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Zweites Buch

Europa nahte.

Durch schweren Nebel pflügte sich die Jacht Marseille entgegen. Nur draußen vor Aden hatte sie Kohlen eingenommen. Orient zum letztenmal.

Wie losgelöste Stücke rotbrünstiger Klippen waren ihr von der Steilküste nubische Knaben entgegengesprungen in eine kobaltblaue See; zwischen den Lippen Dolche und auf ihre feuerfarbnen Schöpfe festgebunden Amphoren aus buntem Strohgeflecht, gefüllt mit lieblich freien Dingen handwerklichen Spiels. – Man hatte die Knaben beschenkt, doch nicht jäh entlassen, so dankten ihre Körper durch Tanz auf der Violinenbrust des Decks; warfen aus blanken Gliedern empfangene Freude den Spendern zurück.

In der Reeling spiegelten sich, metallisch ins Messing gewölbt, breite Nilaugen, wie nasse Kastanien braun und weiß, und Hennarot gefärbter Schöpfe.

Ganz nah um das Schiff stürzen pausenlos, in goldbraunen Ellipsen, die Falken von Aden. Ihre schrägen, jähen, stets geschlossenen Kurven scheinen ein neuer, rotierender, geisterhafter Körper im Raum, als dessen milchweißes Herz die Jacht steht. Geruch durchsonnten Gefieders steigt und sinkt mit ihnen: paradiesisches Zimt, verbrannt auf Flügelaltären hundertfach.

Schwingt am Seil des Lichts einer der großen Körper schräg um den Bug, dann – auf Armesabstand – wendet der Blau-Bekrönte aus göttlichen Schultern heraus ruhevoll das Haupt. Sieht lidlosen Auges golden in das Auge der Menschen.

Dann steht sein Flug und in ihm die Zeit. An einem Faden Licht hängt er vom Scheitelpunkt der Ewigkeit herab, mit gebreiteten Schwingen aus stillem, schwerelosem Stein.

So also: hellgesäumt, sich myrtenblättrig überlappend, steigt das Gefieder auf von Hals zu Haube. Zweihundert Federchen – dreihundert – dreihundertvierzig. Nein, nur genau. Noch einmal zählen. – Da schlägt ein Augenlid die Zeit. Schwächlich, menschlich.

Hochmütig und befremdet ab kehrt sich der starke Vogelblick. Schräg ins Geschehen schlagen wieder Schwingen und verschwinden.

Die Flugbahn eines mächtigen Sperbers war immer wieder vor dem Bugspriet knapp an Gargi vorbeigestrichen, die, von mondsteinfarbnen Schleiern umweht, ungeblendet im fließenden Licht stand. Jedesmal in Herznähe wandte sich der große Vogel, sah grell in den unbegreiflich sanften Samt ihrer Augen. Sie rief ihn an. Bog das nächste Mal ganz sich ihm entgegen; warf ihren Schleier nach seinem Hals. Das erschrockene Tier hackte zu, durchstieß mit Schnabel und Kopf das dünne Gespinst, und so, umwallt von dem Schleier der Frau, stieg es und trug ihn, sich steiler und steiler schraubend, immer neue Sphären aufreißend, in einen lotrechten Trichter von Licht.

Sie sah ihm nach, verzückt zurückgeworfen. Hochgereckt zum Flug: auf federndem Zehenfächer ein befiederter Pfeil.

Da griffen gewalttätige Hände von rückwärts um sie.

»Man streut Mythen aus!«

Hart und geschickt senkten sich zärtliche Fangzähne um die Knöchelchen ihres langen Nackens. Dann – sanft schnurrend – eine Pranke auf der Beute, löste Horus seinen Biß aus dem Schmelz von Gargis Haut. Dort blieb die zweiunddreißigzackige »Perlmuschel«: sein Privatsiegel.

Im Roten Meer ließ er sich den Kapitän kommen.

»Sie vertreten mich, bis der Kanal passiert ist. Port-Said, Suez, nur den nötigsten Aufenthalt. Sind wir im offenen Mittelmeer, so melden Sie es in meine Kajüte. Dann täglich das Logbuch, sonst nichts bis Marseille.«

Der Japaner nahm die Papiere, verbeugte sich. Er aber schritt – ehrfürchtig fast – die leichtgedrehte Treppe abwärts. – Der Geburtsweg! »Treibt es mich das nächste Mal aus diesem milchweißen Bauch, ist es in unerhörtes zweites Leben hinein, wie es wenig Sterblichen vergönnt. Dann reißt mir die Eihaut des Auges vor der weißen Welt. Ganz auf einmal. Kein gottverbotenes: ›allmählich‹ für mich – – ho ho, nicht für mich.«

Er schlug den Blick zurück: jugendwärts; küßte mit den Wimpern die Erinnerung, Diana Elcho. Wand sich genießend langsam die Treppe hinein, wie in eine Schraubenmutter. Von Holz zu Holz, dem starken, reinen, messinggesäumten, sank er; aus seinem Herzen aber stieg es noch immer wie ein Faden Licht, hing ihn an den innersten Trichter Gold, den unbeirrbar aufkreisend der Sperber, von Gargis Schleier umwallt, lotrecht über ihm in den Scheitelpunkt der Bläue eingekerbt. Als letztes Bild aus dem früheren Dasein wollte er dies hinübernehmen mit sich in die neue Verkörperung.

Versiegelte dann seine Sinne für alles Droben und Draußen, sammelte sich in Ehrerbietung der ungeheuren, weißen Freude entgegen. Das Werk für diese äußersten Tage lag längst bereit. Er schlug es auf: A. Einstein, »Zur Elektrodynamik bewegter Körper.«

 

Die Maschine stand.

Ächzen der Taue von einem starren Drüben. Die Eingeweide der Jacht schoben sich schief. Noch ein paar Schraubenwirbel nach rückwärts. Sie lag Europa an. Die Schenkel hatte er sich auf den Stuhl niedergepreßt, mit Griffen wie Klammern, diese letzte halbe Stunde, jetzt flog er hinauf, sprang hinüber, alles zu erleben mit ausgebreiteten Armen.

Stand in Europa.

Fühlte sich an diesen liebeeröffneten Armen beiderseits gepackt. Fahler Gestank nach toter Haut unter schweren Stoffen traf ihn aus den Ärmeln zweier Geschöpfe heraus. Sonst staken sie bis zum Kleinhirn fest in hartem, schmutzigdunklem Gewebe und vielen Metallknöpfen an der Leber. Auf dem Kopf stand ihnen ein zweiter Kopf aus finsterem Blech mit Schild und einer Nummer.

»Halt – verboten. Erst die Hafenpolizei, – zurück!«

Irgendwo schlug es Mittag. Da barst über der Erde ein Geheul, johlend vor böser Länge – klagender Wut. Es war wie das hoffnungslose, tote Geheul, mit dem ein Unding sich selbst bejammert.

Ganze Beete von Sirenen vomierten ihre schrillen Trichter in eine Wunde aus widerwilliger Luft. Die Arme sanken ihm. Er blickte auf. Dunkle Schwaden schwimmenden Kotes hingen in der Atmosphäre. Die Technik benützte den Himmel als Kloake der Zivilisation. Kanalisierte ihre Exkremente verkehrt in ihn hinauf – reduzierte sein Blau zur Latrine.

Zurück eskortiert, stieg er noch einmal in den reinen Leib seiner Jacht hinab, hinter den zwei Blechköpfigen drein. Jetzt nur kein Nachgrübeln, was denn diese beiden unter Europäern zu suchen hatten, deren Rasse sie doch nicht angehören konnten, lieber gut anschauen. Eigentlich war da nur ein Streifen Haut im Nacken übrig; wo der harte Stoffring dran rieb, hatte der eine ein aufbrechendes, der andre ein abheilendes Furunkel. Sonst war rückwärts nichts Lebendiges an ihnen frei sichtbar.

 

Der Japaner hatte alles geordnet, man durfte da sein.

Diesmal schob sich draußen an Land ein amorpher Lebenshaufen umher.

Stumme Klumpen hatten sich von ihm gelöst und vor der neuen Jacht mit ihrer rein asiatischen Bemannung gestaut – in merkwürdig geballter Mißgunst.

All diese Wesen schienen es noch zu keinem einheitlichen Körper gebracht zu haben. Sahen irgendwie aus, als trüge jeder die ausrangierten Gliedmaßen eines andern auf, fremde Beine in eignen Hosen, und diese wieder unpaar. Sammler von Organteilen ebenso gemischter als einwandvoller Herkunft. Auch an Kolorit: bräunlich, gelblich oft, manchmal violettgesprenkelt, meist aber wie mit fahlem Eiter statt Blut gefüllt, erschien die Haut.

Wer mochten diese mißfarbigen Barbaren sein?

Sie schienen sich ihres trüben Baues jedoch keineswegs bescheidentlich bewußt, zergafften vielmehr mit hämischer Überheblichkeit das rhythmische Arbeiten der gelben Matrosen. Als jetzt die beiden morgenländischen Gestalten auf dem Landungssteg erschienen, brach der Haufe, ohne ersichtlichen Grund, in ungezogenes Gebaren aus. Der Japaner näherte sich, und hinter dem gelben Tarnhelm seiner Gesittung hervor:

»In Port-Said mir erlaubt, Nötiges für erhabene Ankunft besorgen. Sir und Lady zu schönes Gewand. Risken Insult. Wenn aber insultiert worden, Sir und Lady dafür eingesperrt.«

Dann mit kaum merkbarer Ironie vor des andern blanker Miene, die zu fragen schien: »Was geht es Menschen an, wenn andere Menschen anders gekleidet gehen?«

»In der erhabenen Heimat von Mob mißhandelt werden verboten – für Mißhandelten. In der erhabenen Heimat das heißen: öffentliches Ärgernis erregen.«

Jetzt war er endlich ebenso töricht, kläglich und schmerzhaft gekleidet, wie der amorphe Haufe drüben. Nun, im Inneren der weißen Welt konnte man das ja alles wieder abtun. Um viele Weihestätten gab es üble Gasgürtel von unbegreiflicher Pest; in unmenschlicher Vermummung mußte der Zu-Prüfende hindurch.

Unbeirrbar im Wohllaut seiner Pulse – unangreifbar in seinem eignen Kraftfeld schritt er – Gargi auf den Armen seiner Seele – in den Ring aus fahler Mißzucht hinein.

Nur einmal zuckte es doch in ihm auf; irgendein Kerl, Fäuste in Hosentaschen, hob auf gespreizten Fersen mit vagem Hohn Gargi seinen Geschlechtsteil entgegen, pfiff durch Lippen, an denen jeder räudige Hund genagt:

» oh la la – les petites fesses!«

Die weiße Glorie ließ ihren Saum auf grauenhaft raffinierte Art behüten.

Hinter dem gestauten Haufen längs des Kais zappelten oder trollten andre Massen aufgelöst nach allen Richtungen in gemörtelte Zeilen hinein, deren einzelne Bauglieder nicht organisch – nur durch eine Art zäher Räude – endlos aneinanderklebten.

Gegen das Zentrum der Stadt riß diese zähe Räude öfter zu Plätzen auf, und dazwischen ragte groß aufgedonnertes Gerümpel, rattenhaft angeknabbert von allerhand Stilen, und an ihm irgendwo ganz draußen stand meist: liberté – fraternité – égalité. Auch ein Gasometer mit Apollo kam. Den Eingeweiden des Gebäudes entquoll es figural. Bruchbänder aus Marmor hielten das dann alles wieder leidlich um seinen Bauch zusammen fest. Oft vor solchen Bauhaufen – wohl an großen Kreuzungen auch – standen bekleidete Männer aus Bronze, denen unbekleidete Frauen Kränze, Partituren, Pinsel und Wagen hinstreckten. Oder das Auge erwischte, gerade noch, ehe sie auf dem Pflaster zerschellen würden, über Postamenten metallne Gäule, sich ein Eisenstäbchen in den Huf tretend und hinten auf etwas, halb Stützschwanz, halb Kaskade, gebäumt. Von ihren Rücken herab schwangen Wilde in Affenjacken Säbel gegen die elektrische Straßenbahn.

Nicht Luft, nicht Landschaft, noch gemörtelten Zeilen, Bauhaufen, noch Verkehrsmitteln lebendig vermählt, lagen diese Bildwerke: Trümmer von Stilen, als unverdaute Bronzebrocken im Straßendarm umher.

 

Und nirgends Europäer. Immer noch trollte es sich am Fuß der aneinanderklebenden Räude in dieser sonderbar geballten Mißgunst, keuchenden Freudlosigkeit. Immer noch staken Wesen bis zum Kleinhirn in falschen Hülsen von der Farbe verwesenden Schmutzes, hatten, wenn auch ohne Schild und Nummer, den doppelten Kopf: senkrecht über dem Kopf noch einen. Dafür keine Zehen, keine Füße – und darum keinen Gang; ja, sie gingen ohne Gang in harten schwarzen Lederklumpen: Einhufer, doch unecht auch als solche.

Das – überall dazwischen – sollte wohl »Frauen« vorstellen? Aber es kam so verschieden vom Manne, wie von einem andern Ende der Säugetierreihe, daher. Schien aus den verreckten Überresten aller Reiche zusammengestoppelt, als hätte es sich auf dem Schindanger der Natur ausstaffiert: tote Hinterteile zerfetzter Vögel staken auf dem Doppelkopf, um den Hals hingen gegerbte Raubtiere mit Glasaugen und Schnauzen aus Pappe. Kleidung behauptete Organe, die es doch zum Glück gar nicht gab, oder nur ganz wo anders, und auch dort viel unauffälliger. Ein hölzern übertriebener Versuch, niedre Lebensstufen zu imitieren, auf denen das Weibchen derart ungetüm, verkehrt, unwahrscheinlich und auffallend wirkt, wie einer andern Art zugehörig. Für die Männchen höherer Organismen ist das dann nicht mehr nötig – die merken's schon so.

All diesen Überkleideten, ob Männer ob Frauen, war eins gemein: ihre Körperteile schienen nicht recht ineinandergeschmolzen vermittelst jener feinsten Übergänge, als welche allein das Ebenmaß zu wirken vermögen: anmutbewegtes Leben. Jedes Glied hatte etwas an sich, als wäre es nach einem doppelten Bruch irgendwo ein wenig verkehrt zusammengeheilt, wisse nicht mehr in seligem Fluß durch Gewänder hindurchzuschwingen.

Doch auch zum Herdenrhythmus hatten diese Wesen es noch nicht gebracht. Das überstieß sich unaufhörlich oder zuckte zurück vor Straßenbahnen, Autobussen, Elektromobilen. Dieses anders bewegte Tote trieb seine Rhythmen als Keile quer in den Puls der Menge hinein, streckte – staute zerriß ihn. Alle atmeten ja wie verstörte Frösche.

Zu Hause im großen Äther war das nie gewesen, doch hier schien Lebendiges in seinem Kreislauf so verarmt, daß es sich masochistisch duckte und wand, vergewaltigen ließ, oder floh vor dem fremden Tempo der zugleich untoten und unlebendigen Zwitter. Daß Benzin dem Blut befahl!

Und da war etwas im Blick. In diesen verknoteten oder zerronnenen Gesichtern war ein Blick: sauer und hölzern, der nicht sah. Als würde die ganze Umwelt absichtlich in den gelben Fleck der Netzhaut gerückt. Vielleicht um die Bauhaufen nicht sehen zu müssen, die räudigen Zeilen, die verwickelten Bronzeklötze im Straßendarm, die trippelnden Schindanger, sich selbst, oder die Kilometer unbegreiflich aggressiven Krams, mit dem das gläserne Unterteil der Häuser ausgestopft war. Warum das auch noch hinter Durchsichtiges rücken, statt in die Dunkelkammer?

Und dann lächelte er doch wieder durch Unbehagen hindurch, wie ein Geburtstagskind, wenn es regnet.

Das war ja alles noch der üble Gasring – die Schranke der Schrecken –, nur unbeirrt weiter im eignen Kraftfeld schreiten, durch alles hindurch, über alles hinweg, bis man zur weißen Rasse kam.

Es konnte nicht den ganzen großen Geburtstag verregnen. Und dann zuckte er doch zusammen – zum zweitenmal heute. Er hatte die Stellung der Europäerin gesehen: Fäuste in die Hüften gestemmt, mit vorgetriebenem Birnenbauch, Gekeif vomierend – hemmungslos. Und der begeiferte Mann, wiewohl furchtbar von Gebiß, mit von Saublut beschmiertem Schurz und breitem Messer, schlich eingezogenen Gesäßes vom Grünkramladen weg. Selbst seinem harten Ohr ward übel.

Fäuste in den Hüften: diese Megären-Stellung der Frau war Indien und China unbekannt. Zorn erfand dort andere Gebärden.

Über das zerhackte Gezappel des Lebenshaufens floß es plötzlich als großer Bronzeton Asiens hin – Chinas. Oh, Glocken. Wie warm. Er sog die tönende Welle tief in seinen Leib, ging ihr nach über einen Platz – über Stufen – durch ein braunes Tür-Kissen in den Duft von erkaltetem Orient hinein und einen großüberkuppelten, menschenleeren Raum. Flammicht verschroben war alles an ihm: schraubenförmige Säulen, als wollten sie jeden Moment, wahnsinnig rotierend, sich in den Boden einbohren und verschwinden, entließen oben Wolken aus steinigem Eiter; aus allen Ecken quoll es, bauschte sich grau, mit grellen Papier-Rosen behängt.

Gewesene Menschen schlurften die Nischen entlang, knicksten vor einem schlechten, angenagelten Akt. Reste von Weibern waren in triefäugiges, klangloses Plärren vor ihm versunken. Nein, versunken nicht, denn ihre Rattenaugen funkelten dabei aus dem Halbdunkel ganz nüchtern gegen die beiden freien und stillen Fremden. Er wischte sich die Schleimspur dieser Blicke vom Gesicht.

Aus grau-marmornem Schaum und winselnden Gebärden, aus schrägem Gehimmel gemalter Posen, von überall kroch es flammicht um den schlechten, angenagelten Akt.

Um ihn schienen die versteinerten Unluststoffe einer ganzen siechen Welt zu Prunk geballt. Als hätte ein riesiger und bleicher Buckliger mit schiefen Leichenfingern sich eine überladene Apotheose eigner Dekrepidität an diesem Raum geschaffen. Doch warum waren die wonnigen Glocken und Asias Duft gerade an diesen welken, eigensinnig verschrobenen Ort für erloschene Menschen gebunden?

Am Tore suchte er nach einem Anhalt, wo er eigentlich gewesen, fand über dem Portal etwas von »Jesu« oder »Jesuiten«. Es klang ihm wie fernes Befremden ums Ohr. Hing das nicht mit dem Privatfetischismus jener kleinen Barbarenhorde, den entlaufenen Sklaven der Ägypter und ihrem seltsamen »Herrn«, zusammen, in deren Chronik er einmal geblättert? Hatte so ähnlich nicht der kleine Volksführer mit seiner Predigt gegen die Bildung, der so viel sprach und den »Heiden« Plappern vorwarf, geheißen, jener, der sich auch noch gerühmt, Sohn des polternden »Herrn« mit den schlechten Manieren zu sein.

Ach ja, wie hatte das doch geheißen: »Denen wäre besser … Mühlstein um den Hals, wo es am tiefsten ist … ersäufen.« »Da wird sein Heulen und Zähneklappern« … »Und werden sie in den Feuerofen werfen« … »Denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig«.

Ja, ja, richtig. Also das gab es auch noch; nicht nur in historischen Fachbibliotheken für ethnographische Kuriosa? Die aggressive kleine Horde lebte demnach bis heute, hatte hier auf europäischem Boden sogar eine Zweigniederlassung ihres barbarischen Fetischismus mit seiner Saat von Bosheit, Anmaßung und Intoleranz.

Draußen auf der Treppe schwankte ein stoßender Klumpen Kinder hin und her, hieb und spie gegen eine aufheulende rosa Masche. Unter der rosa Masche kratzte und biß es zurück. Umsonst. Aus dem Zopf gerissen, verschwand der grelle Fetzen in einer Schmutzlache. Aus viereckigen Mäulern pfiff die Gemeinheit. Dann riß ein Bengel aus der Rotte ein Holzgewehr an seinen grindigen Schädel, und sie spielten »Totschießen«.

Vor einem Haus lehnte ein großer Wagen, leinenumspannt, »Möbeltransport« stand darauf. Er war durch eine Nabelschnur von Dingen mit dem Leib des Hauses verbunden. Wacklig, schief, freudlos und irrsinnig hing es aus ihm heraus, stand noch: künstlicher Unrat, auf der Straße, hinein in das Tor und eine falschgebogene Treppe hinauf.

Bis unter das Dach hörte man Schleppen und Poltern schwerer Gegenstände. Damit ward nun die schiefe Räude vollgestopft. So sah es also da drinnen aus – und da drinnen lebten wirklich Leute mit solchen Sachen den ganzen Tag zusammen.

Das Haus Elcho enthielt nicht den zehnten Teil Gerät, denn es war erfüllt mit dem Wohllaut des dreifachen Raumes.

Und plötzlich vergaßen sie alles, stürzten zu dem Wagen hin, und Gargi hing am Hals eines lebenden Wesens. Ein Pferd – endlich ein Tier, etwas Lebendiges; welche Erlösung! Xbeinig wie eine alte Kuh, aber das machte gar nichts. Es war ein Geschöpf mit Geschöpfaugen, trug seine eignen Glieder in edler Folgsamkeit und war schön in ihnen wie ein Gott. Und dieser Wiesen- und Steppengott mußte geschändet werden, nur um solchen Narrenkram von Ort zu Ort zu zerren? Eine grenzenlose Verlassenheit lag um das einsame Pferd mitten in dem steinernen Wust, der mitsamt dem angenagelten Akt, den Bronzeklötzen, Bauhaufen, und inklusive » fraternité – égalité – liberté«, kein einziges Haar aus seinem Schweife wert war.

Zucker – Brot mit Salz! Vielleicht war das irgendwo aufzutreiben. Sie suchten nach dem Laden, da hieb schon eine Mißgeburt mit einem Peitschenstiel dem Gott auf die Augen, schräg sprang der Möbelwagen über das Pflaster los, verlor dabei hinterwärts ein kastenartiges Ding mit Aufsatz, mehrfach profiliert, auf vier gedrechselten Beinen; auch dieses Ding verlor wieder etwas aus seinem Innern; als es auf das Pflaster schlug, schwang eine Tür an elenden Scharnieren, und ein topfartiges Henkelgefäß, unbekannten Gebrauchs, doch unsagbar kläglich anzusehen, zerbarst am Stein.

Die Mißgeburt zerriß deshalb dem Gott den Mund, daß er sich beinahe überschlug und der Wagen ihm ans Kreuz fuhr, dann torkelte sie vom Bock herab, holte langsam genießend weit aus und stieß ihren künstlichen schwarzen Huf mit aller Kraft dem zitternden Gott in den Schoß.

Doch selbst das schien bei den Übrigen in den gelben Fleck des Auges zu fallen, während sie in diesem ewig verfließenden finstern Zustand vorbeizogen, ausschließlich beschäftigt, einander vage zu stören. Das dazwischen – was »Frauen« vorstellen sollte – hatte außerdem immer mit dem doppelten Kopf zu tun: daß er stets in einem bestimmten Winkel über dem ersten bleibe, denn das Wetter hatte sich verschlechtert, war stürmisch geworden vor Morast. Nun setzte gar Schneeregen ein, und der doppelte Kopf ward völlig ambulant. Die indischen Fremdlinge hatten erst gemeint, er diene zum Schutz jenes Wellblechs, das statt Haar unter ihm lag, nun aber spannte sich erst recht zum Schutz über den Schützer ein Schirm. Der stand nun schon als vierter Wahnsinn über dem ersten im Urkopf selber.

Jetzt endlich, nach Stunden, gab er alles auf, warf sich, wund in den harten Fußschachteln, voll leidenschaftlicher Müdigkeit, mit ganz ausgeweidetem Herzen, in ein Auto, nannte sein Rasthaus. Dort war eitel Beutelust im Frack. Die Fürstenappartements bereit, wie für einen Rhadja. Funkspruch, Jacht, Dienerschaft hatten gewirkt. Der Rasthaushälter schmolz herbei, gerann aber säuerlich, als Mr. Elcho erklärte, den Nachtexpreß nach Paris nehmen zu wollen. – Nein, danke, er brauche nichts – jetzt nur ein Bad, und, da sie schon bereitet waren, die Fürstenappartements, bis der Zug ging.

Ganz still saß er später in dem grellerleuchteten Basar des Irrsinns – stundenlang still. Er hatte noch nie ein Tapetenmuster gesehen. Und dann geschah es, daß er aufsprang, und es kam diese eigentlich ganz nebensächliche Entladung. Er begann nämlich an all den verklemmten Schubfächern zu zerren, die unter Spiegeln und überall rechts und links in allem Möglichen staken, rüttelte wie ein Besessener an ihnen, wie ein Berserker, bis sie es aufgaben – aufgingen – Inhalt vomierten: lauter Stückchen. Abgebrochenes. Leisten, Ecken, Aufsätze vom Leib des Muttermöbels waren in ihnen aufbewahrt. – Da klopfte es – die Rechnung. Eine Uhr schlug irgendwo Mitternacht. Der große Geburtstag war eigentlich soeben aus.

Lange Illusionen aber kennen nicht Geburts-, nicht Sterbetag – nur Sterbejahre.

 

Den Sonnenaufgang feierten also auch die Europäer mit einer Andacht, leiteten mit ihr den eignen Tag ein. Es wunderte ihn nicht, beruhigte ihn vielmehr wieder.

Gleich am Morgen im Ritz sah er jeden einem mächtigen weißen Blatt voll Schrift sich neigen und – noch ehe er Tee eingoß – ganz darin versinken, wie in Gebet. Die Devotionalien selbst aber mußten – das gefiel ihm besonders – immer leuchtend frisch gereicht werden. Abgenütztere wiesen alle jedesmal mit Zeichen des Abscheus weit von sich. Zweimal täglich, so um Sonnenauf- und Untergang herum, spielte sich dieser Vorgang ab. Auch auf Straßen, in Cafés; war also wohl ein verwandelter, dem Stadtleben angepaßter Naturkult: die großen Blätter Sonnenhymnen, Gebete zum Seelenaufgang gleich dem: o mani padme A U M, mit dem der Hindu seinen Tag beginnt. Sie lauteten in allen großen Sprachen, wie es schien. Eine allgemein europäische Andacht somit.

Auch er ließ sich andern Tags im Ritz eine Morgenhymne reichen. Sie war französisch: » Le Matin«. So hatte er denn richtig vermutet.

Und hub an:

»Von günstigen Winden gebläht, segelte das Ministerium munter von dannen … doch ungeheure Erregung hat sich seit gestern des ritterlichen französischen Volkes bemächtigt und droht … falls nicht Frankreichs berechtigte Interessen …

Der deutsche Harn:

Dem eminenten französischen Forscher M. Forest ist es gelungen, die seelische Minderwertigkeit der deutschen Rasse auch chemisch nachzuweisen. Der Deutsche, der nämlich dem subdiaphragmatischen Typus angehört, einen Quadratschädel, kurze, grobe Hände und Plattfüße hat, führt auch in seinem Blut mehr weiße und weniger rote Blutkörperchen als der Franzose. Derart ist es kein Beispiel zivilisierter Nationen, das ihn ändern kann, denn wie sollte dieses auf Hyperchesie und Bromhydrose, die ihn kennzeichnen, und auf seinen außerordentlich toxinhaltigen Urin Einfluß haben?«

Er überschlug ein paar Spalten.

»Gerichtssaal: Exbräutigam klagt auf Rückgabe des Hochzeitsgeschenkes: eines neuen Gebisses für die Braut, weil diese die Verlobung gelöst. Die Beklagte verweigert die Rückgabe mit dem Hinweis, das Gebiß sei ein Geburtstagsgeschenk aus der Zeit vor der Verlobung. Letztere habe sie aufgelöst, weil der Kläger mit der fünfzehnjährigen Nichte der Beklagten … Das Gericht beschließt … neue Zeugen …

Bridge-Tee am Dienstag bei Mrs. Payn-Whitney … In dem reizenden Appartement der Rue X … anwesend waren …

Der Doppelmord in der Rue Cambon.

Grauenhafter Fall von Kindermißhandlung.

Kasseneinbruch … Vergiftet aufgefunden … Die Prostituierte Madeleine B… Explosionskatastrophe.«

Er griff nach einem deutschen Blatt:

»Wenn auch das Ruder des Staatsschiffes in allzu nachgiebigen Händen … so wird doch der deutsche Aar … wehe … mit der tiefgehenden Erregung des deutschen Volkes zu rechnen … falls nicht die berechtigten Interessen des Reiches … Schwere Degenerationserscheinungen in der französischen Rasse … Geburtenrückgang.

Der Raubmord in Moabit … Das Martyrium der kleinen Luise. Kasseneinbruch … Erhängt aufgefunden … Die ledige Dienstmagd … Magazin in die Luft geflogen …«

Er nahm ein Italienisches:

»Endlich mußte das Ministerium die Segel streichen … die noble lateinische Rasse … in heiligem Egoismus … tiefe Erregung … falls nicht Italiens berechtigte Interessen …

Wegen Urkundenfälschung verurteilt: Ein österreichischer Staatsangehöriger. Der Fetthändler Kovacs mit zwei italienischen Geschäftsfreunden forderte in einem Champagnerlokal der Galleria Vittorio Emanuele weibliche Gesellschaft. Sie ließen die junge Artistin Gilda Degrassi aus der Wohnung ihrer Mutter holen und verfielen während des Gelages darauf, die Jungfräulichkeit des Mädchens zu versteigern. Der Fetthändler Kovacs trug schließlich den Sieg mit fünftausend Lire davon. Er stellte auch gleich den Scheck aus und übergab ihn dem Mädchen. Damit dieses aber ›nachher‹ das Geld nicht beheben könne, fügte er dem Datum eine falsche Jahreszahl bei. Das Mädchen bemerkte dies am nächsten Morgen, korrigierte selbst die Zahl und behob das Geld, worauf Herr Kovacs gegen sie die Anzeige wegen Urkundenfälschung erstattete …

Vater, Mutter und vier Geschwister erstochen! … Lustmord an der sechsjährigen Emilie O… Bankraub per Automobil … Mit aufgeschnittenen Pulsadern fand man …

Kesselexplosion! …«

Jetzt das große Englische:

» The government's position … unable … great nation …

Der australische Tennischampion in London … Prime ministers Golf … Beethoven II, die Blüte englischen Pferdefleisches … versagte … allen Freunden des edlen Rennsports …

King's bench division: Lady Sarah Sackville gelingt es, zwei Ohrfeigen ihrem Gatten nachzuweisen … Zeugen sagen aus … his Lordship … decree nisi …

An einem Schweinsdarm im Hofe erhängt aufgefunden: Aus Furcht vor Züchtigung versteckte sich der vierzehnjährige Schlächterssohn Harry S. hinter einem Faß voll Därmen, und als Entdeckung drohte, griff er, in Ermanglung eines Strickes, nach einem Darm und erhängte sich an einem Nagel. Er hätte an diesem Morgen sein erstes Kalb schlachten sollen, zeigte aber von je eine ganz krankhafte Abneigung gegen seinen künftigen Beruf. Durch vernünftige Strenge hoffte der bedauernswerte Vater dieser kindischen Verstocktheit ( stubbornness) und Schwäche Herr zu werden. ›ch wollte eben einen Mann aus ihm machen,‹ sagte er unserem Berichterstatter, ›wo käme die Nation hin …‹

Der Raubmord in Sussex.

Im Hydepark verhungert aufgefunden: ein alter Mann mit einem Zylinder …

Deutsche Greuel vor dem Reichstag … stock exchange … liver pills … beecham's pills …

In die Luft geflogen …«

 

Sir Osmond Cadogan reichte ihm das »Echo de Paris« herüber.

»Vielleicht interessiert Sie dieser Artikel anläßlich der heutigen Reprise in der ›Renaissance‹ … falls Sie die große Tragödin in dieser Rolle noch nicht gesehen haben. Oh, es ist sehr wunderbar« …

Dann versteifte sich der rosa Greis, stand steil und fassungslos. Was war denn diesem goldäugigen Exoten auf einmal geschehen, dessen Allüren ihn gestern so getroffen, daß er eine Anknüpfung gesucht? Grüner Ekel sah ihn ja da an, doch wieder viel zu groß, um noch persönliche Beleidigung zu sein. Solche Leute von Übersee, trugen sie auch, wie dieser, einen noch so guten Namen, letzte Kultur und Gesittung ließen doch immer ein wenig zu wünschen übrig. Zur Beruhigung griff er seinerseits nach der »Morning Post«, die jenem entfallen war. Bald kehrte ihm altes Behagen zurück:

»Lady Sarah Sackville gelingt es, zwei Ohrfeigen … An einem Schweinsdarm im Hofe erhängt … deutsche Greuel … Golf … liver pills … In die Luft geflogen …«

 

Abends fuhr er allein zur Vorstellung. Place Vendôme – rue de la paix – rue des petits champs – avenue – boulevard – schiefes Zick-Zack – wieder boulevard: straßenlang aneinandergelehnte hilflose Unfähigkeit, mit ihren Kilometern unbenützbar angequetschter Balkönchen, holperte gesimseschief die Autoscheiben entlang. Der Träumer seines weißen Traumes umformte – hinter gesenkten Lidern – mit seinem Raumsinn indessen das Problem: Theater.

