: er, der nicht sah, als bliebe die ganze Umwelt dauernd in den gelben Fleck der Netzhaut gerückt.

Auf dem andern Gehsteig kam jetzt eine einsame Frau dem Haufen entgegen, strebte, dunkel gekleidet, unauffällig und still – etwas eilig auch – ihres Wegs.

Schon waren die Vorderbrocken blind über sie hinausgetappt: das ausrangierte Schachrössel mit der roten Schleife an der Spitze, einer der fanatischen Nasenbohrer aus der Russenecke im Café und ein kleiner Herr mit Zwicker von außerordentlich semitischem Typus.

Da erspähten zwei Halbwüchsige die Einsame, vertraten ihr aus der Flanke des Zugs heraus den Weg – noch probeweise – wie suchend vorerst, tänzelten von Bein auf Bein – endlich glaubten sie etwas gefunden zu haben:

»Mir scheint gar, dös is a Hosenrock.«

Und der eine blähte hämisch vorn seinen Latz, ganz wie die Crapule in Marseille vor Gargi getan. Der Unflat, der auf seinem Hals an Stelle des Gesichtes saß, stank ihm dabei aus den Augen.

Der andre, gebückt, Zigarettenstummel im eckigen Maul, tat, als inspiziere er streng von unten.

Die unscheinbare Frau hob sanfte Hände der Abwehr:

»Lassen Sie mich vorbei, bitte, ich muß nach Hause.«

Aber schon kreischte es rundum:

»A Hosenrock, a Hosenrock.«

Spitzbäuche und Papuafrisuren rissen die Mannsleute heran:

»A soa Weibstuck, a soa ganz ausg'schaamt's, a soa Großkopfate!«

»A soa Madame.«

»Oin iebermietiger Adel und ein verrottetes Bürgertum« … begann das ausrangierte Schachrössel – – –

»Eiterbeule am Pestleib des Kapitalismus« … fuchtelte der kleine Leitjude. »Schamlose Provokation des klassenbewußten Proletariats … Genossen, setzt euch zur Wehr … der gesunde Sinn des werktätigen Volkes darf nicht dulden …«

»Geiler welscher Tand,« röhrt es jetzt dazwischen aus dem wallenden Dallmeyer-Schädel, den Häusern angeklemmt im Trupp der Ausflügler.

Nur helleingesehene Unmöglichkeit, sich dorthin durchzuboxen, hielt Horus ab, sich gerade auf diesen reißend Verpöbelnden zu werfen, doch auch seine Glieder waren eingekeilt zwischen Mauer und Mob.

Einen Moment duckte sich Stille im Raum. Bogenlampen flirrten hoch darüber. Dann grellte ein Ton auf, dem sich in der ganzen Natur an Gemeinheit nichts vergleicht. Der infernalische Ton eines johlenden Europäerhaufens pfiff hinter dem hingespienen Zigarettenstummel drein, zwischen Fingerstumpen hinausgegellt als onanierende Niedertracht.

»Der Hosenrock muaß aver … übern Hintern gspannt, ghörat er ihr, der Hosenrock.« Ein Stierkerl mit Wurstpratzen hatte es gebrüllt. Temperamentlose Wut aus eiskaltem Schweinespeck gebar zuerst Moralsadismus. Die Weiber heulten Triumph. Das wieherte, spie, trampelte im Rudel heran um die weinende Frau. Unter gingen ihre Hilferufe im Gegröle des Mob. Von der Welle aus Feigheit in Frechheit hinübergespült, warfen sich die zwei Halbwüchsigen platt auf den Bauch, krochen ihr unter den Rock, hoben ihn rechts und links mit den Köpfen hoch, zerrten die Beine der Wimmernden auseinander, daß sie mit dem Gesicht platt in den Kot fiel … Mit haßkrummen Pfoten stürzten sich die Weiber über die Liegende, rissen ihr die Kleider in die Höhe, die Hose auseinander … der russische Nasenbohrer fanatisierte die Herde rechts und links, wie ein anspringender Hetzhund.

Vorn der kleine Leitjude kniff sich eilig einen zweiten Zwicker auf, reckte feixend den Hals, um besser sehen zu können.

Eine Megäre heulte wehleidig auf: »A soa Kanalli.« Sie hatte sich an der Hutnadel ihres Opfers geritzt.

»Volksgericht … Volksgericht,« das ausrangierte Schachrössel zerriß sich fast in der Luft, doch keiner scherte sich drum. Eine Blase grüner Gier, schwoll die Pöbelgeile über ihrem Opfer, immer höher aufgetrieben von den fanatisierenden Sprüngen des slawischen Nasenbohrers.

Auf einmal stach ein Polizeipfiff die Blase an, feig und flach fiel sie zu einer Linse zusammen, gerann immer dünner, bis das Straßenpflaster aus ihr aufstieg, in dem ganz allein, in Qual und namenloser Scham, sich die gemobte Frau mit grellentblößtem Unterkörper wand.

Außer ihr fand die Wache eigentlich niemanden mehr zum Verhaften vor. Zwei Polizisten führten die Halbohnmächtige ab, ein Dritter bückte sich nach dem Hosenrock. Mit strenger Hand hielt er das »Ärgernis« in sittlichem Ekel weithin von sich ab. Wies es anklagend rundum, begann plötzlich zu gluren, zu grinsen, und alle rings im Kreise grinsten mit. Man schlug sich auf die Schenkel vor Vergnügen.

Das war ja gar kein Hosenrock.

Auf die entleerte Straße schlich es sich jetzt hinter einem Häuserblock schlacksig heran, alle Körperknochen eckig unter die engen Augen gehäuft: der Hetzhund des Haufens warf sich platt nieder, windelweich auf einmal. Begann das glitschige Frauenblut aus dem Straßenschmutz zu saugen, umarmte das Pflaster, quetschte seine Seele wie einen verschnapsten Schwamm über den Brei aus Blut und Kot, in greinendem Gefasel, menschheitsduselnd aus.

Da stieß ihm Horus Elcho in sternblanker Wut den Fuß ins Rückgrat:

»Auf – Schwein – aufhören mit dem sentimentalen Dreck.«

»Bruderherz,« harnte es flennend naß von unten herauf – »laß dich umarmen, Bruderherz, wir sind ja alle gleich, mein Seelchen, – alle, alle gleiche Menschen.«

»Nein – Gott sei Dank – nein!«

Und der goldäugige Exote schritt auf den andern Gehsteig. Der Erdradius war nicht so lang, als jetzt diese Vorstadtstraße breit war.

Viele Stunden lief er noch durch die milde Nacht, in den Anlagen Fluß auf und ab, mit heißen Adern. Als schwefelige Blitze standen ihm die Nervenfäden um das bewölkte Herz. Und dann trieb ihn Trotz unwiderstehlich, ein Stück Maskerade seiner Zugehörigkeit zu dieser weißen Köterrasse nach dem andern wegzuwerfen – einfach weg … Erst die Fußschachteln in eine Wiese, den Rock ins Wasser, den albernen Stoffkopf hing er an einen Strauch, kam zurück, drehte ihn um zu einem Nest zwischen drei Astgabeln; vielleicht diente er so einem anständigen Vogel zur Brutstatt – tat es in vagem Trieb, süßes Leben als Gegengewicht zu fördern.

Ins silberduffe Gras auf die Flanken gekauert, überdehnte er dann die zehn Gliedspitzen wie ein gähnender Jaguar – wehende Halme streichelten den Stromkreis zu, leiteten das ausgetriebene Übel erdwärts, da löste es sich über die makellose Riesenkugel hin auf.

So mochte es zwei Uhr geworden sein.

»Das gibt's nicht da. Das ist Vagabundage, – im Freien darf nicht übernachtet werden.« Ein Ordnungsgötze voll Blech am Kopf türmte schwarz und lotrecht in die Natur.

Langsam drehte er sich auf den Rücken, sah was zwischen ihm und dem Polarstern stand, bekam einen gelachten Wutanfall.

»Also nur im Unfreien darf hier übernachtet werden? Jetzt sagen Sie, was darf man in dieser europäischen Dreifalt von Schlachthaus, Irrenhaus und Zuchthaus denn eigentlich? Leben verhunzen, was? Natur verhunzen! süße Tiere zermartern! Pöbel züchten! Bosheit mästen! Moralsadismus treiben? Kurz, auf jegliche Art ein Schweinkerl sein: das darf man. Will aber einmal der Arme eine Nacht lang Sterne statt Wanzen über seinem Kopf haben, so heißt ihr das Vagabundage. O eure Lügenworte. Eure schiefgemaulten Lügenworte! Da laufen Asphaltstraßen, rein wie Schnitte an einem Tortenüberguß durch eure glatte Welt. Was hilft's, sind sie allesamt mit bürokretinistischem Sekret überzogen, nur im Härtegrad nach den Ländern wechselnd von Eisenbeton zu fromage de Brie: stinkender, wenn weicher – drückender, wenn härter; lebensundurchlässig alle.

Habt ihr denn so ganz des göttlichen Kontinents, aus dem ihr kamt, vergessen? Seine jahrelangen Straßen sind staubig und trockenen Büffelmistes voll, der in die Augen brennt. Über diesen Büffelmist aber schreiten mit Mantel und Schale Hunderttausende in die Vergottung hinein – frei und unbefragt. Hier an dem weißen Rand ins Nirvana tut jeder das herrlich züchtende Joch der Kaste von sich ab, das ihn herangeleitet, steigt aus der tiefen Farbenmulde seiner Art und verbrennt zu Gott, wandernd im Anhauch dieser freien Straßen.«

»Sie gehen jetzt mit,« sagte das Triefauge des Gesetzes, noch uneins, ob das mit dem Büffelmist Amtsehrenbeleidigung oder nicht.

Im Polizeigebäude hingen an verwanzten Wänden schwachsinnige Zettel in Rahmen umher: »wir wollen helfen, nicht strafen« – »nach eignem Sinne leben ist gemein« und ähnlicher Fibelschund.

Daß er Seidenwäsche aber keine Stiefel trug, rettete die Situation. Auch das Pfingstfest.

»Nun ja, der Feiertag! total besoffen eben – aber sonst ein feiner Herr.« So ließ man den kuriosen Fang nach Abnahme seiner Personalien gehen, machte ihn aber auf die Folgen eventueller doloser Irreführung der Behörden aufmerksam.

Europa hatte nur eben probeweise ein paar Maschen ihres Jusgarns ein bißchen um ihn zugezogen, so zum Spaß, nur um zu zeigen, was sie alles konnte. Ließ ihn dann wieder laufen, – weiter in gesenktem Netz, das über die klebriggespannte Ballonhaut dieser ganzen aufgetriebenen Welt schleppte.

Seit der »Hosenrock«-Episode begriff er mit eins den Geldkrampf aller. Ihre schlotternde Angst. Das an eignem oder Andrer Geld Kleben, hemmungslos, zum Gemeinsten bereit, aber nur mitschwimmen dürfen im Oberflächenhäutchen, sich mit Dreck dort anpappen – oh, alles – nur nicht heruntergestürzt werden zu diesem aus seinem stinkenden Brodem aufschnappenden Mob.

Schicksal eines Beutetiers war Adel und Wohltat dagegen.

Hier hieß arm sein ja nicht in veredelnde Einsamkeit wandern, mit vollkommenen Tieren frei durch Flur und Licht spielen, die Diademgestirnte zur Genossin haben, bei Ganapati Sastriar hocken, mit dem Schikari schweifen, im sanften Gewimmel blauer Kulis unbelästigt leben oder sterben, unbeschnüffelt von der taktlosen Tyrannei behördlichen Humanitätsschnauzentums.

Ging es einem Hindu schlecht, umgab ihn immer noch Distinktion der Gebärde, Zartsinn, Niveau der Kaste, durch die das Individuum mehr – schon, dem Typus nach mehr ist – als es aus sich selbst zu sein vermöchte. Arm sein hieß daher nur: Form der Gesittung tauschen.

In Europa aber hieß es, dank diesem sadistischen Wohnzwang, wirklich in der Hölle sein: bis zum Tod eingesperrt leben mit Roheit, Bosheit, Intoleranz und Gekeif, umlauert von hämischer Neugier. Hieß statt süßer Kinder falschgeworfene, verzogene, grölende Mißgeburten haben, hingesudelt im Fuseldunst, denn nie könnten klare Sinne den Ekel vor erotisch so ungepflegten Weibern, wie sie dem Armen hier einzig zur Verfügung stehen, überwinden.

Hier ohne Geld sein, hieß also für einen Menschen von nur durchschnittlichem Feingefühl: Selbstmord. Nicht der Entbehrungen der Armut, des Niveaus der Mitarmen wegen. Denn so etwas wie einen entrassten europäischen Mob, das hat ja die Welt noch nicht gesehen, hat es nie und nirgends noch gegeben! Lag es an Löhnen? Lebenshaltung? Keine Spur. Gab doch das Volk hier nebenbei für Alkohol und Tabak täglich mehr aus, als ein Chinese für den Unterhalt einer ganzen Woche. Der kroch morgens aus seinem Kanalloch, eine halbzerkaute Ratte zwischen den Zähnen, und war doch ein Wesen, an Courtoisie und Herzenshaltung von den Höchsten seiner Rasse, einem Li-Hung Tschang etwa, nicht gar zu sehr verschieden, übte wie sie die Selbstzucht eines komplizierten Zeremoniells, lebte wie sie das »Buch der Riten« und die »Religion des guten Bürgers«. Lag es an psychischer Qual? Beweis, daß diese europäische Masse nicht wirklich litt, war ihre Taktlosigkeit: erste Frucht des Leidens ist der Takt.

Eine unbegreifliche latente Bosheit bildete hier durch alle Schichten hindurch Knoten, um gelegentlich an der Stelle geringsten Widerstandes durchzubrechen: dem Sehen.

Aber warum sahen sie nicht? Warum waren alle am hellsten Sinn verkümmert, aus dem die Liebe erfließt und die Vision? Konnten Hose von Rock nicht unterscheiden, echt von unecht, Kunst von Kitsch, fielen und legten einander rastlos wechselseitig optisch herein.

Gargi, die nie Fragende, hatte einmal schüchtern gemutmaßt.

»Ist es ein Gelübde?«

Meinte den ersten Backenzahn, den die meisten golden trugen, neben vorderen Porzellankronen.