Er kannte bislang nur die antike, von Süden vereinfachte Lösung: ein Ring aus kristallinischem Stein, geschlossen gegen das bröcklige, pfützenweiche, amorphe »Draußen« und was dort sich abzappelte, abschmatzte, anspie und verreckte, noch ohne Stern – Achse – Persönlichkeit – Schicksal. Drinnen: konzentrische Marmorrillen, glatt, nur schauender Augen voll, in einem Eierstab lebendiger Köpfe. Drüber: offener Zenith. Im innersten Ring ein kleiner Marmormond für sich: der Chor – Mittler zwischen Menge und Mensch. Auf der Bühne, durch Maske und Kothurn entrückt, die dramatische Person: Verdichtung ins Ungemeine von zehntausend Einzelleben, wie Blutwasser aus zehntausend roten Rosen über Feuer erst zu einem Tropfen Essenz gerinnt. Und das Drama: da ballt sich aus dem Leeren, in dem der Nichtige ungefährdet treibt, gegen den starken Ungemeinen das Trikymion auf: die dreifachen Becher des Geschehens steilen sich ihm lautlos, wie einem Mond, entgegen.

Schon schwebt er über dem Ersten und in ein trügerisch gläsernes Tal. Dann siegend über den Zweiten – glatte Weite blaut auf einmal vor ihm auf mit Glanz von Paradiesen: die Welt scheint auszusetzen, atemlos. Nur Persönlichkeit und Schicksal bleiben brütend gegeneinander überhangen. Durch diese Pause im dramatischen Geschehen rast jetzt, als Satyr-Zwischenspiel, das Chaos; metallne Phallusse klirren, aus rotem Tieratem tauchen elfenbeinerne Triangel, die leichten Schultern der Flötenspieler. Mit Huf und Horn galoppiert es, noch leerer Trieb, vorüber ins Leere.

Und abermals hebt das Drama an. Sammelt sich in seiner letzten Schwärze. Des Trikymions dritter Becher steigt auf, gleichsam herangesogen von dem Ungemeinen, das ihm entgegensteht, wird ein Turm – ein Trichter – ein glasig verdauender Mund – und der geheimnisvolle Spiegel, den eine wundervolle Persönlichkeit durchbrochen, schließt sich wieder über ihr.

Das wußte er vom Drama, vom Haus des Dramas. Wie mochte es in Europa sein? Bruchstücke von Werken, die er kannte, ließen Außerordentliches hoffen. Doch vor allem: wie war das Raumproblem nordisch erfaßt, seine Vielfalt von Zweck und Geist: schon die trivialen Erfordernisse: Überkleider ablegen – dann gleichsam die Glieder ablegen: jedes störende Körpergefühl. Die Lösung all dieses mußte – das eben ist ja Architektonik – gleich aus solcher Tiefe herkommen, daß sie sich wie ein Monolith über alle Mannigfaltigkeit der Bedürfnisse zusammenschloß zu organischer Einheit.

Der Wagen hielt. Nachher, in einen Bock aus gepreßtem Samt geklemmt, sah er aber immer nur den Eisenhaken, eigentlich nichts als die beispiellose Niedertracht dieses Eisenhakens vor sich, an dem, mit schmutzigem Strick zusammengebündelt, sein Pelz jetzt draußen hing. Zwischen schiefen Goldleisten aus Holz, rotem Papier als Damast, Tünche als Marmor, Marmor als Schlagsahne hatten sich armselige Höhlungen aufgetan voll Eisenhaken und abortfrauähnlichen Weibern. Letztere rissen ängstlich gestauten Männerhaufen ringsum Kleidungsstücke aus den Armen. Frauen wimmerten leise um geknickte Hüte.

Dieser Haken aber verstörte, ja ängstigte ihn bis zur Übelkeit. Das andere hatte doch reichlich Stoff zu Mißbrauch und Verderb gegeben. Mit Holz, Marmor, Farbe, Stuck, Stein – falsch verwendet – ließ sich ja immerhin etwas ausrichten. Aber dieser Haken: ein gebogenes Stück Eisen mit einem Porzellanknopf, sonst nichts. Wie mit so wenig so viel Gemeinheit erringen?

Vielleicht zerging der Haken, wenn man um sich sah. Das vorne schien ein verwachsenes Rudiment antiken Chors: aus zwei ungelösten Eckproblemen heraus wand sich ein mannsdicker Wurm und versuchte unter Krümmungen seine eigenen Warzen aus rotem Plüsch zu verdauen. Hinter ihm, in geschwungener Stuckbadewanne, saßen bekleidete Leute im Gehrock vor Geigen. Faustdicke Symbole klatschten im Abstand von Froschsprüngen durch alle Ränge bis zum Boden, wo sie sich in zwei formidablen Haufen von Harfen, Masken, Schwänen und Fehlgeburten gestaut hatten. – Ein Musentempel. Merks, Cretin.

Säulen trugen nichts, der Logenring über ihnen war ja schon in sich selbst geschlossen. Zum erstenmal im Leben sah er eine – Halbsäule. Welcher Plumpsinn, die nicht luftumspülte Kurve in eine Wand hineinzupappen, mit deren Ecke sie zu einer üblen Figur zusammenfließen mußte, wie ein grades Bein mit einem krummen. Ja, sahen denn die Leute hier nicht? Sahen nicht, daß, wo Maße nicht stimmten, Bauglieder fehlten, Fugen klafften, sich nur irrsinnig gewordener Dreck beschwichtigend darüber pappte. Kein Quadratmeter Ruhe. Zum Schluß geriet er auch noch ins Tapetenmuster der Logen, sprang über kopfstehende Rhomben, immer hin und her, schließlich heraus, um beinahe, am Fußboden, sich doch noch in einer plötzlichen Darmschlinge aus Lorbeer zu fangen.

Langsam stieg leiser Wahnsinn in seine reinen Nerven.

Etwas mußte geschehen. Er warf den Kopf nach rückwärts und hinauf. Oben war ein großes Loch gemalt: Sommerhimmel und Wolken. An einem Haken mitten aus der blauen Luft kam ein viele Zentner schwerer Metall-Lüster gehangen, als Strafgericht über alles.

Nun sausten mit einemmal die neun Musen in die Höhe, welche, bisher straffgespannt, die Bühne verhangen hatten.

Hub das Drama an? Auf weißer Fläche – groß wie der Bühnenrahmen – hockte an Stelle der Mythologie jetzt ein etwa sieben Meter hoher Affe und scheuerte sich mit gewaltiger Zahnbürste das Maul aus; der Schwanz schrieb: monkey puzzle toothbrush unequalled. Blieb fünfzig Sekunden. Flitzte ab, und es erschuf sich: »van Houtens Cacao is de beeste gekoopste«. Flitzte ab und es ward Frankreichs Präsident: ein erweiterter épicier, krummen Bratenrocks, mit Knien in den Hosen: » regardez cet homme« – stand vor seinem Bauch – » pas nécessaire d'avoir l'air comme cela – habits élégants complets depuis 49 frs chez Gaston Mandelstamm.« Flitzte ab und es erschuf sich …

Ganz witzig, aber dazu war er ja nicht hergekommen. Er schloß die Augen. Jetzt roch er den Europäer um sich her, seinen Porendunst: gestaute Schärfe nach übel verdautem Fleisch; seit Marseille Grund für ihn, Ansammlungen Weißer vorsichtig zu meiden. Daneben roch es noch auf zwanzigerlei Art falsch nach Chemie, die Blume sein wollte. Trockenharte Gerüche, im Laboratorium gezwungen auf kurze Zeit zusammen Parfüm zu sein, doch mit heimlichem Hang alsbald wieder in feindliche Einzelgestänke auseinanderzufallen. Gleichsam durchzuriechen war das.

Jetzt verschlang – aus dem Boden getrampelt – eine Wolke morschen Staubes alles, und Handschuhe knallten wie Ohrfeigen.

Horus schlug die goldenen Sperberaugen auf.

Im Bühnenrahmen stand eine Greisin in weißen Lederhosen, den Kopf voll roter Wolle. Fingerdicker Ruß hing um die kahlen Augen, ein Klumpen Saccharin zerging im Mund zu Lächeln, während sie Küsse um sich streute mit verwesender Hand. Kokett schleifte das linke Bein nach.

Was war das?

Er erinnerte sich des erläuternden »Echo de Paris« in seiner Tasche, entfaltete es. Richtig, die gefeierte Tragödin verfügte über ein neues Kunstbein. Hier war es abgebildet, neben dem abgeschnittenen, und dort war der Stumpf; erst für sich, dann mit der Prothese, Bild des großen Operateurs, wie er gerade operiert, Bild des großen Dichters, wie er gerade dichtet. Es stand, wieviel die Operation gekostet, wieviel dadurch der berühmten Tragödin an Spielhonorar pro Minute entgangen, wieviel hinwiederum (pro Minute) die amerikanische Tournee eingebracht. Dann kam der Genius Frankreichs. »Gloire« stand in den vier Ecken, und eine Trikolore flatterte über alles mit Stumpf und Stiel.

Das Drama selbst handelte aber gar nicht von Kunstbeinen, sondern hieß » L'aiglon«: der junge Adler. Die grauenhafte Greisin war der junge Adler. Nun krähte sie gebrochen auf.

» Oh les cloches d'or,« und an drei verschiedenen Stellen des Parketts rissen auf einen Wink kurze Männchen mit schwarzen Bärten begeistert an ihren Adamsknorpeln; wieder knallten Handschuhe, und ganze Wolken weißen Schmutzes stoben aus den Frauen. Man snobte Tobsucht und starrte einander dabei, mit bösem Eis übergossen, roh und hart in die Kleider.

Nach einer Weile versuchte die grauenhafte Greisin schlimm zu sein – so recht bubenhaft und ein wenig pervers schlimm: spannte Glacéhöschen in den Augpunkt, saß rittlings auf Stühlen umher, kapriolte schließlich rasselnd über ein Sofa. Die Prothese knarrte, und das Publikum schrie: » vive la France«.

Zum erstenmal drang ein Gefühl durch die Augen in ihn – oder war es ein Zustand – etwas, für das er noch keinen Namen hatte, das, durch die Augen eingeschlichen, ihn von innen würgte, das er hätte herausspeien mögen aus diesen seinen Augen. Ekel vor dem Alter? Er fühlte sich doch frei von jenem Männchendünkel, Wirkungen, weil sie von einer Frau kommen sollten, ausschließlich nur mit einem Körperende werten zu wollen und höhnisch gestimmt zu sein, blieb dieses stumpf; wußte: was begreift ein Glücklicher vom Glück – ein Gequälter schon von der Qual? Liegt ihre funkelnde Essenz nicht vielmehr erst im Alter und auf der andern Seite des Vergessens, bereit für eine welke Auserwählung, eine, die, über ein langes Leben gebeugt, aus ihm erst den Rhythmus nachzuschöpfen vermöchte etwa einer Kassandra, wenn sie vom geschleiften Ilion herab – bekränzt und fackelschwingend – mit jauchzenden Flüchen in die Schändung getanzt kommt; orphisch entrückt die Wirbel des Untergangs in das verhaßte Königshaus hineingetanzt.

Nein, am Alter lag es nicht.

Kapriolen über das Sofa nebst den restlichen Leibesübungen machten, daß Rötliches und Fettiges vom Gesicht der Diva absickerte. Unter dem abgemagerten Kopf hing ihr ein Kuheuter zwischen Vatermördern herab. Gut. Doch was war mit dem fettgewordenen Leib geschehen, das ihm dies Unmenschliche geben konnte?

Einen Kontur, wie ihn kein Gebrest, kein Geschwür, keine organische Entartung je zustande brächte, denn diesem Leutnant wuchs – stahlhart – eine schiefe Ebene vom Abdomen in den Raum hinaus, so, als hätte er eine gespaltene Pyramide verschluckt, ohne sie richtig verdauen zu können. In dies schräg abstehende straight front vor dem Magen hatte man nun von oben die Brüste hineinversenkt und verteilt, von unten hinwiederum die Eingeweide hinaufgeschraubt; beides wohl um des Knabenhaften willen.

Aber auch daran lag es nicht, das Namenlose.

Das dramatische Geschehen selbst wurde von Sekunde zu Sekunde alberner – jetzt war es neun, Ende vor zwölf stand auf dem Programm – doch man konnte ja weghören.

Nein, es mußte wohl aus dieser Art kommen, wie sie sich vergaichten alle auf der Bühne, aus dem, was sie da begingen mit ihren Gliedern Rümpfen, Mündern, Mienen. Anfangs hatte es ihn eine übertriebene Zeichensprache für taubstumme Idioten gedünkt, ehe er schließlich darauf verfallen, das alles solle Empfindung vorstellen – Bewegung gewordene Empfindung; wirklich das, was auf andern Kontinenten atmende Geschöpfe tun, wenn sie leben.

Hastig, passiv, unbehütet, hatte er es ohne Widerstand in sich hineingeschaut, tief hineingelassen in seine klaren Nerven und ihres mahnenden Unbehagens zu wenig geachtet. Herausbrechen hätte er es sollen aus seinen unbefleckten Augen zu rechter Zeit. Jetzt begann in ihm leise angespanntes Verschrobensein, dessen er sich nicht mehr recht zu entledigen vermochte.

Übel verstellt schien sein Herz. Atmen, wie machte man das – Atmen? Steifes Grauen kam langsam herauf, und Zelle um Zelle gerann an ihm zu infernalisch ungekanntem Eis.

Schutzsuchend warf er seine fliehenden Augen in den halbdunklen Menschenraum. Hier aber hing das Namenlose ganz – im Bühnenspiel war nur sein Abbild gewesen – hier lauerte es herein, hier war dieses, was schluckte, immer schluckte: Leben, Glieder, Haare, Steine, ganze Marmorwände schluckte es – alles was echt war, wirklich war.

Und dann: wie durch einen bösen Doppelspat gebrochen, verzerrt, kündete sich wieder aus diesem Lauernden, Namenlosen heraus eine Art infernalische Wandlung alles Seins an. Diese Wandlung selbst war noch nicht da – nur ihre Vorzeichen: Vorzeichen, dieses Vergaichte, das einmal Rhythmus gewesen, dieses Zerbrochene mit abbröselnden Enden auf Frauenköpfen, durch Brillantine wieder zu einem Scheinleben mesmerisiert, dieses planlos Zerstückelte auf allen Körpern, das einst edler Samt, holde Seide gewesen, nun aufgehört hatte als fließender Stoff zu leben, ohne Gewand geworden zu sein. Aus all diesem: eisernen Haken, Abortfrauen, verkritzeltem Marmor, der Greisin in Lederhosen, den Blumen aus Chemie lauerte es herüber.

Ihm war auf einmal, als könne es nie wieder für ihn einen Wald geben – Schwalben. Vogelflug!

In einem der ungelösten Eckprobleme war der Rest eines halb weggefegten Spinnennetzes hängen geblieben und in ihm ein ausgesogner Fliegenbalg. An diesen klammerte er das Bewußtsein. Unsäglich liebenswert schien ihm auf einmal diese winzige Leiche; wie unverdiente Gnade traf ihn die Wahrheit ihrer kleinen Form. Sie war das Einzige. Zerfiel sie jetzt, blieb er fast ganz allein.

Er und die Prothese: weises, ehrliches Stahlgeschöpf, verdeckt zwar durch alberne Maskerade, aber er wußte es doch da. Kunstbein und Fliegenleiche, die beiden einzig Echten hier, schützten ihn vor dem Namenlosen, wenn es durch den üblen Doppelspat entleibter, entherzter, entseelter Dinge hereingebrochen kam, und vor dem in ein platzendes Aas sich hineinzuretten Reinheit schien, reinliche Fäulnis.

Eine fahle, lange Angst begann ihn zu drosseln, jede Blutader einzeln in ihm abzudrosseln wie einen Wasserhahn. Ersticken dürfen – wie einem wirklichen lebendigen Wesen zu ersticken vergönnt – Wohltat mußte das sein. Er betastete seinen Fuß: fremd, hart und so weit weg.

Doch hätte er nicht zu sagen vermocht, was es denn war, das Namenlose; höchstens, was es nicht war: nicht Hohlform, ist sie doch Abdruck noch eines Leibhaftigen, nicht Negativ, dem zum Grunde Positives liegt, auch keine aufgeblasene Nichtigkeit, denn auch ihr, selbst ihr noch lebt ja im Innersten verquollener Anmaßung ein Korn Sein.

Er schauerte zurück, wich hinter sein erschrockenes Herz, wich weg von dem verjauchten Jetzt, wieder in die reine Frühe seines Morgentraumes über dem nachtblauen Reich mit den kristallnen Achsen.

War damals unter den »Kegelschnitten Gottes« – in dem Manuskript, das ihm Erasmus gezeigt – nicht etwas gewesen, ein von sich selbst Abgekehrtes, aus sich Verstülptes Fünftes, bisher Unvorstellbares, weil es im Gegensatz zur göttlichen Sucherin: Parabel sich vom Brennpunkt alles Seins abzukehren hätte, um seinem Gegensatze zuzueilen? Ein schlichthin Infernalisches, dem selbst die Mathematik – die über allem Stehende – das Symbol verweigert?

Ein Unsein. Dieses Unsein.

Da brach er aus, zerbrach das üble Joch der Hoffnungslosigkeit, trat, stieß, riß wie ein süperbes Tier sich einen Weg durch keifende Reihen, an schiefen Goldleisten vorbei, hinaus unter die Sterne. Mit freiem Haar, ohne Überrock ging er nach Hause. Noch einmal umkehren, seinen Pelz, vom Eisenhaken herunter und mit schmierigem Strick umschnürt, wieder aus den Händen der Abortfrau empfangen – nein. Riß sich im Ritz auch noch die restlichen Kleider herab, ballte alles zu einem Bündel, warf es aus dem Fenster auf das rußige Glasdach des »Wintergartens«, bürstete unter dem brennheißen Strahl im Badezimmer sich fast die Haut vom Fleisch – reinigte Kehle und Mundhöhle – sog Unreines zu tiefst aus den Lungen herauf – stieß Frische hinab; in vier Spiegeln stand sein blendender Körper.

Aber es wich nicht. Und ihm fiel ein: durch die Augen war er vergiftet worden. Lehnte seinen Kopf an Gargis Tür – lange. Riß sich zusammen, klopfte, trat ein. In einem fernen, zarten Gewand des Ostens sah er sie wie durch kannelierten Rauch. Sie kauerte auf Kissen und spielte ein wunderschönes Spiel mit ihren Armen.

Sein zerrütteter Umriß ließ sie aufgleiten, ihm zu.

»Geh auf und ab. – So. Nimm ein Glas. – Stell es wieder hin. – Schlag ein Buch auf. – Blättre um.«

Auf dem Diwan sitzend, die Ellenbogen auf den Knien, die Schläfen in den Fäusten, trank er jede Bewegung mit den Augen aus, bis zur Neige. Wie ein Vergifteter Milch durch seine arme Kehle rinnen läßt, so schluckten seine Lider. Und sein Blut ward süßer, denn ihr Verstehen war bei ihm; erriet im voraus den Durst seiner armen Augen. Bald wurde sie Ärztin und Arznei zugleich, verließ seine planlosen, aus hilfloser Angst in der Irre tastenden Befehle, und nun sah er sie auf sich zukommen wie die Genesung im März, mit der edlen Entschiedenheit eines Tieres und über allem der Blumenmensch mit durchleuchtetem Haupt, und die Wahrheit ihrer Gebärde ging durch ihn hindurch wie ein Schwert.

Vorsichtig zwischen seinen Füßen kauerte sie auf den Teppich nieder – rührte ihn nicht an – seine Haut und hinab die gewaltigen lichtlosen Sinne brauchten sie jetzt nicht; am höchsten Sinn, aus dem die Welt erfließt und die Vision, war er verunreinigt worden. Sie ruhte im Lotossitz der arischen Asiaten in erlöster Ruhe, die alle Bewegung erfahren hat, und das als Herr.

Etwas von Musik, Akrobatik, vegetativer Verklärung! Es war die Essenz magischer Kraft. Langsam füllten sich die Augen des Mannes mit ihr. Tränen kamen ihm, als er seine Hand erkannte – wieder eine liebe Hand haben und sie rühren können wie ein lebendiges Wesen. Das angespannte Verschrobensein am ganzen Körper wich, ausgetrieben über die Ränder seiner Glieder, wie über den Brunnenrand ölig Gestautes aus schmierigen Lefzen verspritzt unter starkem Strahl. Schon wußte er sich wieder, wie ein Marmorbecken, klaren Wassers voll.

Bis zum Morgengrauen blieb sein zarter Arzt zu seinen Füßen. Eine beispiellose, eine unerhörte Sinnenkraft stand als unsichtbare Glocke um die aufrecht kauernde Gestalt. In ihr waren die Knospen und Früchte aller Bewegungen und das Magische ganz freier Tiere, das Rieseln der Gräser und der Ströme. Tausend Spannungen liefen an ihr hinab und tausend Entzückungen stürzten über die jungfräulichen Schultern und den Flaum der Wirbel. Endlich schlossen sich seine zögernden Augen, ganz zaghaft, wie zur Probe. Er blieb rein. Da hob er den hammerschmalen Kopf aus den Fäusten langsam, bog ihn weit zurück. Hell lagen die breiten Lider in der gebräunten Haut, wie von innen durchlichtet, und langsam floß wieder die alte Sonnigkeit in das starke Gesicht voll Geist.

Aus einem durchsichtigen Schlummer heraus, mit der lindgebrochenen Stimme des Wunden, wenn königliches Morphium über seine Qual streicht, bis sie zu schrumpfen beginnt – schrumpft – noch mehr – jetzt nur noch ein Stecknadelkopf ist – dann – fort, und wie er über diesem »fort« erst ganz flach nur zu atmen wagt: mit der lindgebrochenen Stimme solch eines Eben-Erlösten flüsterte er: »Wohl, wohltun«.

Das kunstlose Wort, unbeholfen und lauwarm wie der Körper eines ganz kleinen Kindes, schien ihr die erlesenste Liebkosung, die sie je in ihm erweckt.

 

Sie kamen wieder einmal von den beiden Vitrinen mit ägyptischer Kleinkunst im Erdgeschoß des Louvre. Nach allen Leichenfeldern des Ungeschmacks, inbrünstiger Barbarei, Monomanie oder Geziertheit befreiten sie sich andachtvoll vor den zwei Dutzend Schalen, Salbgefäßen, Schmuckstücken. Diese zeigten der Natur, kühn und lieb zugleich, wie sie es etwa zu machen hätte, fühlte sie je das Bedürfnis nach Schalen, Salbgefäßen, Schmuckstücken, denn sie waren vollkommen ohne die Banalität des Nur-Schönen, kühn ohne die Kurzlebigkeit des Originellen.

Heute hatten Horus und Gargi den Louvre durch ein anderes Tor verlassen als sonst und gerieten da schon wieder in eine weitläufige Masse gemischten Stils, die: »Louvre« hieß und erst von ihnen für einen neueren Trakt gehalten worden war. Dieser schien sich jedoch eines viel regeren Interesses zu erfreuen als die anderen. Er sog vor allem Frauen aus den Straßen heraus und in seinen Leib, dem wieder bepapptes, totes, schiefes, gemeines Gerümpel zu allen Poren herausbrach, hing und flatterte.

Die Damen in seinem Bauch aber rissen einander behängte, bestickte, verkritzelte Lappen aller Art mit verglasten Augen aus den Händen, wenn bestimmte Zahlen darauf standen: etwa 29 Frs. 95. Also Frauen, gerade Frauen, Trägerinnen des Lebens, trugen diese toten Fehlgeburten geschändeter Maschinen aus, in lauter Paketen hinaus, infizierten die Welt damit. Und Maschinen: seine Halbgötter, dazu wurden hier die herrlichen Stahlwesen mit den dampfenden Rüsseln mißbraucht? Statt das Leben zu befreien, zwang man sie, unaufhörlich lebensfeindlichen Mist aus sich herauszuschleudern, das Leben mit toten Mißgeburten einzumauern, deren es nicht bedarf, die es hemmen, ersticken, eindorren.

Er fiel von einer Abteilung, einem Basar des Irrsinns in den andern: Orfèvrerie, Galanterie, Bijouterie. »Aus was für Knollen im Hirn eitern solche Sachen?« sann der Erschrockene.

»Wer ersinnt – wer entwirft – wer macht – wer bestellt sie?«

Und leiser Verdacht durchschauerte ihn, eine mächtige Horde unsichtbarer Irrer unterjoche einen blinden Kontinent.

Sie suchten den Ausgang, gerieten in eine Abteilung: Wandschmuck. Wozu ein sich selbst Erfüllendes, wie es die edlen Maße einer Wand sein sollen, »schmücken«? Die noblen, weiten, notwendigen Flächen verkleinern, durch Ornament unterbrechen, immer wieder verkleinern – man unterbricht doch auch einen Sprechenden nicht, wozu den Wohllaut des dreifachen Raumes unterbrechen, dessen Ganzheit eben ist, was er zu sagen hat. Und ist er fehlerhaft, warum ihn mit einem zweiten Fehler bekleistern, statt das Geld zur Ausmerzung des ersten verwenden: Doppelschund statt einfachen Anstandes. Warum immer das Pferd beim Schwanz aufzäumen? Warum?

Am Anfang der Zeiten, schien es, hatten die Menschen nur das Allernötigste – jetzt, am Ende, nur das Allerunnötigste.

»Wie kommt es,« sann er, »daß jedes Ding in Europa, das für Luft, Wasser, Eis, Dampf, Stein gehört, herrlich gerät, wie noch nie, alles aber, was für diesen allmächtigen Herrn über Luft, Eis, Dampf, Stein selbst gehört – kläglich – ›unherrlich‹ wie noch nie?

Wie kommt es, daß, seit die Welt steht, die Leute es sich nicht so freudlos, teuer, verkehrt und schlecht eingerichtet haben, wie diese Europäer im goldenen Zeitalter der Technik?«

Auf die großartige Einseitigkeit einer mechanistischen Formenwelt wäre er noch eher gefaßt gewesen, leichter bereit, auf sie resigniert sich einzustellen, wiewohl auch die reinlichsten Einfamilienställe vor ihm wie nichts gewesen, wären sie nicht von einer Seele für eine Seele erbaut, darin sich zu entfalten. Doch nicht einmal das. Dafür dieses zusammengelogene, heterogene, räudige oder aufgeblasene Gerümpel: europäisches Stadtbild genannt! Keine Säule untadelig, kein Eckproblem reinlich gelöst, ja das Problem nicht einmal empfunden, eine optische Saloppheit an diesen hingesudelten Palastbuden, und hier – das hier: einer der tausend Speicher, mit dem sich das Draußen anfüllte.

Jetzt war nur noch die Parfümerieabteilung zu überstehen, da hielt Winifred Cadogan sie an:

»Oh, bitte, Mr. Elcho, wie sagt man: Eau de Cologne auf französisch?«

Ach, man sagte auch auf französisch so. Wie, sie gingen schon? Ob sie nicht einen Augenblick warten, dann mit ihr und mommo zu Callot, Cheruit, D'Oeillet fahren wollten? Um dort Geld ausgeben zu können, müsse man eben manchmal hierher und sparen. Sie erlegte dabei tugendstolz an der Hauptkasse vierhundert Frs. für einen üblen Turm von Dingen, die weder Mensch noch Vieh zur Lust.

Ja, richtig, eine Gesichtscreme brauche sie noch.

Die Verkäuferin frug, welche.

Irgendeine, von einer guten Firma. Ja, auch einen Puder dazu. Ja, auch ein Toilettewasser, ganz gleich welches, nur nach sweet-pea müsse es riechen. Ja, einen Lippenstift. Ja, Haarwasser, aber ein gutes, sie verlasse sich da ganz auf die Verkäuferin.

Über seinen ganzen Körper hin spürte er jetzt Gargis Erstaunen, dieses Verschweben der wissenden Dame in mitleidige Ferne, und ärgerte sich, daß er über die fremde Europäerin sich ärgerte. Was ging das schließlich ihn an, wenn hier die mehresten Frauen faniert aussahen, mit einer zersetzten Haut, von Metallen und Säuren schwammig angefressen?

Was ging das ihn an, daß sie nicht einmal die chemische Zusammensetzung kannten von dem, was sie hineintrieben in das köstlichste, verletzlichste, persönlichste Gebilde: die Haut. Zu faul, fahrig und unwissend, die ihr allein wohltätigen Dekoktionen aus Harzen und Blüten sorgfältig zu erproben, deren Bereitung selbst zu überwachen?

Was ging es ihn an, wenn sie, statt die Anmut aller Tiere, aller Ranken und Wellen in sich zu bilden, auf daß der Mann an ihnen die ganze Schöpfung auf einmal streicheln könne, vermeinten, den Liebreiz eines Tieres zu ergattern, indem sie ihm das Fell über die Ohren zogen? Ja, es ging ihn an:

»Pallas und Nausikaa« im Warenhause.

Die nächsten drei Wochen waren Gargis europäischer Ausstattung bei den großen Coutüriers gewidmet, und er lernte mancherlei: daß die eine Hälfte der Frauen immer die andere Hälfte verachtet, weil sie entweder zu viel oder zu wenig auf dem Kopf hat. Daß eigener Wahn und fremde Aktiengesellschaften mit ihrem ungeheuren Apparat die Europäerin zwangen, jedes halbe Jahr Milliarden auszugeben, damit ja kein Stil an ihr sich bilden könne, denn Stil braucht, wie alles Organische, zum Entstehen – Zeit. Mode: Todfeindin des Organischen aber hatte zu wechseln als das, was sie sein sollte: anregender Fausthieb auf die Netzhaut für den optisch Impotenten, dem man alle drei Monate anders den Frauenkörper um die Sinne klatschen muß, auf daß er merke: das sind Frauen. Fausthiebe aber bedürfen steter Erneuerung, um gespürt zu werden.

Und er erkannte: außerhalb Europas, wo eigener Umriß gestattet, vermag auch die Ärmste als Dame zu wirken, in Europa die Reichste – kaum, denn man kann wohl modelos – uneingekleidet –, doch niemals schlechtgekleidet eine Dame sein, die Eleganz Europas aber blieb stets ein ungeheuer kostspieliges »trotzdem«.

Für fünf, sechs erlesene Frauen hieß »elegant« sein, sich jeden schiefen und toten Wahn gestatten können. Sie balancierten dann auf einem schmalen Streifen Seligkeit ihre labile Auserwählung zwischen Abstürzen ins Lächerliche dahin. Die aber in Europa solcherart elegant sein wollten, konnten außerdem nichts anderes sein.

Nein, er wunderte sich nicht mehr, daß Winifred Cadogan nie Muße und Kraft gefunden, zu erkennen, »Eau de Cologne« sei französisch und wirklich das, was sie ja immer schon »Eau de Cologne« genannt.

Er verdachte es ihr nicht. War zu sehr Mann dazu, orientalisch empfindender Mann, wußte: jeder Defekt an der Frau ist nur Gradmesser des erotischen Tiefstandes ihrer männlichen Umwelt.

Als Gargis Trousseau vollendet war, zogen sie sich fast ganz auf ihre Zimmer zurück.

Es war ja alles voll gemeiner und irgendwie unreiner Personen und voller Genüsse für Sträflinge auf Urlaub – für zu früh Freigelassene oder zu lange Eingesperrte. Das Ganze ein bengalisch beleuchtetes hündisches Hinliebeln an jeden weiblichen Prellstein mit Tam-Tam-Begleitung; von allem zu viel, nur von einem zu wenig: Takt.

»Sie scheinen extrem anspruchsvoll,« sagte Sir Osmond verwundert, »Paris ist ja allerdings nicht mehr, was es war … diese vielen Südamerikaner. – Kommen Sie doch lieber nach St. M., da finden Sie jetzt die besten Leute von hier und drüben.«

Der 1912te Jahrestag der Geburt Christi: des europäischen Heilandes.

Somit waren heute wieder die Trabrennen auf dem tiefgefrorenen See des sehr mondänen Winterkurorts 1800 Meter über dem Meere eröffnet worden.

Horus hatte sich, seiner heimischen Gewohnheit treu, auf seinem Appartement allein servieren lassen: Brot, Reis, Honig, Früchte und Milch. Gargi, erregt, fast entzückt von dem milden Eis dieser neuen Luft und hingegeben der ganzen ihr so fremden Weiße der Welt, blieb in einen Chinchillamantel gewickelt auf dem offenen Balkon allein. Ihr Gefährte ging, sie nicht zu stören. Er wußte: nun würde sie zum erstenmal in Europa die tiefen und heiligen Spiele ihres wundervollen Atems in der Firnenstille erproben, sich mit der Kraft aller Sehnsucht bis ins Innerste zu reinigen versuchen von der Minderung an Kaste, an der sie, seit der Ankunft in Marseille, stumm litt.

Die Welt war wie ein Negativ. Alle Helle stieg aus dem Boden. Die Erde erleuchtete sich selbst und das Firmament.

Er wanderte an dem schneegebeugten Campanile vorbei und immer auf flaumigen Kristallen hinauf einen gläsernen Berg. Ihm fielen die schönen Namen der neuentdeckten Metalle und seltenen Edelgase ein: Ytherbium, Palladium, Thorium, Argon, Neon, Tantal, Praseodym. Praseodym; stumm hörte er es sich noch einmal an, zwischen Mund und Ohr: das Körnig-Kühne.

Manchmal löste sich eine weiße Last schwer aus den gebeugten Lärchen, stäubte lautlos nieder in das ganz große Weiß, und der befreite Zweig schwankte leise die Sternenbilder auf und ab.

Endlich kehrte er ins Astoria zurück. Das Gedränge in den Gesellschaftsräumen ließ das Vestibül von Gästen leer, nur eine kostspielig aussehende Dame schritt ruhig und ahnungslos zum Lift. Hinter ihr drein, mit einverständlichem Gaunergegrinse gegen die Portiersloge, macht der Zimmerkellner blitzhaft eine Geste von geradezu infernalischer Gemeinheit, die jene Dame geschändet zurückläßt. Ein Tritt mit den Augen gibt ihr den Rest. Seine gründreckige Fratze voll Gier, Hohn, Schadenfreude bemerkt jetzt eine fremde Gegenwart, und alles ebbt ins Ölig-tückische zurück. War es überhaupt gewesen?