Nein, sie glaubten eben, man sehe das nicht, weil der Zahnarzt, der auch nicht sah, es beteuerte. Ein Blick hätte das Gegenteil erwiesen, aber es war eben kein Blick da. Anfangs konnte er in Paris immer wieder über die schleierlose Roheit erschrecken, mit der Menschen in Sehweite übereinander medisierten, vermeinend, das merke sich nicht, außer Hörweite zu sein genüge. Lang hatte er gebraucht, um an solch optische Verstumpfung faktisch glauben zu können. Alles was die Europäer in ihrer Biologie von den niedren Tieren behaupteten, war wirklich ganz richtig – auf die Behaupter selbst angewendet. Reagierten auch so automatisch mechanistisch, wie sie es den Amöben zuschrieben; auch ihre Fundstelle (das Heim) der einzig völlig reizlose Ort, wo sie ihr Futter fanden.

Hing mit dem flächlichen, oberflächlichen Sehen nicht auch die Überschätzung des »Malerischen« hier zusammen? Welt der niederen Tiere, die sich in verschieden belichtete Flecke auflöst; noch nicht aufgestiegen in die dritte Dimension. Daher vor allem der Hang ihrer überkleideten konturscheuen Weibchen zur palettenumschweinzten Aura. Dieser ewige Kunstschwatz und das in Bilderausstellungen-Rennen der Europäerin, was sie gar nichts anging, statt was sie unmittelbar angehen sollte zu beherrschen: die Raumschöpfung des Heims. – Schaukraft fehlte eben: Durchschauung des dreifältig Gefügten: Architektur.

Ja, die Überschätzung des »Malerischen« lebte von zerronnenen Weibern.

Nur konturreine Maschinen waren hier auch zu würdigen Behausungen gelangt. Er hatte sich die modernsten Architekturwerke kommen lassen, da herrliche Bahnhöfe, Silos, Fabriken, Betriebsstätten gefunden, dabei gedacht:

»Wäre ich eine Turbine, ließe ich mir mein Heim von Behrens einrichten.« Auch Rösser und Exkremente hatten es gut. Ställe und Kanäle gelangen manchmal wunderbar. Nur Menschenheime im Sinn und Rang des Hauses Elcho fehlten, denn es fehlten die Menschen dazu. Langsam begann er die Leistung seiner Mutter zu begreifen. Diese jahrelange, zähe, unbeirrbare Treue zum Ideal. Das einzig im höchsten Sinne europäische Heim war am Herzen des Dschungels erschaffen worden.

Welche Selbstverlöschung, ihn in diesem Werk Europa anbeten zu lassen, statt sie. Wie weise lang hatte sie ihm die sprühenden Sporen dieser Illusion bewahrt, die ihn hinaufgebäumt aus goldner Sinnenmulde in die herbe Kraft lotrechter Geistigkeit.

Langsam drehte sich die ganze Kuppel an seiner Jugend Wunderbau in einen neuen Aspekt hinein. Manche Absicht klärte sich, überraschend gelöst – mehr noch blieb vieldeutig, doch war er ohne Ungeduld. Zog wie auf Wolken über diesen Kontinent dahin, unangreifbar in seinem Kraftfeld: fern, stark und unberührt als ein Schauender.

Seit der Hosenrock-Episode schnitt er Dallmeyer. Schämte sich zu sehr für ihn. Saß denn bei so einem kastenlosen, durch ewige Bastardierung Entzüchteten keine einzige Hemmung, keine einzige Qualität mehr generationenfest? Hatte man so einen Mischkerl allein, war er meist ganz leicht besserem Niveau zugänglich, schon seiner affenartigen Charakterlosigkeit wegen, mimte unter der Hypnose eines Vornehmeren Verständnis ohne Heuchelei, um sich dann, bei der ersten Probe, fiel Einzelverantwortung weg, der Masse: »dem Vieh ohne Großhirn« gleich zu benehmen. Das erklärte dieser furchtbaren Vibrionen der Verpöbelung Virulenz und leichte Übertragbarkeit auf scheinbar Immune. Immer waren eben hier die wichtigsten Dinge einem schauerlichen Zufall, einem schamlosen Ungefähr ausgeliefert. Heiratete man etwa eine Frau, die einem gefiel, wünschte sich gleiche Kinder, krochen vielleicht Wechselbälge aus ihr, nicht von Hexen in der Wiege, von üblen Tanten im Mutterleib vertauscht, weil der Typus nicht feststand, die Frau selbst nur ein freundlicher Zufall war, aus einem qui pro quo gemischter Akzidenz zusammengewürfelt.

Natürlich hatten sie wieder aus ihrer torkelnden Planlosigkeit eine wissenschaftliche Theorie gemacht. Samossy versuchte ihm einmal so einen Humbug mit dem Ahnenverlust einzureden: da das Individuum die Summe aller Eigenschaften und Erfahrungen seiner sämtlichen Vorfahren sei, bedeute jede Inzucht, jeder Vater und Mutter gemeinsame Ahne, eine Verminderung des möglichen Eigenschafts- und Erfahrungskomplexes: Mensch. Je heterogener daher an Stamm, Rasse, Kaste, Blut, Heimat die Vorfahren, desto reicher die Nachkommen.

Da hatte er nicht mehr an sich zu halten vermocht:

»Mein Gott, was für ein Verköterungsschwindel! Auf Stoßkraft und Richtkraft der Erbmassen kommt es doch an, auf Qualität und Intensität, nicht auf einen möglichst hohen Kehrichthaufen von Anlagen und Erfahrungen, die, wenn nicht gleichgerichtet wie Eisenfeilspäne im magnetischen Feld, einander hemmen, schwächen, aufheben, und das Endglied ist dann schließlich nichts als eine ganz volle Null. Bei euren Pferden und Hunden wißt ihr doch recht gut, worauf es ankommt, wollt ihr hohe Geldpreise gewinnen aus gezüchteter Form und Leistung. Höchstens, daß fremdes Blut bei gleicher Kaste möglicherweise vielseitige und doch gleichgerichtete Erbmassen ergibt.«

Samossy hatte langsam das hilflos verschrobene Schülergesicht bekommen, wieherte dann wie erwachend manisch in der Fistel:

»Vorfahren, was Vorfahren! Der einzig vernünftige Fundort der Spezies Mensch ist doch die Drehlade. In einem Findelhaus aufwachsen!«

Dann schadenfroh geduckt sein Unvermitteltes:

»Man muß vom Weibe loskommen.«

Horus gedachte Lizzi Beermanns, der Raeburn girls, Margots; ihrer weihelos beschnupperten und doch versperrten Körper, jahrelang saumseligen Reflektanten von trägen Müttern hingeködert:

»Eltern haben ist ja höchstwahrscheinlich ein Unglück,« bemerkte er, »keine haben aber ganz bestimmt eins. Auch soll ja das Heim eine Art Placenta für das geborene Kind bedeuten.«

Sagte es eigentlich vorbei an dem hohen Vierziger da, dem Kinderlosen; dieser Frage Brennen wohl zwiefach Fernen. Hatte er überhaupt Anverwandte? Wer stand ihm nahe? Wer war ihm Freund? Fachfeinde überall. Blieb das Weibstück mit dem Kettenarmband sein einzig menschlicher Verkehr? Vor Gargis Erscheinung wurde er linkisch, voll gereizten Unbehagens. Wußte mit ihr so wenig anzufangen wie ein Mandrill mit einer Kamee. Da frug Krause eines Tages aus kondolenzbeflissenen Mundwinkeln:

»Wie geht es Ihrem Vater?«

Samossy machte eine frivol hoffnungslose Geste:

»Von Tag zu Tag besser.«

Krause, mit verkniffenem Zwicker, bekundete Freude. Man habe Fälle gesehen, wo Wassersucht jahrelang fast stationär geblieben … Das Geschäftsjubiläum würde also doch in der elterlichen Villa gefeiert. Und Horus erfuhr, daß dieser Vater Gründer einer seit fünfzig Jahren bestehenden Kattunfabrik und offenbar sehr wohlhabend war. Er gedachte jenes Armschwunges zwischen Abort und Küchengeruch: »wohlbestallter Professor? Das ist der Stall, den ich mir leisten kann.«

Nun kam polternd und verlegen auch an ihn die Einladung zu dieser Feier im Vaterhaus.

»Man hat dort schon so viel von Ihnen gehört« – dann halb entschuldigend: »nicht durch mich.«

Er lauerte, schülerhaft geniert, gelangweilt und wieder ängstlich um ein Ja. Schlug, als er es hatte, sein zerfahrenes Gewieher an und empfahl sich.

Der Mann war unberechenbar. Doch machte das den Verkehr nur ermüdender, nicht reicher, ließ nie schöpferische Kontinuität der Stimmung sich entwickeln, es sei denn in seinem engsten Fach.

 

Man stand leer umher in der großen Backsteinvilla. Wartete auf das Jubiläumsessen.

Manchmal beklopfte ein zugereister Geschäftsfreund, geneigten Ohres, mit dem Zeigefingerknöchel prüfend den bronzenen »Lauscher« in der Ecke auf Metallstärke hin, oder versuchte Signaturen unter Ölbildern zu entziffern. Niemand saß. Unverrückbare Fauteuilarrangements hinter Tischen waren von vornherein dagegen, nur zwei Rollstühle an den Salonenden, um die wechselnde Gruppen sich stauten, schienen besetzt.

In dem einen ragte ein riesiger Greis aus Stein und Wasser.

Die Beine, zu Blöcken geschwollen, trugen flach auf den Knien violette Hände, schwer wie Porphyr. Bis an die Hüften war er zu einem mit Wasser gefüllten Sarkophag geschlossen. Darüber kämpfte das harte alte Bauernherz zäh um jeden Zentimeter Leben gegen das innere Ertrinken an. Ganz oben, aus blutigem Blauauge troff schon immer ein wenig Feuchtigkeit über, sickerte die fahlen Wangenfalten herab. Er biß in seinen weißen Bart vor barbarischem Starrsinn: da sein, nur da sein. Fuhr manchmal aus den schauerlichen Vorgängen in sich auf, zu wahnwitziger Eitelkeit über die eigne Zähe. Sah allen der Reihe nach in die Augen, trotzig, lauernd, wie ein erliegender Gladiator, im Gefühl drohend gesenkter Daumen ringsum.

War er vor Lebenswut hellhörig geworden an den schweren Birnenohren?

Seine blutigen Blauaugen drohten leuchtend hinüber zu dem andern Rollstuhl am Ende des Saales.

»Oh, er ist schon kalt bis zu den Knieen,« schmunzelte die greise Frau mit ruhiger Genugtuung Horus Elcho zu.

Ein goldnes Kettenarmband klirrte erledigend an der ganz verkrümmten Hand. Der restliche Körper hing: ein gerunzelter Strick, an den Enden mit Gicht verknotet, im Sessel. Hinter ihr stand ein erloschener Mensch mit geduckten Augen: der zweite Sohn und nunmehr Inhaber der Fabrik. Ihm schien auch die zerpatschte Frau daneben mit den drei kleinen Kindern anzugehören. Das älteste, einen schweren Bleichkopf im Phantasie-Matrosenkostüm aus Satin, hielt sie zwischen den Schenkeln aufgepflanzt, memorierte angstvoll etwas Gereimtes mit ihm und es zupfte an seinen Nagelwurzeln. Jetzt hatte es zu tief geschält, heimlich wischte der blutende Finger über den weißen Seidenschlips.

Nun trollte sich Oskar Samossy, fast ebenso verdonnert wie das satinene Kind, hinter den Greis aus Stein und Wasser. Und beide Brüder schoben die elterlichen Rollstühle an die Têten der Speisezimmertafel.

Drei Menüs wurden gereicht – nacheinander. Das erste wie es der Gründer der Fabrik anfangs gehabt: dicke Suppe, Erbswurst, Käse. Dazu Bier. Beim zweiten, dem fünfundzwanzigjährigen Bestand entsprechend, erschien schon Fisch, Kalbsbraten mit Salat und eine süße Speise. Dazu leichter Mosel. Das dritte endlich zeigte voll und ganz, was man sich der heutigen Bilanz entsprechend leisten konnte, durfte und sollte. Begann mit Austern und wollte schier kein Ende nehmen an primeurs und durablen Weinen. Vom sechsten Gang mit Champagner aufwärts, stand immer jemand auf, der nicht stehen konnte, und sprach, ohne sprechen zu können: etwas, das man sich wohl würdig, witzig oder feierlich zu denken hatte. Manchmal wurde dazwischen »hoch« geschrien, manchmal nur am Ende. Männer erhoben sich dabei halb. Frauen saßen ganz da; schienen einzig und ausschließlich zum Sitzvorgang geschaffen. Die Schwüle stieg. Eine Dame lüftete ihr Kollier.

»Perlen machen so heiß, besonders echte.«

Eben schloß ein Stehender:

»Nichts lobenswerter am Manne als recht reinliche Triebfedern.«

Über die Enden des Beifalls weg schnatterte es aus einer arroganten kleinen Person laut in ihren Tischherrn hinein:

»Und denn is mal so'n schmieriger kleiner Jude gekommen und hat gefragt, ob ich ihn heiraten will. Waschen Sie sich erst, hab' ich ihm gesagt. Na, sehen Sie, dort sitzt er – das ist mein Mann.«

Der riesige Greis aus Stein und Wasser war unterdessen wieder ganz in die schauerlichen Vorgänge seines Inneren versunken, wies mit Grauen alles Getränk weit ab, würgte nur ein wenig Kaviar auf Zwieback hinunter, lauerte ihm schweigend nach. Langsam stieg Triumph in den blutigen Blaublick. Dann aber trieb die aufdrängende Flüssigkeitssäule das Kaviarbrötchen aus dem erstorbenen Magen in den Schlund zurück. Triumph im Aug' oben zerfiel. Der Hausarzt näherte sich rasch – eben jener Mann, den die arrogante junge Person zu ihrem Gatten reduziert – öffnete ihm rasch das Frackhemd, bohrte eine Spritze mit irgend etwas: Kampfer oder Theobromin dem Aufstöhnenden unter die lederzähe Haut. Dunst, Schnaps und Schwatz hatten den Vorgang nahezu vernebelt.