Er ging lautlos auf seinen Schneeschuhen weiter in die Garderobe. Einer der Lungerknaben vertauscht mit affenartigem Geschick Börsenaufträge und Rendezvous-Billets aus verschiedenen Überziehertaschen miteinander, zwei gemauste Habannazigarren zwischen den vorderen Zahnlücken. Der Gast. In einem Augenaufschlag die gleiche Wandlung wie vorhin: ein devotes gedunsenes Kind aus Messingknöpfen hilft dem Herrn Pelz und Überschuhe ablegen. Er ordnet die Frackkrawatte – hinter seinem Rücken erscheint im Spiegel phantomhaft wieder der andere Aspekt: angefressene Finger prüfen, zynisch bis in jede Phalanx hinein, die Qualität seines Mantelfutters.

Die gleichen Finger flechten ihn mit sadistischer Beschleunigung in die Drehtür, als wärs aufs Rad, und er steht in der Hall. Aus ihr schlägt die Grellhölle. 1500 Glühbirnen à 75 Kerzen, alle just in Augenhöhe. Überdies läuft noch jeder der imitierten Marmorsäulen um die falsche Entasis ein metallener Serviettenring aus geschnörkelten Lichtspritzen. Alle schießen sie mitten ins Gesicht.

Keiner der oberen Vierhundert scheint das zu sehen, wiewohl die meisten blutige Fasern in Augäpfeln haben, die tränen.

Drei Orchester durchsetzen gleichzeitig die Luft. Hier in der Hall bei dem großen Rotbefrackten zerrt eben das Fagott in der einen – die Geigen in der andern Ecke – mit viel Tremolo oben und unten heftig an je einem Bein des Themas, so daß es in der Mitte, gerade über dem Kopf des Dirigenten mit einem Knall in den eigentlichen Puccini zerplatzt. Da ertrinkt für einen Moment sogar das Arageschrei der Amerikanerinnen. Rechts hinein johlt ein pfiffig schleifender Foxtrott aus dem Tanzsaal nebenan; was von links die Zigeunerkapelle aus dem Restaurant winselt, ahnt keiner. Sie hat – gleich den Stymphaliden – schlichthin ins Essen hineinzu … musizieren.

Dem Entsetzten beginnt das Herz zu hinken in diesem hahnentrittigen Trippelrhythmus, während lange Kakophoniefäden quer durchs Gehirn fatal von Ohr zu Ohr ziehen.

Keiner der oberen Vierhundert scheint es zu hören.

Aus den Fräcken italienischer Kellner, aus ihren Manschetten, wenn sie Whisky-Soda servieren oder theatralische Viktualien, steigt der faulige Geruch muffelnder Schlafkammern, in denen ihre ungepflegten Körper die Servierdreß über verwesende Wolleibchen ziehen.

Keiner der oberen Vierhundert scheint es zu riechen.

Horus hatte innerhalb der Aura eines Mittelmeerkulis den Atem angehalten und versuchte nun wieder an anderer Stelle Luft zu schöpfen, sie war jedoch in diesem gegen die äußere Reinheit mit allen Machtmitteln der Mechanik abgedichteten Raum schon völlig verbraucht. Rotierende Windmotore fegten nur immer die Lungenexkremente der einen den andern in den Schlund.

Keiner der oberen Vierhundert scheint es zu fühlen.

Es war nach dem gemeinsamen X-mas-dinner zur Feier der »geistigen Wiedergeburt des Menschen«, wie europäische Schriften behaupten:

Royal natives
Consommé des rois étoilés
Mignonettes de chez elles à la Nazareth
Entrecôtes à la Sainte Vierge
Délices de fois gras Getsémaneh
Chapons à la Broche St. Jean
Parfait des Mages

Frivolités.

— — — — — —

In kleineren Sälen, für Privatgesellschaften reserviert, ging die Theophagie noch weiter. Jemand, mit einem Banalitätstumor im Gehirn, sprach irgendwo rastlos Toaste. Im Spielzimmer saßen gewesene Menschen seit vorigem Mittwoch beim Bridge. Die große Hall aber füllten die eigentlichen Ortswechsler von Beruf – »die Auslagenarrangeure ihrer selbst« – krampfhaft bemüht, immer im Lichtkegel des Scheinwerfers zu bleiben, von Florida bis Kairo. Eine irrende Horde, ewig im Umkleiden begriffen; mit hundert Kilometer Stundengeschwindigkeit eilend von einem Ort, wo sie nichts verloren – zu dem andern, wo sie nichts zu suchen hat.

Horus wäre gerne ganz in das wabernde Schmalz des Puccini geflüchtet, als Schutz gegen die Qual der Tripelkakophonie. Es stand aber eine Phalanx dazwischen. Nicht zur eigentlichen Gesellschaft gehörig, heraufgespien von den Trabrennen: aus allen Angeln gedrehte Lebekommis, muskulöse Herren auf »esku« aus der Pariser Affenoase mitten in der wilden Walachei, denen sehr schwarze Haare aus sehr weißen Manschetten stachen, ethisch völlig ausgeweidete Semiten aller Gegenden und Zonen, erfolgreiche balkanische Bandenführer im Smoking – das Nationalkostüm, größtenteils aus einem Nachthemd und zwei Pistolen bestehend, trugen nur mehr ihre Könige bei Photographen – junge Börsenbrut, von Angesicht, als habe eine Hausse in Trebern sie eben auf den Lebensmarkt geworfen, und der Kaufherr aus Braila, dessen gerundete Handbewegungen immer noch die Qualität der Schweinsbohnen liebevoll abzuwägen schienen, während seine Äuglein wie Läuse über alles hinkrochen.

Da vorbei schien unmöglich. Wenn sie in ihrem kabbalistischen Jobberslang von »Abstammung und geleistete Arbeit« sprechen für gutes Abschneiden, und von »satteltief« sich unterhielten, ohne daß man je sicher war: meinten sie ihre Rosse oder ihre Weiber – das vertrug er noch nicht. Lieber an den amerikanischen Müttern vorbei, um die ganze Hall herum.

Der ganze bedrohliche Kasten war, wie alles »Neueste«, im Gegensatz zum räudigen Tragantstil kleinerer Börsencoups der achtziger Jahre, ganz auf Südamerika berechnet, somit auf den natürlichen Ungeschmack des Romanen, zum Exzeß gesteigert durch Reichtum und Hitze: Stil des Tropenkollers ausgebrochener Sträflinge und nachmaliger Präsidenten von Republiken.

Gleich rechts vom Eingang saß schon einer: der alte Porphyrio Pães. Sauer war es ihm geworden, endlich seine dreißig Millionen ins Trockene zu bringen. Einmal war er der »Rebell« gewesen, dann wieder der andre; ewig wechselnd. Oft auf der Flucht, hatte er sich schließlich aber doch darauf verstanden, daß im kritischen Moment immer seine Gegner von ihm abgeschnitten wurden »in bezug auf die Köpfe«, wie es im spanischen Satzbau gebräuchlich ist.

Neben ihm hingen Sir Osmond Cadogans Beine als Schwebebrücken über die Hall zum fernen Kamin; der Verkehr wickelte sich unter ihnen klaglos ab. Seine schimmernden Pumps, offenbar heliotropisch, suchten so automatisch das Feuer, wie die Blüte das Licht.

Die Hall barst von Stimmen. Unwillkürlich horchte Horus hin.

»Genia, waren wir schon in Rom?«

»Rom? – Oh mommo, das war doch dort, wo wir die hübschen seidnen Strümpfe zu 14 Frs. 75 gekauft haben,« und Genia Waanebeeker wechselte zum Kamin, das kühle Gelee ihres Temperaments erzitterte leise, denn dort zerfloß schon allzulange Linda Bordone neben dem schönen Archangelo Cavadini.

»14 Frs. 75, das ist doch 3 Dollar 5 Cent, oder verwechsle ich es wieder mit Fahrenheit – aber meine Liebe – bei Debenham und Freebody bekommen Sie doch first class hosiery für eleven sixpence, das ist nur 13 Frs. 90! – überhaupt London: da haben Sie Harrod's und Jay's und Selfridge – und …« Aber ein Gegenchor stand auf: nein, es gibt nur ein place for shopping: die Galeries Lafayette – die Transformationen dort, die blouses und alles versank endgültig in dem Rachen des großen Pofels.

Er war sehr begehrenswert, sehr anders, wie er im makellosen Abendanzug durch den Saal schritt, sogar die Mütter tauchten einen Moment aus den » Galeries Lafayette«, wo es am tiefsten ist, und berieselten ihn gierig mit ihren Lorgnons.

Er fühlte: eine stilisierte Sehstörung in Brillanten an einer byzantinischen Nabelschnur. Wie kann man etwas für jedes halbwegs gesunde Empfinden so Beschämendes, wie einen Defekt am edelsten Sinn, dem Auge, noch durch Edelmetalle und Steine unterstreichen – wie kann man sich mit einem Körperfehler schmücken? Da bemerkte er, angewidert und belustigt zugleich, daß ja auch manche Lorgnons in Fingern ruhten, die Ringe an Gichtknoten trugen.

»Warum hängen sich die alten Frauen in Europa nicht lieber einen Scheck in gleicher Höhe um den Hals, wäre das nicht optisch erfreulicher, als Perlen über häutige Hälse holpern zu lassen?« Und die traurige Frage ward groß in ihm: »Werden die Menschen im Alter um so viel häßlicher hier, weil sie sich selbst ähnlicher werden?«

Getrennt von der kompakten Trabrennhorde trieb sich ein scheinbar wildlebender Jobber, Drilling aus Roßtäuscher, Schmierenkomödiant und Galopin, ständig in der Nähe der Separées umher. Träufelten dann Privatgesellschaften heraus und zerflossen in die Hall, versäumte es die Gastgeberin fast nie, gerade diesen etwas von oben herab – und doch wieder ängstlich – in ein Gespräch zu verwickeln. Als Horus vorbeiging, stand eben eine Dame, nach dem Kanon des Öltanks gebaut, bei ihm:

»Prinz Strasyboulos Argyropoulos führte die Hosteß Mrs. Beermann aus Chicago, die in einer höchst kleidsamen Kreation von Cheruit besonders faszinierend aussah. – Nein, schreiben Sie lieber: Der Marqueß of Kar and Kinstone führte die Gastgeberin Mrs. Beermann aus Chicago, die …« Ganz am Ende kam noch eine Reihe wohlklingender Gäste.

»Kein Mr. Beermann – keine Miß Beermann anwesend?« Der Drilling frug es mit sardonischem Grinsen.

Sie zauderte. Sollte diese makellose Dinnerfassade durch weitere Beermanns Abbruch leiden? »Nein,« entschied sie, »die Liste ist vollständig; aber daß es sicher morgen im Herald erscheint.«

Und die so jäh dem Schoß ihrer Familie Entbundene versuchte sich mit gnädigem Nicken zu entfernen.

Da sagte der Roßtäuscher von der andern Fakultät, dort wo sie schon an Kunst und Literatur grenzt: »Bedaure, wir sind mit Notizen ›aus der Gesellschaft‹ für eine Woche komplett. Wir mußten schon Lady Cadogan zurückstellen. ›Lady Eveline‹, sagte ich zu ihr, ›es ist mir nicht möglich, selbst einer so alten Freundin …‹«

»Ich werde Ihnen sofort Mr. Beermann schicken, um das zu regeln.«

Und Mrs. Beermann jagte ihren über das ganze Hotel ausgeronnenen Gästen nach. Nur Mr. Beermann stand noch da und schielte zum Erschrecken in seine eigene Brieftasche hinein. Mit Bedauern und Geringschätzung sah Lizzie Beermann zu ihrem eisblonden Tischherrn hin, nun saß er wieder, sichtlich befreit, bei seiner eigenen » set«. Wie eine verpflanzte Blume war Lizzie zwischen den bleckenden Stiefeln, den Schlachthäusern und goldenen Gebissen Chicagos syrisch ausgeblüht, litt und ersehnte sich nach dem, »dessen Kehle süß und der ganz lieblich ist.«

Am Ende des Abends ergab sich aus dem Notizbuch des Drillings, daß der Marqueß of Kar and Kinstone im ganzen acht Hostesses und Prinz Strasyboulos Argyropoulos deren sieben heute zu Tisch geführt hatte.

Horus glitt an lungernden Baronen, an Epheben von den Aasfeldern der Zivilisation vorbei, quer durch den Raum zum Kamin, wo Linda Bordone wie hingeweht saß, neben dem schönen Archangelo Cavadini.

Die gebauschte Gaze ihres Kleides strebte in Flatterschlägen eines jungen Huhnes an ihm hinauf:

»Vierhundertfünfzig Tausend bar, mehr kann ich von Onkel Barnabas nicht herauspressen,« und sie versuchte in der trockenen Spannung dieses eisigen Schlußschachers nach vier verpürschten Saisons ihrem armen Stimmchen das arglos Zwitschernde zu wahren, zu dem jungfräuliches Dahinblühen, eine noch aufrechte Forderung aus der verflossenen Generation her, sie verpflichtete.

»Die Differenz ist ja nur fünfzigtausend,« ihre hübsche zitternde Hand berührte leicht seinen Arm.

Wie eine gereizte Maus ließ er seinen Bizeps unter ihren Fingern aufschnellen. Dann fiel ihm ein, wie er das hier doch eigentlich gar nicht mehr nötig gehabt hätte. Verschwendung. Aber er konnte es nun einmal nicht lassen.

»Fünfhunderttausend bar,« und seine Stimme war um so kälter und härter.

»Als angehender Politiker,« fuhr er fort, »wäre es überhaupt für mich vorteilhafter, noch nicht gebunden zu sein – aber sollte ich mich entschließen – wir, die wir für ein größeres Italien kämpfen, für den Genius der Rasse …«

»Ist denn Genia der Genius der Rasse?« zischte sie plötzlich kalt wie Metall.

»O, wie töricht sind unsre Männer, immer auf diese Fremden hereinzufallen. All ihr Geld brauchen sie für sich allein, der Mann darf nicht einmal das Auto mitbenützen, und raucht er im Schlafzimmer eine Zigarette, so lassen sie ihn verhaften.«

»Quadrupedescu hat gestern nachts beim Bakkarat Monseigneur zweihunderttausend Frs. abgenommen,« meldete Genia Waanebeeker. Von den Raeburngirls lange aufgehalten, denen ihre Eile verdächtig gewesen, hatte sie erst jetzt den Kamin zu erreichen vermocht.

»Welch bezauberndes Kleid – wo ist es her?« Und sie verschob dabei mit zärtlicher Hand ein ganz klein wenig die Garnierung, die in Lindas Rücken ein Feuermal verdecken sollte.

»Callot sœurs,« und Linda erhob sich, um in die Garderobe zu gehen. Ohne Doppelspiegel konnte sie das im Rücken nicht richten, und ihr Lächeln war auch schon ganz durchgewetzt. Einen Augenblick zischten sie maskenlos gegeneinander an; das latent Megärenhafte, heraufgespien in ihre jungen Gesichter: zwei fletschende Gorillaweibchen mit schleifenden Vordergliedern unter Talkumpuder – bekleidet von Callot sœurs.

»O, Callot« – Genia sprach es Kéllo – »ich gebe meinen untersten Dollar bei Kéllo aus!« Daß auch Europäerinnen in Paris arbeiten ließen, fand sie eigentlich anmaßend.

Sie trug den Kopf sehr hoch. Teils als Bürgerin der » grandest nation of the world«, teils der leisen Drohung des mütterlichen Doppelkinns sich bewußt. Sie mußte sich beeilen, ehe Linda zurückkam:

»Eine Rente; Kapital zahlt dad nicht heraus, aber er ist eine Million Dollar wert, und da mommo sich sicher scheiden läßt, bin ich einzige Erbin. Dads Leber ist auch gar nicht in Ordnung.«

Archangelo wandte langsam die schweren Spiegeleieraugen nach der Richtung, wo Josua Washington Waanebeeker, rosa und springlebendig, Ohren und Hände vital behaart, nicht einmal Whisky, sondern das bekömmliche Selters trank.

»Sechshunderttausend bar,« sagte er. »Wir, die Nachkommen des alten Rom – die wir für ein größeres Italien kämpfen – für den Genius der Rasse …«

Ihr Stolz bockte auf – »Von einem Mann ohne Titel verlangen wir Amerikanerinnen mit Recht, daß er sich selbst erhalten könne, übrigens entspricht meine Rente kapitalisiert …«

Horus ging weiter. Tief herauf aus der Gegend der Privatkomptoirs: Apisgräber mit Safes, drang »machtvoll dreischlündiges Bellen«. Schüchtern schienen Beteuerungen, Beschwichtigungen ihren Diplomatenschleim drüber streichen zu wollen. Elihu Lincoln Rosenbusch, einer der gefährlichsten Aasgeier von Wallstreet, mit einem kalten Cherubkopf, hatte eine Flasche Gingerale im Werte von sechzig Centimes zu viel auf seiner Wochenrechnung gefunden.

Alle vier Direktoren hatte er sich daraufhin kommen lassen, sein eigener Privatsekretär – er hatte den Irrtum übersehen – zerfloß in Schlotterschweiß, und nun ging der Alte daran, gewaltige Abzüge herauszuschinden. Dafür war er berühmt. Einer der wenigen so Reichen, daß sein Name nur mehr in Anfangsbuchstaben in den head lines der Zeitungen zu erscheinen brauchte, gab sein als Sport betriebener Geiz in persönlichen Ausgaben fast jede Woche den Journalisten Stoff zu Überschriften:

»E. L. R. erwirbt eine rosa Unterhose bei Giles und Smallweed um zwei Dollar fünf Cent. Findet einen Webfehler, fordert Schadenersatz, gleicht sich aus, indem er das Warenhaus übernimmt, verkauft die rosa Unterhose in eigener Regie weiter, trägt nun wieder seine alte Gelbe auf.« Oder:

»E. L. R. verdient an der Instandhaltung seines Golfplatzes jährlich siebentausendsechshundertachtzig Pfund Hammelspeck! Schickt Gärtner und Mähmaschinen fort, läßt die greens von Schafherden kurzfressen.«

Pausierte denn der Schacherkrampf nie und nirgends? Und wo er nicht in den Worten, da zog er sich unter der Haut hin, durch Blut, Herz, Hirn und Traum. Dabei war ihm vieles aus diesen Gesprächen, noch mehr an den Sprechern, unverständlich geblieben. Welchem Kulturkreis, Kasten gab es ja nicht, wie wir erfahren, konnten etwa diese beiden Mädchen angehören? Er begriff es nicht. In Joshivara, der Luststraße Tokios, war er gewesen, in den Freudenhäusern Ispahans, kannte die Kurtisanen von Madura und Travankor. Aber die letzte Pariafrau des letzten Hafenbordells Ostasiens hätte ihr erotisches Niveau nicht so gedrückt, selbst um ihren Preis zu feilschen. Bei den freien Prostituierten ordnete der Mittler oder eine Dienerin die pekuniäre Frage; in den öffentlichen Häusern wurde gleich beim Eintritt schweigend ein Betrag erhoben, dann erst erschien, unter Wahrung jeder Illusion, das Objekt der Liebe selbst; ein höflicher, sanfter, zwitschernder Traum. Anders hätte es die erotische Verwöhntheit eines Kuli nie ertragen.

War vielleicht das ganze Hotel …? Doch nein, er erinnerte sich nicht, auf seiner Wochenrechnung einen derartigen Posten gefunden zu haben. Auch hätte es ja, den Reden nach, ein öffentliches Männerhaus sein müssen, wie jenes, das er in Paris besucht.

Er fühlte wohl, daß da, rätselhaft noch in ihren letzten Ursachen, eine Sexualnot ohnegleichen schrie aus solcher Depravation. Die beiden Frauen aber hatten auf alle Fälle aufgehört, es für ihn zu sein: Erreger seiner schöpferischen Phantasie. Und dieser romanische Ephebe: wodurch wurde dieses Männchen mit seinem eisig lümmelnden Gockeltum, das jede asiatische Dame abgestoßen hätte, zu einem Wertgegenstand?

Er lief mit den Augen über Hall, Salons, Bar. Endlich in soviel Geiz, Grelle und Gier das erste glückliche Gesicht. Der frohe Mann ruhte, einem friedlichen Engerling gleich, hell und fett mit dem Ausdruck verklärter Dankbarkeit gegen Gott und die Welt in einem easy-chair. Sein einziges Kind war hier im See ertrunken, und so war es auch der einzige Ort, den seine Gattin mied. Hier war er sicher. Überall anders hin reiste sie nach, nahm mit stürmender Hand Freudenhäuser, in denen sie seine Anwesenheit vermutete, überschüttete ihn dann mit tätlichen Insulten, Ehebruchsklagen; scheiden ließ sie sich nicht. »Bis zum Tod« war die Devise ihrer zähnefletschenden Treue.

»Margot – Margot!«

Widerwillig löste sich ein leuchtendes Mädchen aus der Gruppe College boys auf Weihnachtsferien. Wie Enden des jäh abgerissenen Flirts wehte es hinter ihr her. Die Knaben wachten auf aus ihrer Freude, empfanden wieder die eigenen Bernhardinerpfoten überall um sich im Weg und wurden knurrig.

»Jeder ein Shiva mit siebzehn Ellenbogen,« dachte Horus erheitert, dem Plumpheit – ungeschlachtes Wesen – an Jugend etwas ganz Neues war.

»Margot – Margot!« Die wenig elegante Frauensperson in seiner Nähe winkte das leuchtende Mädchen immer energischer zu sich. Dieses erlosch. Man sah förmlich, wie das Glück in ihren Nerven stockte.

»Was ist denn wieder – was störst du uns?«

»Sind das vielleicht Epouseure? Was treibst du dich mit solchen Buben herum? Sind das Aussichten?«

Sie hatte, gereizt wie sie war, so wenig leise gesprochen, daß Horus erst jetzt aus dem Bereich ihrer Worte herauskam. Dafür sah er Margot Chenal mit ihrer ganz verzerrten Miene die Antwort nicht schuldig bleiben.

In seinem Hotel zu Paris war ihm die auffallend rassige Südfranzösin öfter mit dieser Frau, einer Tante aus Rouen, wie er erfuhr, auf der Treppe begegnet oder im Lift, ohne daß die beiden jedoch Gäste des Hotels gewesen wären. Sie verschwanden immer entweder in den Zimmern der Mrs. Ralph Waldo Cushing, einer der Töchter Rosenbuschs, oder anderer, sehr reicher Amerikanerinnen.

An dem Mädchen, dessen Temperament ihm imponierte und angenehm auffiel, trotz etwas hilfloser Direktheit, war ihm zweierlei nicht entgangen: das pauvre, schlechtgeschnittene Tailormade und die außerordentlich eleganten Lackschuhe mit ihren kostbaren Schnallen. Immer das gleiche Kostüm, immer verschiedene neue Schuhe. Nur mühsam schien dem Kind das Gehen, und eine Falte des Unbehagens rann ihr dabei zum Kinn, und doch stieg sie oft und oft die Treppen auf und ab, oder lief rund um die Place Vendôme. Einmal erkannte er ein Paar besonders falsch gebauter Sämisch-Leder-Pumps, die große Zehe lag in der Mitte des Schuhes, an Mrs. Cushings Füßen wieder. Sie machte gar kein Hehl daraus. Es sei in Neuyork Sitte, sich diese immer etwas schmerzhafte Schuhpremiere zu ersparen, die Chaussüre von jungen Personen, die man dafür bezahlte, erst ein paarmal weichtragen zu lassen, es schonte doch sehr.

Hier war Margot Chenal ebenso kostspielig, reizlos und irrsinnig gekleidet wie die übrigen, nur trug sie am Abend ausnahmslos das gleiche, offenbar durch Alter reichlich geweitete Paar weicher Seidenschuhe.

 

Bei Porphyrio Pães und Sir Osmond saß nun auch Dr. Hafis. Horus mochte alle drei nicht ungern um ihres trockenen Witzes willen, und weil sie – in Pausen – von Geld sprachen. In der Hoffnung auf solch eine Pause gesellte er sich ihnen zu.

Von Porphyrios Hals schlich eine brüchige Vene den kahlen Schädel hinauf, bog rechtwinklig am Ohr ab und mündete auf dem Scheitel in eine überhängende beerenschwere Warze. Beim Kauen oder Sprechen geriet die Vene jedesmal in Bewegung wie eine Klingelschnur, und oben bei der Warze entstand ein Moment atemloser Spannung: wird sie läuten?

Er sprach: »Peru hat Peruaner. Japan hat Japaner. Warum hat die Schweiz keine Schweizer?«

»Es muß doch welche geben,« meinte Sir Osmond, »existiert da nicht ein Präsident?«

»Wie heißt er?« Niemand wußte es. Der erste Nachtportier, der Barkeeper, fünf Lungerknaben, der Manager, alles wurde gerufen. Keiner wußte, wie der Präsident der Schweiz hieß.

»Sehen Sie wohl,« triumphierte Porphyrio, »es gibt so wenig einen Präsidenten als ein Schweizervolk; dies haltlose Gerücht wird aus Reklame oder Gott weiß weshalb von der › International Alpenglühen limited‹ ausgestreut.«

Dr. Hafis meinte:

»In grauer Vorzeit muß es aber doch welche gegeben haben. Es werden eben jene zwei fremden Leute aus Bronze sein, die in jeder Stadt des Landes stehen. Entweder ein Lackel im Nachthemd mit Eispickel in Kreuzform und drunter liest man: Zwingli; oder ein Greis mit Basedow belästigt ein Kind: Pestalozzi. Welchen Zweck könnte es für die › International Alpenglühen limited‹ haben, einen Lackel im Nachthemd und einen Greis mit Basedow über das Land zu streuen? Sie erhöhen seinen Liebreiz nicht und verzinsen sich nur ungenügend.«

Aber mit greisenhafter Starrköpfigkeit ritt Porphyrio seinen ersten Einfall tot:

»Überhaupt ein europäischer Präsident,« knurrte er, »das hat ja bloß drei Funktionen. Erstens: alle verbündeten Königs- und Fürstenkinder zu Weihnachten mit Puppen zu versorgen. Zweitens: in allen zeitgenössischen Monstreskandalprozessen restlos verwickelt und auf das Schwerste kompromittiert zu sein. Endlich mindestens einmal in der Woche für das Kino, bei strömendem Regen, mit triefendem Schirm und Zylinder, hinter einem berühmten Leichenwagen herzustapfen. Das ist ein Präsident – in Europa,« fügte er mit der Miene eines Tigers, der ein Kipfel ausspuckt, hinzu.

Archie Payne schlurfte, Fäuste in den Hosentaschen, herbei. Glatt hinausgestrichen war das albinobleiche Haar aus dem eiskalten Hexengesicht des Neunzehnjährigen. Er wäre der erfolgreichste Snob Newyorks, also der Welt, geworden, hätte ihn seine explosive Frechheit nicht zuweilen wieder betrüblich zurückgeworfen – den restlos Bedientenhaften, den Geist ihrer Umgebung stets mit der Gewissenhaftigkeit von Chamäleons Widerspiegelnden, zum Gewinn.

Mit geheimnisvollem Sphinxlächeln raunte er den andern zu:

»Es gibt sogar noch heute lebende Schweizer, aber verraten Sie die armen Dinger nicht.«

Er schien mit Bardenhänden in eine imaginäre Leier zu greifen und machte Märchenaugen:

»Hark! In seltenen hellen Nächten – um die Mitternachtsstunde – da kommt es bisweilen im Mondlicht hervorgehüpft und heißt etwas, das klingt wie ›Rüdisütli‹. Doch schon stürzt sich die lauernde Horde der Weltkommis mit Blitzlicht, Büchse und Selbstknipser, aus dem Hinterhalt brüllend, drauflos, und mit einem Pfeifen der Angst verschwindet es, gleich dem Murmeltier, wieder hurtig im Gestein.«

»Nun versuchen Sie's doch einmal mit einem Schmetterlingsnetz oder einer Zauberformel, Archie,« meinte Sir Osmond. »Ich zahle jeden Preis und den doppelten für das lebende Exemplar.«

Der Marchese Strondoli wartete. Er wartete seit sieben. Jetzt war es halb elf. Seit vier Uhr machten die beiden Friseure Schichtarbeit, desgleichen die erste und die zweite Kammerfrau. Die strategische Leitung lag in den behaarten Händen des zahmen Russen vom Moskauer Ballet; Entwerfers der Kostüme und Garderobiers.

Im kleinen Drawingroom nebenan wartete auch die Gastgeberin: her grace of D. mit den übrigen Gästen. Strondoli aber hatte jene Dame, auf die alle warteten, in der Hall zu empfangen, als der erkorene Begleiter. – Vermutete man mehr, so lehnte er geschmeichelt und kraftlos ab. So einfach aber lagen die Dinge durchaus nicht.

Vor einer halben Stunde war gemeldet worden, sie stehe schon auf dem Korridor. Auch daraufhin blieb er innerlich noch immer mit untergeschlagenen Beinen sitzen – wußte: force majeure, was einer Dame im letzten Moment noch alles an Kosmetik einzufallen vermag.

Da bemerkte er im Spiegel das Fräulein Erika Unbehagen, Erzieherin im Hause Beermann, eine Faust im Mund, sich käseweiß in die Wand des Foyers einkrallen: nun war es Zeit.

Der gläsernen Keimzelle des Lifts entstieg die Principessa Dango: » la princesse macabre«. Der zahme Russe streute noch kniend den riesigen Dogaressamantel aus Kolibrifedern hinter ihr aus; von viertausend Vogelbälgen waren nur die rostgoldenen und rosigen Federchen eingestickt in ihn. Einen schrägen Fächer aus den selben leuchtenden Leichen hielt ihr starrer Arm hinter dem Haupt hoch, aus dem waberndes Henna hervorbrach, zu einem Adlerhorst auseinander toupiert.

Sie schien ein Wesen aus zitterndem Silberdraht.

Blutige Binden von Rubinen lagen ihr um den bläulich harten Totenkopf, und in Rubinen blutete es immer weiter über karfiolfarbene Windelgewänder herab und bleiche Arme – Herztropfen all der Kolibris – bis nieder zu den Händen, an denen lilablasse gewölbte Nägel gleich Magnolienblüten groß an kahlen Fingerzweigen ragten.

Sie wand sich vorwärts, als wäre sie erblindet von dem kobaltblauen Pulver in den mächtigen Augenhöhlen. Prachtvoll schnitt in den fahlen Kopf das Schwert ihres langen Mundes – querhin durch Taubenblut gezogen: der Hyänenprinzessin Mund, wie er ein viergeteiltes Reiskorn bei Tag – bei Nacht Leichen aus Juwelengewändern frißt.

Der Marchese war gezwungen, ihr den falschen Arm zu reichen, denn hochaufgerichtet hielt sie noch immer mit der Linken den schrägen Kolibrifächer über das wabernde Henna. Die Vision von Büßern stieg auf – den lebenslang Bewegungslosen an den Ufern des Ganges, und von verdorrten Gliedern, in denen die Vögel nisten.

Sie wand sich in den Fesseln ihrer Exklusivität dahin, zwischen Inseln von gezischtem Schweigen; ein Kielwasser von Entsetzen, Bewunderung und Mißgunst hinter sich lassend. Lorgnons beschlugen sich mit Rauhreif vom todkalten Haß der Blicke, aber hier hieß es sich ducken. Sie war eine zu hohe und weltbekannte Mondäne. Europas Spießer, noch feucht vom Brodem des Beisels, wären wohl nicht zu bändigen gewesen – hätten eine solche Erscheinung unter veitstanzähnlichen Symptomen niederzujohlen versucht. Diese hier waren immerhin wenigstens schon Snobs.

»Hohe Rasse,« dachte Horus, »edel im Aufriß – schade, daß der letzte adelige Flügelschlag hinauf in schöpferische Vereinfachung offenbar versagt hat. So bleibt es raffinierte Barbarei. Immerhin, ich will sie kennenlernen.«

Sie interessierte ihn zu wenig, als daß seine Willkür hier ehrfürchtig beiseite getreten wäre, die geheimnisvolle Bahn ja nicht zu kreuzen, in der, nach tieferem Gesetz, jene sich begegnen sollen, die bestimmt sind, einander bis zu einem bedeutsamen Grade Schicksal zu werden.

Ein button-boy grinste eine Botschaft. Spuckte dabei die ihm unverständlichen Fremdworte unter Ekelerscheinungen aus, nachdem er ihnen den Sinn abgebissen – alles zwischen Tür und Angel von Dummheit und Frechheit – bereit, bei strafferem Zugriff sofort in unzugängliche Verblödung, gestützt auf einen natürlichen Kropf, zu versinken.

Endlich verstand Horus. Es handelte sich um eine spiritistische Séance bei Lady Cadogan mit ganz erstaunlichen Resultaten unter strengster wissenschaftlicher Kontrolle. Man bat ihn, hinaufzukommen, zur Verstärkung des Kreises.

Oben, in einem zu Tode langweiligen Zimmer, war es hell und leer. Aus dem geschlossenen Nebenraum – er schien schwer von Menschen – erschollen gedämpfte Fragen – tropfende Buchstaben antworteten endlos. Manchmal schienen die Fragen mit den Buchstaben unzufrieden, dann begann es wieder von vorn. Schließlich schlich sich eine Stimme auf den Zehen bis zur Tür und meldete breitgequetscht vor Rührung:

»Neieschte Nachricht aus der Hell: Der Nero fangt ebe aan zu bereie.«

Fridolin Eisele, Präsident der Theosophischen Gesellschaft zu Bopfingen, stand im Salon und zog Horus durch einen Spalt ins verdunkelte Sitzungszimmer, aber auch dort flammte es jetzt auf; die Herren verlangten eine Pause. Man rief nach Whisky-Soda.