Eben stand Dallmeyer da, spann aus seinem Bart heraus einen Phrasenstrang über das dreifache Festessen hin: wie der verehrte Gastgeber hier, erfolgreicher Mann der Arbeit, Leuchte modernen Handelsgeistes, unentwegt die Fahne des Idealismus hochgehalten, und wiewohl selbst geistig und körperlich noch ungebrochen – als zärtlichster Vater dem einen Sohn den Fruchtgenuß seiner Lebensarbeit überlassen: dem Nachfolger solcherart in selbstloser Weise ein frei fröhliches Schaffen aus dem Vollen gönnend, seinen Erstgeborenen hinwiederum auf das Großzügigste der hehren Forschung geweiht habe, gleichsam mit dem Öl seiner Bilanzen das reine Licht der Wissenschaft speisend. Und Dallmeyer schloß mit einem »Hoch« auf seinen genialen Kollegen und der Hoffnung, daß dessen epochaler Bedeutung – in engstem Kreise längst neidlos anerkannt – endlich auch offiziell die verdiente Sanktion durch ein Ordinariat und Aufnahme in die geweihten Hallen der Akademie zuteil werden möge.

Samossy sah ihn an und er verschluckte sich.

Der greise Riese war unterdessen an der Injektion aufgelebt, stieg aus seinen Gebresten wieder empor, diesmal in eine Art erzieherischen Tropenkollers. Schüttelte herrisch das Haupt bei der Wendung vom »Fruchtgenuß« und »Gönnen aus dem Vollen«:

»Sind froh, wenn sie trocken Brot haben.«

Er sah gerührt über die eigne Härte auf die Familie seines Nachfolgers, wie feindliche Erwachsene auf ein gedemütigtes Kind blicken. Und dann hub dieser Memnonsblock auf einmal an in greisenhafter Geschwätzigkeit zu tönen:

»Ja, der Idealismus« – er konnte nur gradaus sprechen, doch galt es wohl Horus Elcho, dem exotischen Ehrengast an seiner Seite – »und dann immer möglichst billig kaufen und teuer verkaufen, das habe er den Jungens von früh gepredigt. Aber der Idealismus, der sei ihnen direkt eingebläut worden, fast von der Wiege an. Schon im vierten Jahr habe der Oskar die längsten Schillerschen Gedichte auswendig heruntersagen müssen, wo es besonders edel zuging: die Bürgschaft, den Drachenkampf, den Taucher. Ein einziges Steckenbleiben und er habe ihn jämmerlich durchgehauen.

Das Lied an die Freude, das konnte er sich lang halt gar nicht merken.« Der Greis lebte in Erinnerungen auf.

»Da durfte er schon gar keine Hosen mehr dabei anhaben, drei spanische Rohre sind für dieses einzige Gedicht draufgegangen. Mit fünf Jahren konnte er dann auch schon die ganze Glocke. Eine vorzügliche Schulung fürs Gedächtnis nebenbei, weil ja der Oskar ein berühmter Gelehrter werden sollte, so habe er es schon bei der Geburt bestimmt. Leider sei ja nur Mathematik draus geworden, darauf gebe er nicht viel, das entziehe sich seiner Kontrolle. Chemie, große Erfindungen wären besser gewesen. Philologie und so, das habe er von vornherein verboten.« Der Greis hielt nichts von klassischer Bildung:

»Siebzig–Einundsiebzig war doch viel blutiger,« sagte er mit Tränen des Stolzes im Aug'.

»Wozu Griechen und Römer, wozu immer noch diese Lappalien bei Homer lesen, das kann man ja gar nicht vergleichen mit unsern modernen Schlachten.«

Zu Ende des dritten Menüs wurde das satinene Kind vor den Großvater aufgestellt, reichte linkisch eine Rolle hin, die in zackichte Papierspitzen auslief: Glückwunsch stand vorn in verzitterter, übergroßer Schülerkalligraphie.

»Gradstehen,« flüsterte die zerpatschte Frau.

Nun begann es, Nagelwurzeln zupfend, den Hymnus: »An die Freude« aufzusagen. Angst rann ihm die Beine hinab unter dem blaublutigen Tyrannenblick des Alten. Einmal stotterte es, stockte ganz. Gierige Härte trat lauernd in das alte Steingesicht dort oben, gleichzeitig hob drüben die greise Gattin im Rollstuhl ihren Krückstock, als wolle sie ihn dem Manne hinüberreichen, dabei klirrte das goldne Kettenarmband, und sie schob es die ganz vergichtete Hand auf und ab. Es war nur ein Augenblick gewesen, wie aus uralter Gewohnheit heraus. Dann schrak sie zur Wirklichkeit zurück: ein Enkel – große Gesellschaft! Auch ratschte das satinene Kind schon wieder weiter. Horus aber hatte diese Sekunde lang, inmitten der Tafel zwischen den Rollstühlen, Oskar Samossys Gesicht geschaut: das Gleiche wie damals, als Schillers Name zum erstenmal zufällig fiel: ein ganz kindischer Knoten hilflos diabolischen Hasses und doch vager Süchtigkeit voll.

Es war entsetzlich. Schamlos und beschämend. Der Goldäugige ließ eine Gabel fallen, bückte sich weg, tauchte fort aus dem Augenblick, bis die Gesichter oben wieder neu geworden waren. Hatte begriffen.

Gleich nach aufgehobener Tafel wollte er gehen. Im Rauchzimmer hielt ihn Dallmeyer an, vor öliger Schnapssüße hemmungslos:

»Was hat der alte Gauner gemurmelt, wie ich das mit dem ›zärtlichsten Vater‹ und ›Schöpfen aus dem Vollen‹ gesagt habe, Sie saßen ja neben ihm?«

»Etwas recht Unverständliches. Klang wie: ›sind froh, wenn sie trocken Brot haben‹.«

Dallmeyer quetschte die Importen im Kistchen der Reihe nach wählerisch durch:

»Recht verständlich für den Eingeweihten, Verehrtester. Der Schnorrer von Sohn hat wirklich nicht Brot auf Hosen. Die Butter vom Brot hat sich der Alte selber reserviert; ihm das Inventar viel zu teuer angehängt, vorher fast das ganze Betriebskapital aus dem Geschäft herausgezogen, schließlich sich noch ein skandalös hohes Fixum jährlich ausbedungen, so daß der Nachfolger seit Übernahme der Fabrik abhängiger von ihm ist als je zuvor. Ab und zu, wenn er ihn die Kinder durchhauen läßt, darf er sich für sechs Hemden Kattun aus dem eignen Betrieb nehmen.«

»Warum ist der Sohn auf solche Bedingungen eingegangen?«

»Weil er ihn erst ein Leben lang mit dieser Nachfolgerschaft hingehalten, ihn verhindert hat, sich rechtzeitig eine andre Existenz zu gründen. Soll er jetzt mit fünfundvierzig und drei kleinen Kindern in der Fremde von vorn anfangen? Überdies droht dann noch Enterbung. Schließlich hat er sich gedacht: ein jährliches Fixum bei der Wassersucht? Warum nicht? Aber das alte Luder ist ja zählebig wie ein Krokodil.

Den meschuggenen Oskar hat er wieder anders am Hosenbund. Nährte in ihm von früh auf die Illusion, der väterliche Wohlstand gestatte es ihm, sich ohne Rücksicht auf den Mammon einer reinen Gelehrtenlaufbahn zu widmen, die ja auch der Ehrsucht des Alten schmeichelt. Jetzt läßt er ihn täglich seine Abhängigkeit fühlen, gibt ihm Taschengeld wie einem Primaner. Dabei – haben Sie bemerkt – grüßen sich die Brüder kaum, weil der Alte den einen immer glauben macht, er setze ihn auf den Pflichtteil zugunsten des andern. Famose Deckung übrigens, dieser Enterbungsschwindel für unsern Primzahler, um von seinem Frauenzimmer nicht zum Altar geschleppt zu werden. Die hütet sich jetzt, ehe der Sarg des Alten nicht zweimal abgesperrt und der Schlüssel an ihrem Kettenarmband hängt – neben meinem verehrten Kollegen von der vierten Dimension, der schon lang dort zappelt. Betamte Goite.«

Dallmeyer war stolz auf jeden neuen Jargonausdruck, den niemand verstand.

»Warum handelt dieser Greis eigentlich so bestialisch an seinen Kindern?«

»Bestialisch? Der hält das für Ethik, Reckentum und Idealismus, und sich für ein musterhaftes Familienoberhaupt alten Schlages. Edelpatriarch: vor Weisheit streng, schirmt in verrotteten Zeitläuften Zucht und Sitte. Rauhe Schale, nobler Kern … eh schon wissen. Jede Schäbigkeit geschieht aus Pflichtgefühl, denn er ist noch eitler als er geizig ist; Bauernklotz mit Schillerphrasen. Immer abwechselnd stolz und neidisch, daß es seine Söhne besser haben sollen als er.«

Dallmeyer leerte noch einen Likör und steckte eine frische Importe an. Horus staunte über solch ungewohnten Geist. Was Dallmeyer sprach, war immer teils klug, teils albern: klug was er über andre, albern was er selber meinte.

Man verabschiedete sich vom Herrn des Hauses. Dallmeyer wieder ganz Biederkeit, hielt eine lockichte Rede, schloß mit der Hoffnung, man werde sich in diesen gastlichen Räumen noch zum seltenen Fest der diamantenen Hochzeit treffen.

Der Greis aus Stein und Wasser schüttelte stiller Genugtuung voll das Haupt, dann mit erledigender Geste hinüber zu der Greisin zwischen Gichtknoten:

»Oh, sie ist schon kalt bis zu den Knien.«

Oben troff wieder ein wenig Feuchtigkeit aus dem Auge über, sickerte die fahlen Wangenfalten hinab.

Es war das Letzte, was Horus Elcho von ihm sah. Eine Woche später schoß Oskar Samossy eines Abends aus der Telephonzelle des Cafés. Schrie auf nach einem Auto, er, der fanatische Renner.

Wie damals auf der Straße frug Krause:

»Wie geht es Ihrem Vater?«

»Mein Vater stirbt.« Dann schlotternd: »Er darf nicht sterben, sonst bin ich verloren.«

Nichts glich der frivol hoffnungslosen Geste damals: »Von Tag zu Tag besser.«

Am nächsten Morgen fuhren Elchos nach England zu Sir Osmond und Lady Cadogan.

 

Sie gingen im milchblauen englischen Juli auf den Waldwiesen des Hydepark. Die milde Riesenaue gepflegter Freiheit um sie schien angenehm leer zu blühen, und barg noch vielerlei Leben. Ab und zu am Horizont, auf einem Sessel, steht ein Herr mit verdorrtem Zylinder und redet, um ihn die Scheibe der Horcher. Einer erläutert das Gesundbeten – dem andern dünkt es im Patentamt faul. Der Schatzkanzler läßt sich zu oft photographieren, und regiert wird man schon miserabel. Unbelästigt aber weiden die Schafe ringsum, und zwischendurch führt die Hundheit ein ganz glückseliges Leben für sich. Jeder darf sprechen. Keiner muß zuhören. Niemand ist an der Leine. Nicht einmal der Mensch. Vor dem Schilderhaus steht, siegellackrot, ein Mann der Garde. Das prachtvoll überflüssige Geschöpf trägt einen ausgestopften Bison auf dem Kopf, eine Sperrkette vor dem Gesicht, Edelmetall an der Leber und starrt von Gerät, vermutlich erbeutet in der Schlacht bei Hastings. Der praktisch Denkende hat das Gefühl: man kann den Mann ruhig mit einem Taschenmesser langsam abschneiden, er ist ganz wehrlos vor Uniformierung. Aber schade drum.

Plötzlich ließ es Gargi wie Schwalbenflügel über ihre Augen stürzen, sah zur Seite und begann zu laufen … Er lachte:

»Keine Angst. Gar nicht so arg, mein Nervifein!«

Es waren die harmlosen vier dorischen Säulen am serpentine lake. Sie hatte sich gewöhnt, drohten irgendwo Säulen, gar nicht erst hinsehen, rasch die Wimpern gesenkt und laufen. Denn wie an fein und freistehender Persönlichkeit geringer Fehl bereits schwerer erträglich ist, so ließ Gestörtes an diesen empfindlichsten Baugliedern: den Säulen – eine zu tief sitzende Entasis etwa – ihr schon das Blut im Becken stocken. Beiläufig hatten sie erfahren, daß, um dieses Resultat zu erreichen, auf jeder Akademie vier Semester lang die moduli aller Säulenordnungen durchzuzeichnen obligatorisch war. Nun, diese da wirkten wenigstens nicht aggressiv. Das meiste schien ja relativ harmloser hier. Nie so schlecht, wie das schlechteste in Paris, nie so gut wie bestes in Deutschland. Entweder die Architekten hatten zu keiner Zeit ganz übel gehaust oder ein klimatischer Überzug: dämpfende Berußung, verschmolz brutales Gebäu, beließ seinem Detail die Wohltat des Zweifels, seinem Kontur dauernd die Vorteile der Dämmerung, indes der Beschauer sich animalisch der Sonne freute und der vielen Wiesenzungen, die in der Stadt umherleckten, mit Schafen, Teichen und Blumen obendrauf.

Kurz, man konnte wieder ein wenig um sich schauen, wenn auch lieber ungenau.

» At His Majesties« – in Coventgarden – im »Globe« saßen sie in einem Parkett von Leuten, die glichen Göttern, nein – Gipsabgüssen von Göttern, saßen an festlichen Tafeln neben der erfreulich lotrecht stilisierten Dame des Hauses, wenn sie auf den Schwingen ihrer Anmut über den Abgrund ihrer Interesselosigkeit hinwegglitt.

In Wroxton Abbey, Sir Osmonds Landsitz, hätten sie sich, über ein weekend, beinahe in einen entzückenden Jüngling verliebt, der an Höhe, Schlanke, Weiße dem »Elf von einem großen Stern« ganz leise glich. Die kühnen Beine in rostfarbenen breeches, blond gegen die feurigen Tulpen ringsum, schritt er die Terrasse hinab, auf der Eichkätzchen von der Farbe seines homespun spielten. Sah in die jubelnde Frühe hinauf, über die zwitschernden Büsche der Wieseninsel hin und sagte … ja was sagte da dieser vornehme Ephebe, angestrahlt von der Glorie der Welt, wie feierte er das Fest des Daseins? Was empfand er? Sie horchten gespannt! Er sagte:

» What a fine day, lets go out and kill something«.