Um den ovalen hölzernen Tisch des kleinen Raumes, Lady Cadogans Ankleidezimmer, von dessen Fußboden der Teppich zurückgerollt worden war, saßen Knie an Knie etwa acht bis zehn Personen. Eben fiel die geschlossene Kette ihrer Hände, die bisher wie Polypen die Platte umspannt gehalten, auseinander.

»Wir haben heute Tiefergreifendes erlebt,« begrüßte ihn die Hausfrau, »es war direkt eine Eingebung von mir, after dinner den heiligen Abend noch der Geisterwelt zu widmen. Das mit Nero haben Sie ja schon von unsrem lieben Adepten Eisele erfahren, aber auch ganze Schwärme andrer Seelen verdrängen einander heute förmlich aus dem Tisch. Einer sprach so komisch, wir dachten schon, es sei vielleicht Buddha. Darum ließ ich Sie heraufbitten, uns sein Sanskrit oder Pali zu übersetzen – denn,« fügte sie zögernd hinzu, »vielleicht fällt ihm das Englische schwer.«

»Unsinn, Eveline,« verwies sie Muriel Hitchcock, sich die Nase pudernd.

»Wenn es doch Nero konnte, und ohne einen einzigen orthographischen Fehler zu klopfen, the darling, so rührend zerknirscht er auch war. Habe ich nicht recht, Monseigneur?« wandte sie sich an den zwergischen Franzosen ihr gegenüber.

Monseigneur aber hatte nicht zugehört; er versuchte so angestrengt, mit Gloria Rawlinson, die gleich einer wunderschönen, nie angezündeten Lampe weiß und golden dastand, ein Gespräch in Fluß zu bringen, daß ihm der Schweiß ausbrach. Er war vom Typ jener kleinen, instinktschwachen Rattler; überall, wo es mondän zugeht, wandern auch sie von Schoß zu Schoß, ohne daß man wüßte, wem eigentlich zur Lust sie gezüchtet werden. Sein Adjutant: Aquetil du Perron, von Schädel halb Birne, halb Schaf, massierte still seine weißverkrampften Finger und ließ sich von Winifred Cadogan mit petit fours füttern. Madame Bavarowska, voll und wild, siebenarmige Leuchter in den Ohren unter der Carmenfrisur, erzählte unterdessen von einem sensitiven Kind, das sie einmal in der society of psychical research in London zur Beobachtung gehabt.

Sonst ein liebes Kind, aber – wie Kinder schon einmal sind – nachlässig eben, immer ließ es beim Spazierengehen seinen Astralkörper hinten hinaushängen. Ununterbrochen hieß es da aufpassen und hinterdrein sein, um ihn, wenn nötig, zurückstopfen zu können. In Oxfordstreet sei es einmal deshalb fast zu einem Skandal gekommen, denn das Publikum – in Astralkörpern wenig erfahren – vermutete etwas Unsittliches und bohrte die Regenschirme hinein.

Man beklagte den noch vielfach herrschenden Skeptizismus der Zeit, wo es doch jedem Gebildeten offen stünde, durch Auflegen der Hände auf den Tisch sich von dem persönlichen Fortleben nach dem Tode einwandfrei zu überzeugen.

Fridolin Eisele widersprach, lobte gerade die wachsende Beseelung der Zeit, und wie sie dem Wunder immer zugänglicher werde. Erschlug schließlich jeden Widerspruch mit dem jubelnden Argument:

»Mer havve sogar scho myschtische Bankdirektore.«

Er glich dem freundlichen Seepapagei: ein kugelrunder Anfang, und dann war es gleich ganz aus mit ihm – gar der Rede nicht mehr wert. Ein mystisches Furunkel aus gestanztem Blech wuchs in seiner Krawatte, und auf dem Zeigefinger der Rechten trug er den Siegelring der Blavatzky als einer der sechsundsiebzig, die sich rühmen, den echten von der großen Adeptin eigenhändig auf dem Totenbett erhalten zu haben. Auf der Reise zu einem Kongreß nach Bern war er – Lady Cadogans Gast – auf ein paar Tage in dieses ihm fremde mondäne Milieu verschlagen worden.

Verklärt hingen der Gastgeberin waschblaue Seheraugen an ihm. Da er geendet, wandte sie sich Horus zu:

»Und ist auch Ihnen, Mr. Elcho, der Sie zum erstenmal in Europa sind, diese mystische Atmosphäre, diese wachsende Macht der Magie an unsrem Kontinent aufgefallen?!«

»Bisher, offen gestanden, nur an Kellnern,« lächelte dieser, »die mir als einzige in Europa über außernatürliche Kräfte zu verfügen scheinen, vermögen sie doch, wie durch Fernwirkung, Messer, Löffel und Teller von scheinbar ganz entfernten Tischen auf den Boden schmettern zu lassen.«

Man lachte oder entrüstete sich, beschloß aber, nun endlich die unterbrochene Séance wieder aufzunehmen und räumte den Schnaps weg. Die Lichter wurden gelöscht, alles rückte zusammen und umschloß aufs neue mit gespreizten Händen von oben die Tischplatte, wobei die kleinen Finger sich berühren mußten, um, wie Horus staunend erfuhr, Jedem die wissenschaftliche Kontrolle über den Andern zu sichern, und somit einwandfrei die Echtheit der Phänomene.

»Und das alles im Zeitalter des ›Michelsonschen Versuchs‹ – des ›Raumgitters‹ – der ›Berechnung des Strahlendrucks‹! dachte der Befremdete.

»In dem selben Europa, dem meine ganze Sehnsucht und Begeisterung galt, um seiner wissenschaftlichen Gewissenskraft willen; das unaufhörlich in Tausenden von Publikationen, die seine Adelsbriefe sind, über die Erde hin kündet von Genialität und göttlicher Verbissenheit ohnegleichen, kündet von Hilfskonstruktionen, Präzisionsapparaten, Sicherungen und Gegensicherungen, damit ein einziger Nebenversuch um ein weniges verfeinert werde und sich einordne jenem lauteren, herben, lückenlosen Geisterbau, der selbst nichts soll, als einen neuen Annäherungswert an das Geschehen ermöglichen – und gerade durch diese Beschränkung an Gewalt und Tiefe des Einblicks alle Intuition andrer Kulturen weit hinter sich gelassen hat?«

Wie war solcher Abstand im Kritisch-Geistigen unter Menschen der gleichen Rasse, der gleichen Zeit, überhaupt erklärbar?

Durch das Fenster kam blaues Schneelicht und zeichnete jedes Einzelnen Umriß mit einem Meßband aus vergastem Metall. Einige Minuten herrschte erwartungsvolles Schweigen. Nun wollte jemand eine wandernde Flamme unter dem Tisch bemerkt haben. Sie erwies sich jedoch als silbernes Zigarettenetui, das du Perron mit den Füßen Monseigneur auf den Schoß hinüber zu praktizieren versuchte. Diese triviale Auslegung des Phänomens fand wenig Anklang. Man solle sich nie durch solch scheinbar einfache Erklärungen beirren lassen.

Ursprünglich sei es doch eine Flamme gewesen. Der magische Kreis ermangle eben noch der nötigen Kraft zu dauernden Materialisationen. Das hatte das Flammengespenst gerade noch rechtzeitig gemerkt, um seinen Rückzug auf scheinbar natürliche Weise durch das Zigarettenetui zu decken, dessen Überreichung in diesem Moment durch magische Einwirkung auf du Perrons Unterbewußtsein erfolgt sei. Nichts schien einfacher.

» They are sooo smart« – sie sind ja so gerieben, bestätigte Lady Eveline.

Also den Kreis verstärken: Monseigneur und Quadrupedescu, Glorias Nachbarn, vertraten die Ansicht, intensiverer physischer Kontakt zwischen den Teilnehmern würde die Phänomene wesentlich fördern. Doch man heischte Ruhe, wartete wieder. – Nun knackte die Platte deutlich. Alles glimmerte vor Erregung, nur Muriel Hitchcock blieb ruhig, das graue Papiergesicht voll Herablassung seitwärts einem Unsichtbaren zugelehnt.

»Es ist Alastair. Ich spüre ihn schon die ganze Zeit hinter meinem Sessel. Nie versäumt er eine Gelegenheit, mir nahe zu sein.«

Sie war aus Philadelphia, trotz wurmiger Haut hübsch, hypersmart, und gab sich, da sie ein wenig hinkte, gern für eine etwas beschleunigte Reinkarnation der Lavallière aus. Das mit Alastair aber ging, wie man nun erfuhr, schon viel länger; seit sie eine wunderschöne griechische Hetäre zu Alexandrien gewesen und er, als Säulenheiliger, aus Leidenschaft zu ihr sein Gelübde gebrochen hatte und für sie gestorben war. Durch diesen gewaltsam frühen Tod waren sie seitdem immer um eine Drittel-Inkarnation auseinander – very trying indeed – und konnten sich nur mehr oder weniger durch Tischplatten hindurch angehören. Jetzt wollte keine der Damen in Astralflirts zurückstehen. Eine Art makabren Erotelns hub an, und es ergab sich, daß alle schon einmal wunderschöne griechische Hetären gewesen. Madame Bavarowska aber schoß den Vogel ab mit einer extra Fleißinkarnation als Pharaonentochter. Es bedarf wohl der Erwähnung nicht, daß sie auch in dieser Gestalt von einem Liebreiz war, der vielen zum Verhängnis werden sollte. Nun begannen die Damen zu erörtern, was sie jedesmal angehabt, und die Sitzung drohte in einer Modediskussion zu verenden; die Weiber zerschnatterten alles, als der Tisch deutliche Zeichen von Ungeduld gab, Fridolin Eisele um Ruhe bat und die Leitung der Séance wieder übernahm.

Es wurde mit dem Tisch vereinbart, ein Klopflaut bedeute – »ja«, zwei – »nein«, damit man in zweifelhaften Fällen wisse, ob richtig buchstabiert worden sei. Nun begann Eisele langsam immer wieder das Alphabet herunterzusagen, wie Horus es schon vom Salon aus vernommen. Der Buchstabe, bei dem es klopfte, galt und so setzten sich mit der Zeit Worte zusammen. Der Tisch war gerade bis Mia gelangt und wollte fließend weiterreden, da warf sich Madame Bavarowska mit einem Aufschrei über ihn.

»Mia – c'est pour moi – für mich, so heiße ich!«

»Sie heißen doch Natalie,« widersprach es aus grollender Runde.

»Aber Mia ist mein Kindername. Maman, bist du's? … Sag, soll ich Rio Tinto kaufen?«

Der Geist der Mutter bejahte.

»Zu welchem Kurs?« Der Geist der Mutter nannte einen exorbitant hohen. Dann verschwand er. Der Tisch fing etwas Neues an. Bis dais kam er. Da sprang wieder Madame Bavarowska vor und verteidigte ihn, wie eine greise Leopardin ihr letztes Junges.

»Daisy – c'est pour moi! der Kosename meines ersten Gatten für mich. Bogumil, was hast du deiner Daisy zu sagen?«

Bogumil sagte einiges. Später, als es »pip« klopfte – die Dame zum drittenmal aufzuspringen und auch so zu heißen Miene machte, wurde es Winifred Cadogan zu bunt. Sie gab dem Tisch mit dem Knie einen Stoß, daß er gegen die Namenreiche flog, und nur das außerordentlich starke straight-front Mieder verhinderte ernstlichen Schaden.

Madame Bavarowska war ganz entzückt:

» Ça pèse – ça pèse … welche Kraft der Materialisationen, welch eine Sitzung.«

Winifred platzte aus.

»Und da könnt ihr scherzen, mais mes enfants, nie wieder werdet ihr so eine Séance erleben …«

Der Tisch puffte weiter in sie hinein, bis endlich du Perron und Quadrupedescu Winifreds Knie gebändigt hatten.

Der Beobachtungsgabe der übrigen schienen diese Vorgänge andauernd zu entgehen.

Schließlich war man ja auch nur der Klopfphänomene: der harten kleinen Schläge im Inneren der Platte, wegen da, die niemand mit Knien und Beinen hervorbringen konnte. Auf der Oberfläche des boxenden Tisches aber spannten sich, weithin sichtbar, von kleinem Finger zu kleinem Finger, immer noch die Hände aller Teilnehmer im blauen Schneelicht.

Mit der Zeit meldeten sich auch Goethe und Napoleon zu Wort. Ersterer unterhielt sich auf das Angeregteste mit Lady Eveline über die Verwerflichkeit des Dumpingsystems neudeutschen Handelsbrauchs, und so wickelte sich der Verkehr zwischen Lebenden und Toten klaglos ab, bis urplötzlich Verwirrung entstand – geradezu heilloser Unfug. Viertelstundenlang wurden immer tollere, sinnlosere Worte geklopft, Fragen in einem bejaht und verneint, bis Eisele die Geduld verlor:

»Saumäßig schwätze Se daher,« fuhr er Napoleon an, den er heimlich im Verdacht hatte. Es half. Die Antworten ebbten wieder ins Verständige zurück. Was hatte sich ereignet? Horus war es bei dieser, seiner ersten Séance schon nach drei Minuten klar geworden, die Klopflaute müßten sich durch Spannungen im Holze der Platte willkürlich erzeugen lassen: gleichmäßiger, dauernder, geschickt verteilter Druck ruhender Fingerspitzen den Flader entlang und dann wieder plötzliches Nachlassen dieses Druckes würden wohl genügen, um bei dem gewünschten Buchstaben ein leises, kurzes Krachen zu erzwingen.

Nach einer Weile riskierte er diskret den Versuch. Der gelang sofort. Nun war es ihm eine Erheiterung, dem Phänomen konstant die Pose zu verpatzen; in jedes Wort irreparable Buchstaben hineinzuklopfen. Nach Eiseles Zuruf hörte er auf. – Die Methode war ergründet, jetzt hieß es nur noch den eigentlichen Klopfer herauszufinden, und ob sein Ziel schlichthin idiotisches Gesellschaftsspiel in after dinner-Mystik bedeutete oder Zweckhafteres vielleicht.

Die Damen – sie hatten wohl in ihrem Leben noch nie einen Flader am Holz bemerkt – schieden allesamt von vornherein wegen geistiger und manueller Minderwertigkeit aus, desgleichen Monseigneur. Fridolin Eisele? Nein – ein Rindvieh voll Lauterkeit. Es war eben ganz einfach nicht mehr zu leugnen, Horus hatte eine Schwäche für ihn gefaßt, seit Eisele nach der lauten Auseinandersetzung mit Napoleon noch leise, leise, nur Luchsohren vernehmbar, auf den Korsen den großen Fluch seiner Tribus geschleudert:

»Daß di's Meisle beißt.«

Es dünkte ihn der herzigste Fluch, den er je gehört: das Ärgste, was ja überhaupt passieren konnte, war, daß er eben in Erfüllung ging … schließlich schien das Malheur dann noch immer nicht gar so groß.

In die engere Wahl kamen somit du Perron, das Birnenschaf, und Quadrupedescu: Deponens von Clubmann und Hundedresseur.

Sensation! Im Tisch erschien Moltke, nannte den Namen eines osmanischen Prinzen und prominenten Heerführers, der eben jetzt im Balkankriege gegen Bulgarien im Felde stand. Aller Augen wandten sich Lady Cadogan zu. Man wußte, daß sie, seine langjährige Freundin, auch ihn durch fast unbegrenzten Einfluß zum Spiritismus zu bekehren vermocht. Totweiß über den Tisch gelehnt, ganz benommen vor Stolz über die eigene Bedeutung, harrte sie weiterer Botschaft. Warnung kam: wenn bestimmte Armeekorps, ihre Nummern wurden genannt, die gegenwärtig für den Soundsovielten bestimmten Bewegungen ausführen würden, fiele Adrianopel in Feindeshand.

Ungeheure Erregung. Lady Eveline nahm jedem Teilnehmer das Wort unverbrüchlichen Schweigens ab, ehe sie nach einem Telegrammformular hinausstürzte, in der nur ihr und dem Prinzen bekannten Chiffrenschrift das vom Geiste Moltkes ergangene Verbot unverzüglich zu drahten. Die Sitzung fortzusetzen, fiel niemandem mehr ein.

Madame Bavarowska stieß plötzlich aus allen Körperöffnungen schwarze Schleier aus, hatte ein Stück schwarzes Fließpapier – kein Mensch wußte woher – vor sich auf den Tisch gebreitet und zog aus ihrer juwelenbesetzten Goldtasche ein Paket Spielkarten von geradezu phantastischem Schmutz.

Ob man sich weissagen lassen wolle? Den ekelerregenden Zustand der Karten begründete sie durchaus plausibel damit, jene stammten aus einer Kaperbeute ihrer Vorfahren mütterlicherseits, die alle berühmte Seeräuber im Schwarzen Meer gewesen. Andre Familien behaupteten solches zwar auch, von der ihren sei es aber dokumentarisch nachweisbar.

Horus entkam im allgemeinen Wirrwarr. Schon einen Augenblick vorher hatte Quadrupedescu, sein blaurasiertes Lächeln wie mit Schmieröl übergossen, den Clowntorso aus der Tür gedreht.

Horus beutelte sich: ein Glück für euch, daß Geistergrenzen fester versiegelt sind, als after-dinner-Mystik sich träumen läßt. Welche Astralhaie müßten im Kielwasser solchen Seelen folgen. Was müßte aus dem Unsichtbaren her, solchem Ruf gehorchend, an der Schwelle einer Horde lauern, die blind, taub, flirtend, gierend, gerade ihren christlichen Schlangenfraß mit Whisky-Soda wieder aus allen Poren dampfen läßt? Hielte die stoffliche Schranke nicht, in die Hände welch ultravioletter Fallotten würden diese Nekromanten nach dem Gesetz der Korrespondenz wohl fallen?

Und gedachte der vornehmen indischen Dame, deren Gatte zu sein er die Ehre hatte, dort oben auf ihrem bestirnten Altan. Sein Herz ging aus zu ihr und strebte zurückzukehren in die Heimat ihres Kusses.

 

Unten im Foyer bestieg eben die Principessa Dango wieder die gläserne Keimzelle des Lift. Noch immer hielt ihr gereckter Arm den Fächer aus leuchtenden Leichen über das wabernde Henna. Strondoli vervielfältigte sich um sie in Brunstbewegungen. Alle Facetten seines Männchentums waren in Rotation – ganz schwindlig konnte einem dabei werden.

Sie sagte nichts als: » impossible«.

»Um elf Ski-kjöring nach Sils. Bleiben kaum zwei Stunden Schlaf. Impossible.«

Strondoli riß die Uhr heraus. Beteuerte mit Blicken, Lippen, Haut, Haar, wie früh es noch sei, indes sein markiger Arm das »elf Uhr« ganz weit draußen, platt an den Rand der Ewigkeit gestemmt hielt.

Vergebens. Rundum abgedichtet mit Durchsichtigem, entglitt sie am Draht des Lift, der lose in seinem Nabel kreiste, durch den Plafond nach oben.

Der Marchese zog seinen edlen Leib ein – wurde konkav vor Enttäuschung; pfiff dem Boy und frug nach Mademoiselle Fifi.

Bei der Loge des Nachtportiers stand Quadrupedescu, übergab ein dichtbeschriebenes Formular als dringend zu drahten. Auch diese Depesche war, gleich der Lady Cadogans, chiffriert, bis auf zwei Worte: Bestimmungsort und Adressat. Berne und irgend etwas … de Bulgarie. Also darum nach verhüllenden Mätzchen, Präliminarien: Moltkes Geist samt »Warnung«. Es hatte sich eben darum gehandelt, eine für Bulgarien gefährliche Operation des türkischen Heeres zu verhindern, und das hatte dieser geriebene Agent auf so primitive Weise erreicht, daß kaum ein Botokudenpaar darauf hereingefallen wäre. Von solchen Vorgängen also hingen europäischer Völker Schicksale im zwanzigsten Jahrhundert ab.

Morgen hieß es, bei Lady Eveline Moltkes Ansehen sanft untergraben, nicht etwa sein Erscheinen leugnen, das hätte ihre Eitelkeit nie zugegeben, nur einfach ihren Jingoismus gegen sein Deutschtum aufstacheln. Vernunft: wenn zwei entgegengesetzte Dummheiten gerade gleich stark sind. Ja, er hatte in diesen wenigen Wochen im dunkelsten Europa schon viel gelernt.

Einen Blick noch warf er in die Grellhölle, wo die ruhelosen Barbaren, von drei Orchestern durchbohrt, violettgesprenkelt vor Schnaps und schon völlig verwildert, immer noch in ihrer eigenen Kohlensäure fatal umherwateten.

Hier, von oben gesehen und durch die Rauchschichten hindurch, war das Ganze einem infernalischen Aquarium nicht unähnlich.

Er dachte: vielleicht ist es hier wie mit den niederen Tiefseetieren: nähme man plötzlich den ganzen ungeheuren Druck von ihren Sinnen, unter dem sie zu leben gewohnt sind, hübe sie ins Leichte, Freie, in höheres Element – ob sie sich dann auch selber zu vomieren, begännen … auf einmal die Gallenblase nach außen, und überhaupt alles vornüber gestülpt?

Aber wozu leben sie unter diesem, alle Empfindung erschlagenden Sinnendruck?

Warum verwechselt der Europäer Grelle, Lärm und Gestank mit Freude?

Ja warum?

Er hatte damit zum erstenmal an ein Grundproblem gerührt – aber er wußte es noch nicht.

 

Plötzlich war Europa herrlich.

Dieses »ausgefranste Hundeohr am Kontur Asiens« hatte eben die beispiellose Chance, daß Schnee drauf fiel – auf Barbarei und Irrsinn über Nacht bestirnte Reinheit wuchs.

Horus, von Pitz Nair kommend, lag in seinem brennheißen japanischen Bad – neben sich Tee und knusprig nachbrodelnde Muffins – in Händen ein edles Buch, mit dem man durch tausend Reiche fliegen konnte – vor sich Schlaf, eine runde Nacht voll, ausgeflaumt wie ein Vogelnest – die Wand hinauf aber lehnte, ganz nah im Schmeichelkreis seiner Finger, die neue grande passion: Skier.

So ruhte er, ein köstlich zerbrochener Sieger am Fest des blauen Raumes, und genoß: auf der Haut schäumende Nadeln – im Herzen Ozon – im Blut Eis und Gefunkel. Lächelte gerührt den beiden gestreckten Schneeflügeln aus schwingendem Hickoryholz zu: schwarzes Schneeschilf, weiß gerippt, träumte an ihm seinen tiefen Tag zurück. Grüßte erst das entzückend linsenförmige Anschwellen der Spitzen, durchlocht wie Ohrläppchen, nahm jene klare, von der Bindung gekrönte Kantengruppe mit dem Finger in seinem Organismus auf: Verschneidungskurve zwischen dem mechanisch wirksamen Profil und der idealen Oberfläche des Skikörpers; so vollkommen fast wie jene, die an der Helice der Nabe zuschwillt. Vom Schneekiel, der Rinne an der Unterseite, in einem Myrtenblatt verstrahlend, mochte man gar nicht erst sprechen, direkt einen neuen Raumsinn schuf er in den Sohlen und war über Lob schlechtweg erhaben.

Jetzt fuhr er mit den Augen den Ski entlang, bis wo dies einfachste und freieste Gerät sich aufbäumt und aus dem Planen löst nach oben. – Sein Herz schlug – er glitt los zum Sprung; immer rascher hinein, in ein Vorwärts ohne jede Wahl. Hinein ins Ducken, Abschnellen, dann Hinausgerissenwerden in den Raum. – Dort endlos im Nichts hängen, im Nichts Richtung halten müssen – die Arme zu Propellern geworden – das Bewußtsein in den Sprunggelenken, ganz dem Aufprall entgegengespannt und dem hirnwirbelnden Schuß. Das Unbegreifliche dieses Aufpralls, dieses Schusses trieb dem Entrückten das Herz ins Hirn vor Blut und Eislust. Seine Hände fand er an den Rand der Wanne wie an einen Starkstrom hingekreuzigt, und kalte Sterne sprühten hinter seiner Stirn.

Erst in den mildernden Wellen des Geländes, als schon bremsende Hügel dem Schuß in sein Rasen gefallen, vermochte er die duffen Finger der Rundung des Emails abzureißen. – Atem stürzte wieder in ihn, doch er wußte noch nichts Rechtes mit ihm anzufangen; es donnerte sein Herz.

Bei Auto, Flugzeug, Motorboot – immer ist noch etwas eingekeilt zwischen Mensch und Schnelligkeit. Auf diesem Zwischengliede hockt er dann: ein beherzter und recht lobenswerter Affe. Einzig auf Schneeschuhen: veredelten Sohlen, sind sie endlich ganz allein miteinander, die Geschwindigkeit und er. Schräg über sanfte Kristalle stürzend, wird der Mensch da selbst zum Alpha und Omega der Bewegung – auf diesen seinen zwei federnden Sohlen hinausschwingend über sich und in ein neues Maß.

»Und da sagen die Leute so schlichthin: ›Bretter‹,« dachte Horus, »für ihre verrotteten Klim-Bim-Gasometer und hingehudelten Prunkbaracken aber erfinden sie Ehrfurchtnamen: ›Musentempel‹ etwa oder ›Palais‹.«

Und Leute – Leute trifft man da oben. Angeschossen kommen sie mit verglasten Augen aus dem Nirgendwo: wasserdichte Flügelwesen, prachtvoll ruppig, mit ungeheuren Eiszapfen an der Nase, und künden von firnen Ruheplätzen, wo sie das kristallne Huhn mit dem Hammer gegessen und die Suppe als Biskuit.

Geht man ihnen dann in ihre Passantenhotels nach, trifft man sie meist schon aufgetaut zu kleinen Philistern vor einem Schweinsbraten sitzen, die Seele nikotinisiert und dreier Vorstellungen nur mächtig: Windharsch – Pulverschnee – feucht-salzig … oder sie stoßen über Daumenknorpel rechteckige Löcher in bandenlahme Billards und wollen es dann nicht gewesen sein.

Da sind sie trübe wie Lachen zerschmelzenden Schnees. Null Grad ist ihre kritische Temperatur – eher etwas darunter.

Halben Weges wuchs dann diese Wächte dem Berg aus gläserner Flanke, war aber unschwer zu umfahren gewesen. Schweizer Offiziere, die hier ihre Übungen abhielten, hatten es soeben getan. Nur als Letzter – der junge Leutnant tauchte grade über ihr auf, unschlüssig-lüstern und vorgeneigter Silhouette, bis auf das reglementmäßige Rhomboid aus grauem Filz auf seinem Kopf; das bockte schräg nach hinten in den Äther und war offenbar dagegen. – Die andern Offiziere lachten und winkten ab. Von hier unten, gegen der Wächte überstehend, sah man deutlich, sie hing ein Stück frei in den Raum.

»Ischt ja wie's Schterbe,« sagte der junge Leutnant, dann glitt er los.

Das Rhomboid aus grauem Filz sollte aber recht behalten. Drei Sekunden später saß es irgendwo – – schräg wie immer, doch ganz allein auf dem Schnee, indem sein Besitzer sich einem Kopffüßler gleich gebärdete.

Doch oben über der Schneebrücke aus gestirnten Kristallen zuckte jetzt eine zweite Silhouette aus dem Nirgends her: die Ganz-Weiße, Lanzenkeusche, neigte sich langsam wie eine Rakete vom Zenith ihres lichten Stiels.

Horus hielt den Atem des Erinnerns an. – Nein, noch nicht, immer noch nicht. Doch allzulange, allzu künstlich schon hatte er der Erscheinung gewehrt; Berge, Leute, blaue Fröhlichkeit dazwischen gehäuft, damit ihr Kommen daure – denn ihr Dasein war nur ein Augenblick.

Nun brach sie – ein Dämon der Anmut – durch den süchtigen Geiz seiner Vorfreude, hing über dem Sturzweg, halb Luft, halb Eis, stand niederfahrend einen Augenblick als Sturm an seiner Schläfe, goß sich in eine Kurve hinein – war ganz unten auf dem Schneefeld, nur eine blanke Nadel noch am Faden einer feinen Spur.

Hinter ihr nach glänzte der Weg.

Gargi aber hatte in auffliegendem Entzücken, in jenem lieblichen Sich-Auslöschen an einer reinen Freude, die sie ganz enthielt, feierlich – fast priesterlich gesagt:

»Ein Elf von einem großen Stern.

Unter den Schweizer Offizieren hieß es mürrisch anerkennend: »Die fremde Dame«.

»Ein Elf von einem großen Stern.«

Gargi – Gargi hatte das Wort gefunden. Er sprang auf ins Nebengemach zu ihr, alles ihr mitzuteilen – mit ihr zu teilen. Ein Läufer in dampfenden Nebeln. Sein Torso gleißte. Lachend fielen sie einander in die Arme. Tropfen stoben.

In dieser Nacht ward Gargi ganz zur Fee Peribanu. Das Orchis- und Perihafte schöpfte sie ihm aus ihrer Duft gewordenen Tiefe. Jaspisgeschöpfe mit Teeblütenfingern – Götzen mit goldenen Nägeln der Wollust – umstanden sein Herz die ganze Nacht.

Hüterin des köstlichen Potentials, wahrte sie der Phantasie des Mannes – aufduftend als Asien in seinen Armen – die Weite eines ganzen Kontinents zum Reiz, an dessen Ende nicht mehr stand – noch nicht mehr stand – als auf Kristallen eine blanke Nadel am Faden einer feinen Spur.

 

Son Altesse Imperial le Grand Duc Wladimir
Michailovitsch
et suite
La Princesse Helena Petrowna Karachan
et suite

las er in der Liste des Astoria als neue Gäste. So sollte er Helena Karachan begegnen, seiner Mutter Gespiel, jener einzigen Europäerin, von der sie je gesprochen. Tochter aus der morganatischen Ehe eines Großfürsten mit einer kaukasischen Prinzessin, hatte ein wilder und prachtvoller Ernst einen Teil ihres Wesens zur Medizin hingerissen, sie schon damals – ganz jung – zu einer der ersten Ärztinnen gemacht. Eine Hobby, die man der großen Dame gerne nachsah, schränkte sie doch hochdero Zeit für noch Bestürzenderes ein, denn gefaßt war man auf alles.

Früh verwaist, galt sie von je als Lieblingsnichte eben jenes Großfürsten Wladimir Michailovitsch, ihres Vaters einzigen Bruders. Vordergrundsdaten. Eigentliches wußte er um sie aus einer Klangfarbe in seiner Mutter Stimme: dem glücklichen, tiefübergoldeten Gong, der nur Ebenbürtiges einzuschwingen pflegte – so lebendig seinem Ohr, daß auf diesen fast körperlichen Wellen die entblätterten, toten Züge zurückkamen, sich aufrichten durften – faserfein – als ganzes Antlitz wieder um diesen Kern von Klang, als Glockengesicht – das silberzüngige Orgelgesicht, wie er es im stillen für sich nannte.

Nun war Helena Karachan da, ein Wesen aus Diana Elchos ihm unbekannter, früher Welt, und er sollte sie sehen. Eine kaukasische Prinzessin: geschmeidedurchrieselte Flechten langniederfallend auf milchweiße Fesseln, azurne Schleier und klare Knaben, die Türkise ihrem Weg streuen.

Zum dinner kam er ausnahmsweise in das Grillroom, schmeichelte für diesmal sogar Gargis Widerstand, solchen gemeinsamen Anfängen der Verdauungstätigkeit auch nur als Zuschauerin beizuwohnen, hinweg, ließ sich ein Tischchen anweisen, an dem die Fürstin vorüber mußte, das auch den Blick durch Glastüren in einen ihr reservierten kleinen Saal frei ließ.

Nein, der Großfürst sei noch nicht eingetroffen, berichtete der maître d'hôtel, vorerst die Prinzessin et suite.

Nun kam, zwischen aufgerissenen Flügeltüren, sie selbst.

Der schwabbelige schwarze Kaftan, durch den sich wilde Formen wälzten, war glitschig von Bratensauce und Eigelb; darüber hing, bis zu den Knien, eine Märchenkette nußgroßer Perlen von kaum abzuschätzendem Wert. Die Füße staken in karierten Schlapfen.

Sie schob sich in merkwürdigen Kreissegmenten sehr schnell vorwärts, offenbar hatte man die ungeheuren Schenkel bandagiert, um ein Wundreiben zu verhindern. Von den Armen hingen ihr zwei Reticuls – schwer wie Rucksäcke – der eine mit Konfekt, der andere mit Tabak gefüllt. Die großen längsgerunzelten Ohren waren mit Antiphonen abgedichtet gegen jeden Lärm, vor den Augen trug sie eine Autobrille mit gelben Scheuklappen.

In ehrerbietigem Abstand folgte ein flohbraunes Lemurenmännchen, das diese äußerlich erzwungene Distanz durch eine keineswegs fundierte Familiarität, den übrigen Anwesenden gegenüber, ins betulich Zirkusmäßige zu zerwitzeln offenkundig bestrebt war. Ein zweites Männchen, ebenfalls von polnisch-semitischem Typ, begleitete seine Herrin nur bis zu ihrem Separee und erhielt seinen Platz unter den übrigen Hotelgästen angewiesen.

Doch auch an den Flohbraunen richtete die Fürstin während der Mahlzeit kaum das Wort – füllte die Pausen der Gänge, indem sie aus dem Rucksack zur Rechten Bonbons verschlang, dem Rucksack zur Linken unaufhörlich Tabak entnahm und zu Zigaretten drehte, die kaum angerauchten aber spie sie sofort wieder weg.

Aß dann wie ein Oger. Mit tadellosen Bewegungen der langen, edel gebliebenen Hände. Das Embonpoint der Fürstin schien nicht an ihrem Kaftan enden zu wollen, war irgendwie ein respektloses – ein anarchisches Fett, evaporierte vielleicht heimlich, um sich, ganz weit weg, plötzlich auf einer firnen angelsächsischen Hemdbrust mit einem Klatsch niederzuschlagen; ganz gut zuzutrauen war ihm so etwas. Lag dergleichen in der Luft? – Bis zum vierten Tisch in der Runde, und trotz Glastüren, begann der maître d'hôtel immer wieder nervös über Gabel und Messer zu fahren, als kröchen dort Ölflecke aus.

Nach dem dinner, unausgesetzt kauend und rauchend, ging sie ins Spielzimmer. Der kleine polnische Jude wartete bereits vor einem Schachbrett. Unterdessen war im großen Musiksaal ein Wohltätigkeitskonzert ausgebrochen. – Irgend jemand plärrte bereits Patschuligebete von Gounod.

Eine Lady Patroneß näherte sich mit dem irrsinnigen Pferdegrinsen europäischer Gesittung dem Schachtisch: »Wollen Sie nicht zu unserm Konzert kommen, Fürstin?«

»Ja, es ist entsetzlich, wieviel Dreck einem unaufhörlich in die Ohren getutet wird.«

Und ohne auch nur aufzusehen, schob die Karachan mit hörbarem Knall ihr Antiphon wieder in das Runzelohr:

»Manasse, Sie sind am Zug.«

Es waren ihre einzigen Worte an diesem Abend.

Wie man einem bockenden Nilpferd achselzuckend ausweicht: » It's the nature of the beast,« so entfernte sich die Lady Patroneß.

An einem der nächsten Tage kam Manasse und forderte Horus zu einer Partie Schach auf, wie er durchblicken ließ, auf Geheiß der Fürstin. Im übrigen ignorierte sie ihn genau wie den Rest der Gesellschaft. Nur zu markanten Persönlichkeiten – Menschen mit etwas wie Köpfen: dem vercherubten Aasgeier Elihu Lincoln Rosenbusch, auch Archie Payne, kam regelmäßig Manasse, um sie dem Schach zu gewinnen, denn er war ein faszinierender und außerordentlicher Lehrer.

Horus, der all seine Zeit auf Skiern verbrachte, hatte nach einigen Partien weiteres Spiel abgelehnt. Da ließ sie ihn sich vorstellen.

»Ich habe die Freßsucht,« und auf den kleinen Lemur deutend, »das ist mein Darmlakai – oder heißt es Internist, kurz einer, der eine Lebensrente dem einmaligen ›großen Schnitt‹ am Patienten vorzieht.«

Der also Eingeführte rutschte nervös hin und her – warf überquer allerhand Angelhaken nach Einverständnis.

»So hat Manasse versagt Sie einzufangen,« fuhr die Fürstin fort, »schade, Sie sehen begabt aus. Wissen Sie denn noch nicht, daß bei dieser heillosen Rasse eben alles zum Unheil ausschlagen muß – auch die Intelligenz – vielmehr gerade diese. Da sperrt man sie noch am sichersten ins Schach. Dort ist sie wenigstens unschädlich; eingekapselt wie eine Trichine.«

Und Horus sah zum erstenmal, daß dies Gesicht als schmaler Docht in seinem eigenen Talg stand, daß da vielleicht eine hohe Seele sich hinter einem Sack voll Eingeweide verschanze, hinter Autobrillen und Antiphonen, Tabak, Zynismus und Fraß.

Ihm schien, als wäre er hier zum erstenmal in Europa auf einen Menschen gestoßen, zum mindesten auf menschliche Überreste. Doch woher solcher Verfall – solcher Ruin? Er fühlte: diese blutigen Fleischstücke, diese Fisch- und Fettgerichte ohne Zahl – eigentlich fraß sie an ihnen immer nur wieder ihren Harm in sich hinein, wurde daran noch gelber, fetter und böser. Manchmal schien sie am Ziel: alles in pausenlosem Speisebrei breit animalisch zu ersticken. Litt dann augenscheinlich nicht mehr, verdaute ihr Leid, nur die beispiellose Brutalität des Ausdrucks – die auserwählten Gemeinheiten der Worte bei dieser wahrhaft großen Dame – lagen als erstarrte Schlacken einer einst feurigflüssigen Qual immer noch im stumpfen Heute herum.

Mit offener Verachtung gegen die ganze Gesellschaft einzelte sie nur Horus heraus und Gargi, die sie Peribanu nannte, sprach aber auch mit diesen beiden manchmal tagelang kein Wort. Nie war Diana Elchos erwähnt worden, als wolle sie an nichts aus der Zeit ihrer jungen Höhe erinnert werden. Doch wußte sie, wessen Sohn er war. Er sah es deutlich am gierig gequälten Blick, der die Bewegungen entlangfuhr, in denen er seiner Mutter glich. Einmal, bei einer weiten, impulsiven Wendung aus den Schultern heraus, hatte die Fürstin, eine von Lorgnons starrende Umwelt völlig ignorierend, jäh seinen Kopf gepackt und ihm zärtlich, zornig in die Augen gesprochen:

»Nicht, Baby, nicht.«

Was sie, aus deren Herz das große Auge in den Raum wuchs, wohl empfunden hätte bei diesem Wiedersehen. Verse kamen ihm von Einem, der ihr an Wort und Art wie ein früher kindlicher Bruder glich:

»Die meine Gespielen waren, die sind träge und alt.«

Oft, nach tagelangem Schweigen, wieder ein Strom von Hohn: »Ich stehe nämlich unter Kuratel: Freßsucht – verminderte Zurechnungsfähigkeit. Das bedeutet: zwei rechtskräftig bestellte Konsortien von Dieben, eins in Petersburg, eins in Tiflis, mit den dazugehörigen Paragraphenfallotten versuchen, jedes gleich heftig, mein Geld auf die Seite … auf seine Seite zu bringen, so daß es gerade über mir schweben bleibt. Krepieren darf ich nicht, sonst fällt das Vermögen aus ihren vormundschaftlichen Klauen heraus, darum ist der Darmlakai offiziell bestellt, die Diät zu überwachen – verkauft mir das Pfund Konfekt zu hundert Rubel und läßt sich mit der gleichen Summe bestechen für jeden Extragang.«

Doch auch der Flohbraune, er hieß Sobelsohn, suchte Vertrauen:

»Was soll ich Ihnen sagen! Unausbleibliche Folgeerscheinungen eines vor fünfzehn Jahren vorgenommenen operativen Eingriffs,« erläuterte er sachlich anerkennend. »Totalexstirpation. Nu, Sie begreifen – keine Libido mehr, keine innere Sekretion – der Gesamtausfall an Leben bei einer so temperamentvollen« – er grinste – »so hochgespannten Persönlichkeit, bei andern Frauen merkt man's oft kaum … Unsere Wissenschaft jedoch,« ein gockelhafter Rausch ließ seine Stimme sich überkollern, »schreitet selbstredend so glänzend – nu, so phänomenal glänzend vorwärts, daß kein Fachmann mehr daran denken würde, im Fall der Fürstin – es handelte sich um eine relativ geringfügige Sache – gerade diesen Eingriff auch nur vorzuschlagen! Von Stufe zu Stufe eilend, in rastlosem Forscherdrang, auf jeder gleich lichtvoll, gleich bewundernswert …«

Er schrak ein wenig zusammen, unter dem Taumel des Fachbalz war die Fürstin unbemerkt herzugetreten.

»Pariser Hutmoden? Ach so, die chirurgischen. Unmöglich eine andere als die momentan moderne Operation zu bekommen, lieber Elcho. Wie bei der ›Modiste‹ mit den Hüten. Wer den Schwachsinn des Augenblicks nicht mitmachen will, wird von der Clique der Interessenten mit dem Bannstrahl belegt.

Nur daß man den vorjährigen Hut heuer nicht mehr zu tragen braucht, die vorjährige Operation leider stets. So trägt die Weiberherde immer eingeschnitten Marke und Datum des jeweiligen gynäkologischen Pferchs. In jedem Dampfbad können sie an Art und Lagerung der Schnitte die ärztlichen Moden der letzten Generationen studieren.

Jahresringe der Wissenschaft am Bauch der Frau.

Wir Alten tragen die machtvollen Spuren der Totalexstirpation, aus Zeitläuften, wo man das fröhlich machte, ohne süßes Ahnen, daß Gesamtverblödung, Schwund der Persönlichkeit erfolgen müssen. Kurz, was jeder Vollsinnige sich eigentlich ohne Experiment hätte sagen können, daß, wenn man einem Sexualwesen, wie der Frau, ihr zweites Ich, ihr großes Ur-Ich ausreißt, dies ihr immerhin schaden dürfte. Darauf waren sie aber dann besonders stolz, feierten es als höchsten wissenschaftlichen Triumph, herausgefunden zu haben, ihre Operation trage Ursach am Zugrundegehen des Patienten.«

Eine Zigarette nach der andern drehend, sprach sie wie im Fieber fort:

»Der vorletzte Wurf weist als Uniform der Verunstaltung den queren Blinddarmschnitt auf, die ganz jungen Frauen aber erkennt man an der Marke: Eierstockzisten. Da wird es wieder so zwanzig Jahre dauern, bis an den feineren Karnickelreaktionen, Versuchen an temperamentvollen Lurchen sich die desaströsen Folgen erweisen und Frauen in der Zeitung lesen können, welche Sinne ihnen damals eigentlich weggesäbelt wurden.

Die ganze Chirurgie lebt ja von Verstumpfung, Vergröberung, sinnlicher Verarmung einer Menschheit, die gar nicht mehr von selber draufkommt, daß eine Reaktion entfällt, schneidet man ihr Organteile heraus! So haben es die Leute jahrzehntelang nicht gemerkt, wie sie zu Kretins werden, entfernt man ihnen die ganze Schilddrüse, wie sie vergreisen, wo die Generationsdrüsen fehlen. Begreifen Sie, Elcho: einfach nicht gemerkt, welche Edelrasse! Erst an den Ratten hat sich dann der ganze Betrieb als unhaltbar erwiesen; die drüben von der Biologie haben das Geschäft verpatzt, eine Verlegung der Finanzoperationen nötig gemacht.

Und ihr Internisten,« sie fauchte gegen Sobelsohn, »ihr seid die Lanzettfischchen dieser Schwerthaie im Ozean der Verstumpfung. Da hat man Eisen, Phosphor, Schwefel, organisierte Minerale, Verbindungen und Aberverbindungen aller chemischen Elemente in einer Feinheit und Variation im Körper, die organische Chemie noch lange nicht darzustellen vermocht.

In diesen zartesten Chemismus der Welt – fein, daß an ihm subtilste Reaktionsmethoden noch versagen, schüttet ihr nun – damit ja nichts auf dem Kehrichthaufen jener Farbfabriken verkomme, deren Aktionäre ihr seid – eure Medikamente relativ tonnenweise hinein, wo die Natur nur in homöopathischen Dosen regulieren kann und soll. Da wird, mit Hilfe eurer scheinbar harmlosen Hydrogauner, in Bädern und Sommerfrischen dem Publikum erst einmal der Unfug der Unselbständigkeit angezüchtet. Daß einer erst einen Arzt fragen muß, was er essen soll – der es ebensowenig weiß – noch als Erwachsener seinen Leib: den Kern der Sinne so wenig empfinden gelernt hat; so etwas war ja seit Anbeginn der Kreatur noch nicht da – außer vielleicht bei einigen Arten degenerierter Raubameisen, die sich im Bau eigenes Geziefer halten müssen, weil sie ihr Futter nicht mehr allein zu finden imstande sind.

Hier mörtelt sich der Sonderschwindler, pardon: Spezialist, dem Gefüge ein. Hier kommen die Alchimisten der Medizin zu Wort. Eigene Lehrstühle werden errichtet zur Überleitung eines Gebrestes ins andere – daß nur nichts verloren gehe. Man muß es ihnen lassen: die Transmutation der Krankheiten ist lückenlos gelungen. Fundament aber bleibt stets die natürliche Schlechtrassigkeit; auf dieser wird durch falsche Pubertätshygiene zuvörderst Bleichsucht gezüchtet, aus dieser durch Überfütterung Fettsucht – aus dieser im reifen Alter durch Sarkomdiät: Diabetes. Dann sagen sie: Koma – und kommen sich weise vor.

Sterben darf einer aber noch lange nicht – oh, das kostet noch Tausende. Adrenalin, Theobromin, noch ein Stich in die arme zähe Haut und noch eine Injektion.

Schon will der letzte Atemzug in die Erlösung schlüpfen, da spießt ihn wieder eine neue Spritze irgendwo auf.

Daß die Leute einmal in Frieden sterben durften, wie vergessenes Paradies klingt es ums Ohr. Aber auch in ihrer Krankheit dürfen sie nicht Ruhe finden. Daß der gleiche Mensch sein Leben lang nur ein Leiden habe – es wird nicht gern gesehen. Verpatzt die Statistik. So treibt man eine Krankheit mit einer andern aus, läßt ein Organ durch das andere einschweinzen, und aus jeder Abteilung wird der Patient geheilt entlassen.«

»Nu, was soll man denn tun mit ihm? Man muß doch lernen. An wem soll man lernen? – Die freie Wissenschaft wird doch noch probieren dürfen!« ereiferte sich Sobelsohn.

»Gewiß – was aber mich, die in eine falsche ›Frühlingsmode‹ Gekommene, empört, ist diese Bonzen- und Unfehlbarkeitspose für jeden Humbug des Augenblicks. Muckt aber einer aus dem Pferch auf, habt ihr so Abrakadabra-Worte wie: Eiweißzerfall und schlotternd bricht der entsprungene Laie wieder ins Knie.«

Sie wurde infernalisch suav:

»Im übrigen verschließe auch ich mich den mancherlei Vorteilen des Wechsels nicht: wer sich zum Beispiel eines Kindes entledigen will, braucht nur ein ihm passendes Jahr abzuwarten, dann einen Kinderarzt extremer Moderichtung – irgendeinen rabiaten Eiweißianer oder Blinddarmentzünder beliebiger Observanz – kommen zu lassen und – wirklich zu tun, was er vorschreibt.«

»Wie bringen Durchlaucht dann den immerhin vorhandenen Prozentsatz lebender Kinder mit der Vorschrift, ärztliche Hilfe anzurufen, in Einklang?«

»Durch die rettende Fahrlässigkeit des Dienst- und Pflegepersonals, Sobelsohn. Sie vergessen, ich sagte ausdrücklich: tun – tun müsse man, was er vorschreibt. Ich, die in den Spitälern halb Europas gearbeitet habe, kann Ihnen sagen, daß noch nie eine Anordnung genau so ausgeführt wurde, wie der behandelnde Arzt geglaubt. Darum sind eure Statistiken falsch. Fachbehandlung, gemildert durch Schlamperei.«

»Nu, und die Asepsis, Fürstin – wollen Sie auch nörgeln an unsrer Asepsis?«

»Nein, denn sie ersetzt den Juden den Katholizismus. Man muß das nur gesehen haben, was ihr da treibt, ihr profanen Pfaffen des Leibes – bei einem der hohen Infektionsfeste: etwa Scharlach. Was da für ein hieratisches Zeremoniell entfaltet wird: die weißen Weiberröcke der zelebrierenden Ärzte – das Lysolopfer – der Bakterienexorzismus – die symbolischen Waschungen. Wie Ostern in Rom.«

»Ist Ihnen sonst noch was nicht recht an uns, Durchlaucht?«

»An euch.« – Die Drehung ihrer Schulter war verächtlicher als je ein Wort.

»Aber Mißbrauch und Verzerrung eines Amtes, euch zu Unrecht verliehen, wer möchte da richten, wiewohl ihr's etwas reichlich treibt. Doch eine Menschheit richtet sich selbst, die, instinkt-irr und salopp, das oberste Amt der Art: das Amt des Arztes, so wenig achtet, daß sie wahllos über ihr Schicksal hinwimmeln läßt, was Geschäft oder Drang oder Zufall eben erst heraufgespien aus jeder Tiefe, hin zu Jus, oder Schmieröl, oder Medizin oder Knoppernhandel: ungereinigt – unerprobt. Das oberste Amt der Art: das Amt des Arztes:

Aus Sinnenzartheit und Sinnenschärfe, aus Kraft, Anmut und Vitalität den Erzengel der Erde erziehen, pflegen, hüten helfen, das dürfte nur nach Proben, furchtbar und herrlich, in die Hände Jener überantwortet werden, die ringsum ausgeblüht in langen, edlen Mühen – weisere, feinere, lichtere Organe sich selbst errungen, als uns Armen vergönnt.«

Helena Karachan hatte die letzten Sätze fast ausschließlich an Horus gerichtet, der, wie benommen von ihrem Schicksal, wie er es nun begriff, erschüttert und schweigend allem weiteren gefolgt war. Nun schien es ihm Zeit, in Leichteres unbemerkt zurückzulenken.

»In China,« lächelte er, »ist es Sitte, den Arzt nur so lange zu honorieren, als man gesund bleibt.«

»Wie entzückend,« rief die Fürstin, »wie weise auch. So lernt er etwas von Gesundheit verstehen – bei uns versteht der Arzt im besten Fall etwas von Krankheit.«

Sobelsohn aber hörte schon lange nicht mehr; vergnügt bis zu den Weisheitszähnen, memorierte er das mit dem »Erzengel der Erde« und den »lichteren Organen«. –

Spaß würde das geben mit den Kollegen bei der nächsten Naturforscherversammlung. Für die »zwanglosen Zusammenkünfte« war es gut, immer so Geschichtchen auf Lager zu haben, die großen Tiere lachten dann – wurden aufmerksam auf einen.

Was war das für ein Hallo gewesen das letztemal, als der kleine Fekete Attila aus Budapest plötzlich gefragt hatte:

»Wollen Sie meinen Sohn sehen?«

Und aus der rechten Rocktasche ein kleines Einsiedeglas mit einem Embryo in Spiritus hervorgezogen hatte.

Kaum schien das Gelächter abgeflaut:

»Wollen Sie meine Tochter sehen?«

Und nun war aus der linken Rocktasche die gleiche reizende Überraschung gekommen. – »Ein emsiges Bürschel.«

 

Es hatte schwer geschneit – fast grau. Föhn über den Höhen wühlte böse blaue Trichter in einen löwengelben Dunst: danger of avalanches stand auf breiten Tafeln in den Hallen der Hotels.

Genia Waanebeeker hatte die Scheidung ihrer Eltern flotter betrieben, seit Linda Bordone durch Demütigungen aller Art dem Onkel in Bologna doch noch die fehlenden Fünfzigtausend zur Mitgift zu entwinden vermocht und nun mit Archangelo Cavadini verlobt war. Genia störte das wenig. Er hatte eine verrottete Art, die Hand zu geben, und eine perfide, sie um eine Reitpeitsche zu ballen.

»Ich kaufe den Gauner,« entschied sie.

Eine böse Wärme war an ihr herabgehaucht aus der Haut dieses der Amerikanerin neuen Typs: südliches Männchen, das auf Weibern lebt. Ihre eminent praktischen Nerven – wiewohl noch unerfahren – rieten zum Geschäft. Und Genia war fünfundzwanzig Jahre alt. – Die up-town und down-town clerks zu Hause: – das wurde automatisch am week-end aus einem city-block: so einem Kubus dummer Kraft, herausgeschossen, selbst ein kleinerer Kubus aus Homespun, endend in Stiefelkuben aus Leder; gab die Pfote kunstlos wie ein Bernhardiner und nahm die Reitpeitsche zum Reiten.

Heiratete man, blieb eigentlich alles gleich: Kleider, Hüte, der jährliche » trip to Paris«, Haufen von Geld. Genia kam sich sehr ins Ideale gehoben vor, daß ihr das nicht genüge. Nein, zum Geldverdienen waren die Eltern da – nicht nur dad, auch mommo hatte noch Verpflichtungen. Da war ein Jugendfreund in Minnesota. Genügend alt jetzt und vermögend … auch hatte sich der Gynäkologe ihrer Mutter, auf Genias Erkundigung, durchaus beruhigend hinsichtlich etwa drohender Geschwister geäußert. Selbst wenn mommo so perfid hätte sein wollen. Daß dad nicht mehr heiratete, dafür mußte natürlich gesorgt werden; Archangelo aber würde bei der einzigen Erbin zweier Vermögen sich schon vorläufig mit einer Rente begnügen.

So hatte sie spielend, es war vor vier Tagen, eine Szene zwischen den Eltern in Gang gebracht. Hoffentlich die letzte. Mit blutgesprenkeltem Blick war dad zum Telephon gestürzt – hatte aus dem Dorf Giuseppe Piatti bestellt – sich in Skidreß geworfen, und war fort mit ihm. Erst zur Hütte, dann irgendwo hinauf; sein Gepäck solle man nach Zürich an die Adresse seines Anwalts schicken; direkt führe er nach der Tour hinunter.

Heute war Tango-Tee im Palace. In der Frühe des Nachmittags stoben Gerüchte auf, vor drei Tagen sei in der Berninagruppe eine Lawine niedergegangen, Spuren führten in sie, aber nicht mehr heraus. Man depeschierte an den Züricher Anwalt, bis jetzt war keine Antwort eingetroffen, noch konnte man also zum Tango-Tee. Abends lastete dann allerdings die ganze Verantwortung der Situation auf den beiden Frauen. Genia war tief erregt:

»Du kannst doch nicht Crêpe tragen, solange die Leiche nicht gefunden ist – eine Woche kann man verschüttet in einer Lawine leben.«

»Ich will doch nur das Korrekte tun.« Mrs. Waanebeeker entrüstete sich – »aber man hat ja kein Beispiel. Nie noch war jemand aus unsrer › set‹ verschüttet.«

»Dunkel, aber nicht Crêpe,« entschied Genia.

Bis tief in die Nacht hinein war ein Hin und Wider auf den Korridoren. Waanebeekers verhandelten mit der Rettungsexpedition. Dreißig Frs. pro Tag und Mann? – Das war ja horrend. Gut, fünf Mann sollten gehen.

Die Leute lachten. Die Lawine war durch die Talsohle gegangen, die andere Bergseite hinauf – hatte die Verunglückten vielleicht weit mitgerissen – auf zwei Kilometer, wenn nicht auf vier, mußte gegraben werden.

»Also dann sieben Mann. Aber um Himmels willen, es gab doch noch Piattis – der Andrea würde sich doch nicht bezahlen lassen, feilschen, wo es die Rettung seines Bruders galt. Piatti müsse noch gratis mit. Also mit Piatti acht.«

Der nächste, ein kalter und klarer Tag, klang voll Schellen. Archie Payne hatte zwanzig Schlitten bestellt zu einem Champagnerpicknick nach der Unglücksstelle. Man würde auf der Lawine selbst frühstücken.

Es war eben eine jener Eingebungen, die ihn so populär machten. The right man in the right place. Er triumphierte. Die Principessa Dango fuhr in seinem Schlitten, sie, die ihm bisher kaum den Fuß gegeben – geschweige die Hand. Zwei Schneeleoparden hatten sich um ihren Hals verbissen. Ein Leopardenembryo saß als Toque im Henna. Archie fürchtete sich ein wenig, er hatte sie noch nie so nahe gesehen, der Snob im Herzkästlein aber strahlte ihm licht, denn Strondoli mußte ganz rückwärts zu Madame Bavarowska steigen.

Gloria Rawlinson, wunderschön in weinroter Affenhaut, wie es dann im »Herald« hieß, fuhr mit her grace of D. und Monseigneur. Auch die Cadogans waren dabei, du Perron, die liebliche Margot, Quadrupedescu, Muriel Hitchcock, die Reaburn-Girls. – Horus war nicht dabei, wußte nichts von dem Picknick, hatte sich in der Nacht der Rettungsexpedition angeschlossen.

Die Damen Waanebeeker – dunkel, doch nicht in Crêpe – erwarteten unterdes auf ihren Zimmern die Ankunft des Anwalts aus Zürich.

» What a beautiful boy,« sagte die Principessa Dango – als Italienerin von Rang sprach sie meist englisch, hob das neronische Einglas aus Smaragd in die Richtung des pauvren Fadens der Rettungsmannschaft, die, jetzt ganz nah, sich mit ihren Schaufeln in den Lawinenkegel einzuwühlen versuchte; so aussichtslos für diese Wenigen, denn zerrissene Bäume und Geröll mischten sich überdies den Schneemassen.

» What a beautiful boy,« wiederholte die Princesse macabre.

»Oh, Elcho – – hallo, Elcho!« und Archie winkte mit der Serviette –

»Principessa kennen ihn noch nicht? Berüchtigter Sklavenhändler aus dem dunkelsten Osten oder so was. Eigne Jacht – first rate. Gar nicht so jung, wie er sich macht. Steht mit seiner Schwester oder Tochter in Beziehungen, die das Gesetz nicht gerne sieht, gibt sie daher für seine Gattin und indische Prinzessin aus, streicht sie auch olivenfarben an, das verwischt die Ähnlichkeit. Sperrt sie im übrigen meist ein, mit einem chinesischen Drachen als Wache, und gibt ihr nichts zu essen; die arme Puppe hat noch kein geradegewachsenes europäisches dinner zu kosten bekommen.«

»Es ist etwas dran, sie sehen sich irgendwie ähnlich,« mischte sich her grace of D. wohlig angeekelt ins Gespräch, »wie skandalös – ein Familienzug in den Bewegungen – auch die leichten langen wagrechten Augen, nur daß seine hell und ihre dunkel sind oder scheinen sollen, wissen kann man es ja nicht genau, bei diesen lächerlichen Wimpern.«

»O, die Wimpern,« jubelte Archie. »Sir Osmond, erzählen Sie doch die Geschichte mit den Wimpern.«

Der schmunzelte: »keine Geschichte – ein Wort höchstens. Nun, Sie wissen ja, wie Madame Bavarowska ist – scharmante Frau – nur ein bißchen Steinzeitpersonnage. Wir waren alle zusammen in dem gleichen Hotel in Paris. Madame Bavarowska sitzt neben dieser jungen Prinzessin oder Miß Elcho oder Mrs. Elcho, wie Sie lieber wollen. Plötzlich greift sie nach diesen berühmten Wimpern – zupft ein wenig daran, besieht ihre Handschuhe auf Koholspuren, findet keine, fragt ägriert:

»Wie macht man das.«

Da sagt dieser väterliche oder brüderliche Geliebte ganz ernst – ganz sachlich:

»Angeklebte Fliegenbeine aus den Galeries Lafayettes in Bagdad, das laufende Meter zu einer Zecchine six pence.«

»Doch recht brav für so einen Wilden,« rühmte Archie – jetzt ganz Manager und Impresario.

»Und nichts war ihnen in Paris gut genug,« erinnerte Winifred Cadogan Lady Eveline – »weißt du noch, bei Callot, bei Cheruit, bei der Chanel. Die Leute schwitzten Blut, wollten aber die große Bestellung auch nicht verlieren – alles mußte neu entworfen werden, kein Modell fand Gnade – und man sollte doch meinen, solch asiatische Provinzler ließen sich alles anhängen.«

»Das Resultat war allerdings stunning. Der Manager von Martial & Armand versicherte, käme der Mann wegen Inzest ins Kriminal, er engagierte sie vom Fleck weg als Mannequin – so hätte ihm noch niemand seine ›Creationen linear entwickelt‹ – was immer das heißen mag.« – Winifred hielt nichts von Fremdworten.

Die Principessa Dango aber reagierte nicht – hörte nichts von diesem indirekten Angriff, war doch schon in ihrer Gegenwart von andrer Eleganz zu sprechen Sakrileg. Er war jetzt ganz nah – in Greifweite ihrer Augen. Taub für Zurufe und Einladungen ignorierte er die ganze Picknickpartie völlig, schien mit irgendwelchen Messungen beschäftigt. Sie sah ihn hier zum erstenmal. Im Astoria war es schwer, in ihre Merkwelt zu gelangen; am Abend, weil das kobaltblaue Pulver auf den Lidern eine gewisse Starre der Blickrichtung forderte, nur was unmittelbar im Sehfeld lag, konnte aufgenommen werden – bei Tag, weil der Einfallswinkel des Hutes stets größere Teile der Umwelt ausschloß. Hier, in der Schlichtheit ihrer Schneeleoparden war es unbehaglich frei und weit, voll neuer Gesichter auf einmal.

Warum begrüßte er niemanden – welche Affektation – gab nur mit dem Fuß einem Champagnerkorb einen formidablen Tritt, der gerade im Wege stand. Eigentlich war er auch gar nicht hergekommen, vielmehr das Picknick ihm allmählich in sein Arbeitsfeld gerutscht. Erst hatte man sich an der Stelle gelagert, wo die Spuren verschwanden, dann aber war jeder der Damen alle paar Minuten gewesen, als vernehme sie irgendwo aus der Tiefe Seufzer oder Gestöhne. Natürlich wanderten hierauf Flaschen und Sandwichschüsseln den unheimlichen Lauten nach – immer weiter auf die schon konsolidierte Lawine hinauf.

Als Horus, wieder bei seinen Leuten, zur Schaufel griff, fühlte er etwas wie eine entschuldigende Haltung hinter sich:

»Kann ich irgendwie von Nutzen sein?«

Er wandte sich und sah in Sir Osmonds Gesicht. Das alte englische Herrengesicht, zwischen weißem Schnurrbart und weißem Haar, füllte sich langsam mit einem hellen Rot.

»Eine reizende Eigenschaft angelsächsischer Epidermis,« dachte er. »Eine Art prästabilierter Harmonie zwischen ihren Taten und Vasomotoren« – und er gab ihm eine Hacke zu beliebigem Gebrauch.

Dann entstand Aufsehen: die Principessa Dango erklärte plötzlich, sie wolle zur Rettungskolonne und schaufeln. Drei Schritte war sie schon gegangen. Strondoli hinter ihr sagte nichts als:

» Impossible. Um zehn Uhr Kostümball im Carlton – jetzt ist es halb zwei, impossible,« dann geleitete er sie hinunter zum Schlitten.

Doch der Sensationen sollte kein Ende sein. Auf einmal bog um die Talnase ein endloser Zug an Menschen und Vieh: Kolonnen von Pionieren – hundert – zweihundert – fünfhundert Mann, Lastpferde daneben. Sie behaupteten, erst die Vorhut zu sein – Bergbauingenieure aus dem Rheintal seien telegraphisch herauf beordert, noch heute nacht würden Schneepflüge eintreffen. Mürrisch fraß peinliche Anerkennung um sich. In etwas gestörter Stimmung erfolgte der Aufbruch. Um zu glossieren, daß nichts geschehe, war man doch all die Stunden heraufgefahren; wie kam man jetzt dazu?

In der Hall des Astoria fand Archie Payne ein artfremdes Wesen, einen Regenschirm mit ungeheurem Horngriff zwischen den Beinen. Es wartete scheinbar auf den Omnibus zur Bahn. Archie lud es zu einem » maiden's blush« in die Bar, denn er vermutete in ihm den Anwalt aus Zürich.

»Leicht zu liquidieren?« frug Payne, auch Cavadini war hinzugetreten. »Man spricht von einer Million bar für jede der Damen?«

»Vorläufig keinen Cent,« und der Fürsprech strich mit dem Horngriff seines Regenschirms den Schnaps im Schnurrbart glatt.

»Nicht – einen – Cent, ehe die Leiche gefunden und einwandfrei agnosziert ist, sonst gilt er für das Gericht lediglich als verschollen, und die Todeserklärung, nebst Freigabe des Vermögens, erfolgt erst nach drei Jahren. Im Frühling aber, bei plötzlicher Schmelze und Hochwasser, können die Reste leicht fortgeschwemmt werden … es ist riskant.«

Archie, Fäuste in den Hosentaschen, warf sich hintüber und biß in den Plafond vor Lust.

Am Abend hatten Waanebeekers ihre frühere Beliebtheit in vollem Umfang wieder erlangt.

Um sieben, vor der Abreise des Fürsprechs, war es noch etwas peinlich geworden. Die Wittib Piatti kam in jener unerträglichen Haltung europäischer Mittel- und Unterschichten bei Schicksalsschlägen. Nicht aus Mangel an Herz – aus mangelndem Instinkt für natürliche Gesittung fallen sie in jene greinende Kinogeste, die das echte Leid überlügt und zwecklos entwürdigt. – Flucht oder Brutalität – ein drittes ist da schwer.

Es ergab sich, daß die Wittib Piatti vor Schmerz zuvörderst nicht sitzen konnte; sie schleifte ein wildfremdes Kind rastlos im Zimmer herum und schüttelte es drohend gegen die Damen Waanebeeker, ließ hilflose Posen mit erpresserischen abwechseln. Endlich kam es heraus: den Führerlohn für die Tour wollte sie ausbezahlt haben.

»Den ganzen?«

»Natürlich.«

Nun war Mrs. Waanebeeker obenauf:

Die Katastrophe hätte sich doch beim Aufstieg ereignet, die Spuren zeigten es unwiderleglich … also höchstens halbe Taxe, aber höchstens. Hier gab ihr der Anwalt voll und ganz recht.

Die Witwe Piatti schäumte durch die Gänge, brach just vor der Bar zusammen und mußte gelabt werden. Sie lag in einer Lache ihr widerfahrenen Unrechts, und es wurde immer größer. Auf dem Heimweg frischte sie auf; Mr. Waanebeeker hatte im Dorf schon die halbe Taxe als Angabe vorausbezahlt – davon aber konnten die im Hotel oben nichts wissen.

 

In diesen Tagen und Nächten aß Helena Karachan zum Entsetzen. Ja – auch in den Nächten. Verweigerte ihre gewohnten Schlafdroguen. So saß sie bei gelöschten Lampen im Mondlicht, den Kaftan aufgerissen und schlang in Verzweiflung, bis fahles Frühlicht um die grauen Reste der Schüsseln lag. Keine Stunde Ruhe mehr den müden, entstellten Organen, als wolle sie sich von innen heraus zerreißen um jeden Preis.