Andern Morgens: des Sonntags dozierte ein schwarzrockiger Engländer aus einem dicken schwarzen Buch:

»Eure Furcht und Schrecken sei über alle Tiere auf Erden und über alle Vögel über dem Himmel.«

An diesem Morgen hatte man sich zwei Stunden lang in ein kellerkaltes Backsteingehäuse von zweckloser Nüchternheit gesetzt. Kern der fanatischen und eisigen Vorgänge dort war ein für seinen Gliederbau fremdgekleideter Engländer, der zweitausend Jahr alte obskure Familienangelegenheiten einer kleinen semitischen Horde zu denen der Menschheit zu machen vorgab. Er donnerte Gebote aus seinem schwarzen Buch in die Anwesenden hinein, dessen ungeschlachten Ton Horus sofort wiedererkannte. Also auch hier? Wie kam dieser besseren Kreisen Angehörige dazu, auf einmal vor Damen so zu reden:

»Laß dich nicht gelüsten deines Nächsten Weibes … noch seines Ochsen, noch seines Esels, noch alles was dein Nächster hat.«

Gargi machte eine Gebärde, sich zu entfernen, bittend rührte er an ihr Kleid. Sah sich um. Keine Dame wahrte Selbstachtung: ging demonstrativ. Lady Eveline allerdings schien eingenickt; bis drei Uhr früh waren zwei gewöhnliche Spirits und ein Boddhisatwa in ihrem Tisch gesessen. Auch andre mochten nicht ganz klaren Sinnes sein, der durchtanzten Nacht wegen. Dieser seinem Körperbau so fremdgekleidete Angelsache dort oben aber hatte doch sicher irgendeine humanistische Schule besucht, vielleicht sogar die Universität. Dennoch sprach er vom Privatfetischismus jener fernen Barbarentribus wie dazugehörig. Wußte offenbar jeden Tag genau, was der »Herr« wollte und was er nicht wollte. Behauptete, daß die Tiere keine Seele hätten, wandte sich gegen den Götzendienst der »Heiden«, der dem Herrn ein Greuel sei, und empfahl seinen Zuhörern, rastlos Missionare auszurüsten, um ihre Seelen vor der ewigen Verdammnis zu retten. Also immer noch die alte Arroganz aus Ignoranz! Vor dieser Verdammnis aber schienen nicht einmal jene ganz sicher, die Vater und Sohn in den Gebäuden mit den geschraubten Säulen dienten; nur in den Backsteingehäusen mit gar nichts drin war man, nach des Schwätzenden Versicherung, vor der Hölle so gut wie geborgen. Sein Gesicht: dieses starkknochige, nüchtern anständige matter of fact Gesicht, bekam einen unbeschreiblichen Ausdruck innen harter, außen geölter Verschrobenheit.

Lieder, die alle mitsangen, waren inhaltlich ungefähr der Predigt gleich. Und diese erfreulich weltgültig lebenden Menschen, an Wochentagen von allen Kulturen der Erde umspült, leierten nun zweitausend Jahre alten jüdischen, von Juden doch selbst verschmähten Nonsens nach.

Als alles vorbei war, schienen sie unsäglich befriedigt, sich zwei Stunden lang unbehaglich gefühlt zu haben, vermieden aber, über das Vorgefallene zu sprechen und so sprach auch er nicht über diesen, der restlichen Lebensführung fremden Zwischenfall. Vielleicht war es heuer wieder Mode, gleich dem Humpelrock oder Gecco Pintaccio, von dessen flammichten Skeletten unter braunen Teetassenaugen Dr. Hafis die ganze Saison in Konferenzen himmelte, als sei alle Kunst vor und nachher Affenschande. War heuer vielleicht sogar Polizeiverordnung, dieser Sonntagsvormittagsbrauch? Hatte Dallmeyer nicht etwas von Konfession und Karriere gesagt? Diese Europäer legten sich ja unbegreifliche Zwänge auf. Durften sie in einer Sommernacht nicht unter Sternen schlafen, warum sollten sie es nicht einmal in der Woche, vormittag von neun bis elf in einem kalten Backsteingehäuse müssen? In Piccadilly war er Hazel Raeburn begegnet, einen verkehrten Brotkorb mit Bindbändern unterm Kinn, die große Trommel schlagend und in einem Zug Gleichgekleideter durch London marschierend. Alle gellten im Falsett etwas hinaus. Verse:

»O Herre nimm mich Hund beim Ohr,
Wirf mir den Gnadenknochen vor
Und schmeiß mich Sündenlümmel
In deinen Freudenhimmel.«

Hazel hatte erklärt, dies spreche am reinsten zu Herz und Seele des niedren Volkes und ziehe es aus stumpfer Verworfenheit ans Licht. Damen der ersten Gesellschaft seien bei der Heilsarmee, und nun ginge sie definitiv anders gekleidet als Gwen. Hier geschah es also eines Blusenschnittes wegen. Kompliziert aber harmlos.

Sonntagnachmittag beim high tea in Wroxton Abbey warf Sir Osmond einen chokierten Blick aus der » Morning post«:

»Furchtbar die Enthüllungen im Parlament über Deutsch-Ostafrika. Diese Greuel an wehrlosen Eingeborenen.«

Man sah einander voll Unwillen tief und edel in die Augen.

»Sind denn Kupferminen gefunden worden?« –

Dr. Hafis, der einzige Deutsche, betrachtete interessiert seine Nägel. »Oder Silber? Richtig, beg your pardon, Kupfer, das war ja bei den Kongogreueln.«

» I do not quite grasp … ich verstehe nicht ganz.« Sir Osmond versteifte sich rosenfarben. Hafis gähnte ein wenig.

»Nun, ich meine das seit fünf Jahrhunderten Übliche: gehört das Land mit dem Kupfer noch Eingebornen, dann erwacht das christlich-angelsächsische Gewissen, und ihr schickt so lange Missionare hin, um ihre Seelen zu retten, bis die armen natives sich schließlich Luft machen; laßt auf diese Art die Greuel an den Missionaren begehen und steckt, um die Missionare zu schützen, das Land mit dem Kupfer ein. Oder das Land mit dem Kupfer ist schon früher von andern Weißen gestohlen worden, dann laßt ihr wieder von diesen andern die Greuel an den Eingebornen begehen und steckt diesmal das Land mit dem Kupfer aus Gewissenhaftigkeit ein, um die Eingeborenen zu schützen. Als es aber Gold war, da mußten dreißigtausend wehrlose Burenfrauen und Kinder dran glauben – an euer Gewissen.«

»In Südafrika ist auch die Blüte Englands gefallen.«

»Ohne jedoch die rechtmäßigen Besitzer des Landes besiegen zu können. Da machtet ihr sie mürbe, indem ihr die Frauen und Kinder von den Farmen fingt, in verseuchte Konzentrationslager pferchtet und die Totenlisten jeden Tag den Gegnern in die Schützengräben schicktet. Nach dem dreißigsten Tausend gaben's dann die Buren auf, gegen ein so mächtiges Gewissen anzukämpfen.«

Mit allen war jetzt eine wunderbare Wandlung vorgegangen. Sir Osmond sah direkt verklärt aus:

»Wir hatten eben die moralische und religiöse Pflicht, uns der verlassenen Frauen und Kinder auf den Farmen anzunehmen. Dort mit der schwarzen Dienerschaft allein, wie leicht hätten Ungehörigkeiten – ja unsittliche Attentate vorkommen können. Darum wollte sie die englische Regierung in ihrem eignen Schutz wissen.«

»Und das gründlich – im Grab.«

Dann aber gab Hafis es auf. Da war nicht anzukommen gegen die Pathologie tugendsamer Litanei ringsum. Alle glichen mit Eins dem Schwarzrockigen am Morgen. Auch Sir Osmonds anständiges matter of fact Gesicht hatte den gleichen, unbeschreiblichen Ausdruck innen harter, außen öliger Verschrobenheit angenommen. Diese Leute waren unbesiegbar durch eine Art, statt rein und gradaus zu lügen, die Wahrheit aus ihrem ursprünglichen Bett unmerklich in Nebenkanäle abzulenken und so versickern zu lassen.

Die kurze Verzauberung war bereits abgefallen. Auf der Rückfahrt nach London, vorbei an den Kilometern von Lebertran- und Liverpill-Annoncen, die an Pfählen aus dem Grasigen stachen, sah er schon wieder. Auch die seelische Hartleibigkeit dieser Rasse. Ging durch die männlichen Stadtteile, deren Läden Hosenträger beherrschen und der klägliche Kragenknopf: alles dem üblen Mittelstadium der Bekleidung Dienende, sah, wie hölzern die hellbehaarten Hände dieser Männer waren, wie schwer die Kiefer mit stumpfen Zungen. Gut gepflegt wuchs ihr Gebein, abseits vom Geist. Schienen zu riesigen, über die Welt reichenden Verbänden: football, cricket, hockey geschlossen, mit dem fanatischen Ziel, ausschließlich das falsche Körperende zu entwickeln.

Durch die weiblichen Stadtteile, voll allen Narrenkrams der Welt, liefen Streifen wahrer Eleganz, schmal wie Bondstreet. Auf ihnen sah er Damen den Autos entsteigen, schon auf dem Trittbrett, beim ersten Schritt, die Maschen ihrer Seidenstrümpfe zu langen Leitern reißen, und wie sie gingen, neue kaufen, erneuend ihren mühevollen Liebreiz ohne Rast, in edlem Irrsinn. Sah auch, wie schmal der Streifen ihrer Anmut war. Gipsabgüsse der Vornehmheit auch sie, nicht genial variabel aus innersten Sicherungen heraus. Damen, mehr durch ihr Lassen, als ihr Tun. Feine Röhren weißen Zimtes, duftend ohne Saft. Die breiten Klassen, stolz darauf, urteilslos zu sein, waren ja reich genug, sich nur Weltgültiges kommen zu lassen. Da gab's keine Blamage. Indische Dichter als Nobelpreisträger, alles, was große goldne Medaillen hatte: Gelehrte, Meisterboxer, Poloponies. Applaudierten frenetisch fremdartigen Wellenzügen rings um das harte Ohr, wenn sie berühmten Dirigenten unter den beschwörenden Armen aufrauschten. Vor diesem tauben Gejubel konnte Hafis in uferlose Wut geraten, zitierte dann mit Vorliebe Carlyle, der gesagt haben sollte, wie im großen ganzen das englische Publikum mit seiner ansteckenden Begeisterung ihn an nichts so sehr erinnere, wie an die Cadaraner Säue:

»Zuerst wühlen und grunzen sie ruhig und suchen nach Erdnüssen oder andrer Nahrung zu Unterhalt und Sättigung. Dann fährt plötzlich der Teufel in sie, sie werden unruhig, jagen davon und stürzen in einen Abgrund von Raserei, Verwirrung und bodenloser Verstörtheit.« –

Nein, für ihren alten Reichtum waren sie nicht kultiviert genug. Nichts von überwältigender Vollendung. Kein Edelsitz, trotz seiner gehäuften Werte, den ein unbeugsamer Geschmack, glühend bis ins Letzte, ans Licht getrieben. Und doch erschien ihm die Anglomanie als eine Pubertätserscheinung des besseren Continentalen begreiflich. Haderte er von nun ab mit der weißen Rasse, immer wieder wurde sie unmerklich zu diesen hier, denn nur sie waren annähernd weiß und rassig, nur in ihnen war Europäertum zu etwas wie Gestalt geworden, etwas, woran man sich wenigstens halten konnte, war es einem nicht recht.

Auf dem Horst dieser Kalkklippen hatte sich immerhin ein Typus gebildet oder – erhalten, und waren seine Schwingen auch unbegreiflich hölzern, leblos und unbefiedert, hoben sie doch auf ihrer Kraft wie von selbst sogar die unbeträchtliche Persönlichkeit hoch über die eigene Grenze hinaus, wie aus seinem Gestrüpp dem Zaunkönig auf einem tragenden Adler der Aufflug in die Himmel gelingt.

Ende September traf in Wroxton Abbey ein schiefes Gekritzel ein: Samossy meldete der Eltern Tod, erbat sich Horus Elcho zum Trauzeugen. Nannte das Datum. Kein Name. Kein Wort weiter.

 

Er kam am Abend vor der Hochzeit an. Stieg wieder endlos die idiotisch konstruierte Treppe zur alten Wohnung hinauf. Fand sie halb ausgeräumt. Ein Bett aus Bücherkisten improvisiert. Ein Waschbecken voller Kragenknöpfe, die eiserne Kasse offen und mit Schmutzwäsche angestopft. Am Schreibtisch, dem einzigen restlichen Möbel, Oskar Samossy selbst. Rings im Kranz standen, wie Spielzeughunde, Schemel voll Schriften und an Leinen, um nach Bedarf herangeschlittelt zu werden.

In der Luft eine wilde Stille. Hindurch schnitt der großeckige Arm. Dann, ohne aufzusehen, in einem neuen tieferen, entgifteten Ton:

»Bis zur dreimillionsten Primzahl hat es gestimmt. Nach der Dreimillionundersten nicht mehr.«

Der Angeredete verbeugte sich in seiner Stimme: ohne Mitgefühl oder jovialen Protest.

»Ihr Gesetz wurde empirisch gefunden – seine Allgemeingültigkeit haben Sie selbst ja nie behauptet. Die neue Grenze, innerhalb der es Geltung hat, präzisiert nur, mindert nicht seinen Wert. Wer hat es übrigens über die dreimillionste Primzahl hinaus verfolgt?«

»Ich selbst. Immer suchte ich nach einer deduktiven Fassung. Seine schäbige Empirie ließ mir nie Ruhe. Nun erfuhr ich, dieser Arbeit sei – als erster – der Preis aus der neuen ›Samossy‹-Stiftung zugedacht – Vater hat nämlich meinen Bruder und mich auf den Pflichtteil gesetzt, den Stamm seines Vermögens aus schwachsinniger Eitelkeit der Akademie der Wissenschaft vermacht, damit eine Schenkung seinen Namen trage, – uns bleibt fast nur das Haus. Da packte mich wieder das Mißtrauen. Ich prüfte über die dreimillionste Primzahl hinaus und habe das vernichtende Resultat sofort rechtzeitig publiziert.«

Nun verneigte sich der Hörer auch im Körper:

»Und wer wird jetzt der erste Preisträger sein?«

»Dallmeyer für seine ›Periodizität im Organischen‹. Er hat Margrinchen Mehmke geheiratet. Ist jetzt korrespondierendes Mitglied der Akademie.«

Die neue Stimme blieb tief und entgiftet.

»Es macht nichts – nichts macht mehr etwas. Ich habe zeither ein neues Gesetz gefunden: das Endgültige. Aus ihm aber folgt …«

Und nun verließ er jene vage und lückenhafte Sprache, die zum Feilschen, Rechtsprechen, Dichten ausreicht, begann in der geheimen Zauberzunge aus Phantastik und Präzision zu reden, »in der das Buch der Natur abgefaßt ist«.

Nach Stunden kehrten sie wieder. Noch durchwellt von dem pausenlosen Blitz höchster Anspannung, trug Horus in sich belichtet alle Verzweigungen dieses Geisterbaus an den Grenzen des Faßbaren. Einen Augenblick lang schien ihm daneben alle Kunst, Musik, hübsche, doch recht unerhebliche Beschäftigung. So entrückt lag er in der klaren Brunst des Geistes.

Schwieg lange. Schwieg sich wieder zurück zur Welt: der empfundenen Zahl: der tönenden, strahlenden, geschmeckten, allumarmten Zahl. Sagte in der Leutesprache:

»So ist durch Sie Minkovskys berühmtes Wort erfüllt: ›Die Geringachtung der reinen Zahlentheorie wird aufhören, wenn man erkannt haben wird, daß zum Beispiel chemische Eigenschaften mit Teilbarkeitseigenschaften ganzer Zahlen zusammenhängen: der Schmelzpunkt eines Körpers von Zahlenwerten abhängt.‹ Dank Ihnen ordnet sich uns das dreifache Reich der wirren Dinge nach unerhört kühner Einsicht neu: je nachdem der ›spielende Gott‹ aus seinem Würfelbecher ›grad‹ oder ›ungrad‹ wirft, wird eine andre Natur.«

Samossy lächelte:

»Die Ägypter meinten, die Genien der Welt wären mit Hilfe der magischen Zahlen des Pythagoras imstande, einander anzuziehen: durch mannigfaltige Kategorien von Weltketten. Vielleicht ist mein Primzahlengesetz solch eine Weltkette aus magischen Zahlkonstellationen.«

Sie sprachen und schwiegen. Die Stimmung dieser ganzen Nacht war von einer außerordentlichen und zarten Schönheit, die auf der Brücke gegenseitiger Ehrerbietung hin und wider ging, geweiht mit vollkommener Weihung.

Das Fletschende des durchgegangenen Kleppers: »aller Starrsinnigkeit Freund, glasaugig und rauh um die Ohren«, das war alles von Samossy wie abgefallen … Des Plato edles Roß: die erinnernd sich neubefiedernde Seele allein stieg und stieg, auf dem Rücken der Himmel stehend und zu dem wahrhaft Seienden das Haupt emporgerichtet.

Dann schloß Samossy einen Augenblick die Lider, lehnte sich vor und bat, die Stirn entspannt in ungewohnter Milde:

»Erzählen Sie mir von dem Kristallei, in dem Sie ausgebrütet wurden.«

Und Horus erzählte: vom Haus der Elchos. Von Menschen, Tieren und Liebe … Und zum Dank für diese Nacht manches von Erasmussens letzten Arbeiten. Sollte er ihm auch von dem Führer sprechen, der nicht stets im Fleische war? Von dem Aschenauge, unter dessen Blick sein Wesen rhythmisch wechselnd eintreten durfte in immer neue schwingende Zahlen? Ihm andeuten, was es hieß, im Leib dieses Schwingenden sein und durch die Farben gehen? Doch nein, da war eine Grenze.

Das Licht wurde fad. Jene Schemel voller Schriften ringsum, die Spielzeughunden glichen, ließen auf einmal in der Dämmerung ihre Leinen hangen, wie über etwas ertappt.

Morgen. Wirklich am selben Morgen noch würde sich dieser Hirnstern in eine so schmutzige, unwürdige Hand gefangen geben. War diesem Gelehrten nirgends gelehrt worden, auf eine edle und mannigfaltige Weise nicht nur zu denken, auch zu lieben? Ja, ein Hirnstern. An dem hing nun der übrige Geschmackskrüppel: der Sinnenkrüppel.

Nur das Gehirn war ihm davongewachsen.

Er selbst blieb zurück, eingeschrumpft, eingegeilt zum Fetischisten, den Seim des Glücks an einziger armer Ekelstelle suchend, mit kläglich verknotetem Gesicht, voll Scham, Sucht und Wut, statt mit des mächtigen Eros ewigem Antlitz.

Zögernd stand der Gast auf.

»Bleibt es bei der Trauung – heute?«

»Ja, ja, um zehn.«

Das Wiehern in der Fistel kam Samossy wie ein Schluchzen wieder. Dann hämisch geheimnisvoll und jetzt so unsäglich deplaciert:

»Man muß vom Weibe loskommen.«

Gleich darauf mit ruhigen Augen:

»Aber mein Primzahlengesetz ist gefunden.«

»Soll ich Sie abholen? Treffen wir uns hier oben?«

»Nein – nein – gleich unten im Hof.«

Um zehn Uhr kam er vorgefahren. Sah es sich aufregen, gegen den Hof laufen, dort eine Linse bilden. Auf dem Pflaster lag Samossy zerschmettert. Der Hirnstern freiwillig aus seiner Schale geschlagen zu einem Brei aus Blut und Kot. Das Gesicht, weißäugig, glich auf einmal jenem zu Schiefgalopp gepeitschten Gaul in Marseille: dem armen geschändeten Gott.

Ringsum mißbilligte man die Tat. Mit untrüglichem Instinkt nahm das Volk gegen die Größe Partei. Lüsterne drängten, der Braut zu telephonieren: in die Villa vor der Stadt oder aufs Standesamt? Die Portiersgattin wiegte den grimmen Birnenbauch:

»Soa stattliche Person, ihre ganzen guten Jahr bei dem großkopfatn Narr'n falirn und jetzt war dös for nix gwen. A soa ganz Ausgschamter.«

Der Wasserkopf am Schürzenband hatte die bläulichen, hingespritzten Hirnstückchen an der Mauer bemerkt, nahm von dem trübe zittrigen Schleim, begann ihn sich an den eignen Schädel zu schmieren, der blaß war und weich wie ein Froschbauch.

Das Weib schrie auf:

»A soa Sauhaufen.

Und wer muß' wegputzen?

I.«

 

Es war in Wien.

Gleich nach der Ankunft sollte Gargi ihren Gatten im Restaurant des Hotels erwarten, das als mittägiger Treffpunkt angesehener Persönlichkeiten aus Beamtentum und Adel galt; letzterer pflegte auch hier abzusteigen. Es ergab sich, daß statt der Waschvorrichtungen in jedem Zimmer Weihwasserkessel eingebaut waren.

Der Speisesaal, ein weißlich-grauer, stellenweise geplatzter Darm aus Stuck, in dem vergoldete Putten mit durchgewetzten Nasen staubiges Barockobst und andern trübseligen Kram gestreckten Armes von sich abzuhalten suchten, schien mäßig voll.

Als Gargi ungemein und fremd – in der fernen Tadellosigkeit ihrer Bondstreet- und Darjeeling-Atmosphäre an der Tür erschien, brach alles jäh ab: Schmatzen, lautes Verhandeln mit den Kellnern. – Man starrte, vagen Hohnes voll, aber noch unsicher. Da stand eine Stimme laut und vernehmlich in der Stille auf: »Wo is denn die auskummen?«

Der Bann war gebrochen. Weithinschallend setzte Austausch der Ansichten über jedes Detail an Körper und Haltung der Einsam-Fremden ein. Die von der Statthalterei streckten in den Falten brüchige Lackstiefeletten ein wenig in den Weg, wo sie vorüber mußte – andre, ironisch höflich ausweichend, markierten durch plötzlich übertriebene Schmalheit Furcht vor Berührung. Aus einer Gruppe zerronnener Frauen starrte der einzige Mann der Gesellschaft, da sie vorbeiging, ihr schamlos ins Gesicht. Seine Begleiterinnen lauerten, dann – in der Fremden Rücken irgendein erotisch-abfälliges Wort, das ähnlich wie: »Nix zum Anhalten« klang.

Jetzt wieherte es befreit hinter ihr auf, spritzte förmlich tief aus erlöster Galle. Nein, Gott sei dank, der Trottel hatte also nichts bemerkt, oder es galt eben auch nichts bei Männern: dies Reinumrissene, Schmal-klare, vor dem sie alle sich einen Augenblick bedroht gefühlt in ihrem schwammigen Bestand.

Gargi, um die Marter abzukürzen, ging auf das erste freie Tischchen zu, doch des Kellners erotischer Typus: die Vally Feschak aus der » Quo-vadis«-Bar und Tochter der Abortfrau, war eben ganz anders und so drehte er blitzschnell den Stuhl um: »beseeezt biede«. Beim zweiten, beim dritten Tisch das Gleiche. Alles blickte gespannt auf den beliebten Hofrat und Feuilletonisten. In seinem Ressort hatte er sich einen geachteten Namen erworben, als Vorkämpfer einer Verordnung, die Briefkästen zwischen neun Uhr abends und sechs Uhr früh abzusperren. Im Nebenberuf goß er aus der Sulze seines Hirns in Förmchen erstarrte hors d'œuvres als Extrafraß für Sonntagsleser. –

Infolge des vorhergegangenen Doppelfeiertages aber war der Witzbold ausgeronnen.

Nichts kam heraus.

Der Saal war reichlich durchsetzt mit entrassten Semiten. Durch slowakische oder lokale Schutzfärbung schienen sie bereits stark an Virulenz und Beweglichkeit eingebüßt zu haben, während hinwiederum die stagnierenden Unarten der neuen Umwelt durch sie abgerundet, und wärmer belebt wurden.

Über dem Ganzen lag etwas von der Schamlosigkeit typisch europäischen Familienlebens: dieses pausenlosen Beieinander in hemdärmliger Geringschätzung. Fremde gab es hier offenbar keine – oder doch? War das nicht der Herr aus Braila, dessen gerundete Handbewegungen immer noch liebevoll die Qualität der Schweinsbohnen abzuwägen schienen, indes seine Äuglein wie Läuse über alles hinkrochen? – Der war da.

Nun hatte er Gargi Elcho erkannt, zog höflich das Dessertmesser aus dem Schlund und erhob sich, ihr Platz zu machen. Der Kellner, er hatte nicht mehr Zeit gefunden, sein »beseezt biede« herzumeckern, beeilte sich, ihr alle Speisereste vom Tisch in den Schoß zu wedeln und verkündete mit Genugtuung, daß Rindfleisch aus sei und Schlußbraten auch nur mehr ganz vom Schluß. Gargi bestellte Reis und Früchte, jedoch so leise, daß der Kellner erst von Tisch zu Tisch es melden mußte. Hierauf ging das noch immer lauernde Grinsen kugelwellig ins Hämische über. – Nebenan, in einer Art Ehrenecke, würde plötzlich ostentativ französisch gesprochen. Vielleicht hielt man die Fremde für eine exotische Pariserin und wollte nicht verstanden werden. Denn es war das ein gar skurriles Französisch: Kreuzung aus Ollendorf und dem spanischen Erbfolgekrieg – untermischt mit »Jalousie« und »Lavoir« – lauter Bezeichnungen, seit zwei Jahrhunderten keinem Franzosen mehr geläufig.

Der andern Ecke gab ein Rennhabitué aus Ungarn viveres Kolorit. Er aß schon mit den Händen, stahl aber offenbar noch mit allen vieren.

Neben ihm stülpte ein bestialischer Herr mit roten Streifen längs der Hosen Spargel ganz tief in das Vorderende seines Verdauungstraktes – einen Augenblick schien es, als vomiere er – dann aber taten sich die Kinnbacken seines Antlitzes auf und nur ein Gewölle von Spargel, an seltsam singenden Fäden, entzog sich wieder dem Schlund. Noch eine kleine Nachgeburt aus Schleim – und mit der nächsten Spargelstange fing alles wieder von vorn an.

Gargi schräg gegenüber saßen drei Personen. Das fast beinlose, madenförmige Geschöpf, hineingeknallt in eine braune, reichlich mit Flöhen gesprenkelte Sache: Foulard genannt, hatte nur einmal den großen Krötenblick auf Gargi geheftet, wandte dann den Kopf mit jener empörten Gleichgültigkeit ab, die durch unfreie Haltung ihr Gegenteil verrät. Unter dem Tisch preßten die Badeschwämme ihrer Knie die Hose eines ganz verfaulten Oberleutnants. Der schluckte oben Schnaps in seinen Leib. Über dem Mund ließ das kälberne Schnurrbärtchen die verwesten Hauer frei. Auch das Nasenbein fehlte fast ganz. Dazwischen saß der Bourgeois-Mann, ein rülpsendes Neutrum, und zahlte alles.

Er entfernte sich für einen Augenblick. Das Weib aber war am Ende ihrer Hemmungen … konnte einfach nicht mehr; den Kopf schief, stieß sie ihn zärtlich an und nach der Fremden blinzelnd:

»Sag' megst du mit der da?«

Der gänzlich verfaulte Oberleutnant schüttelte sich von oben bis unten. Sie girrte entzückt, und noch einmal mußte er sich schütteln und zeigen, wie er es mit »der da« nicht möchte.

Gargi bestellte eine deutsche Zeitung, um anzudeuten, sie verstehe die Sprache.

Doch unbeirrt fuhr die »Fesche« fort:

»Das G'stell und no so aufgedonnert dazu!«

Gargi trug ein schwarzes Trotteur von Creed, kleinen schwarzen Filz und war völlig schmucklos.

Die reichlich mit Flöhen gesprenkelte Mondäne vermochte eben außerordentlichen Stil zwangsläufig nur als außerordentliche Bekleidung zu empfinden, da ihr ungebildeter Körper noch der Anschauung entriet: Eleganz sei eine Funktion des Skeletts.