Es war da nämlich noch eine Person vorhanden, die darauf sah, daß keine Betäubungsmittel, gegen der Fürstin Willen, den Speisen beigemischt würden: Ithnan, ihr georgischer Diener. Auf seiner ganzen Haut empfand er jeden Wunsch der Herrin. Ließe sie ihm den Kopf abschlagen, Hände und Füße dienten ihr noch nach. Manasse und Dr. Sobelsohn achtete er unreinen Tieren gleich. Letzterer verdiente Unsummen in dieser Zeit, ließ aber doch den Plan, sich ein zweites Konto in der Schweiz eröffnen zu lassen, weise und resigniert fallen. Stand eben von früh auf dem Boden der Tatsachen, seinem einzigen Heimatboden, wußte: bald versiegte der Segen. Die Fürstin sollte geheilt werden.

»Geheilt?« frug Horus ungläubig-froh.

»Von der Freßsucht, ja – dafür steh ich gut.«

»Warum ist es dann nicht längst geschehen?«

Er wurde erregt:

»Wie soll es geschehen sein, wo sie sich wehrt wie me … närrisch,« verbesserte er, »und bis jetzt mit Erfolg, – Gewalt? – Nu, ma scheut vor Gewalt. Unter Kuratel? Gewiß Kuratel. Solang aber nicht unmittelbare Lebensgefahr besteht, was hat man davon? Keine gesetzliche Handhabe. Jetzt endlich, bei der fortschreitenden fettigen Degeneration aller Organe, hat er ein Machtwort gesprochen, der Großfürst. Kommt herauf mit einem berühmten Operateur aus Deutschland. Jener wird es machen auf seiner Klinik. Aber erst soll die Kapazität sagen – sie wird schon sagen,« fügte er resigniert hinzu.

»Und warum ist denn die Fürstin so verzweifelt dagegen?«

»Nu, Sie kennen doch die Voreingenommenheit der hohen Frau gegen unsre Wissenschaft – rein pathologisch zu werten natürlich; wie soll man noch auf ihre Meinung geben über Medizin, wo sie doch ganz degeneriert ist durch die Totalexstirpation? Hätt' sie sich wenigstens den Eierstock von einer Ratte einsetzen lassen, könnt man noch reden – aber so! Sehen Sie mich an; reg ich mich auf bei ihren Gehässigkeiten? Konträr! – Objektiv bleib ich als Fachmann. Nu, die Heilung: sind da Details, an denen der Patient selbst sich manchmal ein bissele stößt. Die Fürstin, sie kennt sich aus, man kann ihr da nichts vormachen, wie sonst aus Humanität geschieht. Aber eine glänzende chirurgische Leistung – ich sag ihnen glänzend.« Er wuchs immer höher, ein ferner Schein fiel auch auf ihn, den schlichten Internisten.

»Sie sind Laie, also Ihnen populär gesagt: der Magen wird künstlich verengert und gewisse Nervengruppen in der Weise gereizt, daß künftig keinerlei Speise – zu deren Aufnahme der pathologische Hang drängt – mehr behalten wird, sondern unter dauerndem Ekelempfinden erbrochen; das ist das Entscheidende,« fügte er triumphierend hinzu. »Der Patient ist somit dauernd geheilt und wird von nun an künstlich ernährt.«

»Falls er es nicht vorzieht, sich zu erschießen.«

»Gegen das Erschießen haben wir allerdings noch keine Operation – aber es handelt sich doch um Freßsucht – von der ist er geheilt.«

Verdruß mit den Laien. Gar nicht einlassen sollte man sich mit ihnen – außerhalb der Ordination.

Nun sollte zur Stunde des dinner, gleichzeitig mit dem Großfürsten, die Kapazität eintreffen – Untersuchung und Gutachten blieben für den nächsten Vormittag anberaumt. Die Fürstin war zum besten. In einer heitren Wut an Grenzen ins Hell-Bacchantische. Sprach auch wieder, zum erstenmal seit Tagen. Der schwarze Kaftan wurde vor aller Augen auf dem Balkon mit Benzin gereinigt, die karierten Schlapfen geklopft; Ithnan mußte sogar den Coiffeur des Hotels holen, mit dem sie lange verhandelte. Er verließ ihr Appartement, eine Perle an der Krawatte. In Kugelwellen ging Begeisterung vor dieser sonst so glättenden Personnage her: »In der Tat, eine wahrhaft vornehme, eine durchaus seigneurale Gönnerin;« da wisse man, wem man diene und wofür. Er schien wie in Brillantine getaucht und ward nachmittags beim Rennen gesehen.

Lange vor Abend erschien – ganz gegen ihre Gewohnheit – Helena Karachan in der Hall. Querhin, bis ans andre Ende, stieß ihre Stimme lanzettscharf:

»Elcho, bringen Sie schnell Peribanu fort – der Gynäkologe kommt und findet sich hier ein ›nteressierter Laie‹, der gern ihren Uterus genauer von innen besehen möchte – legt er sie direkt auf die Bar. Allerdings, jetzt vor dem dinner, mit leerem Magen, vielleicht geht es nicht einmal letal aus.«

Sie hatte französisch, somit allgemein verständlich gesprochen; wie eine zweite Schicht im Saal stand die Luft plan in allen Lungen hoch.

Zum erstenmal verlor Sobelsohn an betulichem Gleichmut, versuchte fast, sie aus der Hall zu drängen. Beim ersten Schritt schon hatte ihn Ithnan am Genick, trug ihn mit spitzen Fingern hinaus bis in eine ferne Besenkammer mit hoher Lichtluke, sperrte von innen ab und schwang sich oben hinaus – den Schlüssel zwischen den Zähnen. Sobelsohn hörte ihn wie eine Echse von Gesims zu Gesims rascheln, dann, es war aus Stockhöhe, einen dumpfen Sprung in den Schnee. Drei Minuten später stand Ithnan mit gekreuzten Armen hinter seiner Herrin wie zuvor.

Sie saß nun neben Horus, Gargi hatte sich entfernt, während die übrigen Damen fluchtbereit, doch hingegebenen Ohres, die beiden umflatterten.

»Was, Sie kennen unsren Simon nicht, unsern Geheimrat und seinen letzten Triumph? Durch alle illustrierten Zeitungen ging doch der Gelehrtenkopf mit dem Denkerbart. Daß die Wissenschaft souverän sein und bleiben müsse – – er hat es glorreich bewiesen. War da eine mechante Chose: durch die Stadt, deren Frauenklinik er leitet, reiste jüngst ein Prinz. Der wußte – es regnete grade – mit seinem Vormittag nichts Rechtes anzufangen. Kino – nischt, Museum – Quatsch. Aber dem Lysolonkel könnte telephoniert werden, man möchte gern wieder mal 'nen Damenbauch von innen sehen. Ça fait toujours plaisi-i-i-r. Leider war keiner parat. Der Gelehrte, geschmeichelt durch das wissenschaftliche Interesse des hohen Herrn, pumpt behende einer Frau den Magen aus und läßt sie, trotz ihres Sträubens, narkotisieren, in Erwartung irgendeines Botokudenkreuzes für Kunst und Wissenschaft oder sonst eines mittleren Hundssterns. Die Frau stirbt natürlich in der Narkose infolge des flüchtig und ungenügend ausgepumpten Magens. Man hat vor Laparotomien, wie sattsam bekannt, vierundzwanzig Stunden zu fasten.«

Horus war, sehr blaß, aufgefahren. »Sparen Sie mit ihren Emotionen, Elcho, jetzt kommen doch erst die Pointen, die Hintergründe, die weiteren Perspektiven.

Weltfremde Angehörige der toten Frau verklagen die Kapazität, verklagen einen europäischen Arzt, dem doch das Doktorat schon Freibrief ist für – wie heißt es doch drüben beim Jus, wenn's einer nicht gelernt hat? – Richtig: für vorsätzliche schwere Körperverletzung mit Todeserfolg.

Also, das war aussichtslos von vornherein. Es sterben ja auch sonst Leute in der Narkose – sozusagen selbständig – und unmittelbare, eindeutig nachweisbare Ursache des letalen Ausgangs ist ja immer ›nur‹ – Herzschwäche.

Aber da war ein andrer Punkt, in dem Richter und Geschworene, verschüchtert in ihren wirren Hundeseelen, um Belehrung, Unterweisung durch ›Sachverständige‹ winselten. Und jetzt steht der ganze Schleim der Clique auf aus den Kanälen: aus Akademien – Universitäten – Kliniken und deckt die kriechende, verbrecherische Krapüle. Inkorrekt? – Nicht daß sie wüßten, vom Standpunkt der Wissenschaft sei durchaus nichts dagegen einzuwenden, daß ›nteressierten Laien‹ die Anwesenheit bei einer Operation gestattet werde.

Begreifen Sie, Elcho. Wenn also ein beliebiger Schweinkerl die Geschlechtsorgane einer bestimmten Dame ohne ihr Wissen von innen und praktisch mit Spiegeln erleuchtet sehen will, genügt es bei diesem wunderschönen Brauch, sich als ›nteressierter Laie‹ zu gebärden.

Statt nun die Kollegen des saubern Herrn, wenn sie als Zeugen solches für ärztliche Usance erklären, schleunigst zu einem Bankwechsel aufzufordern – hopp, hinüber zum Angeklagten – bricht die instinktfremde Herde von Richtern und Geschworenen auf den zuständigen Körperteil zusammen: die Herren möchten doch nur entschuldigen, man wisse in Fachdingen eben nicht so Bescheid – kenne die Bräuche nicht genügend … aber nach so lichtvollen Ausführungen … kurz: Freispruch mit Speichelfluß. Die weltfremden Angehörigen aber fliegen wegen Verleumdung ins Loch. Im Triumph kehrt der Edeling als Leiter in seine Frauenklinik heim, wo hundert ihm geweihte Ehrenbäuche lorbeerumwunden seiner harren.«

»Fürstin, verhält sich das so – auch nur annähernd so?«

»Die Verhandlungsberichte – im Stenogramm – stehen Ihnen jederzeit zur Verfügung, falls Sie den Zeitungsnotizen nicht trauen. –

Das Frechste ist aber doch dieser Sachverständigenunfug mit Ausbeutung der Stumpfheitskonjunktur durch die Medizinmänner. War es je noch erhört, hatte ein Bock etwas ausgefressen, daß dann seine ›Mitböcke‹ als Sachverständige einzusetzen seien über den im Garten angerichteten Schaden? Nein, über den werden wohl die Geschädigten gefälligst selbst bestimmen. Nur die allergrößten Kälber liefern sich dem Metzger selber.«

»Aber die Männer. – Sind denn europäische Männer so weit unter jedes Vieh gefallen, daß der adelige Schauder, sich schützend vor die Quelle des Lebens – für die Quelle des Lebens – zu stellen, ihre Herzen nicht mehr treibt? – Wie geborgen in der Männlichkeit, wie behütet ist die Frau bei uns. Wohl kommen erotisch sadistische Verbrechen vor – auch gewinnsüchtige, wie überall; erwischt man aber das Schwein, so wird es in der Luft zerrissen. Den östlichen Menschen möchte ich sehen, der sich das, was Sie mir hier erzählt haben, diesen schlechtrassigen Zynismus, von einer Fakultät als ›korrekt‹, als ›wissenschaftliche Usance‹ aufschwatzen ließe.«

Seit Marseille, seit ihm zum erstenmal das europäische Kotwesen durch das Auge an die Seele gespritzt war, hatte er nicht dies deprimierende Grauen mehr empfunden.

Die Fürstin grinste infernalisch: »Ja, das europäische Männchen. Für das sind solche Dinge schlichthin begähnenswerte Banalität. Gott, denkt es in seiner erotisch-ethischen Verstumpfung, ist's eben wieder einmal beim Aufschlitzen schief gegangen, und trägt's ansonsten mit der gleichen Standhaftigkeit, die es bei verzweifelten Entbindungen an den Tag zu legen pflegt – alles gesteigerte Feingefühl für den eigenen Schnupfen wahrend. Betrachtet sich eben hier ausschließlich als ›nteressierter Laie‹. In dieser Eigenschaft stellt es sich allerdings nicht ungern – wie sagten Sie doch – ›vor die Quelle des Lebens‹. Aber einen ›adeligen Schauder‹ dabei …? sie lachte, daß ihr die Zähne zitterten.

Orgasmus an Verachtung trieb ihr Worte aus, von abstoßender und doch wieder hinreißender Brutalität. Sie erinnerte ihn da irgendwie an Ganapati Sastriar und die Weltesche seiner machtvoll-breiten Unzüchtigkeit, wenn so der Geist: sein ›guter Dschinn‹, über ihn kam – nur daß dieser ein Geist der Lust war, nicht der Empörung.

»Da gibt es nur Selbsthilfe der Frauen,« die Fürstin jauchzte förmlich vor Hohn. »Die Gynäkologen boykottieren, bis jede Gepflogenheit, gegen die ›nur‹ wissenschaftlich nichts einzuwenden wäre, fällt.

Aus ist's dann mit den Konsilien von drei Professoren und einem Stückchen Traubenzucker für die Analyse. Nota: Zehntausend Frs. – Mark – Kr. Im Abonnement zehn Prozent Rabatt. Nichts da. Schluß. Wir kehren zu den treuherzigeren Praktiken weiserer Völker zurück. Uns alle können sie ja dann doch nicht ins Zuchthaus sperren wegen lauteren Wettbewerbs.

Denn darauf sah man in Sachverständigenkreisen von je und streng: der ›unerlaubte Eingriff‹, der hatte auch unerlaubt zu bleiben. Sonst kamen ja Höchstpreise, behördlich kontrollierte Tarife, fatale Beschränkungen finanzieller Art. Da aber die Unterwerfung unter einen solch barbarischen Paragraphen alljährlich für viele Hunderttausende von Frauen den sozialen – ökonomischen – oder das Bitterste: erotischen Ruin bedeuten mußte, war es Juristen im idealen Zusammenfluß mit Medizinern stets ein Leichtes, ihn, als ›dem sittlichen Empfinden des gesamten Volkes entsprechend‹, dauernd aufrecht zu erhalten – und freier Wucher treibt Früchte wie noch nie – ab.«

Mit Möwenschrei und gebreiteten »Sorties« wandten sich die Frauen jetzt im Gleitflug zur Flucht; die jungen Mädchen aber waren schon längst nicht mehr zu halten gewesen, umdrängten Horus und die Fürstin, hätten sich, allem zum Trotz, am liebsten großäugig zu ihren Füßen gelagert – weit weg von der erquälten Naivität dieses zerdehnten Jahrzehnts.

Auf immer weg von einer Naivität, mit der sie hatten herumtasten müssen an dem abweisenden Gehaben der »Epouseure« – immer wieder hingetrieben von säuerlichem Staunen – gesteigerter Mißbilligung ihrer Lieben im abgestandenen Heim. – Nur weg – gleichviel zu wem; nur es endlich anders haben, anders machen dürfen, als in dieser verwesenden, übergaren Mädchenstube neben dem krassen Elterngemach, an dem sie niedriger, unzarter sich werden fühlten von Jahr zu Jahr in abscheulichem Wissen. Hangend an Geräuschen. Ernüchtert ohne Rausch. Der Illusionen bar und bar der Klarheit.

Horus begriff. In diesen hemmungslosen Sekunden taten sich ihre Gesichter für ihn auf. Nicht geschlossene, strahlende Jungfräulichkeit, von Wildernis geheiligt, stand ihnen als freies Blau im Blick, vielmehr eine süßelose – hartabgedrängte strich in grünschwarzer Furche am Auge vorbei – bettete es in gar üble Kissen der Einsamkeit.

Ihm ward leid um sie – herzzersprengend leid, er fühlte: welche fahrlässige Roheit einer Gesellschaft, ihren Jungfrauen demütigendes Herabsteigen in die sexuelle Arena aufzubürden, in deren nüchternem und weihelosen Dunst sie aus jedem Mann den möglichen Gatten sich erwittern müssen, in uneingestandenem, wie oft vergeblichem Versuch. Diese Schamlosigkeit – bleibt jungen Wesen im Osten erspart.

Ja, das ist wohl der Sinn unseres obersten Gesetzes aller Vaterpflicht: zu sorgen, daß die Geschlechtsreife keines seiner Kinder unvermählt: hilflos finde und bedränge. Nichts darf gezeugt werden, dem nicht seinerseits das elementarste Recht der Kreatur: ebenbürtige Liebe, verbürgt ist, und zu rechter Zeit.

Und Glück! Soweit Glück überhaupt vorherzusehen in diesem rätselvollsten Chemismus, den erst das Letzte offenbart, hat es bei uns nicht, aller menschlichen Voraussicht nach, mehr Chance durchzubrechen: in zwei unlädierten jungen Wesen – parallel geboren – von hoch erotischer Kultur, ist nur die sinnliche Feinheit des Knabe-Liebhabers reich genug, erblich gepflegt genug, der kleinen Braut gerade das zu wecken, was sie sucht: ein junger Prinz im ganzen Reich der Liebe, befähigt, ihr die innere Heimat zu richten, wo sie will, denn alles ist ja sein.

Nur bei Rassen von ungepflegter Sinnlichkeit scheint für die Frau die Wahl so wichtig – der Irrtum eine Katastrophe.

»Freie Wahl.« Seit Cavadini Genia durch das Lasso ihrer Rente geschlüpft, war diese Faselphrase öfter im Kreis um Miß Waanebeeker aufgetaucht, und die Damen taten dabei fern und wunschlos unbekümmert.

Er überlegte. Wohl waren ihm noch wenig Orte bekannt, galt aber nicht dieser als Zentrum internationaler Geselligkeit? Und doch: die gleiche kleine » set« wie früher in Paris, und sie schien sich von London, von Baden-Baden, von Kairo aus zu kennen; schwamm als winzige Blase von Klima zu Klima mit geschlossenem Oberflächenhäutchen. In der schmalen Spanne ihrer hohen Zeit – kaum zwanzig bis dreißig Männer kamen für diese Mädchen in Betracht. Von diesen zwanzig oder dreißig wollte die eine Hälfte offenbar überhaupt keine Ehen, die andere Hälfte schied aus pekuniären oder anderen – ihm noch viel rätselhafteren – Gründen aus.

Und das war die »große Welt«. Wie mochte es um individuelle Wahl erst in kleineren Orten – kleineren Verhältnissen bestellt sein.

Wenn Gargi solch lange Erniedrigung hätte leiden müssen, ehe sie seine Arme fand – wie eine Blasphemie wies er das schmutzige Bild ab. – Und gedachte des lieben Alters – ihm verschmolzen: des besonnten und bestirnten Märchens ihrer und seiner dreizehn Jahre, des nie zu Vergessenden.

Keine Kinderehe! – Ihm schauderte vor der Armut dieser Leute. Vor der Verarmung an Leben, an Glück, insonderheit an Frauenglück. Bedauernswerte Frauen, denen auch noch das Wunder jener wenigen Monde sinnlos verwelken muß, da es jedem Wesen, in bescheidenem Maße wenigstens, vergönnt ist – reizend zu sein. Wie viel ging hier unwiederbringlich – ungenossen – in Leere zugrund: das Zarteste, Holdeste.

Oder verwechselten diese weißen Barbaren Eheschluß mit Ehevollzug. – Zuzutrauen war es ihnen schon. Kannten vielleicht überhaupt die Abstürze zwischen Sinnlichkeit, Erotik, Sexualität, Zeugung und die schwebenden Nervenbrücken über sie hin nur wenig oder roh. Anders konnte er sich die eisige Verlegenheit schon beim ersten Wort, das jene Sitte seiner Heimat streifte, nicht erklären. Und gar Sobelsohn. – In ein ganz leises Erinnern, mit Gargi halblaut getauscht, spie jüngst unaufgefordert sein infernalisches Grinsen. Gefragt, was er damit meine, ward er streng, und seine Stimme brodelte plötzlich im Schmalz der Würde:

»Die Wissenschaft brandmarkt das alles als der Rasse schädlich.«

Woher die Wissenschaft die Erfahrung habe, wenn es hier nie Sitte gewesen?

Das gebe einem der gesunde Sinn. –

Was sich der ›gesunde Sinn‹ denn eigentlich vorstelle unter ›dem allem‹?

Nun kam etwas heraus wie das Liebesleben eines geilen Pavians, nur mit weniger Sachkenntnis – zu widerlich für Worte. Massig entrüstetes Behagen, als ob da Gewicht reifer Mannheit auf ein Kind losgelassen würde, statt daß gleiches Reis: Weidengerte – Weidenrute, sich im Frühlingswind verzweigen.

Und so etwas maßte Urteil – maßte Richteramt sich an.

Nie mehr vor einem Europäer von feinen Dingen sagen.

Die Fürstin hatte damals einfach die Achseln gezuckt:

»Die Sobelsöhne halten's nicht für zuträglich. Sie leuchten der Rasse ja mit ihren Leibern voran. In deine Hände, o Herr …«

Dann wollte er alles wieder auf die schlechte Kaste dieses promovierten Schimpansen geschoben wissen. Auch die Rhodias, die outcasts auf Ceylon, waren ja von den inneren Vorgängen der höheren Schichten getrennt.

Aber da gab es noch anderes. Woher die furchtbare Abhängigkeit der weißen Frauen: der Herrinnen der Erde, von Gynäkologen, also Männern, in ihrer eigensten Frage, ja der Frauenfrage überhaupt, selbst von Suahelinegerinnen längst gelöst?

Er gedachte Agai's: der »Gewalt der Brandung«, und ihrer Stellung im Hause Elcho.

Es gab doch auch in Europa Erzieherinnen. Da war gleich dieses Frauenzimmer bei Beermanns. Wozu hielt man das? Doch nicht etwa nur zur »Schule der Geläufigkeit?« Zu diesen scheußlichen Klavierübungen mit der Jüngsten, wie sie diesem Kinde und allem Lebenden in der Runde jede Lust am Klang zerhackten auf lange hinaus? Da, mit Ausnahme des Fräuleins Erika Unbehagen, fast alle Erzieherinnen Französinnen waren, hatte er eben gemeint, diesen sei in Europa die Funktion der Suaheli anvertraut.

Und dann die Männer? Junge vermieden offenbar überhaupt Ehen einzugehen. Aber die bereits Verheirateten. Warum nahmen die nicht das eine oder andere dieser armen Mädchen noch in ihren Harem? Mehrere Frauen hatten sie ja so schon, für elementare Beziehungen zwischen den Geschlechtern war ihm der Sinn untrüglich. Mochten die Frauen eines Mannes noch so kühl zueinander tun oder, wie die zweite Mrs. Beermann, gar in einem anderen Hotel wohnen.

Doch frug er nie. Hatte die Scheu des orientalisch erzogenen Mannes vor allem privaten Leben, vor allen Dingen der Innerlichkeit. Was sich ihm nicht – wie heute – optisch unwillkürlich bot, ließ er unbefragt an sich vorbeistreichen, sah auch wohl mit Absicht weg.

 

Eine Stille weckte ihn aus sich. Er fühlte seine übergeschlagenen Beine und eine Wange in der Hand. Die jungen Damen waren fort, und Helena Petrowna verschwand eben am Arm eines greisen Riesen aus der Hall. Hinter ihnen ging ein zweiter Herr in gut sitzendem Abendanzug und vielen Orden. Jetzt wandte er sich um. Der Riese war offenbar der Großfürst. Vom andern sah man nicht eben viel – auch jetzt en face. Scharfe Brillen über den Augen und von diesen niederrieselnd in dunkelblonden Wellchen ein überaus wohlgepflegter Denkerbart. Die Stirn schien einmal schlecht zusammengefaltet worden zu sein. Die Büge wie in der Mitte zerbrochen, und die zweite Hälfte setzte dann immer um ein Stückchen höher ein. Arme Fürstin.

Die Fürstin aber schien an diesem Abend gar nicht arm. Nein, ganz große Dame, Kaftan und karrierten Schlapfen zum Trotz.

Man speiste ausnahmsweise zu dritt im Grillroom auf Helena Karachans Anordnung. Keine Glaswände dichteten die Herrschaften ab, und ihre Worte gingen, ohne von submissesten Grenzen gleich wieder in sie selbst reflektiert zu werden, rundum weg von ihnen, wie bei andern Leuten.

Zum ärgerlichen Staunen Eingeweihter verlief das dinner annähernd klaglos, mit Ausnahme eines passageren Zwischenspiels: man sprach von Musik. Zu Ehren des Großfürsten – eines Getreuen aus dem alten Bayreuther Kreis – verfiel Simon plötzlich in leicht gesteigerte Diktion:

»Mir und meinen Fachgenossen gilt Parsifal im wesentlichen als Symbol des heroischen Kampfes der Wissenschaft gegen die Lues, ja, wenn ich so sagen darf, handelt es sich bei dem Weihefestspiel ausschließlich um das Mysterium dieser Lustseuche, wie sie Amfortas sich unvorsichtigerweise, an verrufenem Ort, bei Tänzerinnen und Blumenmädchen geholt hat. Letztere gehen ja auch, wie sie selbst zugeben müssen, in kürzester Zeit an ihrem Beruf zugrunde: Im Herbst pflückt uns der Meister.

Wenn nun auch die eigentlichen Symptome von Wagner – der eben doch nur Laie war – am Patienten nicht einwandfrei geschildert werden, immerhin, daß sich die Wunde absolut nicht schließen will, gibt zu denken. Natürlich,« er lächelte nachsichtig, »sind laue Bäder da völlig zwecklos. Aber sehen sie wiederum die treffliche Symbolik des Speeres: die Wunde heilt der Speer nur, der sie schlug – Serumtherapie. Parsifal muß von den Infizierten selbst das Heilmittel bringen, sozusagen musikalisch die Lymphe, wobei man den Speer als primitive Form der Spritze mag gelten lassen. Das Ganze ist natürlich nur als musikalisch-dichterische Vorahnung zu werten, die glorreiche Erfüllung der Vision war hier wie immer den Leuchten der exakten Forschung vorbehalten.«

»Noch eine musikalisch dichterische Vorahnung der glorreichen Erfüllung haben Sie vergessen, Geheimrat Simon,« der Fürstin Ton war bezaubernd, »daß Amfortas noch während der Heilbehandlung den Geist aufgibt.«

»Durchlaucht belieben ungerecht zu scherzen. Störende Nebenerscheinungen, die der Laie zu überschätzen geneigt ist, sind zuweilen unvermeidlich.«

»Gewiß, gewiß, und da Sie uns so treffend, auch frei von der üblichen verschwommenen Mystik, die Serumbehandlung aus dem Geist der Musik erläutert haben, gestatten Sie mir, Ihnen zum Dank, die modernste Gynäkologie bis in ihre kleinasiatische Heimat an der Hand der Bibel nachzuweisen. Denn schon Evangelium Marci V, 25 steht geschrieben:

›Und da war ein Weib, das hatte den Blutfluß zwölf Jahre gehabt und viel erlitten von vielen Ärzten und hatte all ihr Geld darob verzehret und half sie nichts, sondern vielmehr ward es ärger mit ihr.‹«

Der Großfürst schmunzelte. Und es schmunzelte noch weit über die Tische hin und wieder zurück zu Simon. Da war es aber schon etwas in Gärung übergegangen. Und es gor:

»Wart, altes Beast. Hab ich dich erst unter dem Messer gehabt, sollst du mir für den Rest deiner Tage so schön jede halbe Stunde in dich hineinvomieren, daß dir keine Zeit bleibt, verdiente Männer mit deinen Niederträchtigkeiten anzuspeien.«

Und von nun an summste er devot ausschließlich um den Großfürsten herum.

Versöhnlich reichte sie ihm nach aufgehobener Tafel die Hand, und als er sich darüber neigte:

»Also darf ich Sie morgen pünktlich um elf Uhr zur Untersuchung erwarten; ich sehe Ihrem Urteil mit soviel Ungeduld als Vertrauen entgegen.«

Dann auf Ithnan hinter sich weisend: »Sie haben keinen Diener bei sich, darf ich Ihnen den meinen für morgen anbieten?«

Simon nahm dankend an. Es war ihm heute genant gewesen, etwas ungepflegt sogleich nach der Reise vor dem Großfürsten zu erscheinen, da dieser viel auf Äußeres gab, ja Leuten, deren Physiognomie ihm nicht paßte, einfach den Rücken zu drehen nicht ungewohnt war. Simon wollte Stirnbinde und Ohrenklappen auf alle Fälle heute nacht anlegen.

 

Restlos durchlichtet wurden die Ereignisse dieses nächsten Vormittags nie.

Der Coiffeur beteuerte jedem, der es hören mochte, seine Unschuld.

Ein unseliges Mißverständnis – bedauerliches Versehen, wenn man so wolle. Für zehn Uhr sei er durch Ithnan zum Herrn Geheimrat bestellt gewesen, wie er verstanden habe, um diesen zu rasieren. Natürlich glatt, wie er es eben durch die vorwiegend amerikanische Klientel des Hauses nicht anders gewohnt sei. Die Zeit drängte sehr, und so erbot sich Ithnan – während er, der Coiffeur, unten beschäftigt sein würde – oben das etwas gelichtete Haar des Gelehrten mit Bayrum zu behandeln. Fürsorglich, daß nichts in die Augen rinne, habe Ithnan dem Herrn die obere Gesichtshälfte mit einem Tuch bedeckt. Nur so sei es zu erklären, daß diesem das tief bedauerliche Mißverständnis unten nicht rechtzeitig in seiner ganzen Tragweite augenfällig geworden sei.

An dieser Stelle griff meist der Zimmerkellner ein und pflag der weiteren Erzählung.

Gepoltert habe es drinnen und dann geschrien: »Freiheitsberaubung, Hilfe.«

Ein umgeworfener Stuhl, und auf ihn losgaloppiert sei plötzlich ein wehender Mensch mit einem halben Gesicht, habe aber bei seinem, des Kellners Anblick sozusagen auf allen Vieren in der Luft kehrt gemacht, sei mit einem Tigersprung zurück ins Zimmer, um vor der zugeschmetterten Tür nur einen Fluch lotrecht stehen zu lassen.

»Alles herunter jetzt,« war von innen als gebrüllter Befehl vernehmbar geworden. Mehrere Minuten Lautlosigkeit … dann ein Wutschrei und Klirren, als ob der Toilettenspiegel zu Pulver zerkrache.

Hier, als Relais, legte sich das Fräulein aus dem Frisiersalon in die Sielen der Geschehnisse:

Aus Zimmer 560 hätte der Chef wie rasend angeklingelt – nach den Ersatzteilen gerufen – Transformationen – Bärten. Alles herauf.

Im ersten Schreck sei sie mit einem Gretchenzopf am blauen Band in der Faust angestürzt gekommen; außerdem habe man noch auf Lager gehabt: einen eisgrauen zweiteiligen »Knecht Rupprecht« vom »Nikolo« her und ein Reserveexemplar jenes Haarkranzes für den Marqueß of Kar and Kinstone zum letzten Kostümball, auf dem seine Erlaucht als »Krao, das Affenweibchen« durch das Lied:

» I like a wow-wow
very good a chow-chow
«

einerseits, andrerseits durch eine fulminante Buntheit allgemein entzückt hatte. Besagter Haarkranz war dazu bestimmt gewesen, sich mit Hilfe dünner Kautschukfäden über der örtlichen Buntheit zu schließen oder, nach Bedarf, als gesträubte Gloriole zu öffnen. Mancher Mühe und Probe hatte es dazu bedurft. Aber der Herr Geheimrat wäre ganz dagegen gewesen.

Indes sei es später und später geworden. Ein ums andre Mal hätte die Fürstin herübergeschickt, besorgt anfragen lassen, warum denn der Herr Geheimrat noch immer nicht zur Untersuchung käme; auch seine kaiserliche Hoheit warte mit Ungeduld des Resultats.

Kern und Wesen des Ganzen aber wußte natürlich wieder Archie Payne zu berichten, der auf dem frischgefällten Aas jedes Tratsches als erster: ein Weißkopfgeier, saß. Knapp vor der Abfahrt des Mittagszuges sei in der Richtung nach dem Bahnhof in einem Schlitten das bartlose Profil des Geheimrats Simon an ihm vorbeigejagt. Mancherlei wußte er über dieses Profil auszusagen, denn er selbst hatte einen recht gutgeschnittenen Kopf.

Wie jedes Erlebnis durch wiederholte Darstellung Neigung zeigt, erst steil zu einem Zenith der Stilisierung anzusteigen, dann aber teils durch Hypertrophie der Bilder, teils durch Verdrängung ins lustlos Unscharfe zu verquellen sich anschickt – so auch dieses. Der relativ reinsten Periode entstammte noch das Bild:

»Halb Hyäna-Schnauze, halb abgetropfte Kerze.«

Dem Großfürsten und der Fürstin meldete das hinterlassene Billett, eine dringende Depesche hätte den Herrn Geheimrat nach Deutschland berufen, es handle sich da um Tod und Leben, darum hätte er nicht zögern dürfen, im Interesse hoher Menschlichkeit, die er als edelstes Vorrecht seines Berufes stets zu betrachten gewohnt sei, den so ehrenvollen Auftrag seiner Kaiserlichen Hoheit vorläufig an zweite Stelle treten zu lassen. Indem er für die ihm erwiesene hohe Auszeichnung alleruntertänigst danke usw. usw.

 

Helena Karachan erachtete die ganze Episode als gar der Rede nicht wert. Gab sich, nach dem letzten Aufflackern ihrer Wut ins Hell-Bacchantische, nur mehr der Erfüllung ihres Schicksals hin. Mutig, scheußlich und wahr. Höheres Menschentum durfte ihr nicht mehr nahen. Sie wurde bös und stumm. Winkte Horus verzweifelt weg:

»Fort mit Ihnen, Sie machen mich wieder – denken, und Peribanu macht mich wieder – fühlen. Ich will nicht mehr.«

Wenige Tage danach reiste sie mit ihrer ganzen Suite grußlos ab. Noch vor Saisonschluß war es Archie zu melden vergönnt:

»Die alte Karachan ist in Nizza mitten in einem Evans-Gambit endgültig explodiert.«

 

»Mein Karma behüte mich davor, je in Europa als Schwester neben Schwester reinkarniert zu werden,« dachte Horus. »Zur Bestie würde es mich machen, und die Arbeit von Jahrmillionen wäre umsonst gewesen.«

Es waren natürlich wieder die Raeburn girls.