Nun brachte der Kellner das Bestellte. Es war wie ein Signal. Dumpf diffuses Lauern im ganzen Raum, salopp nur und obenhin von Geschnatter unterbrochen, hing sich jetzt vampirhaft an jede ihrer Bewegungen, hockte als vierzigerlei Grinsen auf jedem Bissen, ging mit vom Teller – auf die Gabel – durch die Luft – bis in den Mund. Wenn sie eine Frucht teilte, zum Glas griff, instinktiv gierend danach die Unbefangenheit, die schwierige Schlichtheit dieser Ungemeinen zu stören. Vielleicht ließ sie dann die Gabel fallen, verschluckte sich, irgend etwas Positives geschah, an dem man das dumpfe Unbehagen rächen konnte. Man würde dann so tun, als berste man vor Lachen, und zugleich, als ersticke man aus Wohlerzogenheit dieses Lachen, das einem gar nicht kam, doch keineswegs so vollständig, als daß nicht die Fremde in ihrer Blöße es durchhöre; daß es sie treffe und beschäme. Selbst der Stumpfsinnigste bekam plumperdings eine Art zweiten Gesichts, ging es gegen das, was ihn in seiner Herzensfäule störte. Die meisten waren ja optisch zu ungeschult, um an dieser geisterfeinen, stillen Dame sich über das Edel-Fremde in Bau und Haltung Rechenschaft zu geben. Nur ein vag unbehagliches Erinnern kam sie an, von Sälen in Museen, wo man durch mußte, um zu den Doppelsternen im Baedeker zu kommen. Man lief da immer sehr rasch, denn erstens war man nicht verpflichtet und dann sah es übertrieben aus, fad und steif. Nun – in Stein und Bronze, und weil's weit weg und lang her war, mochte das hingehen, aber in Wirklichkeit; wie ungemütlich:

»Das fehlert, daß des einreißen tät, da hätt ma ja nit einmal mehr seine Ruh beim Essen,« war so der Kern, um den gallertige Rachgier Blasen trieb.

Zwei Bürger, Gargis Nachbarn zur Linken, der eine mit einer Pfundnase, der andre mit einem Abdomen, auf Flaschen abzuziehen, brüteten seit ihrem Eintritt in dumpfer Wut – Biergischt im Bart – vor sich hin. Abreagieren mußten sie sich, so ging das nicht weiter. Es fiel ihnen aber gar nichts ein, genau wie dem ausgeronnenen Witzbold. Endlich, als Gargi in nie gesehener Anmut eine Orange zerteilte, gebar die Wolke den Blitz.

Der mit der Pfundnase hatte eine trouvaille gemacht.

»Die wer mer scho außi lahnen.«

Zwinkerte er rundumher – nahm den Mund voll und blies ihr tief den beizenden Stank seiner »Virginia« in beide Augen. Es war der Gemeinderat Pogatschnigg, Ehrenpräsident des Vereins zur Hebung des Fremdenverkehrs.

Gargi rief vor sich hin das Pantherbaby und die Diademgestirnte, Ganapati Sastriar, Erasmus, die Welt der Elchos und den Palast von Travankor, und der Anstand der Gebärde im letzten Bettler ihrer Heimat half noch den Schutzwall um sie schließen, daß nichts aus der gerotteten Jauche dieser Entrassten in sie dringe. Wie Lanzen starrten ihre Nervenenden um sie aus – ganz aktiv – Schützer der Kaste. Doch welch grauenhafte Anspannung all diese Monate, seit Marseille; immer in einen Block von »Selbst« geschlossen – belagert von Gemeinheit, nie verströmend an ein Ebenbürtiges ausruhen dürfen: arglos, müd und froh – im großen Ihresgleichen.

Jetzt regte sich, zum erstenmal, auch etwas gegen den Gefährten in ihr. Wie durfte er eine indische Dame, an der Gesittung Asias erwachsen, in solche Mißzucht zerren?

Da war er selbst – hatte mit einem Blick die Situation erfaßt und seine Haltung ließ kaum einen Zweifel, daß er in gradliniger Betätigung zu blendenden Handgreiflichkeiten ohne Verzug überzugehen gewillt war. Sein Gesicht sah aus wie eine konzentrierte und höchst vermeidenswerte Tracht Prügel. Alles verebbte in Unschuld; treuherzig sah man einander in die Augen, und aggressive Zudringlichkeit flaute sichtbarlich ins Unterwürfige ab. Er staunte. Hier gedieh offenbar eine besondere Spielart europäischen Rüpeltums: das Knieweiche; immer feig bereit bei festem Zugriff als »Gemütlichkeit« wieder ins Verantwortungslose zu zerrinnen. Ein verwester Käse, den eine scharfe Klinge trifft.

Nun wuchs aus dem Plüschläufer plötzlich der Hoteldirektor heraus – in kriechendem Salonrock und weißer Atlasbinde – letztere immer neu aus dem alten Brautkleid seiner Frau geschnitten, und verteilte in falscher Hausväterlichkeit die Mittagsration Banalitäten von Tisch zu Tisch. Horus Elcho wisperte er so ungefragt als wichtig zu, die Herrschaften in der Ehrenecke seien ihre fürstliche Gnaden die Durchlaucht W. und ihre Gesellschaft – der melierte Herr in der Pepitahose neben der Fürstin, Exzellenz Graf X., lenke die äußere Politik des Landes. Am Tisch der Durchlaucht meldete er wieder, die Fremden da, die Neuen, hätten chinesische Dienerschaft mit und kämen gar aus Indien. Die »Fesche« atmete herablassend auf:

»Na also – a Murl is.«

In der Ehrenecke war man indes vom Französischen endgültig abgekommen, nachdem das Wort »Kokotte« wiederholt und deutlich gefallen. Offenbar sollte damit gemeint sein, was in Paris » femme entretenue« heißt. Nun wandte sich das mit Kose- und Eigennamen reichlich durchsetzte Gespräch irgendeinem alpinen Jagdunfall zu:

»Und wie er aus die Wänd scho beinah heraust war,« berichtete die melierte Exzellenz, »is a Steindl wie eine Erbsen oder wia Haselnuß von ganz oben kommen, das hat 'n am Kopf erwischt und aus war's.«

»Aber geh, Ferdi, plausch nicht,« tadelte die Durchlaucht und wiegte den winzigen Straußenkopf.

»A so a kleins Steindl kann do net an Menschen erschlagen!«

»Na, wann's von so hoch kommt.«

»Was is da für a Unterschied – – was sein das wieder für neumodische Sachen?«

Der Minister sammelte sich in seiner letzten Erkenntnis vom Theresianum her:

»Wann's von weit fallt, nachher wird's schwerer, a jed's mal,« fügte er, nachdenklich geworden, hinzu. Doch die andern drängten, daß man das wissenschaftliche Gebiet endlich verlasse, um zu leichteren Gesprächsthemen zurückzukehren.

»Hast scho g'hört – – der Rudi hat an H-Hahn g'schossen?«

»Ah geh, der Rudi hat an H-Hahn g'schossen – jetzt: außer der Zeit.«

»Ja, hast net g'hört, Mittwoch hat ern g'schossen.«

Horus stand auf, nach Wen-Kiün zu sehen, ob man ihr ungeschälten Reis gebracht und Fisch, wie er bestellt. Kaum war Gargi allein, als wieder ein Schnuppern begann, saloppes Zusammenrotten, um den Moment der Wehrlosigkeit einer Dame nicht ungenutzt verstreichen zu lassen. Jene »Fesche«, die Gargis Rasse mit so tiefer Einsicht vermerkt, stand eben auf, mit ihren Begleitern den Darm des Saales durch einen perforierten Appendix zu verlassen. – Gedrängt – gleichsam hingespült von allem Abschaum – vielleicht auch nicht mehr ganz nüchtern, murmelte der gänzlich verfaulte Oberleutnant im Vorübergehen Gargi ins Gesicht:

»Sie gefollen mir aber schon garrrrr nicht.«

»Behalten Sie Ihre erotische Meinung für sich, nach der Sie nicht gefragt worden sind, und entschuldigen Sie sich augenblicklich bei der Dame« – Horus stand vor ihm. »Wird's … drei Sekunden gebe ich Ihnen Zeit.«

Sollte er nicht doch lieber kneifen? Aber schon hatte es sich hinten an den Fremden herangeschlichen – die gesamte jeunesse dorée des Lokals – und eine Traube von Ministerialbeamten hing plötzlich an seinen Armen – hielt ihn von rückwärts fest. Nun riß der Krieger seinen Säbel heraus, schrie etwas von beleidigter Ehre, rief alle zu Zeugen auf und machte sich unter den anfeuernden Rufen von Damen und Herren daran, einen völlig Wehrlosen mit blanker Waffe zusammenzuhauen.

Leider wies es sich, daß eine lediglich an Ohrfeigen erzogene Jugend intelligenteren Formen der Brutalität gegenüber versagt. Durch eine ungeahnte Drehung aus Schulter und Hüfte des Gefesselten barst die trübe Traube, kollerte abgerebelt beerenweise auseinander. Ein Griff, und die Rechte des Oberleutnants lag krumm geschlossen auf dessen Rücken. Quer durch den ganzen Saal flog der Säbel – gerade in den Spucknapf, wo er als zuständige Waffe zitternd stecken blieb. Und dann – der Unterkörper seines Gegners lag in einem leg-lock festgeschraubt – ganz langsam, ganz ruhig in dem Panzer seiner Wut, tastete sich Horus an diesem krummgeschlossenen rechten Arm entlang – verschob ihn erst ein Weniges in den Gelenken und immer mehr – – Der Krieger winselte um Gnade, dann mit einem kurzen Ruck, brach er dem halb Ohnmächtigen den Knochen, knapp über dem Ellenbogen, ab. Überlegte: sollte er ihm zu mehr offensichtlicher Erinnerung das Nasenbein eintreiben? Aber das hatte ja bereits sein Vorleben klaglos besorgt. Ließ also die Arme sinken und wartete ruhig auf seine Verhaftung. Wußte: Notwehr hatte er weit überschritten und sich schwerer Körperverletzung schuldig gemacht. Gewiß verständigte schon der bestialische Herr mit den rotgestreiften Hosen die Polizei, denn er war – kaum flog der Säbel in den Spucknapf – zwei Spargel im Mund, in der Flaggengala seiner Serviette mit Linksgalopp zur Tür hinaus.

Doch nichts geschah. Und seltsam – hub da nicht ein Wedeln an, als wäre es an ihm – als lägen Gnaden in seiner Hand? Der Hofrat fand zuerst Worte:

»Bittsi, bittsi, Sie wern do nicht eine Anzeige machen.«

Und der Hoteldirektor meldete: Exzellenz lasse auf ein paar Worte ins Nebenzimmer bitten.

»I hab von nix was g'sehn,« begrüßte ihn der Feldherr.

»Wie bitte?«

»No, ich meine halt, Sie werden doch nicht einen verdienstvollen Offizier um seine Karriere bringen am End!«

»Davon kann keine Rede sein – es ist ein einfacher Bruch und in sechs Wochen ohne Folgen geheilt.«

»Aber nein, aber nein« unterbrach die Exzellenz ungeduldig, »net wegn em Armbruch – ich meine die Velöötzung – sondern do weils ihn ihm brochen haben, wird er g'spritzt – verabschiedet, vastehn S'!

Aber wenn nur Sie die Anzeig net machen täten – mir ham nix g'sehn. Nacha geht sie si no gut aus.«

»Und hätte ihr ›verdienter Offizier‹ mich, den Waffenlosen, obendrein niedergemacht, weil er vorher meine Lieblingsfrau angeflegelt, wäre es dann, nach Ihrer Ansicht, auch noch ›gut ausgegangen‹?«

»Na, hin wern S' halt gwest,« grinste die Exzellenz gemütlich.

Man darf doch die Beobachtungen der Alten nie leichtfertig ablehnen, dachte der Fremdling – nach Aristoteles soll es Ochsen geben, die einen Knochen im Herzen haben.

Gäste waren nachgedrängt, besonders jene, an denen die stagnierenden Unarten der neuen Umwelt ausgerundet und wärmer belebt schienen. Mit abschnellenden Handgelenken schleuderten sie einander ihre Argumente wechselseitig ins Zwerchfell, nahmen dann plötzlich wieder den Nukleus der Sache, sozusagen als Kügelchen, auf die fünf geschlossenen Fingerspitzen wie eine erbeutete Laus, um dem Widersacher damit vor der Nase auf und ab zu wedeln. Ratlos sah er um sich:

»Ein Dackel, ein Pintsch, ein Mops – gut! Sie beglücken mich als Typen nicht; doch gut und zugegeben. Aber diese Kreuzung hier aus Dackel, Mops und Pintsch – nein, das geht nicht.« Dachte: »als ich im Recht war, wollten sie mich niedersäbeln helfen, da ich im Unrecht bin, jemanden schwer verletzt habe, flehen sie mich an, nicht nach der Polizei zu schicken; wie wenn ein bösartiger Irrer das alles gemacht hätte.« Am Schwersten war der Hofrat loszuwerden, witterte einen raren Fang für » jours«. Endlich an der Tür seines Appartements wandte sich Horus zum erstenmal direkt an den Betulichen:

»Ich wünschte Ihren Landsleuten so sehr Kolonien – das ist, scheint mir – was sie zuvörderst brauchen.«

Der Andre dalberte entzückt etwas von Gemütlichkeit, leichter Musik und alte Kultur verbreiten.

»Sie irren: ich meine, daß durch fortgesetzte Berührung mit Anmut, Anstand und Takt – sagen wir der Botokuden, sich schließlich auch der Standard ihres Landes heben lassen müßte.«

Dann schloß er die Tür. Packte gar nicht erst aus. Zog um. In eine Pension.

»Lassen Sie wenigstens ab und zu die Leute mit Ihnen reden,« riet die Inhaberin, eine erfahrene Person, »wenn Sie schon fremdartig leben, ich weiß mir keine Rettung mehr, sonst besticht man das Personal, schleicht sich hinterrücks in ihre Zimmer und der Tratsch- und Gierberg begräbt uns noch alle.«

»Haben denn die Leute hier ein so pauvres Dasein, daß sie nur durch schleimiges Abtasten fremder Erlebnisse sich befriedigen können? Entrüstete Neugier als Brunstersatz brauchen?«

»Ja,« sagte die erfahrene Person.

»Und zu tun haben sie sonst gar nichts?«

»Nein,« sagte die erfahrene Person.

Die Weiber erwürgten langsam ihre Tage mit fortwährendem Lauern: auf das neue Modeheft – die Manicure – die Sommerreise, allem zum Grund: ein vag erotisches Lauern. Schon am Morgen begann es mit Rudeln von Schlafröcken um den Fernsprecher im Korridor, bis die junge Frau »in Scheidung« – sie trat jeden Tag ein Kind per Telephon ab – mit ihrem Advokaten fertig war; ihm für den Prozeß alle Arten unnatürlichen Verkehrs geschildert hatte, zu denen ihr Mann sie angeblich gezwungen. Der am andern Ende des Drahtes schien als Frager emsig und gewissenhaft, doch nicht eben leicht zu befriedigen.

Dann kam für die übrigen das Lauern auf die Börsenkurse. Ließen sich mit Stellen verbinden, die sie neckisch oder betörend »Herr Spitzer« oder »Herr Neustein« anredeten, girrend nach Tips für »Prager Eisen«, »Rima,« »vereinigten Gummi«. Alles in merkwürdig breiigen Kretinlauten; galt es doch in dieser Stadt offenbar für unweiblich, einen korrekten Satz zu sprechen, die Männer fanden das gespreizt, witterten für sich Unbequemlichkeiten, winkten ab.

Nun erschien meist das Stubenmädchen im Korridor, um sich laut zu beschweren: Nacht für Nacht müsse sie bis ein Uhr wachbleiben, um dem Fräulein von Nummer acht, der sozialdemokratischen Führerin, noch das Kleid hinten aufzuhaken, wenn sie aus den Versammlungen in Ottakring nach Hause käme. Jetzt gehe sie zur Direktrice kündigen.

Mit den frühen Nachmittagsstunden begann jenes Lauern, das die Frauen »Ordination« nannten oder »den Professor konsultieren«. Es bestand offenbar darin, daß ein indifferenter Mann durch Entgegennahme von Geldeswert bewogen wurde, ihre intimsten Teile täglich längere Zeit hindurch – wenn auch ohne sonderliche Freude – eingehend zu betrachten, und dort womöglich operationsreife Geschwülste oder krankhafte Entartungen zu konstatieren. War dieses Ziel erreicht, wisperten die Arrivierten, glitzernd aufgeregt, nur mehr über ihren Unterleib, der von nun an auch in der Konversation den breitesten Raum einnahm. Gebrauchten schleierlose medizinische Ausdrücke: Uterusbespiegelung – Auskratzung – Eierstockzisten – gleich Aphrodisien. Durfte man ihrem Gehaben trauen, war so ein Operationstisch das reine Lotterbett.

»Ich bin es meiner Gesundheit schuldig,« eiferten sie, wollte der Mann das viele Geld nicht hergeben. Daliegen und mit Instrumenten an sich herumstochern lassen, galt für Pflege; sonst hatten sie nur eine nachweisbare Tätigkeit: Zu- und Abnehmen.

»Fünf Kilo hab' ich schon abgenommen, seit Sie da sind,« sagte die Dame mit der Auskratzung und machte Märchenaugen, »mir scheint, Sie sind ja für Magere.«

»Doch nicht für Abgemagerte.« Dann höflich belehrend: »Eine Frau darf nach dem fünfzehnten Lebensjahr ihr Gewicht nie mehr verändern, sonst ist durch Spannung oder Schlaffung ihre Oberfläche nicht mehr kindlich zart genug, feinste Entzückungen zu geben und zu empfangen. Muß doch, wo immer man eine Frau hinküßt, ein winziger Muskel den Kuß erwidern können.«

Von da ab galt er für eine Art ästhetischen Ogers, hatte aber Ruhe vor den Weibern.

Manchmal erlustigte er sich zu staunen, wie dies alles schon mit differenzierten Organen protze. Ließen sie sich denn wirklich nicht mehr beliebig durchschneiden wie niedre Lebewesen? Gerannen nicht doch wieder irgendwie zu einer amorphen Masse, die »Fritschi« oder »Lentscherl« hieß?

Nach der Ordination wurde von vier bis sechs » bridge« gespielt, dann ging man in eine Schubertposse mit Gesang oder den Tristan. Zum Schluß in die Bar.

Dieser unaufhörliche Musikbetrieb gab ihm zu denken.

»Der Blinde hört gut,« fiel ihm ein. An Stelle des verkümmerten Sehens scheinen die mehresten Menschen eben mit etwas musikalischem Schwachsinn behaftet. Auch ist ja insofern Musik die bequemste Kunst, als in ihr Reproduktion bereits die Illusion selbständiger Schöpfung gibt. Schließlich gilt es schon beinahe als eine Art Leistung, in einem Konzert gewesen zu sein. Er dachte: schlappschenklig sitzen, dösend rezipieren, ohne daß die dicken Augenlider dabei aufgehen müssen oder sonst etwas, das ist bei übriger Denkfäule und Stagnation noch eben möglich. Hatte aber etwa ein Fremder hier noch nicht jedes Musikwerk und in jeglicher Bearbeitung gehört, wich man vor ihm zurück wie vor einem Aussätzigen, kam sich maßlos überlegen vor.

»Daß Sie irgendwelcher Rezeption – man könnte auch fragen: warum gerade dieser – solche Bedeutung beilegen mögen?« Erkundigte er sich erstaunt.

»Mir scheint bei Schätzung von Menschen wichtig, wie eigenartige, irgendwie wertvolle oder erfreuliche Gesamtexemplare sie sind. Wie großer Schwingungen, welcher Erregung oder Bewegbarkeit fähig, welcher Verläßlichkeit und Verständnisfülle, welcher Intensität in ihren Leistungen, welcher Hingabe an irgendein Werk, eine übernommene Verpflichtung.«

»Sie reden ja wie ein Preuß',« hieß es dann hämisch, und man nahm die hier zu allem übliche, zerwitzelnde, breiig zynische Haltung an. Denn nichts haßten sie so sehr wie Größe. Und immer waren sie geistreich: Merkmal schlechter Rasse. Ein Pack Ansichten und Erfahrungen höchst gemischter Pedigree, noch nicht zu einer Persönlichkeit einmalig und eindeutig verknüpfbar, lag wie Kraut und Rüben in ihnen, konnte aber, weil nicht organisch verwachsen, durch kaleidoskopartig wechselnde Anordnung in verblüffender Reihenfolge etwas wie Witz vortäuschen; ranziger Ironie voll, doch ohne Leuchtkraft im Ernst. Relativ Erfreuliches war nie aus unbeugsamem Geschmack, bestenfalls aus beugsamem Ungeschmack heraus, entstanden.

Der kleine Dr. Eskenasi nahm ihm den letzten Glauben.

»Musikstadt?« Er schwenkte die melancholischen Augen in dem langen Emanuel-Kant-Köpfchen her und hin, dann, die winzigen, schlaffvenigen Hände ineinandergepreßt, um sie am Dreinreden zu verhindern, noch einmal:

»Musikstadt! Lesen Sie doch nur die einschlägigen Biographien. Immer das gleiche: erst Massengrab, dann Ehrengrab. Mozart hineingeschmissen – Fidelio, ausgepfiffen – Wagner zergrinst – den alten Bruckner bis aufs Blut gequält – Hugo Wolf hungern lassen – Mahler vertrieben. Jedes Urteil eine Blamage: zweiunddreißig – vierundsechzig – hundertzwanzig Weltblamagen. Von der Wiener Musikzeitschrift 1787 und Sarti angefangen, der über Mozart schrieb: ›Die Musik müßte zugrunde gehen, wenn Barbaren von Mozarts Art sich einfallen ließen, komponieren zu wollen,‹, an Hanslicks Definition des Rheingold als: ›Hurenaquarium‹ vorbei, bis in die neueste Zeit. In der allerneuesten möchten sie zwar auch noch, trauen sich aber nicht mehr so recht, feiern dafür Kuschorgien. Wedeln erst einmal zur Sicherheit jeden Kitsch an.«

Der Kleine litt an Kitschpsychose. Sonne, Frühling, Blumen, Melodien: alles, was ihm wirklich gefiel, hatte er im Verdacht und wandte sich schaudernd ab. Mied auch das elterliche Palais, wartete noch auf Endgültiges, lebte bis dahin in der Pension, gleich seiner Schwester, jener sozialen Vorkämpferin mit den hinten und unzeitgemäß zu erschließenden Kleidern. Doch verkehrten die Geschwister kaum, schämten sich einer des andern noch mehr als ihres Vaters, der, dem innersten Ring der Bank- und Börsenhaie zugehörig, dafür bekannt war, selbst dort die schmutzigsten, größten und anrüchtigsten Brocken anstandslos zu schnappen. Beide Kinder gaben sein Geld unter Märtyrerallüren für einen Marstall von Steckenpferden aus. Betrachteten das wie eine Art Aufgabe, als solche auch zu werten und zu würdigen, nur daß einer des andern Methode übel fand. Er ertrug ihre vergröbernden Versammlungsgesten nicht – die schrille Stimme. Nannte sie: »Pöbelsklavin«. Sie ihn einen »aus der Zwiebel gezogenen Narziß«.

Er sagte: »Cäsarenwahn des Mob züchtet ihr, statt ihm zu sagen: anders werden, zuerst und vor allem um Gottes willen anders werden, dazu wollen wir euch helfen, aber da flögt ihr schön aus euren Mandaten heraus,« und er zitierte:

»In diesen Zeiten war die Menschheit irre geworden durch Leute, mit denen ich nicht rechten will. Sie stellten sich der Masse gleich, um sie zu beherrschen, sie begünstigten das Gemeine als ihnen selbst gemäß, und alles Höhere ward als anmaßend verrufen.« – »Jeder ein Kretin oder ein Schuft, der anderer Ansicht ist als ihr.«

»Wir sind eben der Fortschritt,« sagte sie, »somit richtet sich jeder selbst, der nicht für den Marxismus ist.«

»Du vergißt, das hebräische Wort: ›Fortschritt‹ wirkt nicht auf jeden wie ein Fetisch.«

»Snob,« sagte sie und verlor jede Selbstbeherrschung, »verächtlicher Snob.«

Horus nahm ihn in Schutz:

»Die andern hier sind noch nicht einmal das: ich würde sogar Kurse für snobs einführen. Erst scheinen wollen, was man nicht ist: ein Weg vielleicht, dereinst zu sein, was man scheint.«

»Ach was: Schein, – Sein, alles erst einmal in die große Arbeitsarmee eingereiht, dann hören sich diese Faxen von selbst auf,« rief sie grob.

Er sah ihr mit solch warmem Wohlwollen in die Augen, nicht ohne Respekt und voll Humor. Sie konnte nicht widerstehen, wollte die Worte zu diesem Gesicht wissen:

»Legen Sie los, Sonnenprinz.«

»Arbeit? Was ist Arbeit? Der chinesische Weise Schun saß die größte Zeit seines Lebens unbeweglich nach Süden gewandt und lächelte. Da blieben die Jahreszeiten in ihren Grenzen, alle Gatten liebten einander, der Sohn des Himmels wurde erleuchtet und – alle Beamteten pflichttreu und unbestechlich.«

Wäre dieser kleine Doktor Eskenasi nur nicht so maßlos feig gewesen. Seinem Lebensüberdruß hielt panischer Schreck vor dem Tod die Wage. Die Jahre waren ihm pausenlose, fressende Angst, das Sonnensystem geriete auf seinem Flug durch unbekannte Welträume doch einmal unversehens in eine riesige Wasserstoffblase und dadurch in Brand. Jedes Wissensgebiet erschloß immer neue Gefahren. Endlich hatte er sich ganz auf die Malerei, als relativ unbedrohlich, zurückgezogen, fühlte sich: der zweidimensional Organisierte, hier unter Blinden, die gut hörten, schon als König; stieg manchmal sogar in die dritte Dimension auf und sagte dann: Palladiesk oder Brunellescesk. Angst, die ihn nie ganz verließ, nahm in der Kunst die Form der Kitschpsychose an, um manchmal an ganz unvorgesehener Stelle auszuschwären.

»Wäre der Durchschnitt: was man so in Kaffeehäusern und Gesellschaften trifft, wie dieser Herr von Goethe, den ich jetzt lese, ließe sich's in Europa leben,« bemerkte Horus eines Tages, von der Farbenlehre aufsehend.

Eskenasi hob angeekelte Hände der Abwehr. War er beleidigt? Versöhnend frug Horus dem Kleinen in die Augen:

»Wäre das denn wirklich so viel verlangt? Ich meine natürlich als menschliche Persönlichkeit, von dichterischer Spezialbegabung abgesehen. Ein heller älterer Herr von durabler Einsicht, weil das Auge ihr geleuchtet, mit gepflegten Umgangsformen, allem Wertvollen offen, leider mathematisch und musikalisch wenig begabt. Alles in allem: ein Vollsinniger. Einer, der Raum und Zeit hatte, ein ganzer Mensch zu sein, daher vielleicht das Aufsehen hier.«

Eskenasi drängte offensichtlich vom Thema Goethe ab:

»Die Wirtschaft kann sich das heute nicht mehr leisten, oder wie ein sehr Kluger jüngst schrieb: ›An einem ganzen Menschen hätte sie zuviel Lagerverlust.‹«

»Ach so, ich verstehe: ein linker Hirnlappen, ein Paar Pratzen, jedes für sich, fügt sich besser, weil pausenlos, dem Betrieb ein. Bleibt die Frage: ist das Leben für die Wirtschaft oder die Wirtschaft für das Leben da? Mich amüsierte immer, wenn in Deutschland solch linker Hirnlappen, war er zumal technisch verkollert, sich glühend wünschte, ein Großer früherer Zeiten, am liebsten Goethe, weil er den für einen Monisten hält, kehrte wieder, er aber sei ihm Führer, vergönne dem alten Herrn den Anblick, wie herrlich weit man's gebracht. Wie er dann schon beim Aussteigen am Gleisdreieck zu Berlin anfinge, den Faust umzuarbeiten, ihn gleich im ersten Teil Wasserbauingenieur werden ließe, statt erst am Schluß des zweiten.«

»Bitte nichts vom Faust,« wehrte Eskenasi ab, mit einem Gesicht, ganz wie Samossy, das arme geniale Roßwesen, bei Schillers Namen.