In Paris, wo Mrs. Raeburn mit ihren Töchtern zwar das gleiche Hotel bewohnte, doch einen andern Flur, war ihm gleichsam zwischen Tür und Angel lediglich aufgefallen, wie von diesen völlig gleichgekleideten Mädchen immer, je nach Schnitt und Farbe des jeweiligen Kostüms, die eine oder die andre übellaunig vor sich hinzumaulen und Tränen nahe schien. Die jeweils Unglückliche sah, wiewohl sonst nicht häßlich, auch an diesem Tag immer bis zur Karikatur unvorteilhaft aus.

Sie waren von entgegengesetztem Typ. Nicht nur an Größe und Gliederbau, auch an Haut und Incarnat. Hazel: bread-and-butter-girl, frisch, plump, hochfarbig mit braunem Haar, Gwen: müde, käsig, hatte feine Hüften und elegante Beine. Was der einen stand, entstellte naturgemäß die andere, und stimmte es einmal halbwegs im Schnitt, so war es dann in den Farben umso desaströser. Hüte krönten die Katastrophenstimmung. Mrs. Raeburn aber schien, was immer geschah, von eiserner Zufriedenheit. Dies waren seine Pariser Eindrücke gewesen.

Seit hier im »Astoria« die Raeburn girls ihr gemeinsames Zimmer neben seinem Appartement hatten, wußte er mehr von ihnen, als ihm nach zehnjähriger Ehe gut gewesen. Die zwangsläufige Vielliebchenschaft an Kleidern, Mänteln, Hüten, seit Jahrzehnten auch noch im gleichen Schlafzimmer gipfelnd, hatte eine Hemmungslosigkeit in der Erbitterung gezeitigt, die dem unfreiwilligen Nachbarn, bei gesellschaftlicher Fremdheit, akustische Intimität aufzwang – jäh und voll Pein. Einen Erfolg ihres sonderbaren Familiensinnes jedoch konnte Mrs. Raeburn niemand abstreiten:

Die Schwestern haßten einander jetzt doch noch mehr als ihre Mutter. Sonst wäre es vielleicht anders gewesen. Aber diese pausenlose Gleichheit Tag und Nacht reizte die eine gegen die andre als unmittelbares Objekt zu sehr, als daß sie sich gefunden hätten gegen die wahre Urheberin.

Man hätte es bei Mrs. Raeburn beinah für Überlegung halten sollen, da es nicht Geiz sein konnte: dieses Doppelzimmer kostete ja durchaus nicht weniger als etwa zwei Kabinette. – Es war aber nur Dummheit.

Heute, am Tag des großen Tanz- match, war, was aus diesem Doppelzimmer drang, phonetisch von einer Qualität, daß er es vorzog, den Rest des Nachmittags – bis seine Nachbarinnen angekleidet sein würden – in der Hall zu verbringen.

Nach einer Weile schreckte ihn aus seinem chair kleines pausenloses Wehen. Mrs. Raeburn jagte durch die Seiten ihres Romans, blätterte fieberhaft nach der Liebesnacht und der Leiche. Er wußte, wie aussichtslos das sei, weil Hazel diese Teile soeben oben laut las, beide Ellenbogen in halbe Zitronen aufgestützt. Als Sportdame litt sie an roten Armen, und wenn auch bestimmt worden war, daß heute die weißen Kleider mit den halblangen Ärmeln getragen werden sollten – zu Hazels Freude – es grellte doch durch das Gewebe hervor.

Nun schlenkerte Gwen mit feinen langen Beinen durch die Hall auf ihre Mutter zu. Bald wußte diese um Verbleib von Liebesnacht und Leiche. Mrs. Raeburn tat so empört, daß es Gwen ein Leichtes war, ihr doch noch die bananenfarbnen Ärmellosen für heute abend abzuschmeicheln.

Wie zur »Feier der Heraufkunft des Geistmenschen«, so gab man sich auch heute vor dem großen Tanz- match gegenseitig endlose Essereien. Elchos waren einer Einladung der Principessa Dango zu Früchten und Nachtisch gefolgt. Hier konnte Gargi beruhigt sein, denn der Gastgeberin selbst – ganz Hyänenprinzessin, mit scharfer Trennung von Tag- und Nachtdiät – durften lediglich rohe Gurkenscheiben auf Rubinglas und Eis serviert werden. Von diesen schnitt sie wieder Segmente rundum ab – aß also eigentlich nur die Differenz zwischen dem Kreis und der Ludolffschen Zahl, auf daß der chinesische Lack der langen Lippen nicht springe, die, querhin wie durch Taubenblut gezogen, den superben Totenkopf wagrecht orientierten.

Da leider keine Antiphone gereicht wurden – o weise Helena Petrowna, dachte Horus –, steigerte sich dieser Auftakt des Festes ins Unerträgliche. Zu Ehren Monseigneurs und her grace of D. hatten Payne und Quadrupedescu – letzterer schwamm seit der Geisterbeschwörung in Geld – eine berühmte Zigeunerkapelle von weither kommen lassen; dazu noch ein paar andre verdächtige Erscheinungen mit rotgetupften Schlipsen, Kastagnetten und Okarinen.

Der Zigeunerprimas stand hinter dem Ehrengast, winselte diesem, infernalisch falsch, eine Art getretner Katzenschwanzweis bis tief ins Ohr. Jede Blatternarbe an ihm grinste einzeln. Monseigneur lehnte aufatmend immer tiefer zurück – ganz in den Geigenbogen hinein – und genoß, wie man es ihn für solche Fälle gelehrt hatte.

»Erstaunlich,« dachte Horus, »was der Organismus dieses Häufleins äußerlich Gewaschener innerlich an Dreck nicht nur verträgt, sondern direkt zu fordern scheint.« Da traf den Primas das Auge seiner Bande:

»Du bist nicht mit diesen Idioten allein,« schien es zu sagen, »wir verbitten uns das.« Fürchtend, die Kapelle würde meutern, gab er nach.

Im großen Tanzsaal stand der Ball nun in seinem Zenith. Staunend sah Horus auf diese erotische Friktionsgymnastik. Nicht daß sie häßlich gewesen wäre, durchaus nicht. Es traf ihn nur etwas unvorbereitet, diese jungfräulich erhaltenen Damen der besten Welt plötzlich, wie auf Verabredung, mit ihren Körpern die Sprache südamerikanischer Prostitution mehr oder weniger begabt nachahmen zu sehen; als eine Art Esperanto des Berufs war sie natürlich auch in Asien bekannt. Etwa jener Wink mit dem Abdomen, wie er vor Hafenbordellen dem Zuhälter anzuzeigen pflegt, die Kundschaft sei abgefertigt. Über solchem Gebaren von der Taille abwärts standen nun oben, wie allein gelassen, hilflose Ladygesichter: gequält und unbeteiligt.

Dann wieder trieb der Gentleman-Zuhälter, ganz in sie gewühlt, das Fräulein mit langen glatten Stößen vor sich her durch den Saal, von einer Ecke in die andre, wo das Ganze jedesmal in einem verlotterten Bockssprung erlosch. Oder hinter sie schlüpfend, stieß er ihr von rückwärts das Knie unter den Schoß, warf sie ein wenig in die Luft, um die Wehrlose im Herabgleiten dann seinem Körper hart und zielstrebig entlangzuführen – immer wieder.

Was mochte das bedeuten? Offenbar erotisch zu verarmt, um einen neuen Eigentanz selbst zu schaffen, hatte man im Warenaustausch gegen gedrechselte Klavierbeine oder Biskuitgruppen oder Konfirmationsbecher außereuropäische Bordellwerte eingehandelt: Hafenware natürlich. Doch auch als solche an ihrem Ort gewiß voll Reiz, Berechtigung und Wahrheit; wertvoller als das Tauschobjekt auf jeden Fall. Doch was sollte man hier damit … so wenig oder so viel, wie dort mit den Konfirmationsbechern.

Korrekt und ohne Tadel machte soeben Gloria Rawlinson, weiß und golden wie immer, nacheinander diese lebhaft verdauenden Bewegungen, wie sie ihr Machado Magalaes, der Tangomeister, zu hundert Frs. die Stunde, beigebracht. Nun und dann, am Ende dieser komischen Bewegungen, würde wohl heute Mr. Rawlinson noch in ihr Zimmer kommen. Warum man das eigentlich alles machte, wußte sie nicht recht – man machte es eben mit, wie ein Picknick über Verschütteten oder eine spiritistische Séance – the correct thing to do.

 

Unter Preisrichtern und Zuschauern stritt man indessen, was eigentlich die Principessa Dango heute anhabe. Es war von der Farbe Turnerscher Nebel, ganz erlesen, ganz pretiös, bestand aber aus keinerlei bisher irgendwie bekannten Kleidungsstücken. Sie selbst, ihre Haut, blieb unsichtbar wie immer. Sonderbare lila und schwärzliche Flecke in seltener chinesischer Lacktechnik standen auf der mit Silberpuder überstreuten Herme. Ja, Herme. Was dann kam, nicht Kleid nicht Körper war es; am ehesten noch ein fließender, nach unten keilförmig sich verengender Gazeblock.

Man drängte um die Archäologen: ratbedürftig.

Dr. Hafis meinte schließlich versonnen:

»Gott straf mich, aber es ist doch eine Hose. Eine Hose, die bis zum Dekolleté hinaufreicht.«

Murren entstand. Wer rede denn vom »hinauf«. – Beim »hinunter« beginne doch erst das Problem.

»Wissen Sie denn, was eine Hose ist?« frug Horus.

»Nun, wissen Sie es?« klang es zurück.

Er überlegte: »Mir scheint eine Hose ihrem Wesen nach aus drei Teilen zu bestehen. Zwei Röhren und einem Verbindungsstück. Dieses Verbindungsstück will offenbar hier fehlen, die beiden Röhren scheinen lediglich durch ein im Fadenkreuz schwebendes Feigenblatt aus Mondsteinen einander fragil anzuhangen. So fragil, daß es dort ganz ohne Reißnägel wohl nicht abgehen dürfte. Es sind also auch Märtyrermotive in die Toilette verarbeitet. Ein Drittel Kreuzigung etwa auf zwei Drittel Hose.«

»Was folgt daraus?« gab Hafis ungerührt zurück.

»Daß es unanständig ist,« entschieden die Damen, und enteilten mit diesem Urteil wie mit einer Köstlichkeit – rasch, ehe ein neuer fachlicher Gesichtspunkt Revision erzwänge. Sie irrten schwer. Unanstand fiel in ein so anderes Reich – vor der Princesse macabre verlor es jeden Sinn.

Sie tanzte wundervoll, in fast schmerzhaft geschlossener Vollendung. Nur mit Machado Magalaes, dem professional und hors concours. Sie tanzte weder um Gottes, noch um des Mannes, noch um des Tanzes willen. Nicht einmal mehr – narzißhaft – für sich selbst. Auch periphere Sehnsucht hatte sich ihr von den eigenen Gliedern gelöst, hinüber in das Gewand. Für dieses tanzte sie – entflammte sich an ihm; verzehrt von seinen ewig-wechselnden Ansprüchen an Leib und Seele, wie von dem launenhaftesten Geliebten. Nach kläglichen Versuchen zur Untreue – zu ihm kehrte sie stets als ihrem vielseitigsten, raffiniertesten Gebieter zurück.

Biegsam, einsam und auserkoren, hatte diese grande passion »die Mode« sie gemacht, sie herausgeeinzelt aus der faulen Herde, die gar nichts wollen konnte und voll Schrecken auf sie sah, wie etwa ganze Ballen dieser hopsenden College-Boys. Eine ratlosere junge Männlichkeit hatte Horus nie und nirgends noch gesehen; im Querstand aller Glieder suchte das mit eigentümlich taubem Holzgebein die Schlangenwindungen des großen Triebes in eigene Plumpeckigkeit zu übertragen. Erwarb auch wohl mit rotem Ohr, hier beim Tango, eine erste, verspätete Materialkenntnis an instinktlosen leeren Stengeln, die – längst mit Chemikalien und Säuren gegen das Leben abgedichtet – nur dem Schein nach menschlicher waren als die Principessa, weil sie, ungleich jener, der großartigen Konsequenz, der stilbildenden, ermangelten.

Quadrupedescu – du Perron – Cavadini: romanische Kenner, doch viel zu bequem, um wie Strondoli auf rare Abstürze der Principessa, herunter von ihren hohen Abwegen, zu warten, widmeten sich heute ausschließlich jungen Mädchen. Schlängelten sich in ihre Nerven, griffen in ihr Blut, rissen es an sich und hin, wo es ihnen beliebte – umspielten den Gattungsakt in immer engeren, gesteigerten Brunstbewegungen. Schließlich waren sie wohl selbst erregt in ihren Körpern, doch über diesen stand wie immer ein Boshaftes, ein Spöttisches auf den gar so selbstsicheren Gesichtern.

Die jungen Mädchen wanden sich im Tanz wie Würmer an unsichtbarer Angelschnur, die von den Lorgnons der Mütter hing. Knapp vor dem Allerletzten schien diese Schnur immer mit einem Ruck anzuziehen, und die Begattung ging fehl.

Konnte das klaglos so weiter funktionieren? Immer schwerer und gejagter wurde die Luft; alles trieb einer Erlösung entgegen. Schon klebte Talkum-Puder von den Damendekolletés drüben als bläuliche Milch auf den Fräcken der Gentleman-Zuhälter, oder war mit den fettigen Wassern, die als Fixativ gedient, im Rücken breiig geronnen. Oben auf den Wangen zerfiel trockenes Pulverrot, wurde eingesogen in schwammig erweiterte Poren.

Da sagte Gargi auf einmal ganz leise, ganz sanft, ganz unerbittlich:

»Gestatte, daß ich mich entferne. Ich darf der Vermischung von outcasts nicht anwohnen.«

Das Weihelose dieser eisigen Affenhausgesten – der Mangel an Achtung vor dem Orgasmus – das Zynische in den Mannsgesichtern stieß sie bis zum Ekel ab, sie, die unbedenklich im Haus der Elchos nackt durch die Farben getanzt – sie, grauenhaftester Verwöhntheit demütig und kühn gewachsen.

»Meine weise Gazelle hat recht,« dachte ihr Gefährte. Es muß doch wohl wie bei den outcasts: den Rhodias im Felsentempel, so auch hier bei diesen zu einer Art Orgie der Shivatänze führen. –

Doch nichts dergleichen geschah. Die Scharen der Tänzer begannen sich sogar merklich zu lichten, während der Damen nicht weniger wurden. Immer mehr Männer verschwanden spurlos auf geheimnisvolle Weise, herausgesogen aus den Armen ihrer Partnerinnen. Öfter fiel aus einem vorbeieilenden Trüppchen mit etwas speichelnden Lippen das Wort » Sguerdo suleijl«.

»Kommen Sie mit, Elcho,« sagte Archie. »Gar nicht weit. Gut eingeführter Betrieb. Filiale des Pariser Hauses,« er nannte die Firma. »Diese Woche frischer Import.«

»Danke,« sagte Horus, »ich kenne das Stammhaus. Die Versuchungen sind gering. Es ist einer der wenigen Orte, wo man leicht in Ehren ergrauen kann. Dazu sind wir doch etwas zu verwöhnt – danke.«

So also, mit Relais, wurde das gemacht.

»Frisch gepudert werden sie jetzt dort wenigstens sein« sagte Cavadini mit bezeichnender Handbewegung ringsum. Er blinzelte du Perron zu. Der aber – Margot, die Glückliche, Glühende zwischen den Schenkeln – verneinte. Sie waren das siegende Paar. Erst mußte er mit ihr zur Preisverteilung, dann sollte der Triumph noch mit ein paar cock-tails begossen werden.

Vor der Bar staute sich indessen eine freudig erregte Menge und verfolgte die Vorgänge in dem kleinen Raum. Würde man – würde man wirklich zwei ganz große Damen raufen sehen? Her grace of D. und Donna Maria de la Concepción Jimenez de Monserrat y Garcia waren, jede aus einem Separée kommend, an diesem Abend erst hier in der Bar zusammengetroffen und hatten mit Bestürzung, dann wachsender Empörung bemerkt, daß sie beide die gleiche Creation von Lucile trugen.

»Sie müssen meine Vendeuse bestochen haben,« rief her grace außer sich, »ich hatte das alleinige Recht darauf.«

»Dann haben Sie eben die Vendeuse vorher bestochen, es andern zu verheimlichen,« höhnte Donna Maria.

»Das Haus verkauft eben seine Modelle jedem gern, der sie bar zahlt.«

Her grace pflegte lange schuldig zu bleiben.

»Wechseln Sie das Kleid sofort – die Idee ist mein Eigentum,« kreischte her grace.

Donna Maria lachte bloß.

Plötzlich sprang alles mit einem Schrei zurück. Hoch sprühte es auf, wie ein Geysir. Her grace hatte den Hahn einer vollen Syphonflasche gespannt und ihren Inhalt in Donna Marias Dekolleté gespritzt – senkrecht durch, daß es in den silbernen Abendschuhen nur so plätscherte.

Wütend wie eine nasse Henne stürzte die Spanierin hinaus. Kam nach zehn Minuten zurück, in einer zweiten trockenen – her grace erstarrte zu einem Block Wut – der vorigen ganz gleichen Toilette. Her grace gab sich besiegt. Vielleicht hatte die Gegnerin noch ein halbes Dutzend in ihren Koffern, da konnte man die ganze Bar vergeblich verspritzen.

Von neun Uhr abends bis drei Uhr früh war der Kaufherr aus Braila mäuschenstill in einer Ecke gesessen. Hatte kein Auge von den Tanzenden gelassen. Jetzt erhob er sich seufzend, schritt zum Foyer, sah hinaus und murmelte resigniert:

»Glatteis. Aber was will me machen.«

Ja, da ließ sich eben nichts machen. Es war ein zu exklusives Hotel; Frauen, in der Lage, ausschließlich von ihrem Liebreiz zu leben, wurden hier nicht geduldet.

 

Längst lagen die Säle leer: eingefressene Löcher, schwarz im Hotelleib. All ihre Lichtchen, die erst wie in eine Versenkung gesprungen schienen und dann irgendwie fortgelaufen, gleichsam durch schwarze Adern, durch innere Stollen, um auf einmal, jedes einzeln, in einer Zimmerzelle einer Einsamkeit gute Nacht zu leuchten – auch sie waren größtenteils erloschen.

Das Dunkel aber war falsch und schwieg ungern.

Durch Türen, Korridore entlang strich eine manische Ruhelosigkeit wie von eingesperrten Katzen.

Knisterndes Fluidum gelöster Haare, durch die gereizte Finger wie Nervenkämme fahren. Vages und Erbittertes aus ratlosen jungen Körpern stand in Herzhöhe durch das ganze Haus.

Aus dem Zimmer der Raeburn girls war erst greller Hader zu Horus herübergeschrillt. Die Ursache gar der Rede nicht wert: ein verwechseltes Stück Seife, dann ein Disput, wer morgen den Toilettetisch zuerst benützen dürfe. Hazels Stimme:

»Ich will nicht immer deine ausgegangenen Haare in meinem Coldcream finden.«

»Und ich nicht deinen ekelhaften Puder auf meinen Bürsten! Nützt ja doch nichts – schau nur, wie deine Nase wieder glänzt.«

Schließlich waren beide in hysterisches Weinen ausgebrochen. Hazel schluchzte aus den Kissen:

»Ist es jetzt nicht ganz – ganz egal, daß du heute mommo die Ärmellosen abgeschwindelt hast?«

»Satt hab ich's – ich gehe zum Kino.«

»Wo man deinen Sprachfehler nicht merkt – na ja hübsche Beine hast du ja. Die in › Sguerdo suleijl‹ haben gewiß nicht so hübsche, man soll sie sich dort immer rasieren – vorher.«

Nun wiesen die Stimmen aneinander auf dies und das hin; wurden heißer, gieriger daran – kaum liebevoller. Der Haß blieb in ihnen, nur kicherte er jetzt und kam ganz nah, erlöste sich in Not und Verachtung.

»Hatte es nicht geklopft? Da, noch einmal.«

»Wer ist es,« zischte Gwen – »ein Mann?«

»Mach auf!«

»Ja – auf!«

Die Tür ächzte leise in den Angeln.

»Ich bin's,« sagte Linda Bordones mühsames Stimmchen.

»Ich sah Licht bei Ihnen, o, bitte, können wir nicht noch ein wenig plaudern und … und,« sie zögerte – »zusammenbleiben?«

Linda stand da in voller Balltoilette. Die ganze Nacht hatte Cavadini fast ausschließlich sich um sie gewunden, in ihren Nacken geatmet, dann aber, kurz ehe er mit den andern nach › Sguerdo suleijl‹ ging, sich jäh, wie durch einen Schnitt, aus der Verschmelzung mit ihr gelöst, und ziemlich kühl angedeutet, er führe auf einige Zeit nach Paris, um den Damen Waanebeeker bei der Ordnung ihrer Verlassenschaftsangelegenheiten an die Hand zu gehen. Sie möge ihn nicht allzubald zurückerwarten und indessen lieber mit dem Onkel nach Bologna heimkehren. Eine Szene im Ballsaal, davor hatte ihr gegraut. Ein Handkuß, perfid und lang, dann war er, höchst angeregt, verschwunden.

Seitdem fürchtete sie sich derart vor dem Alleinsein, daß sie durch das Hotel gewandert war, bis zu diesen fremden englischen Mädchen. Hatte erst an Winifred, ihre Zimmernachbarin, gedacht. Aber das kannte man. Nach Tanznächten klang sofort stumpfer Schlafatem durch Winifreds Tür, eine Flasche Kognak, heimlich, von ihrer Mutter bridge-fond angeschafft, half ihr zu dieser sicheren Ruhe.

Hazel und Gwen waren unterdessen zu einem Doppelblock Wohlanständigkeit erfroren.

» Oh I beg your pardon,« sie waren so erstaunt, so ins Mark erstaunt, daß es die arme kleine Linda nur trieb, ins Niegewesene zu zergehen. Ein paar vage Entschuldigungen und sie hastete zurück durch all diese Korridore – Röhren der Unrast, in die es aus den Komfortpferchen mündete: verzerrte Kälte oder übelberatene Not und gieriges Bellen des Stoffes – Sattheit aus einigen – aus keinem Glück.

Bei Hazel und Gwen löste sich der Haß der Übernähe nun in gemeinsame Entrüstung.

Nein, diese foreigners – man konnte eigentlich als Lady nicht mit ihnen verkehren – nicht proper waren sie – keine. Allein in der Nacht im Hotel herumlaufen. Fremde Damen aus dem besten Schlaf wecken. Sicher wollte sie wo anders hin und sich hier nur ein Alibi verschaffen. Nun, mommo würde Sorge tragen, daß man dieser verdächtigen Südländerin von nun an allgemein mit gebührender Zurückhaltung begegne. Sie entrüsteten sich bis zu Zärtlichkeiten, die erst das Frühlicht schied.

 

Lizzi Beermanns Zimmer stieß an das Gemach ihrer Eltern.

Sie preßte die Polster vor die Ohren. So – so war man also entstanden. So behäbig hingesudelt in eine träge Weite, gleich nach dem Disput über die letzte Hutrechnung, und vor dem ersten Gähnen verdrossener Abkehr.

Da lag man, gedemütigt in seiner ungetanen Jugend, die es so ganz anders wissen und wahrhaben wollte. Lag hilflos heiß auf planen, toten Laken; in Empörung gegen ein weiheloses Nebenan.

Aufspringen hätte man mögen, Türen aufreißen, drauflosschreien:

»Da – das ist der ›Kinderschlaf‹ meiner dreiundzwanzig Jahre, an den eure Faulheit zu glauben vorgibt. Ja ihr – ihr, zu träg in euren salopp gewordenen Körpern, um auch nur ein Glied selber zu straffen – anregen laßt ihr euch von dem Blut in unsren obszönen Tänzen, die wir am Schnürchen machen dürfen. Dann fragt ihr: ›Nun Kleine, gut unterhalten? So, jetzt aber brav ins Bett‹.« – O, wie widerlich – welch ein verlogener Käfig, dieses ganze Leben. Aber ausbrechen? Nein, zu riskant. Lieber behalf man sich noch bis zum korrekten Ende.

Manchmal gelang es wohl und man vergaß ganze Teile von sich – sank dann wie an eine fremde Wärme – an sie hin. Da waren zum Beispiel die Arme: ferne Gliederwesen, die frei spielen konnten, wo sie wollten. Aber Kopf und Lippen blieben leider immer allein und zu weit weg von allem Wesentlichen. Wie gut es die Raubtiere, überhaupt die Tiere hatten: von nichts an sich waren sie getrennt; Kelch und Gegenkelch durch eine wunderbar bewegliche Wirbelschnur biegsam verbunden. Schon als Kind hatte man im Zoo immer davon träumen müssen, wenn » miß« vor den Käfigen die Zahnformeln repetierte. Was sich da alles machen ließe.

Und die Träume gingen bald in Geschichten über – etwas beschämende Geschichten, an denen sich ein zweites, häßlicheres Ich mästete – zu vampirhaftem Leben erweckt von unbedenklicher Hand. Die arme junge Hand wußte nicht, daß sie das Glück entwurzelte in ihrer Not. Wie es dann, am Tag der Erfüllung, heimatlos sein würde am abgelenkten Quell.

Aber es waren in diesen gefährdenden Jahren eben immer wieder nur die Zahnformeln repetiert worden, und etwa: wann und unter wem Sizilien an das Haus Anjou gekommen – dann noch etwas Eckiges mit einer Hypotenuse, aber das hatte man nie recht verstanden.

Natürlich wußte man, das »andere« sei wohl improper. Es war aber außerdem so viel »improper«, gar nicht zu leben wäre gewesen, hätte man sich überall daran gekehrt. Wie also Sinn von Unsinn am »improper« scheiden, da die Erklärung, erhielt man sie, ja doch gelogen war und immer weithin sichtbar falsch.

 

»Oh wann – wann wieder.«

Und im langen saut-de-lit hing Margot abschiedtrunken mit gelösten Gliedern um du Perrons Hals.

Dieses rührende und entzückende Bild bot sich zwischen Tür und Angel von Mademoiselle Chenals Hofzimmerchen einem Trupp heimkehrender Herren, als sie in der Dämmerung auf Zehenspitzen jäh um einen Korridor lugten. Von der andern Seite hatte schon längst der Zimmerkellner verborgen geäugt, der, so lange nicht nach ihm geschellt wurde, die göttliche Allgegenwart » love« zu schlagen pflegte.

Ob die Herren von dem Bilde entzückt gewesen, war schwer festzustellen – gerührt wohl kaum, denn es gab einen ungeheuren Skandal. Ganze angelsächsische Tribus erklärten abzuwandern mit ihrer Brut, mutete man ihnen die Gesellschaft einer solchen Person noch weiter zu. Man sehe ja so über manches hinweg, zum Beispiel – und nun wurden alle erdenklichen sexuellen Querstände nach der Variationsrechnung durchgeprobt –, aber eine Tochter neben Töchtern. Das war zu viel. Die übrigen jungen Mädchen indes blühten an diesem Tage argloser wie je in den Klubsesseln umher: es war das reine Konzert-Blühen, sahen mit etwas umränderten Kinderaugen süß und leer um sich.

Gegen Mittag ließ die Direktion Madame Chenal mitteilen, man bedaure unendlich, aber durch ein fatales Versehen seien die Zimmer der Damen telegraphisch an neue Gäste vergeben worden, auch habe man leider gar nichts anderes für den Augenblick verfügbar, ob vielleicht an ein anderes Haus telephoniert werden solle? Auf alle Fälle sei der Gepäckschlitten um vier Uhr bereit.

Die darauffolgende Szene zwischen Margot und ihrer Tante schrie durchs Mark des Hauses. Madame Chenal erbrach wie rasend nach einander alle Opfer, die sie der Nichte von der Wiege an gebracht, und wie nun das mühsam gesparte Geld für die Lancierung zu dieser kostspieligen Saison hin sei, und alles Schmach und Ruin. Keine Heiratchance mehr. Und was ihre bedauernswerte Mutter nur sagen würde, und nach Rouen könne sie überhaupt nicht mehr zurück. Sie selbst ziehe jedenfalls ihre Hand von der Deklassierten und enterbe sie.

Dann eine Atempause der Hoffnung. Madame Chenal ließ Aquetil du Perron zu sich bitten und erklärte ihm, sie gehe wohl nicht fehl, wenn sie ihre Nichte, nach dem Vorgefallenen, als mit ihm verlobt betrachte.

Du Perron wurde ganz Gentleman und so korrekt, daß einem das Atmen verging. Er höre wohl nicht recht. Männer von seinen Grundsätzen und seiner gesellschaftlichen Stellung pflegten wohl nicht eine junge »Dame«, – er lächelte Gänsefüßchen – die sich nach einer Ballnacht gleich einem quasi Fremden an den Hals werfe, zur Mutter ihrer Kinder zu machen.

Und als Madame Chenal etwas von Vergewaltigung und gerichtlicher Klage anfing, schnitt er ihr kurz das Wort ab:

»Ganz nach Belieben, er habe ja Zeugen genug dafür, ob der Abschied nach Gewalt von seiner Seite ausgesehen – oder eher anders herum.«

Tiefverschleiert schlichen sich die beiden Frauen durch einen Seitenausgang des Hotels zu ihrem Schlitten, ignoriert von den Hotelgästen. Dafür bildete das gesamte Personal, dem keine Abreise noch je entgangen war, auf dieser ungewohnten trace Spalier. Aus allen Korridoren quollen button boys, sonst gewohnt, sich auf der Freitreppe pompös zu entfalten. Dieses Spießrutenlaufen, bei dem die Verurteilten noch jeden ihrer Quäler zu beschenken hatten aus der mageren Tasche – es war zu viel. Endlich beim letzten Lungerknaben angelangt, brach aus Margot – der Beschimpften, Verhöhnten, Getretenen – der erste Strahl Menschenwürde. Als dieser glücklose allerletzte Lungerknabe, schon beim Schlitten, nicht nur die Hand, sondern auch – und gar nicht wenig – die Zunge vorstreckte, klappte sie ihr zwei Frankstück in die Börse zurück und gab ihm eine schallende Ohrfeige.

Aber eigentlich war dieser Skandal von weniger nachhaltiger Wirkung gewesen, als man hätte meinen sollen, denn ein neues, tieferes Zittern schwoll durch das Haus. Wie stets zur Zeit der Äquinoktien, war, gleichsam über Nacht, die Modebrunst ausgebrochen und die bewegten und beunruhigten Frauen sammelten sich zum Zug nach Paris.

Die Principessa Dango – als Sturmvogel der rue de la Paix – war längst fort mit ihren Hutkoffern: einer Art Löwenkäfigen mit Saugnäpfen, letztere bestimmt Toques – Cloches – Canotiers: alles pneumatisch – nadellos an den Innenwänden festzuhalten.

Als Elchos ihr Kupee bestiegen hatten, fiel Horus ein Herr auf, in englischer Reisekappe, und an dem nagelneuen Überzieher Nähte, wie die Nieten eines Dampfkessels. Wo hatte er den Mann schon gesehen? Eben schob er jene kostspielig aussehende Französin in einen Waggon erster Klasse, hinter der drein der Zimmerkellner am ersten Abend blitzschnell eine Geste von geradezu infernalischer Gemeinheit gemacht.

Wo war der Dame sonstiger Gatte – oder Begleiter? Glich nicht der Mann in der englischen Reisekappe auffallend besagtem Zimmerkellner? Wen-Kiün, Gargis Dienerin, wußte Bescheid. Sie haßte den Zimmerkellner.

Ja, dieser »große Kerl Gauner« hatte beim Rennen gewonnen und der Master der Dame hatte verloren. Und so war der Master ohne die Dame abgereist, und ohne die Rechnung zu bezahlen. Und so hatte der Zimmerkellner die Rechnung beglichen und die Dame für die Begleichung der Rechnung behalten.

»Warum auch nicht,« sagte Horus zu Gargi, »hier, wo es keine Kasten gibt, sondern nur einen Pöbel mit verschieden viel Geld. Schließlich in einem easy chair lümmeln, das bißchen Eßmanieren, die paar Redensarten! Leicht ist es da, Herrenbräuche erfüllen; gälte es, einer östlichen Teezeremonie gewachsen sein oder den Begrüßungsformalitäten zweier chinesischer Kaufleute, das wäre etwas anderes, das müßte gelernt werden. Aber europäischen Gentleman spielen – welchen Könnens bedürfte es da.«

Er lächelte Wen-Kiün zu, in heiterer Erinnerung. Dieser Zimmerkellner war der Chinesin Privatfeind. Einmal standen um den ganzen »Astoria«-Block jene eigentümlichen Schnatterlaute, wie sie Chinesen in höchster Aufregung eigen:

»Du verkehrt gezeugtes Schildkrötenei, die Hund is eine Gentleman, nur noch nicht fertig. – Du fertig und nie Gentleman.«

Der Zimmerkellner hatte auf zwei Hunde, die sich im Sonnenschein zu paaren versuchten, wie das hier so Brauch, unter Zoten und Gelächter losgeschlagen.

Von ihrem Herrn scharf zurechtgewiesen wegen solch unziemlichen Fluches, hatte sie mit der Unbeirrbarkeit eines Kindes, das noch keine Kompromisse anerkennt, gesagt, demütig, und doch wieder mütterlich ihm überlegen an uralter Würde:

»Wir tüchtig im Unten Sein … diese aber nirgends tüchtig.«

 

Die Gondel der Principessa Dango floß auf den Ponte della Paglia zu.