»Dieser Schluß« – er wand sich vor Ekel – »wie ein schlechtes Barocktriptychon komponiert: rechts und links als bewegliche Flügel die süßlich gedrehten, himmelnden Patres, erträglich nur der quere Durstrahl durch das Ganze: neige Du Ohnegleiche … gnädig meinem Glück.

Glück ist gut – wenigstens dort ›lustig im Fleck‹, wie wir Maler sagen.

Aber die fürchterlichen Putten ringsum: ›fröhlich im Ringverein‹. Diese Engelriege, wie vom Turnvater Jahn einstudiert … bitte, lassen wir das. Dazu ist mir das Barock zu heilig, ja ich habe in letzter Zeit Grund anzunehmen, daß sich in ihm das überhaupt Höchste, vielleicht das Endgültige manifestiert habe.«

Er schwieg geheimnisvoll. Verkündete dann ein paar Tage später seine Abreise nach Spanien.

Und nach einer Pause, da niemand frug:

Ja, es sei für immer. Er übersiedle. Und zwar nach St. Esteban de Molar, dem Geburtsort des Gecco Pintaccio. Schon begännen die wenigen über Europa verstreuten Eingeweihten ihren Pilgerzug vor das Jugendwerk des Erleuchten: den kleinen Fresko im Ziegenstall hinter des Meisters Wohnhäuschen. All das gehöre seltsamerweise einem Amerikaner: Mr. Payne. Nur durch Vermittlung und Protektion des begeisterten Gecco Pintaccio-Entdeckers und -Apostels Dr. Hafis sei es ihm, Eskenasi, dennoch gelungen, das Häuschen auf vorläufig ein Jahr zu mieten, allerdings zum Preis seiner Hitzinger Villa, doch mit dem Recht, die Stunde von neun bis zehn ganz allein im Ziegenstall verbringen zu dürfen, dann erst beginne die öffentliche Besichtigung. Gleich gehobener Stimmung wie er, sah die Schwester einem neuen Aufenthalt entgegen: dem Landesgericht; hatte es endlich erreicht, ernst genommen und wegen Aufwiegelung zu zwei Monaten Arrest verurteilt zu werden. Nämlichen Tags verschwanden beide. Der Exklusive jedoch nicht allein. Er nahm zur Weihestätte die Vally Feschak von der Quo vadis-Bar, Tochter der Abortfrau und Typ des Speisenträgers aus dem Stadthotel mit. So war er für Horus gerichtet, denn im feineren Menschen decken sich ästhetisches und sexuelles Ideal. Same und Seele erstrahlen von dem gleichen Eros.

Doch warum zögerte er selbst noch hier; gerade mitten im Verköterungsherd Europas? Wartete. Gerade am Ort geringster Wahrscheinlichkeit wartete er, treu einem ernsten, süßen und sehr geheimnisvollen Gesetz, dem Folgsamen hold. Und im Erfühlen dieses Gesetzes wußte er sich verstanden und gestützt.

Auch aus Gargis Einschlafen hatte es unlängst glücklich, wie in eine wachsende Nähe hineingeflüstert:

»Dann nehmen wir den ›Elf von einem großen Stern‹ nach Haus und führen ihn in unsere samtenen Wände.«

Oft ging er, die Ringstraße, diesen Kranz übel gegründeter Erhebungen, von dem Tempel mit jonischen Säulen als Rauchfängen, bis zur Gotik für Gemeinderäte, ängstlich meidend, auf den stillen Josephsplatz, vor des Fischer von Erlach Bibliothek. Wie ihm schien, einem der schönsten Profanbauten der weißen Welt.

Barg sich dann halb hinter einem fetten Palast im trächtigen Kuhstil mit vier Renaissance-Trampeln als Karyatiden, um ungestört schauen zu können. Denn er hatte bemerkt: das Natürlichste: in der Stadt die Stadt anzusehen, fiel hier peinlich auf. Ihre Bewohner, ausschließlich damit beschäftigt, einander erst entgegen- – dann an- – dann nachzustarren, sammelten sich alsobald im Kreis, stierten eine Weile mit hinauf, frugen schließlich gereizt, wo der ausgeflogene Kanarienvogel denn säße.

Dort aber stand er in Deckung vor dem wimmelnden Heute. Gegenüber der stumme Platz einer verschwundenen Menschheit, mit dem segnenden Reiterbild in steilem Empire, nicht eben gut, doch echt in seinen Fehlern. Dahinter stieg, unvergleichlich an Maß und Adel männlicher Anmut, des großen Saales steinerne Schale. Sein inneres Rund, wie leise hindurchgeatmet durch des Sockels breite Kantigkeit, hatte etwas vom Tier und vom Kristall.

Oben die fein verdrückte Kuppel. Er liebte Kuppeln, das Dreifache weisend in schwierigem und edlem Schwung, irgendwie verwandt dem Bronzereifen der Ekliptik auf wundersamen Weltmodellen Tycho de Brahes oder auch einem überpersönlichen Haupt vergleichbar, durch das sich der Geist des dreifachen Raumes Gestalt erwölbt.

Als er diesmal den menschenarmen Platz betrat, sahen die Näherkommenden alle aus, als wäre ihnen etwas passiert. Verlegener Hohn in der Haltung; die ganze Atmosphäre wie um Gargis Erscheinung, ersten Tags im Speisesaal, nur noch manierloser, aggressiver. Gargi hier? Doch nein! Er ließ sie ja an diesem Ort nicht mehr allein ausgehen, seit vor ihm zwei junge »Herren« auf der Straße – gleichsam als Promenadespiel – einander die möglichst niedrige Summe jeweils zugerufen, die jeder für den Geschlechtsakt mit den ihm entgegenwandelnden Mädchen und Frauen anzulegen sich bemüßigt fühlte. Das tiefste Angebot teilten sie sich dann immer grinsend, von den zehn Fingern pantomimisch unterstützt, über die Köpfe der Ahnungslosen hinweg, mit.

Die Principessa Dango? Wohl kaum. Als Archies Hörige war sie momentan am Tempelhofer Feld in einem Gecco Pintaccio-Film prostituiert.

Doch wozu die Lügen um sein Herz. An dem strahlenden Schauder wußte er, was – nicht weiße – noch schwarze – einzig die rote Magie intensiv wünschender Sehnsucht ihm, nach so vielen Monaten da zu erscheinen zwang. Es stand: eine lichte, leicht noch nachschwingende Lanze, wie in einer Steilrechten heruntergezückt, aus klarerer Heimat, ohne das Weichbild dieser Stadt auch nur berührt zu haben. Hob kritisch beglückt das Profil dem andern, steinernen entgegen, dort wo der Eckbau aus Pylonenbreite in einer höfisch feinen Kurve der Vollendung sich verjüngte.

Ganz langsam genießend kam er heran auf erhöhten Sinnen, seinem gewohnten Standort zu, unmittelbar hinter dem ihren. Selbst jetzt hätte er dieses ernste, holde und sehr geheimnisvolle Gesetz nicht durchbrechen, sich ihr in Willkür auch nicht um einen Schritt nähern mögen. Gerade deshalb war sie nun auf seinen Weg gestellt worden, in so viel verheißungsvollerer, weil freigeborner Weise »zufällig«, somit aus reinster Notwendigkeit.

Ganz in die Erblickung gestürzt, beobachtete er noch mit dem erleuchteten Saum seiner Sinne amüsiert den ganzen ranzigen Aufruhr: die mannigfachen Schreckphänomene aller Unreingegliederten dem Niegeschauten gegenüber. Hier, wo der Mob viel höher heraufreichte wie irgendwo anders, glaubte jeder Vorüberkommende sich berechtigt, durch Haltung, Miene oder erkünstelten Naturlaut eine Meinung, um die er nicht gefragt worden war, der Dame kund zu tun:

Frauen versuchten, voll höhnischem Mitleid zu erschrecken, zwinkerten um Solidarität hinüber zu wildfremden, achselzuckenden Männern. Andre, mit Kindern an der Hand, ermunterten diese, die nicht recht wußten weshalb, sich kichernd umzudrehen. »Pfuitterdeixel« pfiff ein ganz ausgekegelter Schlosserlehrling mit O-Beinen, Überbeinen und Plattfüßen in die Luft. Er nickte ihm zu: »So recht Crapüle, hätte sie bei Deinesgleichen Erfolg, müßte sie sich doch erschießen«. Gleich bei jener ersten Szene im Restaurant hatte er ja für immer begriffen: nichts haßt und fürchtet der Kötermensch so sehr, wie den Stilbildner, der durch sein bloßes Dasein etwas zu fordern scheint, eine Anstrengung, das Niveau zu ändern. Weder Bescheidenheit noch Diskretion retten da den Ungemeinen. Erst wird man ihn mit boshafter Herablassung niederzugrinsen, dann mit aggressiver Infamie von sich abzutun versuchen, denn als »schön« vermag der optisch Ungebildete nur den eigenen Komparativ zu begreifen, lediglich was einer zum größeren Grade als er selbst besitzt. Das in der Linie des leicht Erreichbaren gelegene allein gefällt ihm, so daß im Wohlgefallen noch Faulheit und persönliche Eitelkeit befriedigenden Platz finden. Erst der sich selbst Erziehende, welcher Art er auch sein möge, wird Fremdes: daher Befremdendes sogleich optisch »vom Blatt zu lesen« und zu werten vermögen.

Jetzt war er hinter ihr, auf seinem gewohnten Platz. Sie stand abgeschirmt mit unvergleichlich lässiger Verachtung. Schaute. »Die Wellen dieser zappelnden Gemeinheit sind viel zu kurz, um ihre langen Wogenzüge zu stören,« fühlte der Entzückte, »können gar nicht an diesen hohen Sender mit strahlender Antenne rühren.«

Sein Männerschatten beugte sich über. Da rief sie sich wie in eine bedrohte Festung zurück. Das unverweslich Herbe an ihr, diese steigernde Dissonanz des Reizes, vereiste sofort ins Abschreckende, absichtlich Abstoßende. Hochgemutes gerann zu Hochmut. Das war ihm neu! Eine Kultur des Hasses, kundig und erlesen.

»Kristallumpanzerte« fühlte er. »Ganz Weiße. Fremdeste der Fremden hier.«

Sie einfach vom Trottoir wegheben, ganz in Zartheit wickeln und hintragen, wo er der Herr war. Ihr Wesen und ihr Ort trafen ihn wie eine Blasphemie von Gott aus; mindestens wie ein schwer zu verantwortender faux pas himmlischerseits. In des Schattens Haltung lag jetzt so viel Diskretion, wie er jede Berührung mit dem ihren mied, daß sie sich halb wandte. Die einsamen Sternsaphire sahen ihn zum erstenmal an. In Padua hatten sie durch ihn hindurch in die Erwartung des Glücks geschaut. Sahen jetzt statt eines Überlästigen, statt eines pöbelnden Männchens einen Menschen vor sich, einen brüderlichen Gentleman. Geschwisterlich gleichgerichtet, Seite an Seite flog von nun an ihr Genießen alle Linien des Baus entlang; einen Augenblick verschmolzen die Schattenkerne in Eins. Wann dieses Schauen auch zu klingen begonnen, wem zuerst Worte sich geformt, wußte er nie. Es waren Worte von jener scheuen, weil tiefsten Vertraulichkeit, die wie aus einem Abgrund der Zeiten herauf-, herübergetastet kommt in eine erste Begegnung voll seltener, unbegreiflicher Anziehung; lustvoll und furchteinflößend zugleich. Die Worte selbst? Das Geheimnis ihres Reizes? Daß einer vom andern alles vorauszusetzen schien; alles Wissen und alle Erkenntnis und daß es doch wie nichts war, kaum mit juwelenen Händen gestreift, um ganz draußen nur die Spitzen der Persönlichkeiten im Licht miteinander spielen zu lassen.

Jetzt wandte sie sich ganz, prüfte mit den Wimpern durch die Luft hin die Knabenglätte seiner großen Züge, das starke Kinn aus Stein. Verwundert, als wäre sie gewohnt, nur in durchackerten Gesichtern Saat von Geist aufgegangen zu sehen.

Die gelähmte Zeit stand wie ein ins Unerträgliche gespannter Bogen ausgestrahlt um ihn. So ganz nah, war sie von verwegener überwältigender Vollendung. Nicht nur ausgespart aus einer saloppen Umwelt. Der niegesehene Typus, jene neue Schlankheitsgrenze, hatte auch neue Gesetze der Anmut erfordert und erschaffen. Welch zähe Treue zum Ideal war hier bis in die letzten Lineamente offenbart. Hingerissen und sachlich zugleich, ingenieurhaft beinahe fühlte er dieser neuen Anmut, dieser Natürlichkeit höherer Ordnung nach. Ihre gepflegte Wahrheit kam aus einer solch adeligen Tiefe her, daß jede Bewegung sie ganz enthielt. Etwas von Tier und Seraph und gleitendem Erz.

»Alle Städte, durch die sie geht, müßte man vor ihr niederlegen,« dachte er. »Denn keine paßt noch zu ihr. Sie aber ist im Recht.«

War seine Musterung indiskret geworden? Sie schrak auf aus holdem und tiefem Vertrauen. Verherbte wieder. Schlüpfte in einen schwarzen Block Abwehr.

Indessen hatte sich ein loser Halbkranz von Gaffern gebildet. Eine düstre Kuh mit Plattfüßen mißbilligte beide Erscheinungen. Andre starrten des Fischer von Erlach Meisterbau auf den entflogenen Kanarienvogel hin an. Ungeratenheit, die sich dreist machte. Noch einmal grüßten ihn die einsamen Sternsaphire ganz flüchtig, und die hohe Silhouette, schwankend vor Schlankheit, entwich in eine Nebengasse. Er sah den kühnen Gang ihrer göttlichen Beine durch das Kleid hindurchspiegeln, dann sog der braune Rüssel eines Durchhauses sie ein.

Gleichen Abends reiste er ab. Wußte: hier führte kein Weg mehr näher heran zum

»Elf von einem großen Stern«.

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