Silberbrokat schleifte breit im Kanalschlamm hinterdrein. Faulende Tomaten, ein paar Kohlblätter, zogen auf seinen harten Metallfäden mit. Zwei hypnotisierte Barsois, mit Silberpuder bestreut, flankierten steilen Profils die Principessa, schnitten, ihren unbegreiflichen Hut zwischen sich, wahnsinnige Dreifalt ins Blaue.

Jetzt stieg sie langsam, zwischen ihren lebendigen Wappentieren hindurch, gegen den Dogenpalast an. Hinter dem Eckpfeiler mit dem betrunkenen Noah lauerte es ihr entgegen, duckte sich, stürzte vor: Strondoli. Eine ewige Sekunde wies der klotzige Browningfinger krachend auf die Niederstürzende.

»Abdrehen!« schrie Archie Payne dem Mann am Apparat zu, und, Fäuste in Hosentaschen, zur Principessa:

» oh! – drat it … was fällt denn Ihnen ein!« Keine Spur Snob-Devotion lag mehr in seiner Stimme.

Mitten im Todeskampf hatte sie plötzlich das Lorgnon erhoben, ließ ihr Sterben liegen, ging an Regisseur und Filmstab vorbei in eine Gruppe Zuschauer hinein:

» Beautiful boy.«

Und sie hielt Horus Elcho den Mund des Handschuhs zum Kusse hin.

» Impossible.«

Schon führte Strondoli sie höflich-fest zurück. Aus Archies Stimme aber pfiff nackt die Impresariopeitsche; die » princesse macabre« wurde Schulden halber von ihm verfilmt: ihr Palazzo – ihr grandioser Totenkopf mit Toque – ihre Windhunde – ihr Foxtrott, alles war diesem Raubepheben von Übersee hörig geworden, der in Schmieröl und Champagner spekulierte, einen Rennstall, eine Bar in Verbindung mit einem Kunstsalon betrieb, ein Filmunternehmen gegründet, und nun unter der Hand ihre Wechsel aufgekauft hatte.

Also schnell den Todeskampf noch einmal; die anschließende Szene, bei der Lord Byron in Schwimmhosen aus zehn Meter Höhe per Kopf in den Kanal zu springen hatte, drängte sehr, denn schon zog Ebbe die Wasser von der Stadt zurück, wie wenn Speichel sich zurückzieht von einem entfleischten gelben Gebiß, die geschwärzten Ringe der falschen Kronen auf verfaulenden Wurzeln bloßlegt. Der schöne Archangelo, im Bademantel als Lord Byron, erklärte, den Sprung heute kaum noch riskieren zu können. Indessen umfeilschten er und Genia Waanebeeker bei dem Antiquitätenhändler an der Ecke des San Sovino einen römischen Sarkophag, den wollte er als Toilettetisch zum Rasieren und für seine englischen Reiseflacons im neuen Heim verwenden. Halb St. M. wirkte hier im »siebenfachen Mord an der Seufzerbrücke« mit. Seine Darsteller – es war Archies Clou für »drüben« – sollten Mitglieder der »Gesellschaft« sein. Taten auch jetzt untereinander sportlich-heiter, amateurisch-unbeschwert, nach der eiskalten Wut, mit der jeder um den Vertrag gerungen, Vorschüsse heraus, Vorteile hineingekniffen und seine Fußangeln heimlich durchgenagt hatte.

Archie bereute. Diese Amateurverdiener, von kaufmännischen Usancen völlig unbeschwert, hielten im Geschäftsverkehr einfach alles für erlaubt, wären stumpf für Grade innerhalb merkantiler Unanständigkeit und von uferloser Beutelust.

Zuweilen gab es ja Spaß, wenn etwa Gwen Raeburn ihm mit ihren hübschen Beinen beinah die Schlafzimmertür einrannte, zu allem bereit, damit er sie nur ja nicht mit Hazel gleich einkleide zu einem venezianischen Pagenpaar.

Die Erschießung der Principessa Dango aber hätte sich auch besser in St. Peter gemacht, während der Papst die Ostermesse zelebrierte. Wie bei dem Schuß die Kardinäle gehüpft wären; first rate, so eine echte Panik. Wenn man Glück hatte, gab's wirkliche Tote. Ein Fehler, daß er sich nicht direkt mit dem Heiligen Vater ins Einvernehmen gesetzt. Lord Byron in Schwimmhosen konnte ebensogut von der Engelsbrücke springen.

Hätte ihm nur dieser goldäugige Sklavenhändler seine Reisefrau für die Film-G.m.b.H. verkauft. Er hatte Gargi einmal in den »fließenden Wassern von Bengalen« überrascht, wie sie mit ihren Armen spielte, die – zwei Schlangen – aus ihr erwacht, fortglitten, Milch aus Schalen tranken, dann aufgereckt, rosige Opale auf den schmalen Köpfen, ihren bösen Schwebetanz begannen um eine zitternde junge Antilope, die ein zarter Frauenschenkel war. Mit eins hatten all diese Zauberwesen sich dann aufgerollt und dahin wie eine Wolke am Boden, die langsam steigt, sich loslöst aufwärts in eine andre Dimension. Was Opale in Schlangenköpfen gewesen, stand nun hoch, zwischen Schleiernebeln, zeitlos: ein Sternbild über einer weiblichen Säule, gleich Rauch.

Tausend Prozent.

Auf was wartete dieser asiatische Wucherer denn noch? Dort schritt er über die Piazetta – schien immer über alles hier wegzuschreiten und trat es doch nicht nieder dabei. Diese Höflichkeit gegen seine Sklavenprinzessin? Kein Zweifel, entweder sie hatte das Geld oder wußte eine ganz üble Schweinerei von ihm. Jetzt nahmen sie einander gar bei den Fingerspitzen wie Kinder im Märchen. Perverse Sache.

 

Ja, sie gingen Hand in Hand, wie einst zur Schillerfalterjagd, auf hohen, schlanken Beinen in die Goldhöhlen von San Marco hinein. Gargi um Weniges voraus. Hier in der Insel von Byzanz, schwimmend auf gestohlenen Säulen des Ostens, blühten wieder die unerhörten Farben ihres Sonnenblutes auf, glänzend wie Blätter; über Silber ein grünlicher Samt. Als Ampel, auf magischer Spur, leitete sie den Mann an hingekreuzigten Tieren, toten Engeln und Goldadern entlang, in lieblichem Triumph einem noch Dunklen zu – vor Freude ernst. In der Apsis, hinter der malachitnen Schlachtbank für das Meßopfer, hob sie den schweren Ledervorhang – ließ ihn schauen:

In den Raum der pala d'oro.

Durch seine enge Nacht hing leuchtend die morgenländische Altarplatte aus Gold und aus Lazur. Gebuckelte Juwelenbeeren trieben blasig aus ihr und um die erzenen Engel ihres Grundes. Auf diese Engel fiel von oben Honigschein einer Kerze hoch aus der Hand eines neuen Wesens. Einer Frau?

Es stand wie wehender Springbrunnen – wie Lebenskraft fabelhaft aufgeschossen zu einem einzigen verwegenen Strahl. In eine Natürlichkeit kühneren Ranges hinauffließend – schwerelos.

Der Elf von einem großen Stern.

Die blanke Nadel am Faden einer feinen Spur.

An dem Zittern der Wasser seines Lebens hatte er sie schon hinter dem Ledervorhang erkannt, jetzt von rückwärts an den Sprunggelenken. Kühn und scheu hielt sie die Kerze einem dunkelhäutigen, eher kleinen Mann – wie beglückt, ihm so Schönes weisen zu können, und glich an Haltung ganz jenen Cherubim aus Niello und Opal, die ihr wie fernes Geschwister entgegen zu wandeln schienen aus dem goldmilden Grund. Des dunkelhäutigen Mannes Blicke schwollen wie Beeren. Aufsaugend gingen sie von jenen zu ihr, füllten sich mit dem Gewonnenen. Dann glitzernd, schmeichelnd, leise:

»Mein pala d'oro-Wesen.«

Dann noch leiser, wie eine Inkantation, ein feuriges Gewebe, jedes Wort kennerisch setzend und genießend:

»Mein nobles, langes, schlankes, schlangenanmutiges pala d'oro-Wesen.«

Horus ließ den Ledervorhang fallen. Schied sich diskret von dem Stromkreis drinnen.

»Falsch,« fühlte er.

»Nicht pala d'oro-Wesen. Denn noch niemals konnte sie da sein. Ihr Kanon erfließt aus einer kühneren Ordnung der Materie, aus eignem eigensinnigem Gesetz. Erst seit der Planetengeist durch Schwebebrücken, durch zart ragenden Stahl zu uns spricht, ist sie als Körper auch nur möglich, die Weißeste der Weißen, die schlichthin Neue: St. Elmsfeuer aus den Spitzen alles Bisherigen. Fern ragt sie auch über die Schönheit weg, die noch nicht bis zu ihr gelangt, sie noch nicht einzuholen vermocht.«

Und er blies wie reifen Löwenzahn das Wesen der Pallas und Nausikaa von seiner Seele. Ganz Geburtstagskind wieder. Und tat – als ein Wissender – jedes Wollen und jede Willkür von sich ab. Er würde sie nicht suchen; hatte zuviel Ehrfurcht vor dem großen Finden. Das sollte vom Rang jener Dinge sein, die, hoch über Einsicht und Bestimmung des Einzelnen hinaus, einem geheimnisvollen Kräftespiel überantwortet zu bleiben haben, oder sie sind nichts. Nur den Vorhang berührte er noch einmal mit jeder Pore seines Körpers und war irgendwie getrost. Hatte ja die Fee Peribanu zur Lieblingsfrau, und eine Fee ist lauter Gabe und deshalb so überaus mächtig, weil frei von Furcht, daß man ihr etwas raube; wer aber könnte das, da sie ja selber lauter Gabe ist?

 

Als Mittagssonnenstaub in den schmierigen kleinen Waggon auf der Strecke nach Padua hereinbrannte, kam von nebenan eine Stimme. Ihre Stimme. Erst wortlos leuchtend. Jünglinghafter Vogelton über einem dunkelerregten Grunde. Auf eine Frage hin zitterte sie zu Klarheit, setzte Worte wie Kristalle an; ward ein kleiner Bericht – Alltagsvorgänge nach einer Trennung – vielleicht in einer deutschen Stadt – Besuch eines »Zoo«. Die Stimme griff Tiere heraus, ründete Bilder mit jener neuen Kinderkraft am andern Ende des Wissens, wie sie Diana Elcho eigen gewesen. Er horchte all seine Adern entlang. Ganz verspielte Worte kamen getanzt auf seinem Blut, einten sich, flossen honigfarben dahin: … »und es war sommerlich warm zur Stunde der Löwenfütterung – ganz sonnig – die lieben Großen draußen in ihrem dreigeteilten Raum. Die schöne, starke Löwin schmachtete hinüber zu dem jungen afrikanischen Löwen mit der etwas pauvren Hinterhand; aufrecht stand sie am Gitter, kratzte kläglich und ununterbrochen. Da kam er ganz nah, legte und preßte sich gegen die Drahtmaschen, so daß sie ihn wenigstens streicheln und ein bißchen durchlecken konnte – auch seine intimeren Teile – und hub ein gigantisches Geschnurre an, daß der Boden zitterte; prachtvolle Sehnsuchtslaute dazwischen, daß einem das Herz schlug! Wenn man sich dagegen so eine christliche Ehe vorstellt!

Das Publikum starrte verständnislos die seinem Instinkt so fremden Vorgänge an. Von Mitgift war auch nichts zu sehen, so schwoll der allgemeine Unwille: ›Die grauslichen Bestien – die falschen!‹

Und auch die rotznasige Brut echote schon zwischen Trensen und Nägelkauen zur Wonne der Alten:

›Die grauslichen Bestien – die falschen‹.

Da ging ich.

Von rückwärts ins Raubtierhaus, wo auch Affen, Schildkröten und weiße Mäuse sind. Mit mir trat der Wärter ein. Kaum witterten ihn die drei Herrlichen draußen, kamen sie hereingestürzt. Der mittlere Löwe steht still im Tor, zwischen seinen Beinen den untergehenden Sonnenball, und die Mähne von rückwärts durchleuchtet, daß sie förmlich knistert vor Gold.

Da hab' ich ihm alles abgebeten, auch das mit dem ›Giletteapparat‹ zum Geburtstag. Jetzt weiß ich ja erst, was eine Mähne sein kann und wie sie gesehen gehört.

Ruhig hielt der Wärter seinen ganzen Arm in den Käfig. Da legte sich der Herr der Mähne genau so auf den Rücken, streckte die Beine zum Himmel und den Bauch unter die liebkosende Hand, wie unser kleines rosenpfötiges Kätzchen seinerzeit in Chamonix – gepriesen sei sein Andenken.

Und dann zwängte der Wärter seine Wange durchs Gitter und der Herr der Mähne leckte sie inbrünstig und schmiegte seine Wange daran … und so blieben die zwei.«

»Und so blieben die zwei.« Eine tiefsaugende Männerstimme fing die Worte, trank sie nachschmeckend, schwoll warm am Gewonnenen – schwieg dann. Durch die Stille ging jene Umschichtung der Luft, als würden nebenan lautlos Plätze getauscht, Lebendiges anders verteilt. Nun lag einen Augenblick die dunkelhäutige Wange der Ganz-Weißen an. Wie mit Seidenfäden, eine gespannte Marionette, hing Horus am Drüben: wußte alles durch den gebogenen Plüsch der Lehne – durch Wand – und wieder Lehne strahlengrad hindurch.

In Padua riß der Schaffner einen Augenblick die Nebentür auf. Nun sah er als Bild, was jedes Glied ihm einzeln längst ins Aug gesagt: reiherschmal, ganz in silbergrau, saß sie langhin eingeritzt in ihre Ecke, daß Raum blieb für die quergestreckte, schlummernde Gestalt, deren Kopf in ihrem unfaßbar schmalen Schoß – schmaler wie er – gebettet war. Ganz große, fremde Dame, trotz scheinbarer Formlosigkeit einer Situation, der Hitze und Einsamkeit auch so das Befremdliche entzog, doch mehr noch die geschlossen scheue Ferne, mit der die Mondstrahlen ihrer Schenkel, die langen Hände in den grauen Schweden an diesem Männerkopf vorüberflossen, als wäre er Statue und Stein. Nur ihre Züge aus Eis und Honig waren unbehütet geblieben. Die einsamen Augen legten sich über ihn, weideten götterfrei auf dem dunkelhäutigen Greifengesicht, das sie betreuen durfte, voll rührend befiederter Erwartung eines namenlosen Glücks.

Geisterhaft unhaltbarer Duft nie wiederkehrender Einzigkeit war um diesen seligen Augenblick. Hellrunder Tropfen Gottes hing er aus allem grauenhaft Verfließenden herausgeschöpft und leuchtend da. Durch ihn: das Keusch-Einmalige seines wolkenlosen Glanzes hatte er: der Fremde, mehr Teil an dieser Fremden als durch die Liebe eines ganzen Lebens.

Der großgewellte Greifenkopf in ihrem Schoß aber floß draußen in Schlaf an dem ewigen Augenblick vorbei – in sich versteint – war nicht mit in dem, was an ihm entstanden war.

Horus blieb auf dem porösen Bimsstein-Perron der kleinen Stadt zurück. Abends würde sein Weg wieder die Schleife nach Süden ziehen. Nordwärts an ihm vorbei fuhr der Wagen mit dem Elf von einem großen Stern.

In bitterem Bedauern ging die Fee Peribanu in Padua an den Giottos vorbei. Nur sie hatte gesehen, daß zwischen den langen, spiegelnden Lenden von edelster Enge ein Kind wuchs.

 

In Rom sagte der verblüffte Dr. Hafis, getroffen in seinem Europäerdünkel:

»Man muß sich eben historisch einstellen auf Werke der Kunst.«

»Einstellen,« das hieß: sich immer ein bißchen wilder, oder schäbiger, oder ungerechter, oder einfältiger gebärden müssen, als man wirklich war.

Hieß: auf einer Seite ganz klein geduckt, sich auf der andern gleichzeitig einen Buckel tolerieren.

Hieß: irgendwie Barbarei – geleckten Kitsch – prahlendes Ohngefähr wohlwollend übersehen zum Genuß.

Hieß: irgendwo besseres Wissen – klarere Einsicht – größeres Empfinden trüben; nicht Distanz, nein, Froschperspektive gewinnen, um schätzen zu können, denn es gab hier nur partiellen Rausch.

Er fühlte: es ziemt mir nicht oder besser: es ziemt meiner grenzenlosen Ehrfurcht vor der Kunst nicht, daß ich mich limitieren müsse – in sie kriechen statt mich zu recken in ihr Maß. Daß sie Stil werde durch das, was fehlt: durch irgend Irrsinn, Unreife, Fetischismus oder Leere. Nicht durch ungeheuren Runddruck der Vollendung, ihr nur eigner zarter oder machtvoller Verdichtung der Welt. Stil: lediglich Überlappen nach der einen oder Schrumpfen nach der andern Seite, und hätte doch Erschütterung des Betrachtenden aus seinem Maß heraus zu sein, auf daß er alle Kräfte überspannen müsse nach dem Unsäglichen hin, es ausblühend rings zu umfassen.

»Man muß immerhin bedenken …« Dr. Hafis machte die fade » tout comprendre«-Geste des vor Wisserei Verblindeten.

»Ich ›bedenke‹ ja gerade, was Sie, Herr Doktor, mir in diesen Wochen an europäischer Kunstgeschichte zu lesen gaben, und darum sehe ich erst recht das Menschenfresserische dieser Renaissance-›Pracht‹ ein: ihre optische Unreinlichkeit bei aller Reißbrettkälte, die billige Art, wie Übergänge, Fugen, Ecken als Probleme einfach ignoriert werden: diese ganze Kulissenreißerei, an Sonnenuntergänge gelehnt; sehe ihre Palazzi ein, als das, was sie sind: Parvenübuden für soldateske Raubbankiers à la Medici – optisch zu unerzogen, um sich ihre Künstler zu ziehen – ohne Sinn für Heimkultur, und sich in ihren Wohnstätten eben begnügend mit Menschenfresserprunk, weil sie ja nebenbei an einem Vormittag immer noch drei Kardinäle zu vergiften hatten und einen Kaiser zu betrügen.

Durch Versailles, die Möbellager aller Louis im Louvre ging ich jüngst noch fassungslos. Jetzt sehe ich auch den französischen Barock ein: Stil der auf ›Mätresse‹ erzogenen Hausmeisterstöchter. Die Herrenkaste, durch Irrenbräuche, Raufhändel und Seuchen zu müd, um noch auf Wertungen zu halten: Noblesse – Gemeinheit, alles gleich. Ließ ihr Seigneurales überklatschen vom Luxusbegriff der proletarischen Bettweibchen aus den Kloaken, für die viel Überflüssiges haben – ›vornehm‹ sein bedeutet.

Das sehe ich alles ein. Was ich aber nicht einsehe, ist, daß Privatdozenten daherkommen, Kunstkenner, Snobs und als ›höfisch feine Blüte‹ bestaunen, was Paradigma dafür, wie sich eine europäische Straßendirne den Reichtum vorstellt. Eine europäische, wohlgemerkt, weil – und darunter leiden wir Asiaten hier am meisten – der Akzent gepflegter Armut fehlt: Armut als selbständige, formenschöpferische Qualität; so bleibt auch Reichtum in Europa immer nur eine glücklose Blase über Seelenschmutz.«

Und da geschah es, daß Gargi auf einmal ein ganz klein wenig zu lächeln begann und Horus überaus rot ward. Er hatte zum erstenmal seit Jahren wieder »wir Asiaten« gesagt, nicht mehr: »wir Europäer«.

Er lenkte ein:

»Meinen Sie bitte nicht, ich sei blind gegen die verzeichnete Anmut etwa der › dame à la Licorne‹, für den falschen Galoppsprung des Rappen auf Carpaccios Drachenkampf, auch sehe ich, wie etwas, Sie nennen es Gotik, aus verworrenen Wurzeln seinen gigantischen Clownismus gegen den Geist des Steins durchtrotzt, denn warum sollte einer verworrenen Seele nicht auch gestattet sein, sich verworren auszudrücken?

Wo eben in Europa die Verworrenheit endet, fängt schon der Gähnkrampf an. Kann sich denn die Seele hier immer nur als Wahn betätigen? Pausiert aber der Wahn, bleibt eine gewaltsame, unsolide und leere Freiheit irgendwo am Grund der Lenden, wo bisher gehetztes Irrsein schwoll.

Als hätten stets nur begabte Krüppel – irgendwie zu lang Eingesperrte und doch wieder zu früh Freigelassene – alles Wichtige Europas, so auch die Kunst in Händen gehabt.«

Gargi meinte:

»Doch auch bei uns, auch im Osten sind Tempel, Statuen, Bilder unwert unsres Lebens.«

»Eures Lebens, ja – glücklicherweise. Denn ihr braucht nicht Kunst zu eurer Rechtfertigung. Braucht nichts aus euch hinauszustellen als steinerne, hölzerne, ölige Sehnsuchtsprojektion. Übersteigert euch selbst zum Kunstwerk, in euren ganz beseelten Körpern. Wenn ihr einander einen Mango reicht, ist darin alles, was hier als Trümmer durch alle Galerien liegt. In eurem Ruhen, Schreiten, Grüßen, Danken erzeugt sich Unerschöpfliches: lebt sich Erlösung aus, denn in ihm ward das Geheimnis des Zugleichbestehens von Freiheit und Notwendigkeit lebendig offenbar. Indiens Kunst ist für seine untersten Schichten da, die Höchsten bedürfen ihrer nicht mehr.«

Er sah Gargi wieder vor sich im Museum am Kapitol. Wie sie, belustigt über gellend falsche Ergänzungen an Bildwerken, das leuchtend Wahre aus ihrem Leib herausgeschöpft; den marmornen Moment der Statuen aufgerollt hatte vor und zurück in ein Band Bewegtheit.

Und Krumbichler, der große Krumbichler vom archäologischen Institut, war ihr sodann vorausgehumpelt zum kapitolinischen Wagenlenker. Hängend in seinen Beinen, wie in unsichtbaren Krücken, wies die Autorität auf den kühnen steinernen Spielfuß der Figur.

»Ei, meine Dame, wie käme aber diese Haltung zustande? Haben die Kollegen und ich sie doch fürwahr, als dem Experiment nicht stichhaltig, des öfteren erprobt. Überzeugen Sie sich selbst«, er schob eine Samtbank dem Lenker parallel, »nun besteige ich den Streitwagen.«

Aus seinem Oberkörper, der bis in die Beine lief, hob er ein Restchen Hose und schlich damit hinauf.

»Sie sehen« – Krumbichler äugte über die Brille an seinen Hosenknollen abwärts, unsichtbare Zügel in Baumwollfäustlingen. Da aber beschlich ihn Schwindel auf seinem Bänkchen und er kroch auf den Rockschößen eilig erdwärts.

Es hatte wirklich keinen Moment mit dem Epheben oben übereingestimmt, und man bestätigte es ihm gerne.

»Steigt man so auf,« er wies kopfschüttelnd auf diesen eigenholden Spielfuß. »Steigt – vielleicht nicht.« Gargi sammelte sich am Ende des Saales. Ein Nebel von Gliedern schoß daher, wehte an Krumbichlers Nase vorbei, landete hoch im Aufsprung, nachgegossen dem Marmor neben ihr.

Wie wollte so einer die Welt spüren: Zu Kunstwerk verdichtetes Stück Welt, der nicht erst gelernt, seinen eignen Körper spüren. Daß er sich überhaupt unter diesen Antiken ertrug! Erster Befähigungsnachweis hätte doch – der Selbstmord zu sein gehabt! Und das verwaltete hier oben in baumwollenen Fäustlingen die Kunst …

Unten die gutgegliederten Epheben, die Cavadinis, die Strondolis aber sprangen lieber mit einem » evoe« und beiden Beinen in die aufspritzende Senkgrube der Politik: Goldgrube der Advokaten. Ja, es war ein Geschlecht von Advokaten, Politikern, Kommis und Chauffeuren, das da den ganzen Tag aufgeregt lungerte in Kaffeehäusern, zwischen seinen historischen Reißbrettkulissen, überspien mit dem Eintagspapier der großen Rotationsverblödungspressen, aus dem alle bis in die Nacht hinein mit eingespeichelten Brocken, vorgekauten Phrasen von Gier, Gräuel, Lüge, Demagogie um sich warfen. Andre zogen wieder mit aufgeregten Händen eine Schleimspur von Privat-Skandal von Tisch zu Tisch durch die Saat gierig gesenkter Papierfetzen: wie Tintenfische, die einen dunklen Schlamm um sich verbreiten, mit dem sie alles in der Runde bekleckern, um dann selber darin spurlos zu verschwinden.

Fremde kamen und gingen. Die Männer bestellten jedes Getränk von Bier bis Whisky; die Frauen sagten, sowie man hinhorchte: »oh Giorgione« oder »oh Pinturicchio!«

Dann zog Archie Payne jedesmal den Hexenmund lang und die Knie bis zum Kinn, blinzelte seinem Kunstkuli Dr. Hafis zu:

»In sechs Monaten werden sie alle nur mehr ›oh Gecco Pintaccio‹ sagen.«

So hieß irgendein Nebenseiter dritten Ranges aus dem spanischen Barock, in dem Archie momentan spekulierte. Bei Erweiterung seiner Newyorker Bar in Verbindung mit dem Kunstsalon hatte seine eisig freche Unwissenheit sich gerade mit dieser Marke – warum, wußte er selbst nicht – stark eingedeckt. Nun sollte von Europa aus die hausse einsetzen und beteiligte Fachkreise, Hafis an der Spitze, bereiteten sich, demnächst den Gecco Pintaccio in seiner epochalen Bedeutung für den modernen Expressionismus neu zu entdecken. Man schnupperte nur noch ein wenig in der Peninsula umher, eventuell hier flottierende Werke rechtzeitig aufzukaufen, damit der Ring geschlossen sei, ehe mit den ersten Artikeln, Gegenartikeln, Polemiken, Hü und Hott des Metiers die Preistreiberei in der aufgespeicherten Ware einsetzen konnte.

 

Seit dem Erlebnis mit der grauenhaften Greisin in Lederhosen ging Horus nur mehr zu Opern und genoß dort, geschlossenen Auges, das bisher in Europa einzig zu Genießende: Musik. In der großen Galavorstellung hob er nun einmal zu früh die Lider, als eben unter schmalzigen Sequenzen der Vorhang: ein gemalter Frühling aus Blech, tangential zu den Bäuchen des talgüberrieselten Heldenpaares niederging. Da kam ihm urplötzlich die Einsicht, wie er hier unter Kolosseen, Kommis und Kulissen: draußen wie drinnen, edle Zeit vertat.

Natürlich daran lag es. Er hatte sich einfach bisher in einer falschen Schicht dahintreiben lassen, vermeinend, Hotels und Logen »ersten Ranges« enthielten auch die korrespondierende Menschheit. Zwar was anderwärts herumwimmelte, schien nicht eben besser – optisch formal noch unerfreulicher: doch, wie man seine Illusionen liebt und deren Minderung fast manisch ablehnt, so flog doch immer wieder all seine weiße Sehnsucht, Liebe und Verehrung strahlengrade vor ihm her in ein noch Unbekanntes, dem Schnee von Paradiesen zu. Überall, wo er noch nicht gewesen, dahin warf er die Erwartung wie in ein Fort.

Wer solche Kleider, Möbel, Wände, Kellner, Tenöre, Kaufhäuser ertrug, war etwas, das er einfach nicht wahr haben wollte als weiße Rasse. Konnten es nicht vielleicht in Verfall geratene Ureinwohner sein, gleich den Weddas auf Ceylon? Ausgebleichte, irgendwie herabgekommene Papuas, die mit mechanistischen Abfällen der echten: wahrhaft Weißen instinktirr und kläglich herumhantierten wie ein Affe mit einem Sextanten.

Die echten Europäer aber, die lichten Herrn der Welt, in lässig larger Achtung vor den territorialen Rechten dieser Urbevölkerung, hatten sich lächelnd unnahbare Wohnplätze geschaffen auf eine ihm, dem Fremden, vielleicht noch nicht begreifliche Weise: am Ende gar mitten inne allem Wust und totem Geheul?

Was war den Schöpfern der Weltgleichungen unmöglich?

Hatte er doch noch keinen Vertreter jener Gebiete getroffen, die er als typisch »europäisch« anzusprechen gewohnt gewesen.

Ihr Wirken aber kannte er: Wirklichkeit mußten sie also sein, diese Geschöpfe wie aus Schnee und Gold in ihrem ohnegleichen Cherubtum; die Sternenklaren, Bestirnten, Newtonhaften, die süperben Glücklichen, und das Gefüge ihrer Glieder ebenbürtig den köstlich gleitenden Erzwesen ihres Hirns und ihrer Hände. Irgendwo mußte es sie geben, dort vielleicht, wohin der Elf von einem großen Stern entschwunden war.

So taumelte ihm das Herz doch wieder in seinen heißesten Lieblingstraum. Gegen alle Vernunft. Trotz allem. Ja, gerade die singenden Bäuche, der gemalte Frühling aus Blech zwangen das Pendel seiner Stimmung zurückzufahren, daß es sich beinahe überschlug.

In diese verborgene Welt der Ganz-Weißen aber würden van Roys weltgültiger Name, seine Empfehlungsschreiben dem Schüler, dem bescheiden Nahenden, den Weg bereiten. Eine Persönlichkeit, frei, kühn, bizarr, deren Primzahlengesetz, deren Knotenexperimente, die vierte Raumdimension betreffend, ihn erst kürzlich entzückt hatten, zog ihn dort vor allem an. Wie hatte er es nur ertragen können, diesen Besuch so ins Unbestimmte zu verlegen für eine Zeit, wenn ihm Deutschland etwa gerade in den Weg käme? Bei der Einheit und Höhe an Mensch und Ding, wie sie ihm einst als Merkmal des ganzen Kontinentes vorgeschwebt, galt es ja berauschend gleich, wem und was er zuerst begegnete.

Morgen würde er fahren. Und er fuhr. Gewiß, auch in Italien oder Frankreich gab es Namen genug, zu denen es ihn mit dieser neuen Hoffnung gezogen hätte, aber er schämte sich ein wenig seiner Aura. Wie, wenn das wirklich nur kastenlose, verwilderte Ureinwohner, unter die er ahnungslos geraten? Wäre es ihm etwa eingefallen, aus dem Körperdunst von Rhodias kommend, einen Brahmin hoher Kaste aufzusuchen? Nicht, daß etwa unliebenswürdiger oder gar verächtlicher Empfang gedroht hätte. Ärgeres. Die höfliche und feierliche Gestalt mit hanfner Schnur auf dunkelblasser Brust saß, tat, lächelte dann wie immer. Doch die Poren der Persönlichkeit blieben zu. Man merkte das erst beim Sprechen. Lieblichste Einfälle – tot wie Steine plumpsten sie vom Mund einem senkrecht vor die Füße – und da blieben sie liegen. Zum Schluß saß man oben auf einem Schotterhaufen eigner Weisheit mit ganz ausgeweidetem Gehirn. Das verborgene Sonnengeflecht von Geschöpf zu Geschöpf, des Fluidums magischer Faden, auf dem Worte als Weberschiffchen hin und her fliegen, spann sich nicht an.

Eine Pause demnach und etwas wie reinlicher Zwischenraum.

Er nahm ein Auto, lenkte es selbst und fuhr mit Gargi und Wen-Kiün über die Alpen. Das brachte ihn zum erstenmal mit Europäern, außerhalb der großen Städte, in Berührung.

Auf dem Brenner zwang eine Panne zu längerem, unfreiwilligem Aufenthalt unter Eingeborenen. Es schien ein wilder Völkerstamm, im Besitz von vier deutlich unterscheidbaren Lauten: »Hüüüaäahhh« – »sell woll« – »Sakra« und »Teifffi.« Ersteres zur Verständigung mit dem Vieh. Zweites zur Verständigung mit dem Fremdling. Drei und vier: orgiastische Erregungszustände mit fetischistischem Einschlag andeutend.

Die ausgewachsenen Männchen trugen entwurzelte Fangzähne wilder Tiere an Schnüren vor dem Nabel, und als Hauptschmuck grasgrüne Kegel, an denen die ausgerissenen Rückenhaare einer kleinen Zweihuferart büschelförmig angebracht waren. Die Lenden bedeckten gegerbte Felle der gleichen Tierspezies. Die nackten Beine zeigten durchweg natürliche und dichte Behaarung. Die heranwachsende Brut pflegte artfremde Geschöpfe aus dem Hinterhalt unter aufgeregtem Geschnatter mit allerhand Unrat zu bewerfen.

Doch richtig: noch über einen fünften Lautkomplex verfügte der Stamm. Unmittelbar vor der Abreise sollten es die indischen Gäste erfahren. Horus kurbelte bereits den Motor an, da schlurfte mit hängenden Vordergliedmaßen, endend in schwarzen, zerquetschten Klauen, ein halbwüchsiges Männchen vorbei und spie etwas aus: halb Kautabak, halb »gelobt sei Jesus Christus« – ging zwanzig Sekunden weiter – duckte sich und schmiß einen Stein. Die Bewegung, bei aller hämischen Wut, war aber von so wasserbüffelhafter Langsamkeit – bis eben das Tief-tückische durch die Borke heraufbrach – daß Horus unschwer das spitze Stück Schotter vor seinem Ziel: Gargis Schläfe, mit erhobenem Arm abzufangen vermochte.

Dann, als der Wagen mit vierter Geschwindigkeit den Grenzen dieser Weideplätze zustrebte, bemerkte er, den schmerzenden Arm am Volant:

»Ob ein gewohnheitsmäßiger Zusammenhang zwischen Gruß und Steinwurf besteht – überhaupt noch eventuellen andern Stammeseigentümlichkeiten nachzuspüren, bleibe unerschrockeneren Forschern bei einer künftigen Durchquerung des dunkelsten Mitteleuropa vorbehalten.«


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